DIE MÖWE Komödie von Anton Tschechow Regie: Lothar Maninger Bühne und Kostüme: Vazul Matusz Premiere: 1. Oktober 2005 Theater am Kornmarkt Zur Uraufführung der MÖWE Die Idee zur Komödie DIE MÖWE datiert in die Zeit der 1890-er Jahre, als Cechov in Melichovo lebte, im Landkreis Serpuchov südlich Moskaus. Auch dieses Stück wurde im Hinblick auf die Besetzungsmöglichkeiten des Petersburger Alexandratheaters geschrieben, dessen Truppe Cechov von der "Ivanov"Inszenierung 1889 her kannte. Andererseits hatte auch Suvorin, der 1895 in Petersburg das Kleine Theater übernommern hatte, Cechov ermuntert, ein Stück für ihn zu schreiben. Herbst 1895 geschrieben, schickte Cechov das Manuskript Anfang Dezember an Suvorin. Bei ihm stieß das Stück auf Unverständnis, allerdings auch in Moskau, wo Cechov DIE MÖWE Anfang Dezember im Freundeskreis vorlas. Nach Gesprächen mit Suvorin im Januar 1896 in Petersburg machte sich Cechov in Melichovo an die Überarbeitung des Textes. Die Zensur in Petersburg, der DIE MÖWE am 15. März 1896 eingereicht wurde , stieß sich aus heute kaum mehr nachvollziehbaren Gründen an gewissen "unschicklichen" Sätzen und Formulierungen, die Geschichte der Genehmigung durch die Zensur zog sich im Fall der MÖWE über fünf Monate hin. Im Sommer 1896, während Cechov bei Suvorin in Feodosija zu Gast war, verhandelte der Schriftsteller I.N. Potapenko für ihn als Bevollmächtigter mit dem Zensor Litinov, der den Text, nach einigen Korrekturen, am 20. August 1896 passieren ließ. Danach wurde der Text dem Repertoire-Komitee des Alexandratheaters Petersburg vorgelegt, das sich für eine Inszenierung aussprach. Die Uraufführung dort am 17. Oktober 1896 wurde, im Beisein des Autors, zu einem katastrophalen Mißerfolg, sowohl für das von E.P. Karpov inszenierte Stück als auch für Cechov als Person. Erstmals gedruckt wurde DIE MÖWE Dezember 1896 in der Zeitschrift "Russkaja mysl". Die eigentliche Uraufführung und einen triumphalen Erfolg erlebte DIE MÖWE am 17. Dezember 1898 am Moskauer Künstlertheater in der Regie von Konstantin S. Stanislavski und Vladimir I. Nemirovic-Dancenko - in Abwesenheit Cechovs, der sich in diesem Winter bereits, wie von den Ärzten empfohlen, in Jalta auf der Krim aufhielt, um seine Lungenkrankheit auszukurieren. Das Künstlertheater führte seit diesem Erfolg eine stilisierte Möwe als Emblem. Aus: Anton Cechov, ÜBER THEATER, Frankfurt a.M. 2004 Anton Pavlovi ČEHOV (Антон Павлович Чехов) (29.Januar 1860 - 15. Juli 1904) Russischer Schriftsteller. Er gehört zu den bedeutendsten russischen Autoren des 19.Jahrhunderts. Mit seinen Erzählungen und Dramen steht er zwischen kritischem Realismus und literarischem Impressionismus. Čehov wurde am 29.Januar 1860 in Taganrog geboren. Bereits während seines Medizinstudiums in Moskau schrieb und veröffentlichte er humorvolle Kurzprosa in verschiedenen Zeitschriften. Die ärztliche Praxis indes übte Čehov nur kurze Zeit aus und widmete sich bald ganz seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Ein erster Sammelband mit Kurzgeschichten erschien 1886 unter dem Titel Bunte Erzählungen. Čehovs Bühnendebüt Ivanov kam ein Jahr später in Moskau auf die Bühne. 1888 wurde die längere Erzählung Step (Die Steppe. Geschichte einer Reise) publiziert, die im Umfeld der Kurzprosa eher eine Ausnahme darstellt und im Rahmen einer verstärkten Auseinandersetzung mit der Romanform entstand. 1890 reiste Čehov nach Sahalin und besuchte die dortige Strafkolonie, ein Erlebnis, das ihn stark beeindruckte. Der Aufenthalt fand in dem Reisebericht Ostrov Sahalin (1893; Die Insel Sachalin) seinen Niederschlag. 1898 zwang ihn sein schlechter Gesundheitszustand - er litt an Lungentuberkulose -, Moskau zu verlassen und sich im wärmeren Klima der Halbinsel Krim niederzulassen. Mehrere Kuren führten Čehov auch nach Westeuropa. In den späten neunziger Jahren des 19.Jahrhunderts lernte Čehov den Schauspieler und Regisseur Konstantin Stanislavsky kennen, der das Moskauer Künstlertheater leitete. Dort wurde 1898 Čehovs Bühnenstück Čajka (1896; Die Möwe) uraufgeführt, wobei der Regisseur der neuen Dramenform des Autors eine adäquate Inszenierung zuteil werden ließ. Mit Stanislavsky arbeitete Čehov bis zu seinem Tod zusammen: Viele seiner Einakter und längeren Stücke, darunter Diadia Vania (1899; Onkel Vanja. Szenen aus dem Landleben), Tri sestry (1901; Drei Schwestern), und Višniovy sad (1904; Der Kirschgarten), wurden im Künstlertheater inszeniert. 1901 heiratete Čehov die Schauspielerin Olga Knipper, die bei den Aufführungen seiner Stücke in Moskau mitwirkte. Er starb am 15.Juli 1904 während eines Kuraufenthalts in Badenweiler (Schwarzwald). Werk Čehov gilt heute u. a. als ein früher Meister der Kurzgeschichte, deren Entwicklung er durch seine subtilen Stimmungs- und Milieudarstellungen maßgeblich beeinflusste. Zu den herausragenden Werken dieser Gattung gehören Smert činovnika (1883; Der Tod eines Beamten), Skučnaia istoriá (1889; Eine langweilige Geschichte. Aus den Aufzeichnungen eines alten Mannes), Palata No. 6 (1892; Krankenstation Nr. 6) und Dama s sobačkoi (1899; Die Dame mit dem Hündchen). In der von Gogol beeinflussten Groteske Der Tod eines Beamten stirbt die zentrale Figur an ihrer maßlosen Panik, von einem General, dem sie auf die Glatze geniest hatte, verurteilt zu werden. Eine langweilige Geschichte zeigt bereits den Wandel im Werk Čehovs an, das sich von teils burlesker Komik immer mehr hin zu einer melancholisch-ironischen Schilderung menschlicher Tragik wandelte. In distanziert-vivisektorischem Duktus erzählt der Autor hier die letzten Tage eines todkranken Mannes, der von seiner Pflegetochter verlassen wird, nachdem er ihr kein „einziges Wort" vermitteln kann, das ihrem Leben Sinn geben könnte. In Krankenstation No. 6 wirkt Čehovs Sahalin-Erlebnis nach: Geschildert wird die Geschichte eines Irrenarztes, der in einem seiner Patienten durch philosophische Gespräche den einzig Normalen seiner Umgebung erkennt und schließlich, durch die Intrigen eines seiner Kollegen, selbst in die Irrenanstalt eingeliefert wird. Die Dame mit dem Hündchen entwickelt aus dem Motiv eines Ferienflirts die Utopie einer großen Liebe, die den langweiligen Alltag des Protagonisten überwinden hilft; es ist dies eine der wenigen optimistischen Erzählungen des Autors. Wie andere Kurzgeschichten Čehovs, so inspirierte u. a. Die Dame mit dem Hündchen den russischen Regisseur Nikita Michalkov zu seinem Film Oči čornye (1987, Schwarze Augen, mit Marcello Mastroianni). Weitere Erzählungen Čehovs sind Tolsty i tonkiy (1883; Der Dicke und der Dünne), Duel (1891; Das Duell), Ariadna (1895), Moja žizn (1896; Mein Leben. Erzählung eines Provinzlers), Mužiki (1897; Die Bauern), Dušečka (1898; Seelchen), Čelovek v futlare (1898; Der Mensch im Futtelar) und V ovrage (1900; In der Schlucht). Čehovs Dramen weichen vom klassischen Aufbau ab und gruppieren ihre spärliche Handlung eher um Figurentypen, deren Seelenlage sie beleuchten. Auf diese Weise porträtieren sie den sinnentleerten russischen Alltag vor der Revolution von 1905: Das langweilige Dasein der Menschen, die in ihrer Unfähigkeit zur Kommunikation gefangen sind und angesichts der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse nurmehr resignieren können, steht hier deutlich im Mittelpunkt. „Was sollen wir machen", heißt es dementsprechend in Onkel Vanja: „Wir müssen leben!". Und auch den drei Schwestern im gleichnamigen Drama ist es unmöglich, aus den erstarrten Verhältnissen ihres Landlebens auszubrechen. Die Hoffnung verheißende Großstadt („Nach Moskau!" ist ein zentraler Satzrefrain des Dramas) bleibt ihnen unerreicht. In Die Möwe erfindet der Schriftsteller Trigorin eine Geschichte, in der ein Mann ein Mädchen aus purer Langeweile zugrunde richtet - abermals ein Symbol der existentiellen Leere des Personals. Und in Der Kirschgarten gerät der nostalgisch-allegorische Blick auf die von den Figuren verklärte Vergangenheit (weil „ganz Russland unser Garten ist") zur scharfen Kritik an der aktuellen Situation. Auch dabei geht es letztlich wieder um die ewige Wiederkehr des immergleichen, grundsätzlich absurden Leids: „Auch in tausend Jahren wird der Mensch seufzen: ,Ach, wie schwer ist das Leben', und wird doch gleichzeitig, so wie wir jetzt, sich vor dem Tode fürchten und nicht sterben wollen" (Drei Schwestern). Zur Umsetzung dieser Themen entwickelte Čehov eine neue Technik der dramatischen Darstellung, die er selbst als „indirekte Handlung" bezeichnete. Hierbei legte er den Schwerpunkt auf die Darstellung der Seelenstimmung seiner Charaktere, die er nebeneinander bzw. gegeneinander stellte, und weniger auf die Handlung selbst. Typisch für Čehovs Stücke ist, dass sich wichtige dramatische Ereignisse hinter den Kulissen abspielen und dem Ungesagten oft eine höhere Bedeutung zukommt als dem direkten Wort. Zu den gelungensten der oftmals possenhaften Einakter Čehovs gehören Medved (1888; Der Bär) und Predloženie (1889; Der Heiratsantrag). In Russland werden Čehovs Werke in erster Linie dem kritischen Realismus zugerechnet; doch zeichnen sich Tendenzen in der formalen Gestaltung ab, die auf den europäischen Impressionismus und Symbolismus weisen. (Dazu gehören etwa der Einsatz klanglicher Effekte und die rhythmische Wiederholung von bestimmten Themen und Motiven.) Seine Bühnenstücke sind ebenso wie seine Erzählungen Studien des inneren Scheiterns der Charaktere in einer sich auflösenden Feudalgesellschaft. Zu den deutschsprachigen Bewunderern Čehovs gehörte u. a. Thomas Brasch, der seine Werke übersetzte. QUELLE: http://alenos.piranho.de Über Tschechows Dramen Tschechows verblüffende Modernität, seine heutige Aktualität ist nicht die Folge abstrakter Geschichtslosigkeit; sie ist seiner Haltung eines äußerst präzisen, distanzierten Beobachters zu danken, der sich absolute geistige Freiheit und Offenheit bewahrt und dadurch zu einem ganz neuen künstlerischen Erfassen der Wirklichkeit gelangt. An der thematischen Oberfläche ist das Drama Tschechows ein Drama des trivialen Alltagslebens, in dem nicht herausragende Ereignisse und historisch bedeutsame Konflikte vorgeführt werden, sondern das gewöhnliche Dasein ganz durchschnittlicher Menschen. Aus dem privaten Alltag einer intimen, eng miteinander verbundenen sozialen Gruppe, einer Familie mit ihren nahen Freunden, wird scheinbar zufällig ein Stück Leben herausgegriffen, ein Stück Leben in seiner Monotonie, in seiner Langeweile, mit seinen Enttäuschungen und unerfüllten Sehnsüchten. Keine großartigen äußeren dramatischen Konstellationen, keine intrigen, keine Helden- oder Missetaten, sondern die unauffälligen, "undramatischen" inneren Konflikte, die sich im privaten Bereich des Menschen abspielen: unerwiderte hoffnungslose Liebe und fehlende Erfüllung im Beruf als Künstler in der MÖWE; bittere Desillusionierung der Midlife-Krise im "Onkel Wanja"; das Scheitern der Lebenspläne der "Drei Schwestern" und der klägliche Verkauf des Gutes einer lebensuntüchtigen Adelsfamilie im "Kirschgarten". Alles also wahrlich keine 'Haupt- und Staatsaktionen', sondern Szenen aus der alltäglichen Erlebnis- und Gefühlswelt mittelmäßiger Menschen aus dem adeligen Intellektuellenmilieu des russischen fin de siecle. Aber in jeder Gestalt steckt eine Welt voll verborgener Dramatik, jede Seele ist ein Schlachtfeld verdeckter Empfindungen und Leidenschaften. Nicht in dem was geschieht, liegt die Dramatik dieser Werke, sondern in dem, was nach den Sehnsüchten und unterschwelligen Begehren geschehen müßte. Noch wesentlicher ist wohl, daß die wenigen Handlungsversuche der Personen zu nichts führen, daß das, was passiert, keine Wende bewirkt. In Tschechows Dramen gibt es das Prinzip der entscheidenden Tat als Konsequenz des Geschehens und Fühlens nicht mehr. Dieser neue Dramentyp des "undramatischen" Dramas basiert letztlich auf Tschechows Menschenbild, das die traditionelle Figurenkonstellation der Handlungsträger im Drama unmöglich macht, "keine Bösewichter und keine Engel". Die üblichen Grundmuster von Verbrecher und Opfer, von Schädiger und Geschädigtem sind gestört. Quelle des schwelenden Konflikts sind die objektiven Widersprüche des Daseins, Lebenssituationen, denen der individuelle Wille machtlos gegenübersteht, existentielle Grundbefindlichkeiten. Und natürlich sind es auch die bedrückenden sozialen und gesellschaftlichen Umstände, die der Entfaltung der Persönlichkeit entgegenstehen. Aber das Böse, das geschieht, geschieht ohne direkte Aktivität des Willens, ohne bewußte Böswilligkeit. Es ist das Resultat von Charaktereigenschaften, die von den Betroffenen selbst nicht durchschaut werden, von Selbsttäuschung, Ahnungslosigkeit, seelischer Stumpfheit und Dummheit. Deshalb gibt es auch keinen eigentlichen Schuldigen mehr. Schuld an dem Unglück, der Bitterkeit und Unerfülltheit des Lebens sind nicht einzelne Personen mit ihrer Gemeinheit und ihren bösen Taten, schuld ist der Zustand des Lebens überhaupt. Niemand jedoch findet sich mit dieser Lage ab, niemand ist versöhnt. Hauptthema der Dramen ist das Lebensgefühl von Menschen, die durchdrungen sind von einem verzehrenden Gefühl der Unruhe und Unsicherheit, die umgetrieben werden von der unklaren Erkenntnis, daß das Leben das sie führen, nicht das ganze, das wirkliche Leben sein kann. Alle sind erfüllt von einer unbestimmten Sehnsucht nach sinnvollen Lebenszielen, nach Glück und einem anderen, wesentlich erfüllteren Dasein. Diese Sehnsüchte, die letztlich immer das Leben in seiner Ganzheit betreffen, konkretisieren sich für die verschiedenen Personen in den Lebensbereichen der Liebe, der Arbeit und der Kunst. Auszüge aus: Karla Hielscher, TSCHECHOW, München und Zürich 1987