Neue Z}rcer Zeitung INLAND Donnerstag, 21.03.2002 Nr.67 15 Stammzellen – der Blick aus dem Labor Erst theoretisches Wissen ermöglicht ein ethisches Urteil Von Sibylle Ackermann* Das Bundesamt für Gesundheit erarbeitet zurzeit einen Entwurf für ein Embryonenforschungsgesetz, das den Umgang mit menschlichen Stammzellen regeln soll. Hier meldet sich eine Theologin und Biologin in der Stammzellen-Debatte zu Wort. Sie beobachtet den unspektakulären Alltag im Labor. Ihre Eindrücke verbindet sie mit der ethischen Frage, ob Embryonen für die Forschung verbraucht werden dürfen. Der Einblick in den Laboralltag ermöglicht eine konkrete Vorstellung von der Arbeit mit embryonalen Stammzellen (in diesem Fall mit denjenigen von Mäusen). Diese Sicht aus der Praxis wurde bisher vernachlässigt, obwohl sie bei der Beurteilung der Stammzellen-Technologie eine wichtige Rolle spielt. Die Gegenüberstellung der Beobachtung im Labor und der ethischen Reflexion kann nämlich Hintergründe vermitteln, die die unterschiedliche Beurteilung der Stammzellenforschung durch Naturwissenschafter, Ethiker, Politiker und Laien erklärt. Unspektakuläre Forschung Was bei einem Gang durch das Labor auffällt, ist das Unspektakuläre der Stammzellenforschung. Sowohl die wenige Tage alten Embryonen, aus denen die Stammzellen gewonnen werden, als auch die Stammzellen selber sind von blossem Auge nicht sichtbar. Nur Plasticschälchen, gefüllt mit Nährlösung, sind zu sehen. Erst mit Hilfe des Mikroskops werden die Stammzellen und Blastozysten sichtbar. Letztere sind wenige Tage alte Embryonen. In der Vergrösserung erscheinen sie als kleine Zellkugeln. Dieser Blick auf Embryonen und Stammzellen macht es schwierig, sich vorzustellen, dass zwischen den beiden Gebilden in ethischer Hinsicht ein grosser Unterschied besteht. Bei den Stammzellen handelt es sich um Zellen, denen keine besondere Schutzwürdigkeit zukommt (so wie beispielsweise auch Blutzellen keinen besonderen Status geniessen). Die Blastozyste hingegen bildet einen sich entwickelnden Organismus. Beim Arbeiten mit den Zellen ist dieser fundamentale Unterschied nicht erfahrbar. Erst theoretisches Wissen über die Embryonalentwicklung ermöglicht es, die Blastozyste als heranwachsendes Lebewesen einzuordnen. Die Arbeit mit Mäuse-Stammzellen zeigt, wie unscheinbar und unspektakulär die Zucht von © 2002 Neue Zürcher Zeitung AG Stammzelllinien vor sich geht. Für die Gewinnung embryonaler Stammzellen wird der in vitro gezeugte Embryo statt in den Uterus der Maus auf einen nährenden «Zellrasen» gebracht. Durch das spezielle Nährmedium bildet sich kein organisiert heranwachsender Embryo, sondern eine undifferenzierte Stammzellen-Kolonie. Dieses Prozedere wirkt auf den Forscher nicht belastend: Man beobachtet keinen Schmerz des Embryos. Auch das Abtöten erscheint wenig bedenklich, da sich nur eine Verschiebung der Blastozysten auf eine bestimmte Zellunterlage beobachten lässt. Die Zellen wachsen weiter. Es ist denn auch nicht die empirische Beobachtung, die zur Infragestellung der Stammzellenforschung führt. Aussagen, die solche Eingriffe als nicht verantwortbar beurteilen, gründen auf einer Wertschätzung des geborenen Lebens, das bis zum Beginn seiner Entwicklung in der Zygote kontinuierlich zurückgeführt wird. Die ethische Problematik ergibt sich aus der Tatsache, dass auch der sehr frühe Embryo ein heranwachsender Mensch ist. Heranwachsende Menschen zu schützen, ist tief in unserem Menschen- und Weltbild verankert. Auf diesem Menschenbild gründet der Einsatz für Humanität und Menschenrechte. Dieses Fundament sollte keinesfalls erschüttert oder untergraben werden. Dennoch kann aus der Beobachtung des Laboralltags diese Position in Frage gestellt werden. Beim Gedanken an «zu schützende heranwachsende Menschen» tauchen in unseren Köpfen Bilder von Kindern, Säuglingen, Feten und späten Embryonen auf. Deren Gestalt entspricht in unserer Vorstellung einer Verkleinerung des uns vertrauten Menschen. Die unmittelbare Wahrnehmung der Blastozyste hingegen liefert keine Hinweise auf ihren Status als heranwachsender Mensch. Das Dilemma Blatt 1 Neue Z}rcer Zeitung INLAND Vor diesem Hintergrund wird das Dilemma der Stammzellenforschung neu fassbar. Erst unser Wissen darum, dass die Blastozyste zu Menschengestalt heranwächst, ermöglicht uns, die Wahrnehmung der Blastozyste zu deuten. Gleichzeitig legt es die fehlende Sichtbarkeit nahe, den Vorgang der Stammzellengewinnung im Verhältnis zu den erhofften biomedizinischen Fortschritten als akzeptabel zu beurteilen. Um den Konflikt um die Forschung mit frühen Embryonen zu erfassen, muss es uns gelingen, die empirische Wahrnehmung der Blastozyste mit den Reflexionen über den heranwachsenden © 2002 Neue Zürcher Zeitung AG Donnerstag, 21.03.2002 Nr.67 15 Menschen zusammenzuführen. Auch wenn sich bei der Gewinnung embryonaler Stammzellen nur ein unspektakulärer Vorgang an der winzigen Blastozyste beobachten lässt, handelt es sich um Forschung, die menschliche Embryonen verbraucht. Die Zellbällchen sind sich entwickelnde, heranwachsende Menschen. Daher bleibt zu begründen, was ihren Einsatz zur Stammzellenforschung rechtfertigt. * Sibylle Ackermann ist Theologin und angehende Biologin in Freiburg. Sie arbeitet als Assistentin an einem Forschungsprojekt des Schweizerischen Nationalfonds über die ethischen Probleme der Xenotransplantation. Blatt 2 Neue Z}rcer Zeitung INLAND Donnerstag, 21.03.2002 Nr.67 15 Stammzellen-Diskussion in der NZZ zz. Die Forschung an menschlichen Stammzellen – sozusagen Urzellen, aus denen sich je nach Stammzellenart viele oder gar alle Zelltypen eines Lebewesens entwickeln können – ist umstritten. Vor allem die Gewinnung von Stammzellen wirft ethische Fragen auf. Die NZZ beleuchtet in einer losen Folge von Artikeln verschiedene Seiten der Problematik (auf NZZ Online unter www.nzz.ch/biomedizin). © 2002 Neue Zürcher Zeitung AG Blatt 1