Zürichsee-Zeitung vom 23.10.2004

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(sommerhäuse[ so gewöhnlich"
Meilen: uDer Kirschgarten" auf der Heubühne
-
Premiere am Donnerstag mit frenetischem Applaus
Anton Tschechows "Kirschgarteno
ist die neuste lnszenierung des Ate'
lier Theaters Meilen. lm Stammhausn
der Heubühne, stellen die bekannten
Gesichtet erneut ihte schauspieled-
schen Fähigkeiten unter Beweis 100 Jahrc nachdem Tschechow im
Alter von 44 Jahren an Lungentuber'
kulose verstorben ist.
CLAUDIA BALDASSARRE
<Wenn im ersten Akt eine Waffe an
der Wand hängt, muss spätestens im
dritten Akt damit geschossen werden!> So lautet angeblich der Ratschlag von Anton P. Tschechow an
junge Schriftsteller. Und so wird in
allen Stücken Tschechows, ausser
eben im <Kirschgarten>, geschossen
* was nicht heisst, dass es diesem
Stück an menschlichen Unzulänglichkeiten fehlt, ganz im Gegenteil.
lm Wendekteis det Zeit
Die Handlung an sich ist einfach.
Das Stück spielt auf einem russischen Landgut, dessen HerrenhauS
von einem riesigen Kirschgarten umgeben ist. Die verwitwete Gutsherrin
Ljubov Andreevna Ranevskaja (Annacrai"l-lqnhcal\
Lahrf orrc FrenLrainh
(Paut Luternauer), Petr (Marcel Zarske) und Lopachin (lean'Rudolf Stoll);
(Annegret
Trachset), Anja (Rina Hofmann) und Firs (Helmuth Stanisch). cercta Liniser
hinten Varja (Annette Frommherz), Llubov
In Verhandlungen um ein Landgut: vorne
Gaev
nögretTlachsel) kehrt aus FraÄkreich
zurück, wo sie einige Jahre mit einem
Geliebten weit über ihre Verhältnisse
hinaus gelebt hat. Das Gut ist überschuldet und zur Zwangsversteigerung ausgeschrieben. Leonid Gaev
(Paul Luternauer), der Bruder Ljubovs, steht mit seinem aufwändigen
Lebensstil der Schwester in nichts
nach.
Der Kaufmann Lopachin (Jean-Rudolf Stoll), dessenVater und Grossvater auf demselben Gut noch Leibeigene gewesen waren, schlägt zur Rettung des Gutes vor, den Kirschgarten
abzuholzen, zu parzellieren und auf
dem Gelände am Fluss, wo der junge
Sohn Ljubovs vor Jahren seinenTod
fand, Sommerhäuser (Datschen) errichten zu lassen. Okonomisch betrachtet scheint dies der einzige Aus.
weg, aber weder Ljubov noch Gaev
können sich dazu
durchringen:
<Sommerhäuser! Sommergäste! Verzeihen Sie, das ist'so gewöhnlich.>
So kommt es, wie es eben anders
nicht kommen kann: Das Gut wird
versteigert und geht an den Sohn des
ehemaligen Leibeigenen, den Kaufmann Lopachin, der sein Projekt mit
den Sommerhäusern realisiert. Ljubov kehrt zu ihrem Geliebten nach
Frankreich zunick; Gaev nimmt eine
Stellung in einer Bank an. Die Zeichen der Zeit verlangen nach\y'bränderungen: DerAdel verarmt, und das
Bürgertum ist in Vormarsch begriffen.
Jede Komödie lebt letztlich von der
Tragödie der einzelnen Charaktere.
So auch das letzte Stück Tschechows, dessen erfolgreiche Uraufführung er noch miterlebte, bevor er
kurz darauf seinem Lungenleiden erlag (siehe Kasten).
Unerfüllte Liebe
Annette Frommherz, die manch einem noch in der Rolle der kämpferischen, vor Sexappeal strotzenden
<Lysistrata> in Erinnerung sein mag,
ist jetzt in den Körper der gottesfürchtigen, spröden Pflegetochter ge-
schlüpft. Besessen wartet diese darauf, endlich geheiratet zu werden -
und zwar von keinem Geringeren als
dem Kaufmann Lopachin, der sich
zwar bemüht, diesemWunsch zu ent-
sprechen, es letztlich jedoch nicht
schafft. Die Thagödie der unerfüllten
Liebe ist vollendet.
Treu ergeben und eingeschlossen
Zwei Protagonisten haben sich auf
das Wunderbarste aus dem Stück
<herausgespielb und sind so sehr
mit ihrer Rolle eins geworden, dass
man durchaus dazu geneigt sein
könnte, wenn man unmittelbar nach
der Aufführung dem jungen Lakaien
(Andreas Tlachsel) auf der Strasse
begegnete, ihn einen arroganten
TLnichtgut zu beschimpfen. Derart
überzeugend und packend war sein
Schauspiel.
Es liegt auf der Hand, dass es sich
beim Zweiten nur um den schon oft
und immer wieder gerne gesehenen
Helmuth Stanisch handeln kann.
Diesmal in der Rolle des alten, verschrobenen und leicht tauben Lakai
Firs, der so sehr mit der Gutsfamilie
verschmolzen ist, dass er selbst dann
noch darauf verzichtete, diese zu
verlassen, als ihm die Freiheit, die er
mehrmals als Unglück bezeichnete,
längst sicher gewesen wäre. Er
bleibt treu ergeben. Als alle das Gut
längst verlassen haben und Firs
fälschlicherweise im Spital glauben,
bleibt dieser im Haus eingeschlossen. <Das Leben ist voniber, als hät-
te man gar nicht gelebt.> Firs legt
sich hin. <Keine Kraft mehr, nichts
mehr, nichts... Ach du... taube
Nussl> Firs ist tot.
Slnnbild für Jugend und Umbruch
Wo die einen mit dem Abschied
und Loslassen kämpfen, da freuen
sich die anderen auf einen Neuanfang. So stehen die Tochter Anja
(!ina Hofmann) und der ewige Stu-
dent (Marcel Zarske), der sich hinter
versteckt und sich manchmal herablassend über das Leben und die Liebe
äussert, sinnbildlich für die Jugend
und den Umbruch.
<Der Kirschgarten) ist ein langsames Stück, das vom subtilen und
symbolschwangeren Dialog lebt und
yielen intelligenten Phrasen
so dem Zuschauer einiges an Aufmerksamkeit abverlangt. Das Publikum ist, wie der nicht enden wollende Schlussapplaus am Donnerstag
zeigfe, mehr als nur bereit, dies hinzunehmen.
Kein Rezept
gegen das Unglück
Hinter allen Werken von Anton
Tschechow spürt man den Arzt,
der mit Mitgefühl seinen Patienten zuhört, und man spürt die stille Ironie denjenigen gegenüber,
die ein Rezept gegen ein unglückliches Leben verlangen. Doch auf
die Frage: <Was ist das Leben?>
wussteTschechow nur zu antworten: <Was ist eine Mohrnibe? Eine
Mohrrübe ist eine Mohrrübe,
mehr ist däzu nicht zu sagen.))
Geboren wurde Anton Tschechow 1860. Er wuchs in ärmlichen
Verhältnissen aui dank eines Stipendiums konnte er in Moskau Medizin studieren. Unter dem Pseudonym Cechonte schrieb er während
des Studiums kleine Ezählungen
humoristische Gazetten. Als
praktizierender Arzt schrieb er
weiter, mit wachsendem Erfolg. Eine Lungentuberkulose erzwang jedoch immer häufigere Aufenthalte
im südlichen Klima, so dassTschechow auf die Krim übersiedelte.
1901 heiratete er die Schauspielerin Olga Knipper, gegen deren
für
Heiratswünsche er sich lange erfolgreich gesträubt hatte. Sie führten eine merkwürdige Ehe, lebten
wegen der Theaterverpflichtungen Olgas selten zusammen und
schrieben sich Briefe.
Ab
1903
verschlechterte sich Tschechows
Gesundheitszustand. qntgegen
den Empfehlungen der Arzte arbeitete er verbissen an seiner Komödie <Der Kirschgarten> weiter.
Kurz nach deren Uraufführung
starb er in Badenweiler. Seine
letzten Worte waren: <Ich habe so
lange keinen Champagner mehr
getrunken> und dann: <Ich sterbe.> (bal)
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