Kapitel 6 Relativbewegung, Inertialsysteme und die Relativitätstheorie 6.1 Relativbewegung Im ersten Kapitel (Mechanik) haben wir gelernt, dass sowohl Ruhe wie Bewegung relative Begri↵e sind. Wenn ein Zug z.B. durch eine Station fährt, befindet er sich relativ zur Station in Bewegung. Ein Passagier des Zuges kann aber genau so gut sagen, dass sich die Station relativ zum Zug in Bewegung befindet, und zwar in entgegengesetzter Richtung. Wir schliessen daraus: Die Bewegung muss immer relativ zu einem bestimmten Koordinatensystem (oder Bezugssystem) definiert werden. Wir sagen, dass ein Bezugssystem vom “Beobachter” gewählt wird. Der Beobachter befindet sich im Ursprung seines Bezugssystems. Seine Beobachtungen und seine Experimente werden relativ zu seinem Bezugssystem durchgeführt. Siehe Abb. 6.1. Am Beispiel des Zuges, der durch die Station fährt, haben wir zwei Beobachter mit zwei verschiedenen Bezugssystemen betrachtet. Ein Beobachter, der sich mit dem Zug bewegt, und ein zweiter, der sich in Ruhe in der Station befindet. Da verschiedene Beobachter verschiedene Bezugssysteme verwenden, ist es wichtig, zu wissen, wie Beobachtungen, die von verschiedenen Beobachtern gemacht werden, miteinander in Beziehung stehen. 193 194 Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) y ey Beobachter ex Ursprung O x ez z Abbildung 6.1: Definition des Beobachters und seines Bezugssystems. 6.1.1 Transformation von einem Bezugssystem ins andere Wir betrachten zwei Beobachter O und O0 , die sich relativ zueinander bewegen. Beide Beobachter O und O0 kennen die Gesetze der Mechanik und beobachten dasselbe “Ereignis , z.B. die Bewegung eines Körpers entlang seiner Bahn. ” Siehe Abb. 6.2. Beobachter O und O0 messen die Bahnkurve des Körpers als Funktion der Zeit. Sie benutzen identische Uhren, um die Zeiteinheit zu definieren. Beide Beobachter werden die Bahn relativ zu ihrem eigenen Koordinatensystem definieren. Die Ortsvektoren als Funktion der Zeit werden bezeichnet als O:0 O: r = r(t) r 0 = r 0 (t0 ) (6.1) Eine Bemerkung bezüglich der Zeit: Beide Beobachter benutzen identische Uhren. Wir nehmen an, dass beide Uhren synchronisiert wurden, und deshalb verwenden beide Beobachter die gleiche Zeit: t = t0 (6.2) Das scheint eine vernünftige Annahme zu sein (aber sie gilt nur, wenn die Zeit unabhängig von der Bewegung des Beobachters ist. Siehe später.). Wir leiten die Gleichungen der Transformation für den Ortsvektor und die Zeit von einem Bezugssystem ins andere her: ⇢ ⇢ 0 0 r(t) = R(t) + r 0 (t0 ) r (t ) = R(t) + r(t) (6.3) 0 t = t t0 = t | {z } | {z } Übergang von O0 nach O Übergang von O nach O 0 Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) 195 y0 e0y y ex x z0 ez x0 e0z R(t) O e0x O0 ey r 0 (t) r(t) z Abbildung 6.2: Definition von zwei Beobachtern, die die Bewegung eines Körpers messen. Wir nehmen an: t = t0 . Für die Transformation der Geschwindigkeit von O0 nach O gilt v(t) = dr(t) d dR(t) dr 0 (t) dR(t) = {R(t) + r 0 (t)} = + = + v0 dt dt dt dt dt wobei v0 = dr 0 (t) dr 0 (t0 ) = dt dt0 (6.4) (6.5) die Geschwindigkeit des Körpers gemessen relativ zum Beobachter O0 ist. Es folgt, dass die Transformation der Geschwindigkeit gleich v(t) |{z} = a(t) |{z} = dR(t) + dt relativ zu O v 0 (t) |{z} (6.6) relativ zu O’ ist. Aus einer entsprechenden Herleitung folgt die Transformation der Beschleunigung: relativ zu O d2 R(t) + dt2 a0 (t) |{z} (6.7) relativ zu O’ Im Allgemeinen folgt aus den Tranformationsgleichungen: Verschiedene Beobachter, die sich relativ zueinander bewegen, messen verschiedene Geschwindigkeiten und Beschleunigungen. 196 Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) 6.2 Inertialsysteme Das erste Newtonsche Gesetz (Trägheitsprinzip) sagt, dass ein Körper in Ruhe bleibt oder sich mit konstanter Geschwindigkeit bewegt, wenn keine resultierende Kraft auf ihn wirkt. D.h., dass die Beschleunigung des Körpers gleich null ist, wenn die resultierende Kraft, die auf den Körper wirkt, verschwindet. Im Allgemeinen werden zwei Beobachter nicht dieselbe Beschleunigung beobachten, d.h. a(t) |{z} = relativ zu O d2 R(t) + a0 (t) |{z} dt2 relativ zu O’ Wir bemerken: ) a(t) |{z} 6= relativ zu O a0 (t) |{z} für d2 R(t) 6= 0 dt2 relativ zu O’ (6.8) Wenn die zwei Beobachter eine unterschiedliche Beschleunigung messen, kann das zweite Newtonsche Gesetz nicht für beide Beobachter gelten (wenn sie beide dieselbe Kraft messen)! Im Fall, dass die auf den Körper wirkende resultierende Kraft verschwindet, muss die gemessene Beschleunigung gleich null sein. Aber wenn d2 R(t) 6= 0 (6.9) dt2 gilt, kann die Beschleunigung nicht gleichzeitig für beide Beobachter verschwinden. Wir haben damit bewiesen, dass die Newtonschen Gesetze nicht in allen Bezugssystemen gelten! Ein Bezugssystem, in dem die Newtonschen Gesetze gelten, heisst Inertialsystem. Damit die Beschleunigung in O und O0 gleich ist, muss die relative Beschleunigung der Beobachter verschwinden: a(t) |{z} relativ zu O = a0 (t) |{z} für d2 R(t) =0 dt2 =) dR(t) = Konst. dt (6.10) relativ zu O’ Wir schliessen daraus: Verschiedene Inertialsysteme bewegen sich relativ zueinander mit konstanter Geschwindigkeit. 6.3 6.3.1 Beschleunigte Bezugssysteme und Scheinkräfte Definition der Scheinkraft Welches Ergebnis bekommen wir, wenn wir die Beschleunigung eines Körpers relativ zu einem Bezugssystem O0 messen, das sich relativ zu einem Inertialsys- Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) 197 tem O beschleunigt wird ? In diesem Fall stimmt im beschleunigten Bezugssystem die resultierende Kraft, die auf den Körper wirkt, nicht mit dem Produkt der Masse und der gemessenen Beschleunigung überein (Siehe Gl. 6.7): Inertialsystem O : F = ma ⇣ Bezugssystem O0 : F = 6 ma0 = m a d2 R(t) dt2 ⌘ (6.11) Wenn wir das zweite Newtonsche Gesetz in einem beschleunigten Bezugssystem anwenden wollen, müssen wir fiktive Kräfte (oder Scheinkräfte) einführen. Diese fiktiven Kräfte werden nicht wirklich wirken. Sie dienen als Hilfsmittel, damit die Beziehung F 0 = ma0 auch für Beschleunigungen gilt, die relativ zum Nicht-Inertialsystem gemessen werden. Aus der Gl. 6.11 finden wir: F 0 = ma0 = ma m d2 R(t) d2 R(t) 0 =) F = F + m dt2 dt2 } | {z (6.12) Scheinkraft 6.3.2 Rotierendes Bezugssystem Wir betrachten eine um eine feste Drehachse rotierende Scheibe, auf der ein Körper sitzt. Die Drehung der Scheibe um die Drehachse wird mit Hilfe des Drehwinkels beschrieben. Wir nehmen an, dass die Winkelgeschwindigkeit der Scheibe, die durch ! = d /dt gegeben ist, konstant ist: ! = Konst. =) (t) = !t (6.13) Jeder Punkt auf der Scheibe bewegt sich auf einer Kreisbahn und wird deshalb beschleunigt. Ein Bezugssystem O0 , das mit der Scheibe verbunden ist, ist daher kein Inertialsystem! Für einen Beobachter in einem Inertialsystem O dreht sich der bezüglich O’ ruhende Körper mit einer Geschwindigkeit v im Kreis und wird deshalb zum Kreiszentrum beschleunigt. Wir verwenden die Polarkoordinaten (r, ') bezüglich O mit Einheitvektoren er und e . Für den (sich drehenden) Beobachter O’ sind die Koordinaten (r0 , '0 ) mit Einheitvektoren e0r und e0 . Es gilt für die Transformation von O nach O’: ⇢ r0 = r '0 = ' !t 8 dr0 dr > > = < dt dt =) 0 > > : d' = d' dt dt ! 8 2 0 dr d2 r > > = < dt2 dt2 =) 2 0 2 > > : d' =d' dt2 dt2 (6.14) 198 Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) Im Kap. 2 haben wir die Beschleunigung in Polarkoordinaten hergeleitet (Siehe Gl. 2.55). Für den Inertialbeobachter gilt: ( ✓ ◆2 ) ⇢ d2 r d' dr d' d2 ' F = ma = m r e + m 2 + r e' r dt2 dt dt dt dt2 ( ✓ 0 ◆2 ) ⇢ ✓ ◆ 2 0 d2 r 0 d' dr0 d'0 0 0d ' = m r + ! e + m 2 + ! + r e' r dt2 dt dt dt dt2 (6.15) Die Zentrifugalkraft: Wenn der Körper relativ zum sich drehenden Beobachter O’ in Ruhe ist, gilt: dr0 d2 r 0 = 2 = 0; dt dt d'0 d 2 '0 = =0 dt dt2 (6.16) und wir finden: F ZF = m (r0 ! 2 ) er (6.17) Der Körper spürt eine fiktive nach aussen gerichtete Kraft, die als Zentrifugalkraft bezeichnet wird. Die Corioliskraft: Wenn der Körper sich auf der Scheibe radial nach innen oder nach aussen mit einer konstanten Geschwindigkeit v 0 bewegt, dann gilt: dr0 = v0; dt d2 r 0 = 0; dt2 d'0 d 2 '0 = =0 dt dt2 (6.18) und wir finden die resultierende (Schein)kraft: F ZF + F C = m (r0 ! 2 ) er + m (2v 0 !) e' (6.19) Der zweite Term F C entspricht der Corioliskraft, die senkrecht zur radialen Geschwindigkeit wirkt. Sie führt zu einer seitlichen Ablenkung des Körpers! Demonstrationsexperiment: Schuss auf Drehstuhl Dieses Experiment zeigt qualitativ die Wirkung der Corioliskraft. Ein Operateur sitzt auf dem Drehstuhl. Zur Verfügung stehen eine Pistole und drei Pfeile. Der Operateur löst die Pistole aus. Die Flugbahn des Projektils verläuft geradlinig und erreicht die Zielscheibe. Falls sich der Drehstuhl dreht, verläuft die Flugbahn relativ zum Operateur, der sich dreht, gekrümmt. Der Operateur interpretiert die Bewegung mit Hilfe Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) 199 Abbildung 6.3: Schuss auf Drehstuhl. der Corioliskraft, die seitlich wirkt. Wenn sich der Stuhl nach rechts dreht, wird das Projektil nach links abgelenkt. Wenn er sich nach links dreht, wird das Projektil nach rechts abgelenkt. Demonstrationsexperiment: Rollende Kugel auf Brett Das Experiment zeigt die Wirkung der Corioliskraft auf eine auf einem Brett rollende Kugel. Auf einem Holzbrett ist ein Blatt Packpapier befestigt, das mit Kohlepapier überdeckt ist. Ein Operateur dreht sich mit einem Stuhl mit der Winkelgeschwindigkeit !. Er lässt eine Kugel der Masse m auf das Brett fallen. Die Bewegung der Kugel wird als Kohlespur auf dem Papier festgehalten. Der Operateur wird die folgenden beiden Versuche durchführen (Siehe Abb. 6.4): 1. Mitrotierende Platte: Messung im beschleunigten Bezugssystem. Die Kugel beschreibt eine gekrümmte Bahn. Im Punkt wo die Kugel losgelassen wird, ist ihre Geschwindigkeit gleich Null und sie spürt nur die Zentrifugalkraft. Ihre Geschwindigkeit nimmt radial zu. Da die Geschwindigkeit der Kugel zunimmt, nimmt der Betrag der zur Bewegung senkrechten Corioliskraft auch zu. Die Bahnkurve wird gekrümmt. 2. Raumfeste Platte: Messung im Inertialsystem. Der Operateur rotiert und lässt die Kugel los. Im Augenblick des Loslassens verschwindet die Kraft auf die Kugel. Die Kugel bewegt sich geradlinig und gleichförmig, d.h. kräftefrei. 6.3.3 Die Erde als ein Nicht-Inertialbezugssystem Die Erde dreht sich um ihre Achse mit einer Periode T von 1 Sterntag = 8,616⇥104 Sekunden. Als Folge dieser Rotationsbewegung bewegen sich alle V01080701 Corioliskraft (Rollende Kugel auf Brett) 200 Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) v 0 F ZF P2 FC F ZF P1 P2 v P1 Abbildung 2: Rollende Kugel. Linkes Bild: Mitrotierende Platte (Beschleunigtes System). RechAbbildung 6.4: Rollende Kugel. Linkes Bild: Mitrotierende Platte (Beschleutes Bild: Raumfeste Platte (Inertialsystem). nigtes System). Rechtes Bild: Raumfeste Platte (Inertialsystem). Punkte auf der Erdoberfläche in gleichförmiger Kreisbewegung mit einer Winkelgeschwindigkeit != 2⇡ = 7, 292 ⇥ 10 T 5 rad/s. (6.20) Eine Zentrifugalkraft und eine Corioliskraft treten aufgrund der Erddrehung in allen Bezugssystemen auf, die mit der Erde verbunden sind. Ein Bezugssystem, das feste Koordinaten relativ zur Erdoberfläche besitzt, ist kein Inertialsystem! Zentrifugalkraft auf der Erdoberfläche: Sie ist klein im Vergleich zur Gravitationskraft. Die e↵ektive Erdbeschleunigung, die man spürt, beträgt am Nordpol 9, 8321 m/s2 . Am Äquator ist sie 9, 7799 m/s2 wegen der maximalen Wirkung der Zentrifugalkraft, die vom Breitengrad abhängt. Bei unserem Breitengrad von ung. 45o ist sie 9, 8094 m/s2 . Physikdepartement ETH Zürich Coriolise↵ekt auf der Erde: Wenn sich ein Körper in einer horizontalen 2 die Corioliskraft auf der nördlichen Ebene auf der Erdoberfläche bewegt, führt Hemisphäre zu einer leichten Rechtsabweichung der Bahn und zu einer Linksabweichung auf der südlichen Hemisphäre. Diese Kräfte sind vor allem für das Verständnis des Wetters von grosser Bedeutung. Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) 6.4 201 Die Galileische Transformation 6.4.1 Vektorielle Darstellung Wir betrachten zwei Beobachter O und O0 , die sich relativ zueinander mit konstanter Geschwindigkeit V bewegen. Weil die zwei Beobachter sich relativ zueinander mit konstanter Geschwindigkeit bewegen, gilt (siehe Abb. 6.5): R(t) = V t (6.21) Diese Transformation wird als Galileitransformation bezeichnet: r 0 (t0 ) = r(t) Vt (6.22) Die Beziehung zwischen der Geschwindigkeit und der Beschleunigung, die beide Beobachter messen, kann leicht gefunden werden: dr 0 (t0 ) d {r(t) V t} dr(t) v (t ) = = = 0 dt dt dt 0 0 V = v(t) V , (6.23) d.h., die Galileische Transformation für die Geschwindigkeit lautet: v0 = v V (6.24) Diese Gleichung führt auf die gewöhnliche Vektoraddition der Geschwindigkeiten. Dieser Begri↵ ist uns aus dem Alltag vertraut. Für die Beschleunigung gilt: dv 0 (t0 ) d {v(t) V } dv(t) dV a0 (t0 ) = = = = a(t) (6.25) 0 dt dt dt dt Beide Beobachter messen dieselbe Beschleunigung. Wir sagen, dass die Beschleunigung eine Invariante der Galileischen Transformation ist. Damit ergibt sich das folgende Gesetz: Alle Bezugssysteme, die über die Galileische Transformation eines Inertialsystems gefunden werden, sind ebenfalls Inertialsysteme. 6.4.2 Komponentendarstellung Da der Geschwindigkeitsvektor V konstant ist, können wir die Koordinatensysteme so wählen, dass sich der Beobachter O0 in positiver Richtung der x-Achse des Bezugssystems O bewegt. Wir betrachten zusätzlich den Fall, in dem die Ursprünge der Bezugssysteme O und O0 zu den Zeiten t = t0 = 0 zusammenfallen und die Koordinatenachsen immer parallel bleiben, da keine relative 202 Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) y y0 Vt e0y ey O ex e0x x,x0 e0z ez z O’ z0 Abbildung 6.5: Beobachter O und O0 mit der konstanten Relativgeschwindigkeit V . Rotation stattfindet. Siehe Abb. 6.5. In diesem Fall wird die Geschwindigkeit geschrieben als V = V ex = (V, 0, 0) (6.26) Die Ortsvektoren können als Funktion ihrer Komponenten ausgedrückt werden: r = (x, y, z) und r 0 = (x0 , y 0 , z 0 ) (6.27) Der Übergang von einem Bezugssystem ins andere wird mit Hilfe der Galileischen Transformation geschrieben. Für den Übergang von O nach O0 gilt das folgende Gleichungssystem: 8 0 x =x Vt > > < 0 y =y Galileische Transformation (6.28) z0 = z > > : 0 t =t Die inverse Transformation von O0 nach O kann leicht aus der Tatsache hergeleitet werden, dass sich O bezüglich O0 mit derselben Geschwindigkeit V in die entgegengesetzte Richtung bewegt. Es folgt daraus, dass für den Übergang von O0 nach O das folgende Gleichungssystem gilt: 8 x = x0 + V t > > < y = y0 inverse Galileische Transformation (6.29) z = z0 > > : t = t0 Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) 6.5 203 Das Ereignis Wir definieren ein Ereignis als etwas, das an einem bestimmten Punkt des Raums und zu einer bestimmten Zeit stattfindet. D.h., ein Ereignis findet in einem Punkt mit bestimmten Raumkoordinaten x, y, z und zu einer bestimmten Zeit t statt. Der Zusammenstoss zwischen zwei Körpern ist z.B. ein Ereignis. Ein anderes Ereignis besteht darin, dass eine Lampe einen Lichtblitz emittiert. Ein drittes Ereignis ist der Aufprall eines Steines, durch den die Windschutzscheibe eines Autos beschädigt wird. Jedes Ereignis ist eine reale Gegebenheit. Man sagt, dass ein Ereignis an einer bestimmten Stelle in der Raumzeit stattfindet. Ein dreidimensionaler Ortsvektor stellt einen Punkt im Raum dar: r = (x, y, z) (6.30) Ein Ereignis wird mit einem vierdimensionalen 4-Vektor (Vierervektor) in der Raumzeit dargestellt: (t, x, y, z) ⌘ ein bestimmter Punkt in der Raumzeit (6.31) Wir sagen: Ein Ereignis entspricht einem Punkt in der vierdimensionalen Raumzeit. Wir bemerken, dass die erste Komponente (d.h., die Zeit) und die anderen drei Komponenten (d.h. die Raumkoordinaten) des 4-Vektors verschieden sind. Wir können die Zeit auch mit der Einheit der Länge messen. Wir lassen z.B. einen Lichtstrahl zwischen zwei parallelen Spiegeln, die 0,5 m voneinander entfernt sind, hin und her laufen. Eine solche Anordnung können wir als eine Uhr“ verwenden, die jedesmal tickt“, wenn der Strahl zu einem ” ” bestimmten Spiegel zurückkehrt. Damit alle Komponenten des 4-Vektors dieselbe Einheit besitzen, definieren wir die erste Komponente (d.h., die Zeitkomponente) als das Produkt der Zeit t (in Sekunden) mal der Lichtgeschwindigkeit c (in Meter/Sekunde) und erhalten ct (in Meter). Wir benutzen die Lichtgeschwindigkeit, weil sie die einzige fundamentale Konstante in der Natur ist, die die nötige Einheit zur Umwandlung einer Zeit in eine Länge hat. Der Raumzeit-4-Vektor wird dann geschrieben als xµ (µ = 0, 1, 2, 3) xµ ⌘ (ct, x, y, z) (6.32) wobei der Index µ über die 4 Komponenten des Vektors läuft. Mit dieser Definition besitzen die vier Komponenten des 4-Vektors dieselbe Einheit, d.h. die 204 Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) Einheit einer Länge (z.B. Meter). In ähnlicher Weise (wir nehmen an, dass die fundamentale Konstante c dieselbe für beide Beobachter ist!): x0µ = (ct0 , x0 , y 0 , z 0 ) (6.33) Beide, xµ und x0µ , entsprechen demselben Ereignis, aber von verschiedenen Beobachtern O und O0 beobachtet. Für die Galileische Transformation des Vierervektors xµ von O nach O0 gilt das folgende Gleichungssystem (Siehe Gl. 6.28): 8 0 x > > < 0 y > z0 > : 0 ct =x =y =z = ct ct Galileische Transformation (6.34) Dabei haben wir den Geschwindigkeitsparameter (Siehe Kap. 4.2.2) verwendet, = V /c wobei V die Geschwindigkeit des Beobachters O0 relativ zu O und c die Lichtgeschwindigkeit ist. Diese Transformation wird in Matrix-Form folgendermassen ausgedrückt: 0 B B @ | ct0 x0 y0 z0 {z x0µ 1 0 1 C B C=B A @ 0 0 } | 0 1 0 0 {z 0 0 1 0 0 1 0 0 0 0 1 0 MG ( ) 10 0 ct C B 0 CB x 0 A@ y 1 z } | {z 1 10 0 0 ct C B 0 C B x0 0 A @ y0 1 z0 | {z 1 xµ C C A (6.35) } Die inverse Galileische Transformation (Gl. 6.29) von O0 nach O lautet: 0 B B @ | ct x y z {z xµ 1 0 1 C B + C=B A @ 0 0 } x0µ C C A (6.36) } Die Galileische Transformationen können dann als die Transformation der 4Vektoren x0µ = MG ( )xµ und xµ = MG ( )x0µ (6.37) ausgedrückt werden. MG ist die 4⇥4-Matrix, die die Galileische Transformation darstellt. Im Allgemeinen haben wir mit dieser Form angenommen, dass verschiedene Beobachter dasselbe Ereignis mit verschiedenen Raumkoordinaten und Zeiten beschreiben. Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) 6.6 205 Bestimmung der Ausbreitungsgeschwindigkeit einer Welle Wir betrachten die Ausbreitungsgeschwindigkeit einer longitudinalen Federwelle, die sich von links nach rechts ausbreitet. Siehe Abb. 6.6. Um die Ausbreitungsgeschwindigkeit zu bestimmen, messen wir die Zeit, die die Welle benötigt, um einen Stab zu passieren. x xµ1 = (ct1 , x1 ) xµ2 = (ct2 , x2 ) Abbildung 6.6: Messung der Ausbreitungsgeschwindigkeit einer longitudinalen Federwelle, die sich von links nach rechts ausbreitet. Die Zeit, die die Welle benötigt, um den Stab zu passieren, wird gemessen. Beide Beobachter sind relativ zur Feder in Ruhe. Beobachter in Ruhe. Wir beginnen mit dem Fall, in dem der Beobachter relativ zur Feder in Ruhe ist. Wir definieren zwei Ereignisse, xµ1 und xµ2 : ( µ x1 = (ct1 , x1 , y1 , z1 ) : Wellenberg tri↵t am Stab ein (6.38) xµ2 = (ct2 , x2 , y2 , z2 ) : Wellenberg verlässt den Stab Die gemessene Ausbreitungsgeschwindigkeit vA wird bestimmt mit Hilfe der Raumzeitkoordinaten der zwei Ereignisse xµ1 = (ct1 , x1 , y1 , z1 ) und xµ2 = (ct2 , x2 , y2 , z2 ) als (in diesem Fall sind nur die Zeit und die x- Koordinate wichtig): x2 x1 x2 x1 vA = =c (6.39) t2 t1 ct2 ct1 Bewegter Beobachter. Wir betrachten nun den Fall, in dem der Beobachter O0 sich relativ zur Feder mit konstanter Geschwindigkeit V (d.h., mit einem Geschwindigkeitsparameter = V /c) bewegt. Siehe Abb. 6.7. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Welle, gemessen bezüglich O0 , kann mit Hilfe einer Galileischen Transformation der Raumzeitkoordinaten bezüglich O 206 Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) x xµ1 = (ct1 , x1 ) xµ2 = (ct2 , x2 ) x0 µ1 = (ct01 , x01 ) x0 µ2 = (ct02 , x02 ) V Beobachter O0 Beobachter O Abbildung 6.7: Messung der Ausbreitungsgeschwindigkeit einer longitudinalen Federwelle, die sich von links nach rechts ausbreitet. In diesem Fall bewegt sich der Beobachter relativ zur Feder nach rechts. berechnet werden. Wir benutzen die Koordinaten der zwei Ereignisse bezüglich O und O0 . Die Ortskoordinaten xµ1 und x0 µ1 entsprechen demselben Ereignis, aber bezüglich den zwei Bezugssystemen der zwei Beobachter O und O0 . Eine ähnliche Beziehung gilt zwischen xµ2 und x0 µ2 . Die Ausbreitungsgeschwindigkeit vA0 bezüglich O0 ist gleich x02 t02 x2 = t2 = vA vA0 = x01 (x2 ct2 ) = 0 t1 t2 x1 c (t2 t1 ) t1 t2 t1 V, (x1 t1 ct1 ) (6.40) wobei wir die gemessene Grösse vA0 bezüglich O0 als Funktion der bezüglich O gemessenen Grössen ausgedrückt haben. Wenn sich demnach der Beobachter O0 in dieselbe Richtung wie die Welle bewegt, schliesst er, dass sich die Welle mit der geringeren Geschwindigkeit vA0 = vA V ausbreitet. Mit einer ähnlichen Herleitung kann man beweisen, dass sich die Welle für den Beobachter O0 mit der grösseren Geschwindigkeit vA0 = vA +V ausbreitet, wenn er sich entgegengesetzt zur Welle bewegt. Siehe Abb. 6.8. Daraus folgt, dass die beobachtete Ausbreitungsgeschwindigkeit der Welle von der Geschwindigkeit der Beobachter relativ zum Medium abhängt, durch welches sich die Welle ausbreitet. Sie ist gleich vA V , wenn sich der Beobachter in dieselbe Richtung wie die Welle bewegt und gleich vA + V , wenn er sich entgegengesetzt zur Welle bewegt. Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) 207 x xµ1 = (ct1 , x1 ) xµ2 = (ct2 , x2 ) x0 µ1 = (ct01 , x01 ) x0 µ2 = (ct02 , x02 ) V Beobachter O0 Beobachter O Abbildung 6.8: Messung der Ausbreitungsgeschwindigkeit einer longitudinalen Federwelle, die sich von links nach rechts ausbreitet. In diesem Fall bewegt sich der Beobachter relativ zur Feder nach links. 6.7 Bestimmung der Lichtgeschwindigkeit Die Lichtgeschwindigkeit kann mit Hilfe eines Laserpulses gemessen werden. Wie früher messen wir die Zeit, die der Laserpuls benötigt, um einen Stab zu passieren. Siehe Abb. 6.9. Wir definieren die zwei Ereignisse ( µ x1 = (ct1 , x1 , y1 , z1 ) : Licht passiert den 1. Empfänger xµ2 = (ct2 , x2 , y2 , z2 ) : Licht passiert den 2. Empfänger (6.41) In diesem Fall wird die Lichtgeschwindigkeit c gemessen als c= x2 t2 x1 t1 (6.42) Wir bemerken nun, dass die Ausbreitung des Lichtes sich von der Ausbreitung mechanischer Wellen unterscheidet: Alle mechanischen Wellen benötigen ein Medium, um sich ausbreiten zu können, und die Geschwindigkeit der Wellen wird durch die Eigenschaften des Mediums bestimmt. Seit dem 19. Jahrhundert wusste man, dass das Licht sich wie Lichtwellen (elektromagnetische Wellen) verhält, durch die Beobachtung von Phänomenen wie optische Interferenz, Beugung und Polarisationse↵ekten. 208 Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) Laserpuls Laser Abbildung 6.9: Messung der Lichtgeschwindigkeit. Die Zeit, die der Laserpuls benötigt, um den Stab zu passieren, wird gemessen. Lichtwellen können sich aber durch den leeren Raum (d.h., durch das Vakuum) ausbreiten. Sie benötigen dazu kein Medium, durch welches sie sich ausbreiten müssen. Nach der Maxwellschen1 Theorie des Elektromagnetismus (Siehe Kap. 8) ist die Ausbreitungsgeschwindigkeit von elektromagnetischen Wellen gleich c= p 1 ⇡ 3 · 108 m/s , " 0 µ0 (6.43) wobei "0 die Dielektrizitäts- und µ0 die Permeabilitätskonstante im Vakuum ist. Die Maxwellschen Gleichungen liefern aber keine Aussage darüber, in welchem Bezugssystem die Lichtgeschwindigkeit diesen Wert annimmt! Eine Messung der Lichtgeschwindigkeit in einem sich bewegenden Bezugssystem, müsste ein grösseres oder kleineres Ergebnis liefern, je nach Richtung der Bewegung relativ zum Lichtstrahl. Siehe dazu Abbn. 6.10 und 6.11. 6.7.1 Das Michelson-Morley Experiment Im Jahr 1881 begann Michelson, die Lichtgeschwindigkeit mit Hilfe von Laufzeitmessungen des Lichts zu messen. In einer Serie von Experimenten versuchten Michelson und Morley die Abhängigkeit der Lichtgeschwindigkeit vom 1 James C. Maxwell (1831-1879). Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) 209 Laserpuls Laser V Abbildung 6.10: Messung der Lichtgeschwindigkeit. Die Zeit, die der Laserpuls benötigt, um den Stab zu passieren, wird gemessen. Der Beobachter, der den Stab hält, bewegt sich in Richtung des Beobachters, der den Laser hält. Laserpuls Laser V Abbildung 6.11: Messung der Lichtgeschwindigkeit. Die Zeit, die der Laserpuls benötigt, um den Stab zu passieren, wird gemessen. Der Beobachter, der den Stab hält, entfernt sich vom Beobachter, der den Laser hält. 210 Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) Abbildung 6.12: Das Michelson-Morley-Interferometer. Bewegungszustand des Bezugssystems aufzudecken. Sie benutzten die Erde als bewegtes Bezugssystem: die Erde bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von ungefähr 30 km/s um die Sonne. Sie verglichen die Zeiten, die das Licht benötigt, um dieselbe Strecke parallel und senkrecht zur Bewegungsrichtung der Erde zurückzulegen. Siehe Abb. 6.12. Wir betrachten z.B. die Lichtstrahlen, die sich parallel zur Richtung der Erde bewegen. Die Lichtstrahlen wurden zwischen nahezu parallelen Spiegeln hin und her reflektiert. Wenn sich Lichtquelle und Spiegel mit einer Geschwindigkeit V in gleicher Richtung bewegen, dann sollte sich das Licht mit der Geschwindigkeit c–V auf den Spiegel zubewegen und mit der Geschwindigkeit c + V von ihm wegbewegen. Siehe Abb. 6.13. Die gesamte Laufzeit des Lichts ist daher t= L c V + L L(c + V ) + L(c = c+V c2 V 2 V) = c2 2Lc (1 V 2 /c2 ) (6.44) Für V ⇡ 3 · 104 m/s ⌧ c ⇡ 3 · 108 m/s gilt: 2L t= c ✓ 1 V2 c2 ◆ 1 2L ⇡ c ✓ V2 1+ 2 c ◆ , (6.45) Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) 211 L c V V Spiegel Lichtstrahl c+V Abbildung 6.13: Eine Lichtquelle und ein Spiegel, die sich mit konstanter Geschwindigkeit V bewegen. wobei V2 2 ⇡ 10 4 = 10 8 (6.46) 2 c Der E↵ekt ist sehr klein und daher auf direktem Weg sehr schwer nachzuweisen. Um diese kleine Di↵erenz zu bestimmen, verwendeten Michelson und Morley ein Interferometer. Wie in Abb. 6.12 gezeigt, fällt das Licht auf einen Strahlteiler. Ein Teil des Lichts geht in die Richtung parallel zur Erdbewegung und ein anderer Teil wird um 90 reflektiert. Die beiden Teile werden reflektiert und tre↵en schliesslich wieder zusammen. Wegen des Prinzips der Superposition (siehe Kap. 5.6) der elektromagnetischen Wellen wird die resultierende Welle die Summe der einlaufenden Wellen sein. Wenn beide Strecken (d.h., parallel und senkrecht) zu einer Laufzeitdi↵erenz führen, werden wir es durch Interferenzphänomene (siehe Kap. 5.6.1) zwischen den beiden Lichtstrahlen bemerken. Die Anwesenheit einer solchen Laufzeitdi↵erenz wollten Michelson und Morley mit der Änderung des Interferenzmusters bei einer Drehung des Experiments um 90 beweisen. Bei seinem ersten Versuch im Jahr 1881 hat Michelson keinen E↵ekt beobachtet. Er wiederholte seine Messungen nach einem halben Jahr, da sich die Erde auf ihrer Bahn um die Sonne in die entgegengesetzte Richtung bewegt, aber mit demselben Ergebnis. Dieses Experiment wurde unter verschiedenen Bedingungen wiederholt, aber das Ergebnis war immer dasselbe: Es wurde keine Änderung des Interferenzmusters beobachtet!! 6.7.2 Das Postulat der konstanten Lichtgeschwindigkeit Das Null-Resultat des Michelson-Morley-Experiments kann mit Hilfe des Postulats der Lichtgeschwindigkeit erklärt werden. Es besagt: 212 Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) Jeder Beobachter misst in allen Richtungen für die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum denselben Wert c. D.h., die Lichtgeschwindigkeit ist isotrop (gleich gross in alle Richtungen) und unabhängig von der Bewegung des Beobachters. Dieses Postulat scheint vielleicht im Widerspruch zu unserer Anschauung zu stehen. Wir betrachten z.B. zwei Beobachter O1 und O2 und eine Lichtquelle S. O1 befindet sich relativ zu S in Ruhe, und O2 bewegt sich mit der Geschwindigkeit V auf S zu. Siehe Abb. 6.14. Beobachter O1 misst eine Lichtgeschwindigkeit c. Beobachter O2 misst auch eine Lichtgeschwindigkeit c und nicht etwa c + V ! Wir bemerken, dass die Lichtgeschwindigkeit c eine fundamentale Grösse der Natur ist. Sie wirkt als eine Grenzgeschwindigkeit, die der grösstmöglichen Geschwindigkeit entspricht (Siehe Kap. 4.2.1). Eine vernünftige Annahme ist, dass diese fundamentale Grösse c dieselbe für alle Beobachter sein muss, unabhängig von ihrem Bewegungszustand. O1 Lichtquelle S V O2 Abbildung 6.14: Eine ruhende Lichtquelle S, ein ruhender Beobachter O1 und ein sich mit der Geschwindigkeit V in Richtung der Quelle bewegender Beobachter O2 . 6.8 Die Lorentz-Transformation Das Postulat der konstanten Lichtgeschwindigkeit ist im Widerspruch zur Vektoraddition der Geschwindigkeit, die eine Folgerung der Galileischen Transformation ist. Es folgt: Die Galileische Transformation entspricht einer Näherung, die nur gilt, wenn die Geschwindigkeiten viel kleiner als die Lichtgeschwindigkeit sind. Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) 213 Wir suchen eine neue Transformation. Wir nehmen an, dass die Galileische Transformationsgleichung für x bis auf einen Faktor K gilt (Siehe Gl. 6.34): x0 = K (x ct) . (6.47) wobei K von V und c (d.h., vom Geschwindigkeitsparameter ) abhängen kann, aber nicht von den Koordinaten. Die inverse Transformation ist dann x = K (x0 + ct0 ) , (6.48) Wir betrachten einen Lichtpuls, der im Ursprung vom Beobachter O zur Zeit t = 0 emittiert wird und sich in die x-Richtung ausbreitet. Wir nehmen gewöhnlich an, dass die Ursprünge von O und O0 für t = t0 = 0 zusammenfallen. Es folgt, dass der Lichtpuls auch in O0 zum Zeitpunkt t0 = 0 startet. Nach dem Postulat der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit muss die Gleichung für die x-Komponente des Lichtpulses in O und O0 gleich lauten: bezüglich O : bezüglich O0 : Wir erhalten: ( x = ct x0 = ct0 ct = K (ct0 + ct0 ) = K(1 + )ct0 ct0 = K (ct = K(1 ct) d.h., 1 = K(1 )K(1 + ) ) K2 = (6.49) (6.50) (6.51) )ct , 1 (6.52) 2 1 Deshalb muss die Konstante K gleich dem Lorentz-Faktor sein (Siehe Kap. 4.2.3), d.h. K = , wobei 1 =p (6.53) 2 1 Wir erinnern uns daran, dass oder V ⌧ c. immer grösser als 1 ist und ⇡ 1 für ⌧1 Die Transformationsgleichung für die Raumkoordinate ist x0 = K(x ct) = K {K (x0 + ct0 ) = K 2 x0 + K 2 ct0 und deshalb x0 = K 2 (x0 + ct0 ) ct} K ct K ct. Es folgt: ⇢ ✓ ◆ 1 2 0 K x 1 + ct0 K 2 (x0 + ct0 ) x0 K2 ct = = K K ⇢ ✓ ◆ 1 1 = K x0 1 + ct0 K2 (6.54) 214 Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) p Mit der Definition von K = = 1/ 1 ✓ ◆ 1 1 1 1 = 1 2 K 2 finden wir 2 1 = , und schliesslich erhalten wir für die Zeittransformation ct = ( x0 + ct0 ) (6.55) Die sogenannten Lorentz-Transformationen für den Raum und die Zeit folgen daraus (für parallele Koordinatenachsen und eine Relativbewegung in xRichtung): 8 0 x = (x ct) > > < 0 y =y Lorentztransformation (6.56) z0 = z > > : 0 ct = (ct x) oder in Matrixdarstellung: 0 0 1 0 ct B x0 C B B 0 C=B @ y A @ z0 0 0 0 0 0 0 1 0 10 0 ct C B 0 CB x 0 A@ y 1 z 1 C C A (6.57) In dieser Darstellung ist eine Symmetrie zwischen Raum und Zeit bemerkbar. Die inverse Transformation können wir durch die folgende Vertauschung finden: $ ; x $ x0 ; y $ y0; z $ z0; t $ t0 (6.58) Die Lorentz-Transformation erfüllt das Postulat der konstanten Lichtgeschwindigkeit. Sie stellt eine Beziehung her zwischen den Raum- und Zeitkoordinaten eines Ereignisses in einem Bezugssystem O und den Koordinaten desselben Ereignisses in einem anderen Bezugssystem O0 , das sich mit der Geschwindigkeit c relativ zu O bewegt. Bemerkung: Für Geschwindigkeiten viel kleiner als die Lichtgeschwindigkeit vereinfachen sich die Lorentz-Transformationen zu den Galileischen Transformationen. Es gilt im Fall V ⌧ c (d.h., ⌧ 1 und ⇡ 1) 8 V > > x0 = (x ct) ⇡ x ct ⇡ x V t > > c > < 0 y =y (6.59) z0 = z > > > > V > : ct0 = (ct x) ⇡ ct x ⇡ ct , c und damit erhalten wir die Galileischen Transformationen wieder. Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) 6.9 215 Die spezielle Relativitätstheorie Der Name Relativitätstheorie wird gewählt, um die Unabhängigkeit der Naturgesetze vom Bewegungszustand des Beobachters auszudrücken. 6.9.1 Prinzip der Relativität Das Prinzip der Relativität ist uns nicht fremd. Es besagt: Man kann eine geradlinige Bewegung mit konstanter Geschwindigkeit nicht spüren. Wir stellen uns z.B. vor, dass wir in einem Flugzeug sind. Das Flugzeug bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von ungefähr 1000 Kilometer pro Stunde. Wir sitzen im Flugzeug und schauen einen Film an. Wenn die Fenster des Flugzeugs geschlossen sind, können wir nicht sagen, wie schnell sich das Flugzeug bewegt; wir können die Geschwindigkeit nicht fühlen. Falls wir unser Getränk verschütten, wird es auf unsere Beine fallen, als ob wir auf der Erdoberfläche sitzen würden. Aus den verschiedenen Dingen, die im Flugzeug geschehen, oder aus allen Experimenten, die wir im Flugzeug machen können, ist es unmöglich ganz sicher zu schliessen, ob das Flugzeug sich wirklich mit konstanter Geschwindigkeit bewegt oder nicht. In einigen Fällen kann es logischer sein, anzunehmen, dass das Flugzeug sich in Ruhe befindet, und die Erde als bewegtes System zu betrachten. Siehe Abb. 6.15. Flugzeug Zü h ric Er de Erde nf Genf Ge Zürich Flugzeug Abbildung 6.15: Bewegung des Flugzeugs oder der Erde. In welchem Fall können wir sicher schliessen, dass wir uns bewegen? Wenn wir scharf anfahren oder bremsen, oder wenn wir um eine scharfe Kurve fahren, 216 Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) fühlen wir die Beschleunigung. Die Änderung der Richtung oder des Betrages der Geschwindigkeit können wir fühlen! Aber wenn es keine Beschleunigung gibt und wir uns geradlinig mit konstanter Geschwindigkeit bewegen, können wir nie sagen, ob wir uns wirklich bewegen oder nicht. Das Prinzip der Relativität kann ausgedrückt werden als: Alle relativ zu einem Inertialsystem gleichförmig bewegten Bezugssysteme sind ebenfalls Inertialsysteme und im Rahmen der Mechanik gleichwertig. D.h., es ist nicht möglich, durch die Überprüfung der physikalischen Gesetze ein frei bewegtes Bezugssystem vom anderen zu unterscheiden. Es folgt daraus, dass es in der Natur keine absolute Geschwindigkeit gibt. Bewegung ist wirklich ein relativer Begri↵! 6.9.2 Die Einsteinschen Postulate Im Jahr 1905 verö↵entlichte Einstein (im Alter von 26 Jahren) seine Arbeit Über die Elektrodynamik bewegter Körper“, in der die spezielle Relativitäts” theorie enthalten ist. Die Theorie basiert auf zwei Postulaten: 1. Das Prinzip der Relativität gilt: Es gibt kein physikalisch bevor” zugtes Inertialsystem. Die Naturgesetze müssen in allen Inertialsystemen dieselbe Form annehmen.“ 2. Die Maxwellsche Theorie des Elektromagnetismus gilt (in allen Inertialsystemen): Die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Lichts ” (allgemein der elektromagnetischen Wellen) im Vakuum besitzt für jeden beliebigen Inertialbeobachter denselben Wert c, c= p 1 ⇡ 3 · 108 m/s , " 0 µ0 (6.60) wobei "0 die Dielektrizitäts- und µ0 die Permeabilitätskonstante im Vakuum ist.“ Es folgt, dass zwei verschiedene Beobachter, die sich relativ zueinander mit konstanter Geschwindigkeit V bewegen, ihre Beobachtungen des gleichen Ereignisses über die Lorentz-Transformation korrelieren müssen. Diese Postulate sagen E↵ekte unmittelbar voraus, die zunächst sonderbar, sogar unheimlich scheinen. Sonderbar oder nicht, werden sie durch logische Argumente hergeleitet und durch Experimente bestätigt! 6.9.3 Invarianz des Raumzeit-Intervalls Aus der Lorentz-Transformation folgen wichtige E↵ekte für Zeitintervalle und räumliche Entfernungen. Wir betrachten zwei Ereignisse mit Raumzeitkoordinaten xµ1 = (ct1 , x1 , y1 , z1 ) und xµ2 = (ct2 , x2 , y2 , z2 ) relativ zum Beobachter O. Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) 217 Wir definieren die räumliche Entfernung (den Abstand) zwischen den zwei Ereignissen durch r2 = (x2 x1 )2 + (y2 y1 )2 + (z2 = x2 + y 2 + z 2 Die zeitliche Entfernung (das Zeitintervall) sen wird definiert als t = t2 t1 z1 )2 (6.61) (6.62) t zwischen den zwei Ereignis(6.63) Für einen anderen Beobachter O0 erscheinen die zwei Ereignisse im Allgemeinen mit verschiedenen Raumzeitkoordinaten µ µ x0 1 = (ct01 , x01 , y10 , z10 ) und x0 2 = (ct02 , x02 , y20 , z20 ) (6.64) Wir bestimmen die räumliche und zeitliche Entfernung bezüglich O0 . Für die x-Koordinate gilt x0 = x02 x01 = = (x2 = ( x (x2 x1 ) ct2 ) (ct2 (x1 ct1 ) ct1 ) c t) (6.65) und mit einer ähnlichen Herleitung für das Zeitintervall finden wir die folgenden Gleichungen für die Transformation der Entfernungen x, y, z und t: 8 x0 = ( x c t) > > > < y0 = y (6.66) > z0 = z > > : c t0 = (c t x) Es folgt daraus, dass räumliche und zeitliche Entfernungen in verschiedenen Bezugssystemen unterschiedlich sind : t 6= t0 ) x 6= x0 ) r 6= r0 (6.67) D.h., von verschiedenen Beobachtern gemessene Zeitintervalle oder räumliche Abstände zwischen zwei Ereignissen sind nicht immer gleich. Gibt es eine Entfernung“, die dieselbe für alle Beobachter ist? Das Raumzeit” Intervall s wird definiert als s2 ⌘ (c t)2 r2 = (c t)2 x2 y2 z2 ✓ ◆2 ✓ ◆2 Zeitliche Räumliche = Entfernung Entfernung (Das negative Vorzeichen für den Raum ist sehr wichtig!). (6.68) 218 Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) Wir beweisen nun, dass das Raumzeit-Intervall eine Invariante der Lorentz-Transformation ist. D.h., jeder beliebige Beobachter misst im Allgemeinen eine verschiedene räumliche und zeitliche Entfernung, aber dasselbe Raumzeit-Intervall zwischen zwei Ereignissen: 2 s0 = (c t0 ) 2 x0 = 2 2 c2 t 2 = 2 z0 { ( x 2 c t x+ 2 x2 1 2 = c2 t 2 y0 x)}2 = { (c t = 2 2 2 c t x+ c2 t 2 x2 y2 2 c t)}2 y2 z2 x2 2 2 t2 c x2 y2 y2 z2 z2 z2 s2 (6.69) Man kann sagen, dass der Raum und die Zeit für veschiedene Beobachter unterschiedlich sind, aber die Raumzeit ist für alle gleich. 6.9.4 Eigenzeit und Zeitdilatation Wir betrachten nun die Bewegung einer Masse, die an einer Feder angebunden ist. Wir wissen, dass für eine nicht zu grosse Anfangsauslenkung die Masse eine harmonische Schwingung ausführt. Wir nehmen an, dass das Masse-FederSystem sich in einer Rakete befindet und dass die Masse in der y-Richtung schwingen wird. Siehe Abb. 6.16. y x O x= y =0 t=T Abbildung 6.16: Das Raketenbezugssystem bewegt sich ohne Antrieb und frei durch den Weltraum (es wirkt keine Gravitationskraft). Ein Beobachter O misst die Schwingungsperiode T der Masse, die an der Feder angebunden ist. Die Rakete reist ohne Antrieb durch den Weltraum (d.h., sie wird nicht beschleunigt) und sie spürt keine äussere Kraft, insbesondere keine Gravitationskraft. Es folgt, dass die Rakete ein Inertialsystem ist. Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) 219 Ein Beobachter O befindet sich in der Rakete. Er lenkt die Masse in die yRichtung aus und beobachtet die Schwingung der Masse. Relativ zu einem zweiten Beobachter O0 bewegt sich die Rakete mit einer Geschwindigkeit c in die x0 -Richtung, d.h., senkrecht zur Richtung der Schwingung. Siehe Abb. 6.17. V y y0 x x O O x0 O 0 V y 0 x = c t y0 = 0 t0 = T 0 0 c t0 Abbildung 6.17: Die Rakete bewegt sich relativ zum Beobachter O0 mit einer Geschwindigkeit c in die x0 -Richtung. Der Beobachter O0 misst die Schwingungsperiode T 0 der an der Feder aufgehängten Masse. Wir definieren zwei Ereignisse: 1. Ereignis: die Masse wird losgelassen. 2. Ereignis: die Masse hat eine volle Schwingung durchgeführt. Wir betrachten die Schwingung bezüglich O. Nach einer Schwingung befindet sich die Masse wieder in ihrer Anfangsposition. Bezüglich O ist die räumliche Entfernung zwischen den zwei Ereignissen gleich null. Die zeitliche Entfernung entspricht der Periode T der Schwingung. Die zeitliche Entfernung zwischen Ereignissen, die bezüglich eines Bezugssystems am selben Ort stattfinden, heisst Eigenzeitintervall ⌧ . Für den Beobachter O, der sich relativ zum Masse-Feder-System in Ruhe befindet, ist das Eigenzeitintervall ⌧ gleich der Periode der Schwingung. Das Raumzeit-Intervall zwischen den zwei Ereignissen ist für O gleich ✓ ◆2 ✓ ◆2 Zeitliche Räumliche 2 s = Entfernung Entfernung = {c · (Periode T)}2 = (c ⌧ )2 (0)2 Eigenzeit (6.70) 220 Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) Bezüglich des Beobachters O0 bewegt sich die Rakete. Der Beobachter O0 bestimmt das Raumzeit-Intervall zwischen den zwei Ereignissen als 02 s = ✓ ◆2 Zeitliche Entfernung = c2 t 0 2 x0 ✓ 2 y0 2 Räumliche Entfernung z0 ◆2 2 (6.71) Nach einer Schwingung kehrt die Masse bezüglich O0 nicht in die Anfangsposition zurück. Sie ist in die x0 -Richtung um x0 verschoben: x0 = c t0 (6.72) Während der Schwingung mit der gemessenen Periode t0 , hat sich das MasseFeder-System mit der Geschwindigkeit c in die x0 -Richtung bewegt. Das Raumzeit-Intervall ist dann gleich 02 s = ✓ ◆2 Zeitliche Entfernung = c2 t 0 2 = c2 t 0 2 x0 2 y0 ( c t0 ) 2 = 1 (c t0 ) | {z } =1/ ✓ 2 Räumliche Entfernung 2 z0 02 02 ◆2 2 2 (6.73) 2 Da das Raumzeit-Intervall eine Invariante der Lorentz-Transformation ist, muss es denselben Wert für alle Beobachter besitzen. D.h., 2 s0 = 1 2 2 c2 t 0 = s2 = c 2 ⌧ 2 , (6.74) und es folgt: bezüglich O0 gemessene Zeit | {z } 0 t = bezüglich O gemessene Zeit | {z } · ⌧ (6.75) Das in einem bewegten Bezugssystem gemessene Zeitintervall ist immer um den Faktor grösser als das Eigenzeitintervall. Man spricht von Zeitdilatation. D.h., Vorgänge scheinen länger zu dauern, wenn sie in einem System ablaufen, das sich relativ zum Beobachter bewegt, als wenn sich das System in Ruhe befindet. Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) 221 Werden unterschiedliche Geschwindigkeiten von allen Uhren wirklich“ beob” achtet? Die Antwort lautet ja!“. Wäre es möglich, dass komplizierte Uhren ” (d.h. komplizierter als die einfache Bewegung einer schwingenden Masse) nicht langsamer gehen? Die Antwort ist nein“. ” Wäre das mit einer bestimmten Uhr gemessene Zeitintervall verschieden vom Wert, den die Zeitdilatation voraussagt, dann könnte man diese Uhr benutzen, um zu entscheiden, ob man sich wirklich bewegt oder nicht. Dies steht aber im Widerspruch zum Relativitätsprinzip. Es folgt: Wenn eine Art von Uhr durch Geschwindigkeitse↵ekte langsamer geht, dann müssen alle Uhren und, im Allgemeinen, alle Vorgänge, die von der Zeit abhängen, um genau denselben Faktor langsamer gehen, um das Relativitätsprinzip nicht zu verletzen. Das Flugzeugexperiment2 : Am 22. November 1975 flog ein Patrouillenflugzeug 15 Stunden lang in einer Höhe von 25 000 bis 35 000 Fuss. Im Flugzeug befanden sich sehr genaue Atomuhren. Die Uhren wurden mit genau gleichen Uhren auf der Erde verglichen. Bei einer mittleren Fluggeschwindigkeit von 140 Metern pro Sekunde lagen die durch die Luft transportierten Uhren nach dem 15-Stunden-Flug im Durchschnitt 5,6 Nanosekunden zurück. Die Theorie sagt für diese Geschwindigkeit eine Di↵erenz von 5,7 Nanosekunden vorher. Der Zeitdilatationse↵ekt war bei diesem Experiment klein, weil die Geschwindigkeit des Flugzeuges klein war relativ zur Lichtgeschwindigkeit. Aber die Atomuhren sind so genau, dass das Nachgehen der Uhren eindeutig ist, und es stimmt mit der Theorie überein. 6.9.5 Der ganze Weltraum gehört uns Das Lichtjahr wird definiert als die Entfernung, die das Licht in einem Jahr zurücklegt: 1 Lichtjahr = c ⇥ (1 a) ⇡ 9, 5 · 1015 m. (6.76) Etwa 99 Lichtjahre von der Erde entfernt liegt der Stern Kanopus. Wir nehmen an, dass wir den Stern besuchen wollen, um ihn zu fotografieren und mit den Aufnahmen nach Hause zurückzukehren. Ist das möglich? Wir überlegen uns: Wir haben nur wenig mehr als 100 Jahre ” zu leben. Wir können höchstens die halbe Zeit für den Hinflug und die halbe Zeit für den Rückflug aufbringen. Selbst wenn wir mit Lichtgeschwindigkeit fliegen würden, würden wir 99 Jahre brauchen, nur um dorthin zu gelangen. . . ”. Diese Überlegung ist nicht richtig, weil wir die Zeitdilatation berücksichtigen müssen. Wenn die Rakete zum Kanopus sich z.B. mit einer Geschwindigkeit 2 C.O. Alley, Quantum Optics, Experimental Gravity, and Measurement Theory, ed. P. Meystre und M.O. Scully (Plenum, New York, 1983). 222 Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) V = 0, 994 c bewegt, ist der Lorentz-Faktor gleich =p 1 1 0,9942 ⇡9 (6.77) D.h., alle Uhren in der Rakete (und auch unser Lebenslauf) gehen neunmal langsamer als auf der Erde. Was für jemand auf der Erde als 99 Jahre lang erscheint, dauert für jemand in der Rakete nur 99/9=11 Jahre. Wenn die Rakete sich mit einer Geschwindigkeit V = 0,994 c bewegt, dauert für jemand in der Rakete die Reise zum Stern Kanopus t= 1x 99 Lichtjahre = ⇡ 11 a V 0, 994 c (6.78) Mit einer derartigen Geschwindigkeit dauert die Reise zum Kanopus und zurück 22 Jahre. Es ist dann ganz gut möglich, Kanopus zu besuchen und mit den Aufnahmen nach Hause zurückzukehren. Für die Leute, die auf der Erde bleiben, hat die Reise natürlich 99,6 · 2 ⇡ 200 Erdjahre gedauert. . . Wenn wir in derselben Flugzeit weiter weg reisen wollen, müssen wir eine schnellere Rakete benutzen! Weil der Lorentz-Faktor für V ! c nach unendlich geht, können wir im Prinzip so weit entfernte Ziele bereisen, wie wir wollen. Der ganze Weltraum gehört uns! 6.9.6 Längenkontraktion Wir betrachten noch einmal die Reise zum Stern Kanopus. Wir haben gefunden, dass für die Leute in der Rakete die Reise ungefähr 11 Jahre dauert. In dieser Zeit hat die Rakete die folgende Distanz zurückgelegt: x = V t = (0, 994 c) · (11 a) ⇡ 11 Lichtjahre (6.79) Wie konnte die Rakete Kanopus erreichen, wenn sie nur eine Distanz von 11 Lichtjahren zurückgelegt hat? Kanopus ist für die Leute in der Rakete viel weniger weit entfernt! Die räumliche Entfernung zwischen zwei Punkten (oder die Länge eines Gegenstandes) erscheint geringer, wenn sich der Beobachter relativ zu diesen Punkten bewegt, als wenn er relativ zu ihnen ruht. Wie die Zeitdilatation ist das Phänomen der Längenkontraktion real. Die Länge eines Gegenstandes, gemessen in seinem Ruhesystem, heisst Eigenlänge (oder Ruhelänge). Wie können wir z.B. die Länge eines sich bewegenden Stabes messen? Eine Möglichkeit ist es, zur selben Zeit die Positionen der beiden Enden zu markieren. D.h., Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) 223 der gemessene Abstand zwischen den beiden Enden des Stabes ist gleich der räumlichen Entfernung zwischen Ereignissen, die zu derselben Zeit gemessen werden (Siehe die Definition des Zeitintervalls Kap. 6.9.4). Zum Beweis betrachen wir einen Stab, der sich im Bezugssystem O in Ruhe befindet. Ein zweiter Beobachter O0 bewege sich relativ zum Stab mit der Geschwindigkeit V . Es gilt = x= ( x0 + c t 0 ) (6.80) Für O0 ist die Länge des Stabes gleich dem gleichzeitig gemessenen Abstand der Stabenden, d.h. bezüglich O0 gemessene Länge t0 = 0 6.9.7 ) = x0 ) z}|{ x0 bezüglich O gemessene Länge = z}|{ (6.81) Die Geschwindigkeitstransformation Wir haben gesehen, dass aus der Galileischen Transformation die gewöhnliche Vektoraddition der Geschwindigkeit folgt. Mit Hilfe der LorentzTransformation können wir berechnen, wie sich Geschwindigkeiten beim Übergang von einem Beobachter zu einem anderen transformieren. Wir betrachten einen Körper, der sich mit einer Geschwindigkeit ✓ 0 ◆ dx dy 0 dz 0 0 0 0 0 u = ux , uy , uz = , , dt0 dt0 dt0 (6.82) im Bezugssystem O0 bewegt, das sich seinerseits relativ zum Bezugssystem O mit einer Geschwindigkeit V in x-Richtung bewegt. Die Geschwindigkeit des Körpers bezüglich O ist ✓ ◆ dx dy dz u = (ux , uy , uz ) = , , (6.83) dt dt dt Die Lorentz-Transformation gilt auch für di↵erentielle Intervalle (Siehe Kap. 6.9.3): 8 dx = (dx0 + c dt0 ) > > > > < dy = dy 0 (6.84) 0 > dz = dz > > > : c dt = (c dt0 + dx0 ) 224 Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) Der Geschwindigkeitsvektor bezüglich O kann damit berechnet werden. Für die x-Komponente gilt dx0 + c dx dx (dx + c dt ) dt0 ux = =c =c = c dx0 dt c dt (c dt0 + dx0 ) c+ dt0 0 = 0 u0x + V (6.85) u0x 1+ c Für die y-Komponente gilt: dy 0 0 dy dy dy ◆ uy = =c =c = c ✓ dt 0 0 dx0 dt c dt (c dt + dx ) c+ dt0 0 = ✓ u0y 1+ c u x0 ◆ (6.86) und eine entsprechende Gleichung für die z-Komponente. Diese Gleichungen unterscheiden sich vom gewöhnlichen Ergebnis der Vektoraddition, weil die Nenner nicht gleich 1 sind. Für den Grenzfall V ⌧ c und u0x ⌧ c gehen diese Gleichungen in die Galileische Vektoraddition über. 6.9.8 Gleichzeitigkeit Wir werden nun beweisen, dass der Ausdruck zur selben Zeit“ gewöhnlich nur ” für ein Bezugssystem Gültigkeit hat. Abb. 6.18 zeigt eine Anordnung, die auf einem Tisch liegt. Ein Laserpuls wird emittiert. Der Laserpuls fällt auf einen Strahlteiler. Ein Teil des Lichts geht nach vorn, wo er schliesslich einen Empfänger erreicht, der an eine grüne Lampe angeschlossen ist. Ein anderer Teil geht nach hinten, wo er einen anderen Empfänger erreicht, der an eine rote Lampe angeschlossen ist. Wenn der Laserpuls einen Empfänger tri↵t, schaltet sich die angeschlossene Lampe ein. Wir nehmen an, dass der Laser und der Strahlteiler sich in der Mitte des Tischs befinden. Da der Laserpuls sich in beide Richtungen des Tischs mit derselben Geschwindigkeit c ausbreitet, werden die grüne und die rote Lampe gleichzeitig eingeschaltet. Wir stellen uns nun die Frage, was geschehen würde, wenn der Tisch sich bewegte. Wir definieren zwei Ereignisse im Bezugssystem O des Tischs: Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) 225 Laser y y0 V x0 x O O0 ` Rote Lampe ` Grüne Lampe Strahlteiler Abbildung 6.18: Eine Anordnung, um die Gleichzeitigkeit von Ereignissen zu prüfen. Da der Laserpuls sich in beide Richtungen mit der Geschwindigkeit c ausbreitet, werden die grüne und rote Lampe gleichzeitig eingeschaltet. 1. Ereignis: das Licht erreicht die grüne Lampe 2. Ereignis: das Licht erreicht die rote Lampe Die Raumzeit-Koordinaten dieser Ereignisse bezüglich O sind gleich ( µ x1 = (ct, +`, 0, 0) xµ2 = (ct, `, 0, 0) , (6.87) wobei l der Abstand zwischen den Lampen und dem Strahlteiler ist. Wir haben das Ergebnis verwendet, dass das Licht die beiden Lampen gleichzeitig erreicht, und dass deshalb die Zeiten t1 und t2 der beiden Ereignisse einander gleich sind: t1 = t2 = t (6.88) Die Raumzeit-Koordinaten bezüglich eines Beobachters O0 , der sich mit einer Geschwindigkeit c relativ zum Tisch bewegt, wird mit Hilfe der LorentzTransformation gefunden. Es gilt: ( 0 ct1 = (ct1 x1 ) = (ct `) (6.89) ct02 = (ct2 x2 ) = (ct + `) Der von O0 gemessene Zeitunterschied t0 = 1 0 (ct c 2 ct01 ) = t0 ist dann gleich 1 { (ct + `) c (ct `)} = 2 ` c (6.90) D.h., der Zeitunterschied hängt von der Geschwindigkeit ab und verschwindet nicht für 6= 0. 226 Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) Bezüglich des bewegten Beobachters schalten die beiden Lampen nicht gleichzeitig ein! Die Gleichzeitigkeit von Ereignissen ist relativ. Dieses Ergebnis wird oft als Einsteinsches Zugparadoxon bezeichnet. Wir bemerken zusätzlich, dass das Vorzeichen des Zeitunterschieds vom Vorzeichen des Geschwindigkeitsparameters abhängt. Wir unterscheiden zwei Fälle: 8 >0 ) t0 > 0 ) t02 > t01 > > > > < ) Zuerst geht die grüne Lampe an > <0 ) t0 < 0 ) t02 < t01 > > > : ) Zuerst geht die rote Lampe an , (6.91) d.h., die zeitliche Ordnung des Einschaltens der Lampen hängt von der Richtung der Bewegung ab. Nicht nur ist die Gleichzeitigkeit von Ereignissen vom Beobachter abhängig, aber auch ihre zeitliche Ordnung. Dass ein Ereignis früher oder später als ein anderes Ereignis geschieht, ist ein relativer Begri↵!3 Wie wird der sich bewegende Beobachter erklären, dass die beiden Lampen nicht gleichzeitig einschalten? Wir stellen uns vor, dass der bewegte Beobachter O0 den Tisch sieht, wie in Abb. 6.19 gezeigt. Der Tisch, der Laser und die Lampen bewegen sich mit einer Geschwindigkeit c in die negative x-Richtung (d.h., nach links in der Abbildung). Wegen der Lorentz-Kontraktion erscheint der Tisch verkürzt mit einer halben Länge ` `0 = (6.92) Wir schreiben die Gleichungen, die die Bewegung der Lampen und des Lichtstrahls beschreiben. Wir nehmen an, dass der Laserpuls zur Zeit t0 = 0 beim Strahlteiler ist, und dass zu dieser Zeit der Beobachter O0 sich an der Position des Strahlteilers befindet, d.h. x0 (t0 = 0) = 0. Für den Beobachter O0 entfernt sich die rote Lampe vom Lichtstrahl mit einer Geschwindigkeit c, und die grüne Lampe nähert sich dem Lichtstrahl mit einer Geschwindigkeit c. 8 ` > 0 0 0 0 > = ct01 < xgrün (t1 ) = ` V t1 (6.93) > ` 0 > 0 0 0 0 : xrot (t2 ) = ` V t2 = ct2 Wegen des Postulats der Lichtgeschwindigkeit breitet sich der Laserpuls in beide Richtungen des Tischs mit derselben Geschwindigkeit c aus. 3 Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse wird von der Relativitätstheorie gebrochen. Man kann beweisen, dass die Kausalität von Ereignissen nicht verletzt wird, solange keine Information sich schneller als die Lichtgeschwindigkeit ausbreiten kann. Physik, FS 2013, Prof. A. Rubbia (ETH Zürich) 227 Laser y V y0 x0 x O O0 `0 `0 Rote Lampe Grüne Lampe Strahlteiler V c c V Abbildung 6.19: Der Tisch, wie er vom Beobachter O0 gesehen wird. Der Beobachter sieht, dass die rote Lampe sich vom Lichtstrahl entfernt, und dass die grüne Lampe sich dem Lichtstrahl nähert. ⇢ x0Licht1 = ct01 x0Licht2 = ct02 (6.94) Die Lichtstrahlen tre↵en zu den Zeiten t01 bzw. t02 bei den Lampen ein: 8 ` ` > 0 0 > ct01 = ct01 ) (1 + )ct01 = < xgrün (t1 ) = Es folgt: > > : x0rot (t02 ) = 1 t = (ct02 c 2 ` = c 0 ct01 ) ` = c ` ✓ ct02 1 1 = 1 1+ ct02 ◆ )ct02 ) (1 ` = c ✓ 1+ = ` 1+ 1 2 ◆ = (6.95) 2 ` c 2 (6.96) Damit haben wir das Ergebnis wieder gefunden, das mit Hilfe der LorentzTransformation hergeleitet wurde.