Konrad Paul Liessmann

Werbung
Konrad Paul Liessmann
Fotografiert von Karl Michalski
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„Waschmittelwerbung
ist wahrscheinlich das
Interessanteste auf der Welt“
Konrad Paul Liessmann spricht im
Bestseller-­Interview über den medialen
Wandel, die ­Verantwortung der W
­ erbung
und die ­Konsumbedürfnisse eines Philosophen.
Interview von Sebastian Loudon, Gudrun Wolfschluckner
Bestseller Die Ästhetik des Alltäglichen und die
menschliche Wahrnehmung sind immer
­wieder Thema Ihrer Arbeit. Werbung ist
ebenfalls Teil der Alltagsästhetik. Wie
nimmt der Privatmensch Liessmann
­Werbung wahr, und wie sehen Sie im
­Vergleich dazu Werbung als philosophischen
Gegenstand?
Konrad Paul Liessmann Da gibt es einen
­großen Unterschied. Als Privatmensch finde
ich Werbung manchmal unterhaltsam,
meistens störend, kaum informativ. Nicht,
dass ich sie prinzipiell problematisch fände,
mich stört in erster Linie das Übermaß an
Werbung, dem man ausgesetzt ist. Es gibt
fast keine Möglichkeiten mehr, der Werbung
zu entgehen, und diese Omnipräsenz
schafft eine Situation, in der man eigentlich
nur zwei Möglichkeiten hat: sich von dieser
Werbung überschüttet zu fühlen und zu
­resignieren oder nach einer Strategie zu
­suchen, ihr zu entgehen, indem man sie
zum Beispiel ausblendet, wegfiltert. Das
machen viele, doch es widerspricht eigentlich der Idee von Werbung. Also reagiert
diese darauf, indem sie versucht, noch eins
draufzusetzen, also noch präsenter und
­auffallender und überwältigender zu sein.
1980-2010 | 30 Jahre Bestseller
Das ist der Aspekt, der mich an der Werbung stört: diese pausenlose Anschläge auf
unsere­S
­ innesorgane.
Und als Philosoph betrachtet?
Liessmann In Bezug auf die philosophische
Reflexion von Werbung sehe ich das ein
bisschen anders, weil Werbung natürlich in
hohem Maße mit jenen ästhetischen Strategien der Aufmerksamkeitsgewinnung und
des Reizangebotes arbeiten muss, die es ja
auch in der Kunst, der politischen Rhetorik
oder in der religiösen Propaganda immer
schon gegeben hat. Mich fasziniert die
­Frage, inwieweit Werbung solche Über­
redungsstrategien wiederholt, verbessert
und teilweise sehr innovativ weiterent­
wickelt. Es gibt immer wieder ganz
­bestimmte Gesetze der Wahrnehmung und
der Aufmerksamkeitsgewinnung, die man
schon in den Handbüchern der antiken
Rhetorik nachlesen kann und die bei jedem
modernen Werbeclip genauso funktionieren.
Natürlich ist Werbung aus diesen Gründen
für ­einen Soziologen oder Philosophen eine
­unendliche Fundgrube für ästhetische,
­gesellschaftliche Trends, für die Vorstellungen der Menschen und womit sie in ihrer
­Fantasie spielen.
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Werbung als Projektionsfläche der immer gleichen Sehnsüchte?
Liessmann Aber nicht nur! Natürlich muss man davon aus­
gehen, dass niemand Werbung eins zu eins für wahr hält – da
müsste man ja vertrottelt sein. Niemand glaubt wirklich, mit
einem Auto die große Freiheit oder die Souveränität über Eis
und Schnee zu kaufen, denn er weiß, in der Realität steht er
dann im Stau und kommt nicht weiter. Aber die Sehnsucht, die
dieses Vehikel als Ausdruck von Freiheit und Naturbeherrschung anspricht, ist immer noch groß.
­Werbung befriedigt auf ihre Art sehr viele
­Sehnsüchte, und an der Werbung kann man
geboren 1953 in Villach, ist Professor für Philosophie dann auch die Entwicklungen solcher Sehnund Vizedekan der Fakultät für Philosophie und suchtsstrukturen ablesen – wie sich das Frauen­Bildungswissenschaft an der Universität Wien. Als und Familienbild verändert, wie sich das
­Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist ist er ­Autor ­Design von Gebrauchsgegenständen ändert,
zahlreicher Bücher (u.a. „Das Universum der Dinge“, wie sich Werbesujets überhaupt verändern, wie
2010 im Zsolnay Verlag) zu Fragen der Ästhetik, Kunst- sich Natur in der Werbung verändert. Es ist
und Kulturphilosophie, Gesellschafts- und Medientheorie doch so: Für einen Soziologen ist die Waschsowie zur Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts. mittelwerbung wahrscheinlich das InteressanLiessmann wurde 2006 zum österreichischen „Wissen- teste auf der Welt. Für uns Konsumenten ist sie
schaftler des Jahres“ gekürt und erhielt unter anderem vielleicht das Unerträglichste.
Konrad Paul Liessmann
den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für
­Toleranz im Denken und Handeln.
Werbung ist Ihrer Ansicht nach also nicht
­manipulativ, wie ihr oft vorgeworfen wird?
Liessmann Ich glaube, dass der Vorwurf der
­Manipulation viel zu kurz greift. Werbung will
Menschen natürlich dazu bewegen, etwas zu tun, was sie
­vorher nicht tun wollten. Wenn wir wirklich den souveränen
Konsumenten hätten, der genau wüsste, was er will, dann würde man in der modernen Mediengesellschaft überhaupt keine
Werbung mehr brauchen, dann genügt es, wenn Pro­dukte präzise beschrieben im Internet aufzufinden sind. In b
­ estimmten
Branchen funktioniert das sogar schon ein bisschen. Werbung
hat immer den Sinn, den Menschen auf Dinge aufmerksam zu
machen, von denen er noch gar nichts gewusst hat.
… auch nicht, dass er sie will …
Liessmann (lacht) Genau. Werbung hat natürlich auch die Auf-
gabe, Menschen Bedürfnisse zu geben, die sie vorher noch nicht
hatten. Das wunderbarste Beispiel dafür ist für mich derzeit das
iPad. Kein Mensch hätte so ein Produkt gebraucht, aber jetzt
gibt es offensichtlich auch das Bedürfnis danach. Darüber hinaus hat Werbung nicht mehr nur den Sinn, ein Produkt zu
­bewerben, sondern Dominanz, Position und Status der Hersteller
zu dokumentieren. Dabei geht es gar nicht mehr um Werbung
im eigentlichen Sinne, sondern darum, den Menschen vor
­Augen zu führen, dass sie keinen einzigen Schritt machen
­können – nicht essen, nicht schlafen, nicht zur Bank und zum
Fußball gehen und nicht Geschlechtsverkehr haben – ohne dass
die Konzerne ihre schützende Hand über sie halten.
In der Fachwelt ist derzeit oft von einem Paradigmenwechsel die
Rede, wonach es in der Marktkommunikation heute vor allem
darum geht, nachhaltig und relevant zu sein. Ist das tatsächlich
ein Paradigmenwechsel oder nur eine Modeerscheinung?
Liessmann Modeerscheinung würde ich nicht sagen, das wäre
ein bisschen zu oberflächlich. Und Paradigmenwechsel ist
­meines Erachtens zu hoch gegriffen – ein Paradigmenwechsel
wäre eine wirklich vollkommene und ernst gemeinte Umstellung werbestrategischer Kommunikation auf eine völlig neue
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Schiene mit völlig neuen Sujets und Strategien – das ist ja nicht der Fall. Die Werbung
wächst natürlich auch mit den neuen Kommunikationsmöglichkeiten, die wir haben.
Das Interessante ist aber, dass es parallel zu
jeder Weiterentwicklung auch nach wie vor
die klassischen Werbesujets gibt. Und die
bedienen sich teils uralter Gesetze. Genauso
wie Werbefotos. Natürlich ändern sich
Schönheitsideale und Modestile, aber im
Kern werden ganz alte Strategien der Darstellung sichtbar, die von intelligenten Werbefachleuten ganz bewusst gewählt wurden.
Können Sie uns ein Beispiel nennen?
Liessmann Zum Beispiel die legendären dreiteiligen Palmers-Werbeplakate – ein klassisches Triptychon, eine Kopie des gotischen
Flügelaltars. Auch damals wusste man, in
drei Bildern kann man wunderbar eine
­Geschichte erzählen. Oder die Triade aus
der Römerquelle-Werbung, die perfekte
­Umsetzung eines lasziven Sujets, das seit
der Antike bekannt ist. Das ist also alles
nichts Neues. Aber ich sehe es natürlich ein,
dass aus der Perspektive der Kreativbranche
selbst natürlich jede kleine strukturelle Veränderung als Paradigmenwechsel verkauft
werden muss. Das schrumpft aber zusammen, wenn man die Versuche der Menschen, andere Menschen zu beeinflussen,
über mehr als zweitausend Jahre überblickt.
Zum Thema Ethik in der Werbung – in der
Branche gibt es immer wieder Diskussionen
über Selbstregulierung, Werberat, Zensur
und Verantwortung der Werbung. Ist
­Werbung als Produkt und Spiegel der Gesellschaft per se schon legitimiert oder hat sie
aus Ihrer Sicht ethische Grenzen und soziale
Verantwortung?
Liessmann Werbung spiegelt nicht nur, was
in der Gesellschaft passiert, sondern sie gibt
auch Standards und Normen vor. Werbung
befriedigt imaginäre Sehnsüchte der Menschen gerade dann, wenn das Produkt in
den Hintergrund und die Geschichte, die um
das Produkt erzählt wird, in den Vordergrund tritt. Und dann muss die Geschichte
überzeugend sein, Standards und Vorbilder
30 Jahre Bestseller | 1980-2010
„Digitalisierung an sich ist ein
philosophisches Phänomen, weil sie ja
von einem Philosophen erfunden wurde.“
Konrad Paul Liessmann
mitliefern, an denen man sich orientieren
kann. Das ist eigentlich eine ursprünglich
moralisch-pädagogische Aufgabe, und daraus
ergibt sich natürlich eine gewisse Verantwortung. Man muss sich schon klar darüber
sein, welche Sujets mit normativen Implikationen man zeigt, und die Werbung ist sich
dessen größtenteils durchaus bewusst.
Dauerthema ist hier immer Sexismus in
der Werbung …
Liessmann Das ist ja noch einfach zu lösen.
Denn es geht nichts über die erotische Ausstrahlung als Emotionalisierungsstrategie.
Deswegen wird man auch auf eine solche
erotisierende Werbung, mit der man ja praktisch alles bewerben kann, nicht verzichten.
Den logischen Zusammenhang zwischen der
Kühlerhaube eines Autos und halbnackten
Frauen gibt es ja nicht. Hier soll einfach die
erotisierende Wirkung der Frau auf das Produkt übertragen werden. Da wäre ich relativ
tolerant und würde sagen, dass man sich
deswegen nicht aufregen muss. Erotisierende
Werbung nur dort zuzulassen, wo es einen
einsichtigen Zusammenhang zu dem beworbenen Produkt gibt, wie jüngst angesichts
­einer inkriminierten Bierwerbung gefordert,
halte ich für spießig und auch dumm.
Sagen Sie das, weil Sie ein Macho sind,
oder aus der Überzeugung eines Soziologen?
Liessmann (lacht) Natürlich ist das eine
heikle, aber auch künstlich erregte Dis­­­kus­
sion – ich glaube, dass Erotik am auf­
regendsten ist, wenn zwischen den
­ eschlechtern ein Spannungsverhältnis und
G
nicht diese absolut gleichberechtigte
Partner­schaft besteht. Jetzt müssen wir aber
im alltäglichen Leben ohnehin diese Partnerschaft leben, und die Kunst und die Werbung liefern noch eines der ­letzten Felder,
wo man ein bisschen mit Abweichungen,
wenigstens andeutungsweise, spielen kann.
Das Spiel mit diesen Normen – nicht das
Verletzen – erregt Aufmerksamkeit und hat
eine gewisse Tradition. Das wird man auch
nicht wegbekommen, und da halte ich die
Werbung auch nicht für das geeignete
Instru­mentarium, um hier moralischer Vorreiter zu sein. Ein weiterer Punkt – und es
gibt viele, wo die Ethik eine Rolle spielt – ist,
dass Werbung natürlich auch mit Assoziationen aus dem Feld des Politischen arbeitet.
Heute wird eben nicht mehr für politische, sondern für
­Produkt-Revolutionen geworben – aber mit der Silhouette von
Che Guevara oder Lenin. Oder auch andersherum: Ich kann
mich an einen Geländewagen erinnern, der mit dem Satz
­„Follow the leader“ beworben wurde. Die Assoziation zum
­nationalsozialistischen Programm „Folgt dem Führer!“ ist da
eigentlich kaum zu vermeiden. Dieses Spiel mit dem Führermythos der Nazis, bis in die Ästhetik hinein, ist natürlich eine
politisch sehr riskante Gratwanderung.
Die Sehnsucht nach einem Führer war eben immer schon da …
Liessmann Vielleicht, zumindest ist sie von Demagogen aller
Zeiten immer wieder angesprochen worden. Die Ethik spielt in
der Werbung aber auch eine Rolle, wenn Produkte von Kon­
sumenten aus politischen und oder moralischen Gründen in
Frage gestellt werden. Erinnern Sie sich an die Millionen, die
Nike für eine Imagekorrektur ausgeben musste, nachdem der
Vorwurf der Kinderarbeit aufkam. Werbung muss zunehmend
das Image einer Marke oder Firma korrigieren, aufbauen oder
überhaupt erst herstellen. Und dies geschieht mitunter mit
Strategien, die man auch aus früheren Zeiten kennt. Etwa aus
der Selbstdarstellung von Herrscherhäusern, die auch Imageprobleme hatten, bis hin zu den Propagandastrategien von
­politischen Parteien, die sich nicht umsonst wechselseitig mit
Spin-Doktoren und Werbefachleuten versorgen. Dass sich
­Parteien heute von denselben Werbegurus beraten lassen wie
Wirtschaftsunternehmen, ist ja kein Zufall.
Mit dem Internet haben die Konsumenten eine neue Waffe in
die Hand bekommen. Produktempfehlungen, Kritiken, heikle
Informationen wie Kinderarbeit oder Umweltsünden verbreiten
sich viel schneller und bleiben auch gespeichert. Dazu kommt
eine zunehmende Sensibilisierung, was Umwelt, Nachhaltigkeit
und soziales Gewissen betrifft, und man spricht über den „neuen Konsumenten“, der verantwortungsbewusst konsumieren
will, und nicht möglichst viel und billig. Wird das Ihrer Wahrnehmung nach zu einer breiten Veränderung führen, indem
­Unternehmen erkennen, dass es eine Chance ist, tatsächlich
­verantwortungsbewusst zu agieren und das nicht nur irgendwo
im Geschäftsbericht zu behaupten?
Liessmann In der Frage bin ich vorsichtig. Dieses Phänomen
gibt es zweifellos, ich denke aber, dass es letztlich ein Nischen-
„Das wirklich Wichtige
wird auch weiterhin
in analoger Form
kommuniziert werden.“
Konrad Paul Liessmann
Phänomen ist. Der mündige Konsument,
der Zeit hat, sich zu informieren, und sich
auch mit ökologischen und ­ökonomischen
Arbeitsbedingungen in Indien oder Ostasien
auskennt und das auch genau verfolgt –
den mag es geben. Und er ist es auch, der
Fair-Trade-Produkte kauft und der nicht will,
dass seine Nahrungsmittel gentechnisch
manipuliert sind. Anderseits sind diese
­Produkte auch Angebote an Menschen, die
sich auf einfache Art und Weise ein gutes
Gewissen verschaffen wollen. Man kauft ein
Fair-Trade-Produkt, und schon hat man
­etwas für die Gerechtigkeit und das ökolo­
gische Gleichgewicht des Planeten getan.
Es war ja noch nie so einfach, gut zu sein,
es genügt, die richtigen Dinge zu kaufen.
Diese ganze Schiene lebt vielleicht weniger
von wirklich mündigen Konsumenten als
von den Verlockungen einer kaufbaren
­Moral. Dennoch: Die Produktstreiks und
Firmenboykotts, die wir erleben, hatten und
haben auch eine gesellschaftliche Signal­
wirkung. In der Regel zeigt sich allerdings,
dass – soweit ich das verfolgen kann – Unternehmen eine soziale und gesellschaftliche Verantwortung wirklich nur dann übernehmen, wenn es gar nicht mehr anders
geht und der Druck so groß ist, dass sie um
ihre ­Geschäftsgrundlagen fürchten müssen.
Das war auch bei BP und der Ölkatastrophe
im Golf von Mexiko der Fall. Sehr viel, was
­unter dieser Social-Responsibility-Schiene
läuft, halte ich eher für Marketing- und
Image-Strategie als für wirkliche Einsicht,
was es heißt, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Auf der anderen Seite
sind Unternehmen, vor allem globale Konzerne, so groß, dass sie aus dieser schieren
Größe heraus über das Leben von hunderttausend Menschen entscheiden. So jemand
muss Verantwortung übernehmen.
Der sogenannte „gläserne Konsument“,
­dessen Konsumgewohnheiten in Datenbanken schlummern und der nur mehr mit
­Produkten und Dienstleistungen konfrontiert
wird, von denen irgendein Algorithmus entschieden hat, dass er sich dafür zu interessieren hat. Alarmismus von Datenschützern
oder ein ernsthaftes Problem?
30 Jahre Bestseller | 1980-2010
Liessmann Es ist ein Problem, das vielleicht noch nicht so virulent ist, weil die Verknüpfung dieser unterschiedlichsten Daten
noch nicht wirklich offensiv betrieben wird. Ich muss ehrlich
sagen, ich stehe dem wirklich ambivalent gegenüber: Auf der
einen Seite finde ich es interessant und nützlich. Manchmal
finde ich es auch ganz lustig, zu versuchen, das System zur
Verzweiflung zu bringen, indem ich heterogene Produkte einkaufe. Wenn ich mir auf iTunes etwa zuerst Schönberg und
dann The Beach Boys herunter lade, frage ich mich, was sie
mir als nächstes empfehlen werden. Die Personalisierung der
Kundenbeziehung hat aber selbst für die Unternehmen nega­
tive Konsequenzen. Es ist – schon auch aus Datenschutzgründen – insgesamt eine problematische Entwicklung, aber vor
­allem, weil das Wahrnehmungsspektrum eingeschränkt wird.
Bei der Frage über die Verantwortung von Werbung meinten
Sie, man müsse die Kirche im Dorf lassen. Die Medien
­dagegen kann man hier wohl nicht so einfach aus der
­Verantwortung lassen …
Liessmann Ja, denn man muss sich über eines im Klaren sein:
Der Großteil der gesellschaftlichen Kommunikation läuft über
die klassischen Medien. Medien generieren quasi überhaupt
erst Gesellschaft. Das war bis zu einem gewissen Grad immer
der Fall, aber die Medien früher waren natürlich wesentlich
­restringierter. Ein Redner erreicht mit einer Rede nicht gleich
ein paar Millionen, auch wenn er auf einem großen Platz
spricht. Es ist aber etwas anderes, wenn ich heute einen Hofjournalisten habe, der in der auflagenstärksten Zeitung des
Landes Woche für Woche einen Kommentar schreibt. Daraus
resultiert diese Verantwortlichkeit von Medien. Gleichzeitig
­haben sie noch andere Funktionen: Sie generieren Öffentlichkeit, sie informieren, sie unterhalten und bedienen unterschiedlichste Kommunikationsbedürfnisse von Menschen.
Es zeigt sich, dass die traditionellen Medien noch immer
„Erotisierende Werbung nur dort zuzulassen,
wo es einen einsichtigen Zusammenhang zu
dem beworbenen Produkt gibt, halte ich für
spießig und auch dumm.“ Konrad Paul Liessmann
schlagkräftiger sind als neue Kommunikationsformen. Das
­ ocial Web ist ja kein Medium, sondern eine KommunikationsS
form, die durch die Internet-Technologie möglich geworden ist.
Wenn es darum geht, wie man Menschen blitzartig dazu bewegt, auf dem Ballhausplatz zu demonstrieren – das geht über
das Internet sehr schnell. Das Social Web hat, wie jede dieser
fließenden Kommunikationsformen, aber einen sehr flüchtigen
­Charakter. Man kann schnell mobilisieren und ist auch schnell
wieder weg. Es ist ja schon ein Unterschied, ob ein Text in
­einer traditionellen Tageszeitung oder in einem Nachrichtenmagazin wie dem Spiegel erscheint, der eine Woche lang
­gelesen und diskutiert wird. Das hat einen ganz anderen Effekt,
als wenn man in einem Chat oder Blog schnell etwas schreibt.
Gemessen daran, wie omnipräsent Medien und Werbung
im Alltag sind, wird in den Schulen erstaunlich wenig in
­Sachen Medienkompetenz unternommen. Sehen Sie hier
­Handlungsbedarf?
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Liessmann Da habe ich wahrscheinlich eine
unorthodoxe ­Meinung. Ich finde, den Umgang mit Werbung und Medien lernen die
Kinder und ­Jugendlichen erstens von selber,
und sie sind darin mitunter kompetenter als
ihre ­Eltern und Lehrer. Es ist nicht Aufgabe
der Schule, das auch noch zu kommentieren, zu verstärken und darüber zu reden.
Meine Idee von Schule ist, dass Schule das
zu ­zeigen und anzubieten hat, was sonst in
der Lebenswelt der Jugendlichen nicht vorkommt, wie etwa ein Gedicht von Hölderlin.
Die Schule als Anti-Algorithmus …
Liessmann Ja, richtig. Und wer zum Beispiel
sein Sprachvermögen an extrem sensiblen
Sprachkünstlern wie Hölderlin schult, der
hat einfach auch ein anderes Gehör für die
Werbesprüche, die ihn den ganzen Tag
­umgeben. Ich würde sogar sagen, es wird
schon zu viel Medienerziehung gemacht. Die
Schule sollte ein Kontrastprogramm anbieten
und zum Beispiel vielmehr die Bilder alter
Meister analysieren. Und wenn man sich
­diese Bilder anschaut, erkennt man, das sind
dieselben Kompositionstechniken, dieselben
Signale und übrigens auch dasselbe Ausmaß
an nackter Haut und Erotik, die zum Beispiel
klassische Printmedienwerbung heute
­verwendet. Die Kompositionstechnik eines
­religiösen, gegenreformatorischen Propa­
gandakunstwerks etwa kommt den Über­
redungsstrategien der heutigen Werbung
­ziemlich nahe. In unsere Sprache übersetzt,
könnte man – leicht ironisch – ­sagen: Das
Briefing der von der katholischen Kirche beauftragten Barockkünstler, die ja als Propagandisten der Gegenreformation fungierten,
lautete: Der Kunde ist zum Konkurrenten
­gegangen, und du holst ihn für uns zurück.
Sie hielten im Oktober einen Vortrag über
Fernsehen als Leitmedium …
Liessmann Für mich selbst spielt das Fern­
sehen eine völlig untergeordnete Rolle.
Insgesamt ist es aber nach wie vor das führende Medium, das den Medienbedürfnissen
sehr vieler Menschen entgegenkommt, das
­wirklich Öffentlichkeit erzeugen kann und
das wie kein anderes tatsächlich auch im
30 Jahre Bestseller | 1980-2010
Philosophisches Kaffeekränzchen.
Konrad Paul Liessmann gibt den
­Bestseller-Redakteuren Gudrun
­Wolfschluckner und Sebastian Loudon
Einblicke in seine Medientheorien.
­ uantitativen Sinne Massen gleichzeitig
q
­erreicht. Wir sind uns oft gar nicht über die
Dimen­sion im Klaren, dass es – etwa beim
Endspiel einer Fußballweltmeisterschaft –
nur dem Fernsehen gelingt, zum selben Zeitpunkt weltweit mehr als eine Milliarde Menschen dazu zu veranlassen, dasselbe zu tun
– nämlich vor der Glotze zu sitzen und sich
ein Match anzusehen. Diese Synchronisierung menschlicher Verhaltensweisen im
Weltmaßstab ist noch keinem Politiker je
­gelungen und gelingt keinem Printmedium,
keiner ­Facebook-Gruppe, nur dem Fernsehen.
Ist diese Synchronisierung der Massen ein
Wert des Fernsehens, der andauern und trotz
Video on Demand erhalten bleiben wird?
Liessmann Ja, denn das Wesen des Fernsehens ist es, zu einem Zeitpunkt von einem
Ort in theoretisch unendlich viele Haushalte
verbreiten zu können. Diese Leistung wird
bestehen bleiben und sich nicht in Videoon-Demand-Strukturen auflösen, weil die
Menschen auch ein Bedürfnis nach
­Synchronizität haben.
Die Zeitung? Ein aussterbendes Medium,
s­ agen viele.
Liessmann Nein, also ich sehe überhaupt
nicht, dass Zeitungen aussterbend sind. Der
Zeitungsbegriff reicht von der Gratiszeitung
der Wiener U-Bahn bis zur New York Times.
Man hat ja fast Scheu, beides Zeitung zu
nennen, weil der Unterschied so groß ist.
Natürlich ist Zeitung nicht nur das Papier,
das ich in der Hand halte, sondern auch die
Zeitung, die ich im Internet und am iPad
­lesen kann, aber es gibt Unterschiede. Das
Durchblättern der Zeitung als geschlossenes
Ganzes im Kaffeehaus ist etwas anderes, als
wenn ich mir einzelne Artikel im Internet
herunter lade oder von einem Algorithmus
in Form einzelner Nachrichten automatisch
runter laden lasse. Zeitungen werden wichtig bleiben, und zwar dann, wenn sie
­bestimmten Seriositätsstandards genügen
und nicht so impulsiv und spontan hin­
geschrieben werden wie Blogs. Printmedien
sind unschlagbar, was Seriosität, Recherche,
Hintergrund, Analyse und Details betrifft.
1980-2010 | 30 Jahre Bestseller
Zu den Pads und Pods als Medienträger –
wo sehen Sie hier die Reise hingehen?
Liessmann Es wird diese digitalen Peripherieund Lesegeräte natürlich geben, und sie
werden einen bestimmten Typus von
­Zeitungen und Büchern auch ersetzen –
nämlich jene, die man nicht unbedingt besitzen will und bei denen eine gespeicherte
Datei völlig ausreichend ist. Aber auch die
klassische Form des Buches wird auf ab­
sehbare Zeit nicht verschwinden, weil die
Speichertechnologie des Buches ja unübertroffen ist. Das ist der Vorteil der Schrift
­gegenüber den höchst fragilen Bedingungen
in der digitalen Welt. Die großen Biblio­
theken dieser Erde etwa, die ihre Bestände
digitalisiert haben, müssen diese ungefähr
alle fünf Jahre umkopieren, weil sich die
Standards der Speichermedien bzw. die
Speichertechnologien ständig ändern. Es ist
ja grotesk! Die Archive der Staatssicherheit
der DDR waren auf Magnetbändern gespeichert, und in der ersten Euphorie, dass man
plötzlich auch Apple oder IBM kaufen
konnte, wurden die alten DDR-Computer
nach der Wende einfach entsorgt, sodass
­relevante Dokumente der europäischen
­Geschichte des 20. Jahrhunderts einfach
nicht mehr lesbar sind und nie mehr lesbar
sein werden. Die Archive der assyrischen
Könige wiederum, die vor Jahrtausenden in
Keilschrift angelegt wurden, sind dagegen
unverwüstlich und von jedem Altorienta­
listen zu lesen.
sierung ist natürlich, dass man jede Information, jeden Sinnesreiz in diese digitalen
Schritte zerlegen kann – Farben, Bilder,
­Töne. Damit gelingt es, ein Datennetz über
die Welt zu erstellen, das man so bislang
nicht hatte. Vorher war man bei der Informationsübertragung auf analoge Technologien angewiesen, die nur abbilden und
übertragen, nicht aber etwas tatsächlich in
eine andere, technisch handhabbare Sprache übersetzen konnten. Das schafft natürlich einerseits unendliche Möglichkeiten,
von denen wir alle Nutznießer sind, und
auf der anderen Seite auch dieses nostalgische Gefühl, dass die analoge Informationsübertragung doch etwas authentischer war.
Ich bin ja ein großer Freak der analogen
Schallplatte und habe den Umstieg von
­analogen Tonträgern auf digitale mit
Schmerzen mitgemacht. Ich sehe natürlich
den großen Vorteil von CDs, aber jetzt,
nach nur zwanzig Jahren, muss ich mir
schon wieder Gedanken machen, ob ich
meine CD-Sammlung entsorgen und alles
auf einen großen digitalen Speicher oder auf
einen iPod überspielen soll. Die Schallplatte
jedoch bleibt, und sie kann mit einem
­Abspielgerät der ersten Stunde zum Klingen
gebracht werden. Das Analoge, weil es
­unabhängig von Programmiertechnologien
benutzbar ist, erscheint unter diesen
­Perspektiven beständiger zu sein.
Wenn wir jetzt wieder die Vogelperspektive
einnehmen und uns die Kulturgeschichte vor
Augen führen – ist es für Sie vorstellbar, dass
Sie haben sich auch philosophisch sehr
­intensiv mit der Digitalisierung unserer Welt, die Entwicklung kippt und es zu einer
­Renaissance des Analogen kommt?
in der alle Information und alles Wissen in
0 und 1 aufgelöst werden, beschäftigt.
Liessmann Ich würde nicht sagen, dass es
­eine flächendeckende Renaissance des
Liessmann Digitalisierung an sich ist ein
­Analogen geben wird, aber das Analoge
­philosophisches Phänomen, weil sie ja von
wird als Anker, als Widerpart und Kontrast
einem Philosophen erfunden wurde. Diese
Möglichkeit, alle Zahlenwerte durch 0 und 1 ­immer existent bleiben, da es stabiler,
darzustellen – also durch „Strom ein, Strom ­verlässlicher und auch unmittelbarer ist.
Und gerade weil es so ist, würde ich sagen,
aus“ – geht ja auf Leibniz zurück. Er hat
dass das wirklich Wichtige auch weiterhin
das duale System erfunden und auch sofort
daran gedacht, eine Maschine zu bauen, die in analoger Form kommuniziert werden
wird. Das Flüchtige dagegen wird in digitadamit rechnen kann. Dafür hat man dann
ler Form vorhanden sein. Das Meiste im
dreihundert Jahre gebraucht. Das zweite
­Leben aber ist flüchtig.
philosophisch Interessante an der Digitali-
51
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