GEHIRNFORSCHUNG Denken, Fühlen, Handeln. Wie das Gehirn

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GEHIRNFORSCHUNG
Denken, Fühlen, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert
Der Mensch ist stolz auf seine Großhirnrinde. Der sogenannte Neokortex wurde als
Sitz des Bewusstseins identifiziert, jenes Zustandes also, der die Einmaligkeit
des homo sapiens ausmacht und ihn aus dem Tierreich enthebt. Bewusstsein ist der
Königsweg zu Rationalität und Vernunft, ein Weg, der hinführt zu einem
friedlichen, paradiesischen Zustand, einer menschlichen Welt, die geläutert ist
von der Brutalität tierischer Instinkte. Leider sind diese humanistischen Ideen
zu schön, um wahr zu sein. Die Realität des Zusammenlebens der Menschen sprach
immer eine andere Sprache und auch die gut zweitausendfünfhundert Jahre währende
Tradition der philosophischen Skepsis kannte nur Hohn und Spott für die Visionen
von einer menschenwürdigen Gesellschaft. Und nun schlägt auch noch die
Hirnforschung in dieselbe Kerbe. Nachzulesen in dem neuen, knapp
fünfhundertseitigen Buch von Gerhard Roth, das gleich im Titel eine
Perspektivverschiebung vornimmt: "Fühlen, Denken, Handeln". Der Autor:
Eigentlich müsste der Titel Fühlen, Denken, Fühlen, Handeln heißen. Das Gefühl,
das limbische System, hat nämlich das erste und das letzte Wort. Das Gefühl
erzeugt in uns Wünsche, Pläne und Absichten und stößt damit unser bewusstes
Denken an. Und zwar wird unser Denken, unser Verstand, unsere Vernunft immer
dann eingesetzt, wenn Gefühle keine fertigen Rezepte haben, wenn etwas so
komplex ist, dass die Gefühle damit nicht fertig werden. Denn Gefühle sind ja
einfach strukturiert. Sie können nicht gut viele Details erkennen, können große
Datenmengen nicht schnell miteinander verbinden. Wenn man also sehr komplexe
Abwägungen vornehmen muss, dann kann man das nicht gefühlsmäßig tun, dann wird
der Verstand eingesetzt. Deshalb haben wir so eine große Großhirnrinde. Das ist
ein ungeheuer großer, assoziativer Speicher, der viele Datenmengen aus
verschiedenen Sinnesmodalitäten schnell verknüpfen kann. All das kann das
limbische System überhaupt nicht. Aber irgendwann muss es dann zum Handeln
kommen. Wissen allein ist nutzlos. ... Und was dann aufgrund dieses Wissens
getan wird, entscheidet wiederum das limbische System.
Das Bewusstsein ist also aus dieser Sicht eine Art Großrechner ohne
Entscheidungsgewalt. Bei der Frage, was getan oder unterlassen wird, darf es
nicht mitreden. Erste und letzte Handlungsgründe werden im Limibischen System
verhandelt, in jener Ebene des Gehirns also, die uns gerade nicht bewusst ist.
Gerhard Roth, Professor für Verhaltensphysiologie und Rektor des
Hanse-Wissenschaftskollegs, legt in seinem Buch eine gewaltige Materialfülle
vor, um seine These zu untermauern. Ausgiebige Literaturstudien,
Forschungsergebnisse von Kollegen und eigene Experimente aus seiner
Forscherlaufbahn sind in das Buch eingeflossen. Allerdings hat Gerhard Roth die
seltene Fähigkeit, das Komplizierte so präzise und klar auszudrücken, dass man
seinen Ausführungen auch ohne Vorwissen folgen kann. Das einzige, was der Autor
vom Leser verlangt, ist die Bereitschaft, eine neue Perspektive auf den
Göttersohn Mensch einzunehmen. Denn dieser ist aufgrund seiner Hirnstruktur viel
profaner und tierischer, als wir es gemeinhin wahrhaben wollen. Fünfundzwanzig
Jahre Hirnforschung haben Gerhard Roth ernüchtert:
Die Ernüchterung besteht darin, dass man erkennt, dass die Annahme richtig ist,
dass unsere Großhirnrinde, unser Bewusstsein, sich ständig hinsichtlich der
eigenen Motive oder der Motive unseres Gehirns betrügt. Wir schreiben uns sehr
viele Dinge zu, und die eigentlichen Motive sind viel direkter. Viele edle
Antriebe werden vorgegeben, und die eigentlichen Determinanten unseres
Verhaltens sind: Macht, Ruhmsucht, Geldgier, Neid, Missgunst, Aggressivität,
Sexualität. Und das wird alles in der Kultur, in der Zivilisation unglaublich
geschickt - auch zum Teil - völlig unbewusst verpackt. Aber genauso elementar
ist für uns Affen, die wir ja sind, ist das Geliebtwerden durch die Gruppe.
Nichts ist schlimmer für einen Affen, als von seiner Gruppe abgelehnt zu werden.
Das führt zum Selbstmord, zu schwerer Depression. Und die Sehnsucht nach
Anerkennung ... das ist ein genauso primäres Bedürfnis. ... Und wir Affen
zittern immer vor dem möglichen Verlust dieser Anerkennung. Das ist das
Schlimmste, was uns passieren kann.
Aggressiv, verlogen und bei all dem bedauernswert ängstlich. So nackt steht der
Mensch vor dem Hirnforscher. Gerhard Roth, der auch Doktor der Philosophie ist,
bewältigt an vielen Stellen im Buch den schwierigen Spagat zwischen Natur- und
Geisteswissenschaft. "Fühlen, Denken, Handeln" bereichert nicht die mittlerweile
fast unüberschaubare Literaturliste der Einführungen in die Hirnforschung um
einen neuen Titel. Vielmehr stellt das Buch eine neurophilosophische Betrachtung
über das Phänomen der menschlichen Handlung dar. In Roths Überlegungen nimmt
folgendes Experiment zentralen Raum ein: Eine Versuchsperson wird gebeten, zu
einem von ihr selbst gewählten Zeitpunkt eine einfache Handbewegung auszuführen.
Diesen Zeitpunkt hält sie mit Hilfe einer Oszilloskop-Uhr fest. Das
überraschende Ergebnis ist nun, dass sich schon etwa 350 Millisekunden vor der
bewussten Entscheidung ein Bereitschaftspotential nachweisen lässt. Die
Versuchsperson hatte also den bewussten Entschluss zur Handlung deutlich nach
der Einleitung der Bewegung durch neuronale Prozesse gefällt. Gerhard Roth
schreibt dazu: "Der Willensakt tritt in der Tat auf, nachdem das Gehirn bereits
entschieden hat, welche Bewegung es ausführen wird." Trotzdem aber tut das Ich
so, als ob es bewusst handelt. Damit wird ein neues Kapitel in der Erforschung
des Ich aufgeschlagen:
Das Ich ist eine wichtige Instanz, denn ohne diesen virtuellen Akteur, so kann
man ihn nennen, könnten wir sozial nicht überleben. Es ist aber ein virtueller
Akteur, eine Lupe sozusagen, ein Hilfsmittel, das selbst nichts tut. Es ist,
wenn man es zynisch sagen will, eine Benutzeroberfläche, mit der man Dinge viel
besser handhaben kann. Es gibt da viele Bilder, aber alle haben gemeinsam, dass
das Ich selbst nichts tut, sondern ein Werkzeug ist für das Unbewusste, komplexe
Situationen besser zu meistern.
Das Ich, so schreibt Gerhard Roth, ist eine Instanz, die hartnäckig ihren
Produzenten leugnet.
Wenn man sich die Großhirnrinde anguckt, dann überwiegen die Verknüpfungen
dessen, was reinkommt, und dessen, was rausgeht, um das Hunderttausend- bis
Millionenfache. Also alles, was aus dem Unbewussten in das Bewusstsein
eindringt, erlebt das Bewusstsein an und in sich und kann das alles sich nur
selbst zuschreiben. ... Ich kann diese Wünsche ja nicht ins Unbewusste
verfolgen. ... Und so kommt es, dass dieses Ich all ... die Wünsche, die aus dem
Unbewussten kommen, die Handlungsentwürfe, die auch aus dem Unbewussten kommen,
sich selbst zuschreibt. Und das ist diese Lüge: Ich tue das, Ich erlebe das, Ich
will das jetzt so. Das sind Illusionen, aber es sind sehr nützliche Illusionen.
Wenn man diesen Apparat zerstört, kann der Mensch nicht mehr in komplexen
Situationen handeln. Das ist so, wie wenn man jemandem, der ein ganz
kompliziertes Verkehrssystem leitet, seinen Computer wegnimmt, dann ist er
verloren.
Gerhard Roth unterstreicht das berühmte Diktum Freuds, der da sagte, dass das
Ich nicht Herr im eigenen Hause ist. Am Schluss des Buches steht eine Revision
des humanistischen Menschenbildes. Denn das Bewusstsein kann nicht mehr als die
entscheidende Grundlage des Handelns angesehen werden. Vielmehr sind Vernunft
und Verstand eingebettet in die emotionale Natur des Menschen. Roth sieht auch
keinen hirnphysiologischen Grund, an der Veränderungsfähigkeit des Menschen
festzuhalten, da etwa fünfzig Prozent der Charakterstruktur genetisch
determiniert sind und der Rest sich in den ersten drei Lebensjahren bildet. Und
auch Sprache kann im Resumee des Buches nicht mehr ihren hohen Stellenwert als
Wissensübermittlerin rechtfertigen, sondern wird von Roth als ein Werkzeug zur
Legitimation des unbewusst gesteuerten Verhaltens begriffen. Aus der Tatsache
schließlich, dass unser Ich nur begrenzte Einsicht in die Antriebe unseres
Verhaltens hat, ergibt sich zwangsläufig, dass die subjektiv empfundene Freiheit
des Wünschens, Planens und Wollens eine Illusion ist.
In dieser Weise führt Denken, Fühlen, Handeln auf neurobiologischer Grundlage
einen Zentralschlag gegen das ratio-zentristische Weltbild. Wie unzeitgemäß eine
solche Darstellung des Menschen und seines Gehirns in einer noch immer um die
Herrschaft von Vernunft und Rationalität ringenden Epoche ist, erfuhr Gerhard
Roth nach Erscheinen seines Buches:
Ein Teil der Rezensionen sind von Sozialwissenschaftlern und Philosophen
geschrieben worden. Und das ist natürlich insofern verständlich, wenn die das
nicht toll finden, weil diese Leute direkt angegriffen werden. Also wenn man so
ein Buch mit so einem Thema schreibt, muß man sich ein dickes Fell zulegen. Es
wäre eher komisch, wenn alle Leute zustimmend jubeln würden. Das war übrigens
bei meinem ersten Buch, "Das Gehirn und seine Wirklichkeit" nicht anders.
Mittlerweile sind, glaube ich, über dreißigtausend Exemplare verkauft, und es
erfreut sich größter Beliebtheit. Das braucht seine Zeit.
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