Die Beurteilung psychotraumatischer Folgen im Strafprozess E. Griebnitz, B. Kofler-Westergren Dezember 2016 Trauma … ist ein Ereignis, welches mit den vorhandenen Ressourcen nicht adäquat bewältigt werden kann. Zentrale Frage aus forensischneuropsychiatrischer Sicht „Ist es durch ein Ereignis zur Ausbildung einer eigenständigen krankheitswertigen Störung gekommen.“ • Gewaltschutzgesetz 2006 Stärkt die Rolle des Opfers • „Schwere“ der psychischen Folgen wesentlichen Einfluss auf das Strafausmaß Schmerzengeld ist jene materielle Entschädigung, die gerechtfertigt erscheint, um den Betroffenen in die Lage zu versetzen, sich als Ausgleich für diese Leiden und statt der ihm entzogenen Lebensfreude auf andere Weise gewisse Annehmlichkeiten und Erleichterungen zu verschaffen. Forensisch-psychiatrische Bedeutung „seelischer Schmerzen“ Strafprozess: „Schwere“ psychischer Leidenszustände (gem. § 84 Abs. 1 StGB) Zivilprozess: Schmerzengeld Schwere Körperverletzung § 84 Abs. 1 STGB: Hat die Tat eine länger als 24 Tage dauernde Gesundheitsschädigung oder Berufsunfähigkeit zur Folge oder ist die Verletzung oder Gesundheitsstörung an sich schwer, so ist der Täter …. An sich schwere Körperverletzungen sind …. besonders schmerzhafte Verletzungen oder solche, bei denen Heilungsverlauf und –aussichten längere Zeit ungewiss sind. Trauma Trauma Unspezifische (individuelle) Reaktionsbildung Art der psychischen Störung erlaubt keinen Rückschluss auf die Traumaart Diagnostik • Realität des Ereignisses obliegt der Würdigung durch das Gericht • Subjektive Beschwerden‡ psychopathologische Symptome Internationale Skalen Psychiatrie • Fremdbeurteilungs-Skalen: HAMD • Selbstbeurteilungsskalen: PD-S, DSI, SDS; FPI, IPDE Psychometrische Testverfahren • SKT v. Erzigkeit • Pauli Test • Wiener Determinationsgerät Checklisten und Fragebögen zur Erfassung traumatischer Ereignisse • Impact of Event Scale-Revised (IES-R) (Weiss et Marmar, 1997) • Posttraumatic Diagnostic Scale (PDS) (Foa, Cashman, Jaycox et Perry, 1997) • Harvard Trauma Questionnaire (HTQ) (Mollica RF et al., 1992) • Clinician-Administered PTSD Scale (CAPS) (Blake D.D. et al., 1995) Einteilung in spezifische und unspezifische Trauma- bzw. Gewaltfolgen Spezifische Trauma- und Gewaltfolgen: PTBS, komplexe PTBS, anhaltende Trauer, Anpassungsstörungen Unspezifische Trauma- und Gewaltfolgen: Depression, Persönlichkeits-, Angst-, Substanzkonsumstörungen Diagnose nach ICD-10, DSM IV PTSD keine Störung Anpassungsstörung Dissoziative Störung Somatisierungsstörung etc. Intensität Dauer Spätfolgen physiologische Trauer Posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10 F43.1) ….. verzögerte ….. Reaktion ….. Ereignis ….. bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung ….. Anpassungsstörung (ICD-10 F43.2) „…. um Zustände von subjektivem Leiden und emotionaler Beeinträchtigung, die soziale Funktionen und Leistungen behindern ….“ Kausalitätsbeurteilung • PTBS, Anpassungsstörung einfach – Trauma ist wesentliche Ursache • Andere psychische Störungen Schwierig meist nicht monokausal „Baustein-Effekt“ Wahrscheinlichkeit für Traumafolgestörungen steigt bei erfolgten traumatischen Vorerfahrungen (Neuner et al, 2004) Traumata in Kindheit Persönlichkeitsstörungen (Sack et al 2013) PTBS – Substanzabhängigkeit (2-4fach) (Mc Conley et al 2012) PTBS Männer 85-88% - Depression, Alkoholmissbrauch Frauen 78-80% (Maercker u.Hecker 2015) Risiko für Entwicklung einer PTBS in Abhängigkeit von Art des Traumas • • • • • • • Sexualisierte Gewalt im Erwachsenenalter: Kindesmissbrauch: Kriegserleben: Schwere körperliche Gewalt: Schwere Unfälle: Zeuge von Unfällen und Gewalt: Feuer/Naturkatastrophen: 37-50% 35% 25-38% 11% 7-11% 2-7% 0-5% Traumabewältigung beeinflussende Faktoren • • • • • Prämorbide Persönlichkeit (Neurosebereitschaft) Trauma-Art Geschlecht (Frauen:Männer = 2:1) Berufsgruppenzugehörigkeit Sekundäre Faktoren überlanger Krankenstand medizinisch-psychologische Überbehandlung übertriebene Obsorge Schilderung möglicher Spätfolgen Arbeitsplatzverlust offene Verfahren Resilienzkonzept • Widerstandskraft, psychische Robustheit • Faktoren für ein unbeschadetes Überstehen negativer Bedingungen Betonung liegt auf Ressourcen ≠ Defizite Genaue Beschreibung der vorliegenden psychiatrischen Störbilder (Diagnostik nach ICD 10, DSM IV – wenn möglich) Beschreibung psychodynamischer Zusammenhänge (Brückensymptome) aus sachverständiger Sicht Unter Berücksichtigung, dass die Aussagen (Opfer, Täter, Zeugen) der Beweiswürdigung des Gerichtes vorbehalten sind. Diagnostik (Objektivierung) „seelischer Schmerzen“ Individuelle Disposition genetische Belastung Persönlichkeitsstruktur psycho-soziale Belastungsfaktoren Schwere des „Ereignisses“ Aktuelle Symptome und bisheriger Krankheitsverlauf Behandlungen (Beginn, Art, Dauer) Berufliche und außerberufliche Aktivitäten Beurteilung von Verdeutlichungstendenzen „Aggravationsdiagnostik“ Individuelle psychische Vulnerabilität • • • • • Lebensalter Vorbestehende Traumatisierungen Persönlichkeitsstruktur (Resilienz) Selbstbezug (Narzissmus) Anspruchshaltung an die Gesellschaft Conclusio • Beurteilung von Psychotraumafolgen ist komplex aber möglich • Kausalitätskette bei unspezifischen Trauma- und Gewaltfolgen problematisch • Die „Schwere“ der Folgestörung hat Auswirkungen, nicht nur für den Betroffenen sondern auch für den Verursacher (Täter) Fall 1: Frau B., geb. 1956 Auftrag LG: psychische Beeinträchtigung Schmerzperioden fragliche schwere Körperverletzung Überfall auf Tabak Trafik 5/2012 - Faustfeuerwaffe Überfall auch 4/2012 Fall 1: Lebensgeschichte Geb. 1956 intakte familiäre Verhältnisse strenger Vater – körperliche Züchtigung VS, HS, Poly. 1976 Ehe (Glaserer) – 4 Kinder Ab 2000 Verkäuferin – Tabak Trafik FK: keine schweren keine psychiatrischen od. psychotherapeutischen Behandlungen Drogen: keine Stimmungsanamnese: o.B. FA: psychiatrisch leer Fall 1: Überfall: Verlauf: beschäftigt – Polizei daheim gezittert, geweint 2 Wochen Urlaub Rückzugstendenz Albträume, Ängstlichkeit 1 psychologisches Gespräch Keine Medikamente Psychodiagnostik: IQ i.N. Gedächtnis und Aufmerksamkeit Paulhus Offenheitsskala i.N. IPDE i.N. SSV: Fall1 Beispiele biologisch determinierte Verhaltensweisen (1) o o o o o o o o o o o o Schlafen Erbrechen Aufmerksam und konzentriert sein Gierig sein Schenken Essen Stuhldrang Sich bewegen Erstarren (sich nicht bewegen können) Angst haben Frei und glücklich sein Sich auseinandersetzen mit Menschen, Situationen, Problemen SSV: Fall 1 Beispiele biologisch determinierte Verhaltensweisen (2) o o o o o o o o o o o o Personen ausweichen Sich sexuell bestätigen Sich geistig beschäftigen Trinken Harndrang Streiten Friedfertig sein Kämpfen (Alles) über sich ergehen lassen Neidig sein Gönnen Arbeiten SSV: Fall 1 Beispiele biologisch determinierte Verhaltensweisen (3) o o o o o o o o o o o Ruhen Reden Zuhören Sich freuen Sich ärgern Lachen Weinen Zwischenmenschliche Kontakte pflegen Sich zurückziehen Fröhlich sein Traurig sein Fall 1 Diagnostik (Objektivierung) „seelischer Schmerzen“ Individuelle Disposition sicher vorhanden fraglich nicht vorhanden Genetisch X Persönlichkeitstypisch X Lebensevents Akute psycho-soz. Belastung x X Fall 1 Diagnostik (Objektivierung)„seelischer Schmerzen“ „Geeignetes“ Ereignis Typische Symptomatologie Behandlung sicher vorhanden fraglich X Biolog. (med.) Psychotherap. Verdeutlichungstendenzen nicht vorhanden X X X Fall 1 Diagnostik (Objektivierung) „seelischer Schmerzen“ Störungsverlauf sicher vorhanden fraglich Intervallartige Symptomatik Chron. abnehmende Sympt. nicht vorhanden X X Fluktuierende Symptomatik X Zunehmende Symptomatik X Grad der Beeinträchtigung sicher vorhanden fraglich Beruflich X Privat X nicht vorhanden Fall 1: Diagnose: Angst und depressive Störung gemischt als Reaktion auf eine schwere Belastung (ICD 10 F43.8) Schwere Körperverletzung – vergleichbar: Schmerzperioden: nein schwere mittelstarke 1 Tag leichte 4-5 Wochen Fall 2: Frau D., geb. 1952 Auftrag BG: psychische Beeinträchtigung (PTBS) Notwendigkeit einer Psychotherapie Hundebiss 4/2014 Fall 2: Lebensgeschichte Geb. 1952 Intakte fam. Verhältnisse Glückliche Kindheit; erfülltes Leben VS, HS, Poly Friseurmeisterin – Pension seit 2007 FK: SA: PRIND 2000 psychiatrisch oB. oB. FA: psychiatrisch leer Fall 2: Verlauf: Ereignis: Hundebiss in Brust (fraglich durch chir. GA objektiviert) „das Schlimmste, was mir im Leben je passiert ist“ Ständig Schmerzen, stat. an chir. Abt., Neurologie → Psychotherapie 10 ThE – Verschlechterung Ab 7/2014 AD Psychodiagnostik: IQ: i.N. Gedächtnis u. Aufmerksamkeit: i.N. Paulhus Offenheitsskala: i.N. IPDE: schizoide u. anankastische Tendenzen Fall 2 Diagnostik (Objektivierung) „seelischer Schmerzen“ Individuelle Disposition sicher vorhanden fraglich Genetisch Persönlichkeitstypisch nicht vorhanden X X Lebensevents X Akute psycho-soz. Belastung X Fall 2 Diagnostik (Objektivierung) „seelischer Schmerzen“ „Geeignetes“ Ereignis sicher vorhanden Typische Symptomatologie X Behandlung Biolog. (med.) X Psychotherap. X Verdeutlichungstendenzen fraglich X nicht vorhanden Fall 2 Diagnostik (Objektivierung) „seelischer Schmerzen“ Störungsverlauf sicher vorhanden fraglich Intervallartige Symptomatik X Chron. abnehmende Sympt. Fluktuierende Symptomatik X X Zunehmende Symptomatik Grad der Beeinträchtigung nicht vorhanden X sicher vorhanden fraglich nicht vorhanden Beruflich / / / Privat X Fall 2 Diagnose: Akute Belastungsreaktion (F43.0) Angst u. depress. Reaktion gemischt (F43.22) Phobien (canzero) (F40.2) Schwere Körperverletzung: vergleichbar ja Fall 3: Frau I., geb. 1994 Auftrag LG: § 84 StGB Schwerer sexueller Missbrauch 1998 – 2008 d. leiblichen Vater Anzeige 6/2011 Mutter 2006 verst. – ungewünscht Vater LKW-Fahrer – IVP „Tyrann“ 5 Geschwister (mit 3 gemeinsam aufgewachsen) 4 VS, 4 HS, derzeit 2. HTL Fall 3: Lebensgeschichte Geb. 1994 FK: SA: Neurodermitis (4 – 14 Lebensjahr) Regelblutung 2011 ausgefallen Magersucht Stat. Psychiatrie 10.06. – 16.06.2010 SMV – Med. Intoxikation Seit 2009 Einzelbetreuung Jugendwohlfahrt Diagnose: mittelgradig depressive Episode (ICD 10 F32.1) St.p. SMV Fall 3: Ab ~ 2010 Verlauf: massive Albträume Schweißneigung, Tagesmüdigkeit Trauergefühl jetzt Besserung Psychodiagnostik: IQ: 113 (Ravens Matrizentest) Kognitrone: überdurchschnittlich Paulhus Offenheitssk: soziale Erwünschtheit FPI-R: Offenheit , Zufriedenheit ,emotional labil CAPS: 44 Pkt. SSV: Fall 3 Beispiele biologisch determinierte Verhaltensweisen (1) o o o o o o o o o o o o Schlafen Erbrechen Aufmerksam und konzentriert sein Gierig sein Schenken Essen Stuhldrang Sich bewegen Erstarren (sich nicht bewegen können) Angst haben Frei und glücklich sein Sich auseinandersetzen mit Menschen, Situationen, Problemen SSV: Fall 3 Beispiele biologisch determinierte Verhaltensweisen (2) o o o o o o o o o o o o Personen ausweichen Sich sexuell bestätigen Sich geistig beschäftigen Trinken Harndrang Streiten Friedfertig sein Kämpfen (Alles) über sich ergehen lassen Neidig sein Gönnen Arbeiten Fall 3 Diagnostik (Objektivierung) „seelischer Schmerzen“ Individuelle Disposition sicher vorhanden fraglich Genetisch X Persönlichkeitstypisch X Lebensevents X Akute psycho-soz. Belastung X nicht vorhanden Fall 3 Diagnostik (Objektivierung) „seelischer Schmerzen“ „Geeignetes“ Ereignis Typische Symptomatologie Behandlung sicher vorhanden Verdeutlichungstendenzen nicht vorhanden X Biolog. (med.) Psychotherap. fraglich X X X Fall 3 Diagnostik (Objektivierung) „seelischer Schmerzen“ Störungsverlauf sicher vorhanden fraglich Intervallartige Symptomatik Chron. abnehmende Sympt. nicht vorhanden X X Fluktuierende Symptomatik X Zunehmende Symptomatik X Grad der Beeinträchtigung sicher vorhanden Beruflich X Privat X fraglich nicht vorhanden