Konrad Paul Liessmann Fotografiert von Karl Michalski 42 „Waschmittelwerbung ist wahrscheinlich das Interessanteste auf der Welt“ Konrad Paul Liessmann spricht im Bestseller-­Interview über den medialen Wandel, die ­Verantwortung der W ­ erbung und die ­Konsumbedürfnisse eines Philosophen. Interview von Sebastian Loudon, Gudrun Wolfschluckner Bestseller Die Ästhetik des Alltäglichen und die menschliche Wahrnehmung sind immer ­wieder Thema Ihrer Arbeit. Werbung ist ebenfalls Teil der Alltagsästhetik. Wie nimmt der Privatmensch Liessmann ­Werbung wahr, und wie sehen Sie im ­Vergleich dazu Werbung als philosophischen Gegenstand? Konrad Paul Liessmann Da gibt es einen ­großen Unterschied. Als Privatmensch finde ich Werbung manchmal unterhaltsam, meistens störend, kaum informativ. Nicht, dass ich sie prinzipiell problematisch fände, mich stört in erster Linie das Übermaß an Werbung, dem man ausgesetzt ist. Es gibt fast keine Möglichkeiten mehr, der Werbung zu entgehen, und diese Omnipräsenz schafft eine Situation, in der man eigentlich nur zwei Möglichkeiten hat: sich von dieser Werbung überschüttet zu fühlen und zu ­resignieren oder nach einer Strategie zu ­suchen, ihr zu entgehen, indem man sie zum Beispiel ausblendet, wegfiltert. Das machen viele, doch es widerspricht eigentlich der Idee von Werbung. Also reagiert diese darauf, indem sie versucht, noch eins draufzusetzen, also noch präsenter und ­auffallender und überwältigender zu sein. 1980-2010 | 30 Jahre Bestseller Das ist der Aspekt, der mich an der Werbung stört: diese pausenlose Anschläge auf unsere­S ­ innesorgane. Und als Philosoph betrachtet? Liessmann In Bezug auf die philosophische Reflexion von Werbung sehe ich das ein bisschen anders, weil Werbung natürlich in hohem Maße mit jenen ästhetischen Strategien der Aufmerksamkeitsgewinnung und des Reizangebotes arbeiten muss, die es ja auch in der Kunst, der politischen Rhetorik oder in der religiösen Propaganda immer schon gegeben hat. Mich fasziniert die ­Frage, inwieweit Werbung solche Über­ redungsstrategien wiederholt, verbessert und teilweise sehr innovativ weiterent­ wickelt. Es gibt immer wieder ganz ­bestimmte Gesetze der Wahrnehmung und der Aufmerksamkeitsgewinnung, die man schon in den Handbüchern der antiken Rhetorik nachlesen kann und die bei jedem modernen Werbeclip genauso funktionieren. Natürlich ist Werbung aus diesen Gründen für ­einen Soziologen oder Philosophen eine ­unendliche Fundgrube für ästhetische, ­gesellschaftliche Trends, für die Vorstellungen der Menschen und womit sie in ihrer ­Fantasie spielen. 43 Werbung als Projektionsfläche der immer gleichen Sehnsüchte? Liessmann Aber nicht nur! Natürlich muss man davon aus­ gehen, dass niemand Werbung eins zu eins für wahr hält – da müsste man ja vertrottelt sein. Niemand glaubt wirklich, mit einem Auto die große Freiheit oder die Souveränität über Eis und Schnee zu kaufen, denn er weiß, in der Realität steht er dann im Stau und kommt nicht weiter. Aber die Sehnsucht, die dieses Vehikel als Ausdruck von Freiheit und Naturbeherrschung anspricht, ist immer noch groß. ­Werbung befriedigt auf ihre Art sehr viele ­Sehnsüchte, und an der Werbung kann man geboren 1953 in Villach, ist Professor für Philosophie dann auch die Entwicklungen solcher Sehnund Vizedekan der Fakultät für Philosophie und suchtsstrukturen ablesen – wie sich das Frauen­Bildungswissenschaft an der Universität Wien. Als und Familienbild verändert, wie sich das ­Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist ist er ­Autor ­Design von Gebrauchsgegenständen ändert, zahlreicher Bücher (u.a. „Das Universum der Dinge“, wie sich Werbesujets überhaupt verändern, wie 2010 im Zsolnay Verlag) zu Fragen der Ästhetik, Kunst- sich Natur in der Werbung verändert. Es ist und Kulturphilosophie, Gesellschafts- und Medientheorie doch so: Für einen Soziologen ist die Waschsowie zur Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts. mittelwerbung wahrscheinlich das InteressanLiessmann wurde 2006 zum österreichischen „Wissen- teste auf der Welt. Für uns Konsumenten ist sie schaftler des Jahres“ gekürt und erhielt unter anderem vielleicht das Unerträglichste. Konrad Paul Liessmann den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für ­Toleranz im Denken und Handeln. Werbung ist Ihrer Ansicht nach also nicht ­manipulativ, wie ihr oft vorgeworfen wird? Liessmann Ich glaube, dass der Vorwurf der ­Manipulation viel zu kurz greift. Werbung will Menschen natürlich dazu bewegen, etwas zu tun, was sie ­vorher nicht tun wollten. Wenn wir wirklich den souveränen Konsumenten hätten, der genau wüsste, was er will, dann würde man in der modernen Mediengesellschaft überhaupt keine Werbung mehr brauchen, dann genügt es, wenn Pro­dukte präzise beschrieben im Internet aufzufinden sind. In b ­ estimmten Branchen funktioniert das sogar schon ein bisschen. Werbung hat immer den Sinn, den Menschen auf Dinge aufmerksam zu machen, von denen er noch gar nichts gewusst hat. … auch nicht, dass er sie will … Liessmann (lacht) Genau. Werbung hat natürlich auch die Auf- gabe, Menschen Bedürfnisse zu geben, die sie vorher noch nicht hatten. Das wunderbarste Beispiel dafür ist für mich derzeit das iPad. Kein Mensch hätte so ein Produkt gebraucht, aber jetzt gibt es offensichtlich auch das Bedürfnis danach. Darüber hinaus hat Werbung nicht mehr nur den Sinn, ein Produkt zu ­bewerben, sondern Dominanz, Position und Status der Hersteller zu dokumentieren. Dabei geht es gar nicht mehr um Werbung im eigentlichen Sinne, sondern darum, den Menschen vor ­Augen zu führen, dass sie keinen einzigen Schritt machen ­können – nicht essen, nicht schlafen, nicht zur Bank und zum Fußball gehen und nicht Geschlechtsverkehr haben – ohne dass die Konzerne ihre schützende Hand über sie halten. In der Fachwelt ist derzeit oft von einem Paradigmenwechsel die Rede, wonach es in der Marktkommunikation heute vor allem darum geht, nachhaltig und relevant zu sein. Ist das tatsächlich ein Paradigmenwechsel oder nur eine Modeerscheinung? Liessmann Modeerscheinung würde ich nicht sagen, das wäre ein bisschen zu oberflächlich. Und Paradigmenwechsel ist ­meines Erachtens zu hoch gegriffen – ein Paradigmenwechsel wäre eine wirklich vollkommene und ernst gemeinte Umstellung werbestrategischer Kommunikation auf eine völlig neue 44 Schiene mit völlig neuen Sujets und Strategien – das ist ja nicht der Fall. Die Werbung wächst natürlich auch mit den neuen Kommunikationsmöglichkeiten, die wir haben. Das Interessante ist aber, dass es parallel zu jeder Weiterentwicklung auch nach wie vor die klassischen Werbesujets gibt. Und die bedienen sich teils uralter Gesetze. Genauso wie Werbefotos. Natürlich ändern sich Schönheitsideale und Modestile, aber im Kern werden ganz alte Strategien der Darstellung sichtbar, die von intelligenten Werbefachleuten ganz bewusst gewählt wurden. Können Sie uns ein Beispiel nennen? Liessmann Zum Beispiel die legendären dreiteiligen Palmers-Werbeplakate – ein klassisches Triptychon, eine Kopie des gotischen Flügelaltars. Auch damals wusste man, in drei Bildern kann man wunderbar eine ­Geschichte erzählen. Oder die Triade aus der Römerquelle-Werbung, die perfekte ­Umsetzung eines lasziven Sujets, das seit der Antike bekannt ist. Das ist also alles nichts Neues. Aber ich sehe es natürlich ein, dass aus der Perspektive der Kreativbranche selbst natürlich jede kleine strukturelle Veränderung als Paradigmenwechsel verkauft werden muss. Das schrumpft aber zusammen, wenn man die Versuche der Menschen, andere Menschen zu beeinflussen, über mehr als zweitausend Jahre überblickt. Zum Thema Ethik in der Werbung – in der Branche gibt es immer wieder Diskussionen über Selbstregulierung, Werberat, Zensur und Verantwortung der Werbung. Ist ­Werbung als Produkt und Spiegel der Gesellschaft per se schon legitimiert oder hat sie aus Ihrer Sicht ethische Grenzen und soziale Verantwortung? Liessmann Werbung spiegelt nicht nur, was in der Gesellschaft passiert, sondern sie gibt auch Standards und Normen vor. Werbung befriedigt imaginäre Sehnsüchte der Menschen gerade dann, wenn das Produkt in den Hintergrund und die Geschichte, die um das Produkt erzählt wird, in den Vordergrund tritt. Und dann muss die Geschichte überzeugend sein, Standards und Vorbilder 30 Jahre Bestseller | 1980-2010 „Digitalisierung an sich ist ein philosophisches Phänomen, weil sie ja von einem Philosophen erfunden wurde.“ Konrad Paul Liessmann mitliefern, an denen man sich orientieren kann. Das ist eigentlich eine ursprünglich moralisch-pädagogische Aufgabe, und daraus ergibt sich natürlich eine gewisse Verantwortung. Man muss sich schon klar darüber sein, welche Sujets mit normativen Implikationen man zeigt, und die Werbung ist sich dessen größtenteils durchaus bewusst. Dauerthema ist hier immer Sexismus in der Werbung … Liessmann Das ist ja noch einfach zu lösen. Denn es geht nichts über die erotische Ausstrahlung als Emotionalisierungsstrategie. Deswegen wird man auch auf eine solche erotisierende Werbung, mit der man ja praktisch alles bewerben kann, nicht verzichten. Den logischen Zusammenhang zwischen der Kühlerhaube eines Autos und halbnackten Frauen gibt es ja nicht. Hier soll einfach die erotisierende Wirkung der Frau auf das Produkt übertragen werden. Da wäre ich relativ tolerant und würde sagen, dass man sich deswegen nicht aufregen muss. Erotisierende Werbung nur dort zuzulassen, wo es einen einsichtigen Zusammenhang zu dem beworbenen Produkt gibt, wie jüngst angesichts ­einer inkriminierten Bierwerbung gefordert, halte ich für spießig und auch dumm. Sagen Sie das, weil Sie ein Macho sind, oder aus der Überzeugung eines Soziologen? Liessmann (lacht) Natürlich ist das eine heikle, aber auch künstlich erregte Dis­­­kus­ sion – ich glaube, dass Erotik am auf­ regendsten ist, wenn zwischen den ­ eschlechtern ein Spannungsverhältnis und G nicht diese absolut gleichberechtigte Partner­schaft besteht. Jetzt müssen wir aber im alltäglichen Leben ohnehin diese Partnerschaft leben, und die Kunst und die Werbung liefern noch eines der ­letzten Felder, wo man ein bisschen mit Abweichungen, wenigstens andeutungsweise, spielen kann. Das Spiel mit diesen Normen – nicht das Verletzen – erregt Aufmerksamkeit und hat eine gewisse Tradition. Das wird man auch nicht wegbekommen, und da halte ich die Werbung auch nicht für das geeignete Instru­mentarium, um hier moralischer Vorreiter zu sein. Ein weiterer Punkt – und es gibt viele, wo die Ethik eine Rolle spielt – ist, dass Werbung natürlich auch mit Assoziationen aus dem Feld des Politischen arbeitet. Heute wird eben nicht mehr für politische, sondern für ­Produkt-Revolutionen geworben – aber mit der Silhouette von Che Guevara oder Lenin. Oder auch andersherum: Ich kann mich an einen Geländewagen erinnern, der mit dem Satz ­„Follow the leader“ beworben wurde. Die Assoziation zum ­nationalsozialistischen Programm „Folgt dem Führer!“ ist da eigentlich kaum zu vermeiden. Dieses Spiel mit dem Führermythos der Nazis, bis in die Ästhetik hinein, ist natürlich eine politisch sehr riskante Gratwanderung. Die Sehnsucht nach einem Führer war eben immer schon da … Liessmann Vielleicht, zumindest ist sie von Demagogen aller Zeiten immer wieder angesprochen worden. Die Ethik spielt in der Werbung aber auch eine Rolle, wenn Produkte von Kon­ sumenten aus politischen und oder moralischen Gründen in Frage gestellt werden. Erinnern Sie sich an die Millionen, die Nike für eine Imagekorrektur ausgeben musste, nachdem der Vorwurf der Kinderarbeit aufkam. Werbung muss zunehmend das Image einer Marke oder Firma korrigieren, aufbauen oder überhaupt erst herstellen. Und dies geschieht mitunter mit Strategien, die man auch aus früheren Zeiten kennt. Etwa aus der Selbstdarstellung von Herrscherhäusern, die auch Imageprobleme hatten, bis hin zu den Propagandastrategien von ­politischen Parteien, die sich nicht umsonst wechselseitig mit Spin-Doktoren und Werbefachleuten versorgen. Dass sich ­Parteien heute von denselben Werbegurus beraten lassen wie Wirtschaftsunternehmen, ist ja kein Zufall. Mit dem Internet haben die Konsumenten eine neue Waffe in die Hand bekommen. Produktempfehlungen, Kritiken, heikle Informationen wie Kinderarbeit oder Umweltsünden verbreiten sich viel schneller und bleiben auch gespeichert. Dazu kommt eine zunehmende Sensibilisierung, was Umwelt, Nachhaltigkeit und soziales Gewissen betrifft, und man spricht über den „neuen Konsumenten“, der verantwortungsbewusst konsumieren will, und nicht möglichst viel und billig. Wird das Ihrer Wahrnehmung nach zu einer breiten Veränderung führen, indem ­Unternehmen erkennen, dass es eine Chance ist, tatsächlich ­verantwortungsbewusst zu agieren und das nicht nur irgendwo im Geschäftsbericht zu behaupten? Liessmann In der Frage bin ich vorsichtig. Dieses Phänomen gibt es zweifellos, ich denke aber, dass es letztlich ein Nischen- „Das wirklich Wichtige wird auch weiterhin in analoger Form kommuniziert werden.“ Konrad Paul Liessmann Phänomen ist. Der mündige Konsument, der Zeit hat, sich zu informieren, und sich auch mit ökologischen und ­ökonomischen Arbeitsbedingungen in Indien oder Ostasien auskennt und das auch genau verfolgt – den mag es geben. Und er ist es auch, der Fair-Trade-Produkte kauft und der nicht will, dass seine Nahrungsmittel gentechnisch manipuliert sind. Anderseits sind diese ­Produkte auch Angebote an Menschen, die sich auf einfache Art und Weise ein gutes Gewissen verschaffen wollen. Man kauft ein Fair-Trade-Produkt, und schon hat man ­etwas für die Gerechtigkeit und das ökolo­ gische Gleichgewicht des Planeten getan. Es war ja noch nie so einfach, gut zu sein, es genügt, die richtigen Dinge zu kaufen. Diese ganze Schiene lebt vielleicht weniger von wirklich mündigen Konsumenten als von den Verlockungen einer kaufbaren ­Moral. Dennoch: Die Produktstreiks und Firmenboykotts, die wir erleben, hatten und haben auch eine gesellschaftliche Signal­ wirkung. In der Regel zeigt sich allerdings, dass – soweit ich das verfolgen kann – Unternehmen eine soziale und gesellschaftliche Verantwortung wirklich nur dann übernehmen, wenn es gar nicht mehr anders geht und der Druck so groß ist, dass sie um ihre ­Geschäftsgrundlagen fürchten müssen. Das war auch bei BP und der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko der Fall. Sehr viel, was ­unter dieser Social-Responsibility-Schiene läuft, halte ich eher für Marketing- und Image-Strategie als für wirkliche Einsicht, was es heißt, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Auf der anderen Seite sind Unternehmen, vor allem globale Konzerne, so groß, dass sie aus dieser schieren Größe heraus über das Leben von hunderttausend Menschen entscheiden. So jemand muss Verantwortung übernehmen. Der sogenannte „gläserne Konsument“, ­dessen Konsumgewohnheiten in Datenbanken schlummern und der nur mehr mit ­Produkten und Dienstleistungen konfrontiert wird, von denen irgendein Algorithmus entschieden hat, dass er sich dafür zu interessieren hat. Alarmismus von Datenschützern oder ein ernsthaftes Problem? 30 Jahre Bestseller | 1980-2010 Liessmann Es ist ein Problem, das vielleicht noch nicht so virulent ist, weil die Verknüpfung dieser unterschiedlichsten Daten noch nicht wirklich offensiv betrieben wird. Ich muss ehrlich sagen, ich stehe dem wirklich ambivalent gegenüber: Auf der einen Seite finde ich es interessant und nützlich. Manchmal finde ich es auch ganz lustig, zu versuchen, das System zur Verzweiflung zu bringen, indem ich heterogene Produkte einkaufe. Wenn ich mir auf iTunes etwa zuerst Schönberg und dann The Beach Boys herunter lade, frage ich mich, was sie mir als nächstes empfehlen werden. Die Personalisierung der Kundenbeziehung hat aber selbst für die Unternehmen nega­ tive Konsequenzen. Es ist – schon auch aus Datenschutzgründen – insgesamt eine problematische Entwicklung, aber vor ­allem, weil das Wahrnehmungsspektrum eingeschränkt wird. Bei der Frage über die Verantwortung von Werbung meinten Sie, man müsse die Kirche im Dorf lassen. Die Medien ­dagegen kann man hier wohl nicht so einfach aus der ­Verantwortung lassen … Liessmann Ja, denn man muss sich über eines im Klaren sein: Der Großteil der gesellschaftlichen Kommunikation läuft über die klassischen Medien. Medien generieren quasi überhaupt erst Gesellschaft. Das war bis zu einem gewissen Grad immer der Fall, aber die Medien früher waren natürlich wesentlich ­restringierter. Ein Redner erreicht mit einer Rede nicht gleich ein paar Millionen, auch wenn er auf einem großen Platz spricht. Es ist aber etwas anderes, wenn ich heute einen Hofjournalisten habe, der in der auflagenstärksten Zeitung des Landes Woche für Woche einen Kommentar schreibt. Daraus resultiert diese Verantwortlichkeit von Medien. Gleichzeitig ­haben sie noch andere Funktionen: Sie generieren Öffentlichkeit, sie informieren, sie unterhalten und bedienen unterschiedlichste Kommunikationsbedürfnisse von Menschen. Es zeigt sich, dass die traditionellen Medien noch immer „Erotisierende Werbung nur dort zuzulassen, wo es einen einsichtigen Zusammenhang zu dem beworbenen Produkt gibt, halte ich für spießig und auch dumm.“ Konrad Paul Liessmann schlagkräftiger sind als neue Kommunikationsformen. Das ­ ocial Web ist ja kein Medium, sondern eine KommunikationsS form, die durch die Internet-Technologie möglich geworden ist. Wenn es darum geht, wie man Menschen blitzartig dazu bewegt, auf dem Ballhausplatz zu demonstrieren – das geht über das Internet sehr schnell. Das Social Web hat, wie jede dieser fließenden Kommunikationsformen, aber einen sehr flüchtigen ­Charakter. Man kann schnell mobilisieren und ist auch schnell wieder weg. Es ist ja schon ein Unterschied, ob ein Text in ­einer traditionellen Tageszeitung oder in einem Nachrichtenmagazin wie dem Spiegel erscheint, der eine Woche lang ­gelesen und diskutiert wird. Das hat einen ganz anderen Effekt, als wenn man in einem Chat oder Blog schnell etwas schreibt. Gemessen daran, wie omnipräsent Medien und Werbung im Alltag sind, wird in den Schulen erstaunlich wenig in ­Sachen Medienkompetenz unternommen. Sehen Sie hier ­Handlungsbedarf? 50 Liessmann Da habe ich wahrscheinlich eine unorthodoxe ­Meinung. Ich finde, den Umgang mit Werbung und Medien lernen die Kinder und ­Jugendlichen erstens von selber, und sie sind darin mitunter kompetenter als ihre ­Eltern und Lehrer. Es ist nicht Aufgabe der Schule, das auch noch zu kommentieren, zu verstärken und darüber zu reden. Meine Idee von Schule ist, dass Schule das zu ­zeigen und anzubieten hat, was sonst in der Lebenswelt der Jugendlichen nicht vorkommt, wie etwa ein Gedicht von Hölderlin. Die Schule als Anti-Algorithmus … Liessmann Ja, richtig. Und wer zum Beispiel sein Sprachvermögen an extrem sensiblen Sprachkünstlern wie Hölderlin schult, der hat einfach auch ein anderes Gehör für die Werbesprüche, die ihn den ganzen Tag ­umgeben. Ich würde sogar sagen, es wird schon zu viel Medienerziehung gemacht. Die Schule sollte ein Kontrastprogramm anbieten und zum Beispiel vielmehr die Bilder alter Meister analysieren. Und wenn man sich ­diese Bilder anschaut, erkennt man, das sind dieselben Kompositionstechniken, dieselben Signale und übrigens auch dasselbe Ausmaß an nackter Haut und Erotik, die zum Beispiel klassische Printmedienwerbung heute ­verwendet. Die Kompositionstechnik eines ­religiösen, gegenreformatorischen Propa­ gandakunstwerks etwa kommt den Über­ redungsstrategien der heutigen Werbung ­ziemlich nahe. In unsere Sprache übersetzt, könnte man – leicht ironisch – ­sagen: Das Briefing der von der katholischen Kirche beauftragten Barockkünstler, die ja als Propagandisten der Gegenreformation fungierten, lautete: Der Kunde ist zum Konkurrenten ­gegangen, und du holst ihn für uns zurück. Sie hielten im Oktober einen Vortrag über Fernsehen als Leitmedium … Liessmann Für mich selbst spielt das Fern­ sehen eine völlig untergeordnete Rolle. Insgesamt ist es aber nach wie vor das führende Medium, das den Medienbedürfnissen sehr vieler Menschen entgegenkommt, das ­wirklich Öffentlichkeit erzeugen kann und das wie kein anderes tatsächlich auch im 30 Jahre Bestseller | 1980-2010 Philosophisches Kaffeekränzchen. Konrad Paul Liessmann gibt den ­Bestseller-Redakteuren Gudrun ­Wolfschluckner und Sebastian Loudon Einblicke in seine Medientheorien. ­ uantitativen Sinne Massen gleichzeitig q ­erreicht. Wir sind uns oft gar nicht über die Dimen­sion im Klaren, dass es – etwa beim Endspiel einer Fußballweltmeisterschaft – nur dem Fernsehen gelingt, zum selben Zeitpunkt weltweit mehr als eine Milliarde Menschen dazu zu veranlassen, dasselbe zu tun – nämlich vor der Glotze zu sitzen und sich ein Match anzusehen. Diese Synchronisierung menschlicher Verhaltensweisen im Weltmaßstab ist noch keinem Politiker je ­gelungen und gelingt keinem Printmedium, keiner ­Facebook-Gruppe, nur dem Fernsehen. Ist diese Synchronisierung der Massen ein Wert des Fernsehens, der andauern und trotz Video on Demand erhalten bleiben wird? Liessmann Ja, denn das Wesen des Fernsehens ist es, zu einem Zeitpunkt von einem Ort in theoretisch unendlich viele Haushalte verbreiten zu können. Diese Leistung wird bestehen bleiben und sich nicht in Videoon-Demand-Strukturen auflösen, weil die Menschen auch ein Bedürfnis nach ­Synchronizität haben. Die Zeitung? Ein aussterbendes Medium, s­ agen viele. Liessmann Nein, also ich sehe überhaupt nicht, dass Zeitungen aussterbend sind. Der Zeitungsbegriff reicht von der Gratiszeitung der Wiener U-Bahn bis zur New York Times. Man hat ja fast Scheu, beides Zeitung zu nennen, weil der Unterschied so groß ist. Natürlich ist Zeitung nicht nur das Papier, das ich in der Hand halte, sondern auch die Zeitung, die ich im Internet und am iPad ­lesen kann, aber es gibt Unterschiede. Das Durchblättern der Zeitung als geschlossenes Ganzes im Kaffeehaus ist etwas anderes, als wenn ich mir einzelne Artikel im Internet herunter lade oder von einem Algorithmus in Form einzelner Nachrichten automatisch runter laden lasse. Zeitungen werden wichtig bleiben, und zwar dann, wenn sie ­bestimmten Seriositätsstandards genügen und nicht so impulsiv und spontan hin­ geschrieben werden wie Blogs. Printmedien sind unschlagbar, was Seriosität, Recherche, Hintergrund, Analyse und Details betrifft. 1980-2010 | 30 Jahre Bestseller Zu den Pads und Pods als Medienträger – wo sehen Sie hier die Reise hingehen? Liessmann Es wird diese digitalen Peripherieund Lesegeräte natürlich geben, und sie werden einen bestimmten Typus von ­Zeitungen und Büchern auch ersetzen – nämlich jene, die man nicht unbedingt besitzen will und bei denen eine gespeicherte Datei völlig ausreichend ist. Aber auch die klassische Form des Buches wird auf ab­ sehbare Zeit nicht verschwinden, weil die Speichertechnologie des Buches ja unübertroffen ist. Das ist der Vorteil der Schrift ­gegenüber den höchst fragilen Bedingungen in der digitalen Welt. Die großen Biblio­ theken dieser Erde etwa, die ihre Bestände digitalisiert haben, müssen diese ungefähr alle fünf Jahre umkopieren, weil sich die Standards der Speichermedien bzw. die Speichertechnologien ständig ändern. Es ist ja grotesk! Die Archive der Staatssicherheit der DDR waren auf Magnetbändern gespeichert, und in der ersten Euphorie, dass man plötzlich auch Apple oder IBM kaufen konnte, wurden die alten DDR-Computer nach der Wende einfach entsorgt, sodass ­relevante Dokumente der europäischen ­Geschichte des 20. Jahrhunderts einfach nicht mehr lesbar sind und nie mehr lesbar sein werden. Die Archive der assyrischen Könige wiederum, die vor Jahrtausenden in Keilschrift angelegt wurden, sind dagegen unverwüstlich und von jedem Altorienta­ listen zu lesen. sierung ist natürlich, dass man jede Information, jeden Sinnesreiz in diese digitalen Schritte zerlegen kann – Farben, Bilder, ­Töne. Damit gelingt es, ein Datennetz über die Welt zu erstellen, das man so bislang nicht hatte. Vorher war man bei der Informationsübertragung auf analoge Technologien angewiesen, die nur abbilden und übertragen, nicht aber etwas tatsächlich in eine andere, technisch handhabbare Sprache übersetzen konnten. Das schafft natürlich einerseits unendliche Möglichkeiten, von denen wir alle Nutznießer sind, und auf der anderen Seite auch dieses nostalgische Gefühl, dass die analoge Informationsübertragung doch etwas authentischer war. Ich bin ja ein großer Freak der analogen Schallplatte und habe den Umstieg von ­analogen Tonträgern auf digitale mit Schmerzen mitgemacht. Ich sehe natürlich den großen Vorteil von CDs, aber jetzt, nach nur zwanzig Jahren, muss ich mir schon wieder Gedanken machen, ob ich meine CD-Sammlung entsorgen und alles auf einen großen digitalen Speicher oder auf einen iPod überspielen soll. Die Schallplatte jedoch bleibt, und sie kann mit einem ­Abspielgerät der ersten Stunde zum Klingen gebracht werden. Das Analoge, weil es ­unabhängig von Programmiertechnologien benutzbar ist, erscheint unter diesen ­Perspektiven beständiger zu sein. Wenn wir jetzt wieder die Vogelperspektive einnehmen und uns die Kulturgeschichte vor Augen führen – ist es für Sie vorstellbar, dass Sie haben sich auch philosophisch sehr ­intensiv mit der Digitalisierung unserer Welt, die Entwicklung kippt und es zu einer ­Renaissance des Analogen kommt? in der alle Information und alles Wissen in 0 und 1 aufgelöst werden, beschäftigt. Liessmann Ich würde nicht sagen, dass es ­eine flächendeckende Renaissance des Liessmann Digitalisierung an sich ist ein ­Analogen geben wird, aber das Analoge ­philosophisches Phänomen, weil sie ja von wird als Anker, als Widerpart und Kontrast einem Philosophen erfunden wurde. Diese Möglichkeit, alle Zahlenwerte durch 0 und 1 ­immer existent bleiben, da es stabiler, darzustellen – also durch „Strom ein, Strom ­verlässlicher und auch unmittelbarer ist. Und gerade weil es so ist, würde ich sagen, aus“ – geht ja auf Leibniz zurück. Er hat dass das wirklich Wichtige auch weiterhin das duale System erfunden und auch sofort daran gedacht, eine Maschine zu bauen, die in analoger Form kommuniziert werden wird. Das Flüchtige dagegen wird in digitadamit rechnen kann. Dafür hat man dann ler Form vorhanden sein. Das Meiste im dreihundert Jahre gebraucht. Das zweite ­Leben aber ist flüchtig. philosophisch Interessante an der Digitali- 51