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Neue Z}rcer Zeitung
INLAND
Montag, 06.05.2002 Nr.103
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«Etwas weniger Angst im Herzen»
Die Stammzellen-Debatte aus der Sicht eines Theologen
Noch im Mai soll der Bundesrat einen Entwurf für ein Embryonenforschungsgesetz in
die Vernehmlassung geben. Die Diskussionen darüber finden auch in den Nachbarländern statt. Deutschland hat die Debatte bereits zu einem grossen Teil hinter sich
gebracht. Ein deutscher Theologe, der daran beteiligt war, hat in Zürich über seine Erfahrungen berichtet. Sie sind auch für die hiesige Auseinandersetzung bedenkenswert.
hof. Deutschland hat der Schweiz etwas voraus:
Das Gesetz, das den Umgang mit embryonalen
Stammzellen regelt, ist bereits geschrieben und
der Öffentlichkeit bekannt. In der Schweiz erwartet man, dass der Bundesrat seinen bis anhin noch
unter Verschluss gehaltenen Entwurf eines Bundesgesetzes über die Embryonenforschung bis
Ende Mai in die Vernehmlassung schickt.
Dann könnte auch eine Debatte über die Grenzen der Forschung beginnen. Bisher war die
öffentliche Auseinandersetzung über die Stammzellenforschung in der Schweiz eher lau. Dies
ganz im Gegensatz zu Deutschland: Dort gipfelte
die Diskussion, die in den Kirchen genauso heftig
wie in den Medien geführt wurde, in einer stundenlangen und gehaltvollen Parlamentsdebatte
und im nun vorliegenden Entwurf eines «Gesetzes zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im
Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung
menschlicher embryonaler Stammzellen».
Politischer Kompromiss
Klaus Tanner, Professor für systematische
Theologie an der Universität Halle, hat die Streitereien rund um die Stammzellenforschung als
Mitglied
der
deutschen
Enquête-Kommission
«Recht und Ethik der modernen Medizin», eines
Gremiums des Bundestages, hautnah miterlebt
und mitgestaltet. Am Freitag hat er in Zürich auf
Einladung des Ethik-Zentrums der Universität
Zürich von seinen Erfahrungen berichtet.
Deutschlands Lösung der Stammzellenfrage
mündete in einen Kompromiss, der von vielen
Seiten (auch von dieser Zeitung) kritisiert wurde:
Zwar dürfen menschliche embryonale Stammzellen aus dem Ausland importiert werden, um
daran zu forschen, in Deutschland ist die Herstellung solcher Stammzellen aber verboten. Der einflussreiche Molekularbiologe Jens Reich schrieb
dazu, dass man damit meisterlich eine klare Entscheidung vermieden habe. Andere wiesen auf die
Doppelmoral hin oder bemängelten die fehlende
Rationalität.
© 2002 Neue Zürcher Zeitung AG
Tanner, der für eine liberalere Lösung eingestanden ist, teilt diese Kritik nicht. Denn der Weg,
den Deutschland in der Stammzellenforschung
gehe, sei der zurzeit politisch vertretbare: «Die
Politik gehorcht nicht dem Entweder-oder. Am
Schluss einer demokratischen Auseinandersetzung kommt immer das heraus, was keiner gewollt hat, nämlich ein Konsens.» Mit dem Kompromiss sei eine Versachlichung der sehr hitzig
geführten Debatte eingetreten. Insbesondere auf
die katholischen Abgeordneten des Bundestages
sei massiv Druck ausgeübt worden. Nun seien
sich alle zumindest darin einig, dass die Frage, ob
man an Embryonen Forschung betreiben dürfe,
nicht einfach zu beantworten sei. Man habe eingesehen, dass man hier vor einem Dilemma stehe.
Wie weit darf man gehen, um kranken Menschen
die Möglichkeit einer Heilung zu eröffnen?
Regeln, was man nicht kennt
Die ethisch diffizilen Umstände seien dadurch
erschwert worden, dass man etwas regeln musste,
worüber man noch nicht sehr viel weiss, sagte
Tanner. Die Forschung an Stammzellen steht
noch in ihren Anfängen. Auch die Zellbiologen
sind sich in vielen grundlegenden Fragen nicht
einig. Man sei an die Grenzen der parlamentarischen Möglichkeiten gelangt. Das Abitur-Biologiewissen reichte nicht aus. Es dürfe allerdings
auch nicht verlangt werden, dass alle Politiker von
der Sache Bescheid wissen. Umso wichtiger sei
die Glaubwürdigkeit einzelner Personen, die die
Positionen nach aussen vertreten.
Allerdings sei der öffentliche Diskurs, nach
dem so oft verlangt werde, ein schwieriges Unterfangen. Denn sobald er da ist, sei keiner mit ihm
zufrieden, da er seine Interessen zu wenig vertreten sieht. Doch dem Druck einzelner Gruppen
müsse man standhalten: «Es dürfen sich keine
Milieusprachen durchsetzen, weder diejenige der
Biologen noch diejenige der Philosophen.»
Unbehagen an der modernen Kultur
Blatt 1
Neue Z}rcer Zeitung
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Insgesamt habe sich gezeigt, dass die Einschätzung der möglichen kulturellen Folgen der
Stammzellenforschung in der Debatte entscheidend war. «Naturwissenschaftliche Fortschritte
werfen uns auf die kulturelle Dimension zurück»,
sagte Tanner. In Deutschland sei eine «Heuristik
der Furcht» vorherrschend: Man glaubt lieber der
schlechten als der guten Prognose. Doch Forschung sei immer ungewiss. Die Unsicherheit sei
gerade ihr Wesen, sagte Tanner. An der Stammzellenforschung hätte sich das alte Unbehagen an
der modernen Kultur neu artikulieren können.
Man habe Angst vor der Eigengesetzlichkeit der
Forschung und der Macht der Ökonomie. Dies
führe zu einem Gefühl der Ohnmacht.
© 2002 Neue Zürcher Zeitung AG
Montag, 06.05.2002 Nr.103
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Tanner forderte daher zum einen dazu auf, die
wirtschaftlichen Verflechtungen und Abhängigkeiten der Forschung genau zu erfassen, und zum
anderen,
die
«Entwicklung
einer
ethischen
Kultur» zu fördern. Dies sei der beste Schutz vor
dem Missbrauch der Forschungsfreiheit, vor dem
das Recht in Form strenger Gesetze nicht genügend schützen könne. «Was wollen wir: eine
Kultur des Vertrauens oder des Misstrauens?»
Klaus Tanner sprach sich für das Vertrauen aus
oder als Theologe, der er ist, für «etwas weniger
Angst im Herzen».
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Stammzellen-Diskussion in der NZZ
zz. Die Forschung an menschlichen Stammzellen –
sozusagen
Urzellen,
aus
denen
sich
je
nach
Stammzellenart viele oder gar alle Zelltypen eines Lebewesens entwickeln können – ist umstritten. Vor allem
die Gewinnung von Stammzellen wirft ethische Fragen
auf. Die NZZ beleuchtet in einer losen Folge von Artikeln verschiedene Seiten der Problematik (auf NZZ Online unter www.nzz.ch/biomedizin).
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