Beitrag zur 1. Konferenz SCIENCE & SOCIETY Stammzellenforschung Stammzellenforschung und ihre kulturellen Folgen veranstaltet vom Institut für Kommunikation und Kultur der Universität Luzern Dr. Bärbel Hüsing Fraunhofer-Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung Karlsruhe, Deutschland Luzern, 30.-31. Oktober 2002 1 Der Umgang einer Gesellschaft mit neuen Technologien entwickelt sich in Abhängigkeit von ihren kulturellen, religiösen und rechtlichen Traditionen, und dürfte umgekehrt auch Rückwirkungen auf diese Traditionen haben und zu ihrem langfristigen Wandel beitragen. Mit Bezug auf die Stammzellforschung möchte ich folgende Aspekte zu möglichen kulturellen Folgen ansprechen: • Stellenwert von Reparatur- zu Präventivmedizin • Menschen als Ressource für therapeutisch einsetzbares Zellmaterial • Verkürzung der gesellschaftlichen Debatte auf ausgewählte Aspekte • Türöffner-Funktion in angrenzenden biomedizinischen Bereichen, slippery slope Stellenwert von Reparatur- zu Präventivmedizin Ein wesentliches, immer prominent herausgestelltes Ziel der Stammzellforschung ist die Entwicklung neuartiger Therapiekonzepte für schwere Erkrankungen, die heutzutage nicht oder nur unzureichend behandelt werden können. Die Nutzung sowohl adulter als auch embryonaler Stammzellen für therapeutische Zwecke ist Element einer "regenerativen Medizin" und verheißt, Gewebe- und Organschädigungen zu beheben, um auf diese Weise Krankheiten zu heilen oder zumindest zu lindern, die Lebensqualität der Patienten zu erhöhen und ihr Leben zu verlängern. Damit fügt sich die therapeutisch ausgerichtete Stammzellenforschung aber in das Bild einer "Reparaturmedizin" ein, die insbesondere dann tätig wird, wenn Schädigungen von Krankheitswert bereits aufgetreten sind. Zwar ist diese Form der Medizin unverzichtbar, doch ist gesellschaftlich zu klären, welcher Stellenwert ihr in Relation zu einer vorsorgenden, auf den Erhalt der Gesundheit ausgerichteten Medizin in unserem Gesundheitswesen zukommen soll. Menschen als Ressource für therapeutisch einsetzbares Zellmaterial Innerhalb einer "Reparaturmedizin" weist die therapeutisch ausgerichtete Stammzellenforschung das Charakteristikum auf, dass sie sich in besonderem Maße des Menschen als Ressource für das Zellmaterial bedient, das für die Therapien erforderlich ist. Für unser Menschen- und Gesellschaftsbild (bzw. dessen Wandel) ist es jedoch von erheblicher Bedeutung, ob Menschen es akzeptabel und normal finden, Ersatzgewebe für sich selbst aus ihren Körpern biotechnologisch nachzuziehen. Dies erscheint im Falle derjenigen adulten Stammzellen, die aus vergleichsweise leicht zugänglichen Geweben gewonnen werden, noch relativ unproblematisch, sofern etablierte medizinethische Prinzipien (z. B. der freiwilligen und informierten Zustimmung, der Richtlinien zur Forschung am Menschen, des Nichtschadensprinzips) gewahrt werden. Demgegenüber haben andere Optionen teilweise schon – polemisch ausgedrückt – Züge von "Kannibalismus" oder "moderner Sklavenhaltung" an sich, indem sie bestimmte Gruppen von Menschen dafür heranziehen (z. B. Frauen als Eizellenlieferantinnen im Falle der Gewinnung von nt-ES-Zellen, 2 schwangere Frauen bei Schwangerschaftsabbruch zur Gewinnung fetaler bzw. von EG-Zellen) bzw. töten oder ihren Tod zur Zellgewinnung nutzen (z. B. menschliche Embryonen zur Gewinnung von ES-Zellen, abgetriebene oder abortierte Embryonen und Feten zur Gewinnung fetaler Stammzellen und EG-Zellen, therapeutische Klone zur Gewinnung von ntES-Zellen). Verkürzung der gesellschaftlichen Debatte auf ausgewählte Aspekte Analysiert man den Verlauf der gesellschaftlichen Debatte über die Stammzellenforschung, so zeigt sich, dass sie in der Regel schnell auf die Gewinnung von und Forschung an embryonalen Stammzellen zugespitzt wird. Die ist zum einen verständlich, da es gerade dieser Bereich der Stammzellenforschung ist, der in ethische und rechtliche Grenzbereiche vorstößt und besonders kontrovers beurteilt wird. Zum anderen ist die Thematik der Stammzellforschung sehr komplex, vielschichtig, nur in einer interdisziplinären Betrachtungsweise unter Integration naturwissenschaftlich-medizinischer, ethischer und rechtlicher Aspekte erschließbar und teilweise durch eine abgehobene "akademische" Argumentation geprägt. Dies lässt Mechanismen der Komplexitätsreduktion, z. B. eine Verkürzung der Debatte auf ausgewählte Aspekte, greifen. Naturwissenschaftlich-medizinische Erkenntnisse werden international generiert, doch konfligiert dies mit den sehr unterschiedlichen, regional entwickelten ethisch-rechtliche Traditionen in Bezug auf den Status und die Schutzwürdigkeit des menschlichen Embryos. Die Tatsache, dass es hierbei sehr unterschiedliche, jeweils gut begründete Positionen gibt und in pluralistischen Gesellschaften kein vollständiger Konsens in diesen Fragen erwartet werden kann, darf jedoch nicht als ein Freibrief zu einem kulturellen und ethischen Relativismus verstanden werden, sondern vielmehr als Aufforderung, sich unter Berücksichtigung des heutigen empirischen Kenntnisstandes und unter Anwendung allgemein verbindlicher Wertmaßstäbe und Prinzipien um eine tragfähige Lösung zu bemühen. Eine für mich offene Frage ist, ob und wenn ja, wie eine gesellschaftliche Debatte zu gestalten ist, die diesen Anforderungen gerecht wird. Türöffner-Funktion in angrenzenden biomedizinischen Bereichen, slippery slope Meiner Meinung nach ist es erforderlich, ein breiteres "framing" des Stammzellenproblems zu wählen als eine Diskussion der Option, inwieweit so genannte "überzählige" Embryonen aus In-vitro-Fertilisation, die ohnehin vernichtet würden, für Forschungszwecke bzw. zur Gewinnung von ES-Zellen genutzt werden dürfen. Mit der In-vitro-Fertilisation gewann der Mensch erstmals absolute Verfügungsmacht über das Leben selbst in seinen frühesten Stadien. Angesichts dieser Möglichkeiten wurden in der Schweiz bewusst durch die Bundesverfassung, das Fortpflanzungsmedizingesetz sowie die zur Ratifizierung empfohlene Bioethikkonvention hohe Hürden errichtet, um z. B. die gezielte Zeugung von menschlichen Embryonen für 3 Forschungszwecke, die verbrauchende Embryonenforschung, die Hybrid- und Chimärenbildung, Präimplantationsdiagnostik und Keimbahngentherapie sowie alle Arten des Klonens auszuschließen. Sofern die Forschung an sowie die Gewinnung von embryonalen Stammzellen aus "überzähligen" Embryonen aus In-vitroFertilisation in der Schweiz zulässig würde, habe ich die Befürchtung, dass dies mittel- bis langfristig dazu führen könnte, dass die bisher errichteten Hürden gegen eine Instrumentalisierung menschlichen Lebens in seinen frühesten Stadien zu erodieren beginnen. Zum einen könnte ein indirekter Anreiz für die gezielte Erzeugung "überzähliger" Embryonen im Rahmen der Fortpflanzungshilfe geschaffen werden. Dann würde ihr Entstehen aber nicht nur hingenommen, sondern auch gewollt und gutgeheißen. Dies könnte eine Türöffnerfunktion für die Erzeugung von Embryonen rein zu Forschungszwecken außerhalb reproduktionsmedizinischer Zielsetzung haben. Sofern sich embryonale Stammzell-Linien tatsächlich als therapeutisch anwendbar erweisen sollten, dürfte dies der bereits heute erhobenen Forderung nach der Zulässigkeit des "therapeutischen Klonens" weiteren Nachdruck verleihen und damit möglicherweise auch indirekt dem zurzeit weitgehend geächteten reproduktiven Klonen im Rahmen der Reproduktionsmedizin Vorschub leisten. Zudem sehe ich die Gefahr, dass das "spaltbreite Öffnen einer Tür" zur fremdnützigen Embryonenforschung es argumentativ immer schwieriger macht, weitere Begehrlichkeiten wie beispielsweise nach Präimplantationsdiagnostik in der Reproduktionsmedizin oder auch nach gentechnischen Eingriffen in die Keimbahn, die am Embryo in vitro ansetzen, zurückzuweisen. Meiner Meinung nach müssen diese Interaktionen in biomedizinischen Entwicklungslinien sorgfältig mitbedacht und mitberücksichtigt werden, wenn – vermeintlich – "nur" Entscheidungen über "überzählige", ohnehin dem Tode geweihte Embryonen getroffen werden. Der verlässliche Schutz des Embryos ist zum einen Ausdruck der in unserer Kultur verankerten Menschenwürdeposition. Zum anderen kommt ihm eine symbolische Funktion und Bedeutung zu. Er steht für den Schutz aller, die sich nicht selbst schützen und hierfür auch nicht selbst argumentieren können.