Anton Tschechow Der Kirschgarten

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Anton Tschechow
Der Kirschgarten
Zuerst aber ein paar Worte zur Biographie Anton Tschechows. Tschechow gehört
zu den bedeutendsten russischen Autoren des 19. Jahrhunderts.
Er wurde am 29. Januar 1860 in Taganrog (Ukraine) geboren. Er wäre also in
diesem Jahr 150 Jahre alt geworden. In einigen Buchhandlungen kann man deswegen jetzt vermehrt Tschechows Werke kaufen. Er stammte aus sehr ärmlichen
Verhältnissen, hatte einen jähzornigen Vater, auf den er sich nicht verlassen
konnte. Trotz der Herkunft schaffte es Tschechow in Moskau Medizin zu studieren.
Bereits während des Studiums schrieb und veröffentlichte er humorvolle Kurzprosa
in verschiedenen Zeitschriften. Die ärztliche Praxis indes übte Tschechow nur kurze
Zeit aus und widmete sich bald ganz seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Tschechow ist ein Meister der vordergründig humoristischen Kurzgeschichte. Alle seine
Geschichten sind zwar voll echten Humors, sie zeugen immer von einer ganz grossen Liebe zu den Menschen. Nie ist es ein Humor, der sich lustig macht – das wäre
ja auch kein Humor - sondern immer ist es ein liebendes Verstehen der Menschen.
1890 reiste Tschechow nach Sachalin und besuchte die dortige Strafkolonie, ein
Erlebnis, das ihn stark beeindruckte. Der Aufenthalt fand in dem Reisebericht „Die
Insel Sachalin“ seinen Niederschlag. 1898 zwang ihn sein schlechter Gesundheitszustand – er litt an Lungentuberkulose – Moskau zu verlassen und sich im wärmeren Klima der Halbinsel Krim niederzulassen. Mehrere Kuren führten Tschechow
auch nach Westeuropa. Durch die Bekanntschaft mit dem Intendanten des Moskauer Künstlertheaters kam Tschechow zur Bühne. Seine grossen Stücke „Die
Möve“, „Onkel Wanja“ „Drei Schwestern“ und eben „Der Kirschgarten“ entstanden
für diese Bühne und wurden dort uraufgeführt. 1901 heiratete Tschechow die
Schauspielerin Olga Knipper, die bei den Aufführungen seiner Stücke in Moskau
mitwirkte. Er starb am 15. Juli 1904 während eines Kuraufenthalts in Badenweiler
im Schwarzwald, unweit von hier.
Die Lektüre russischer Literatur gehört für mich zu den grössten Leseerlebnissen.
Vielleicht haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht. Vielleicht haben auch Sie die
halbe Nacht durchgelesen mit Dostojevskis „Schuld und Sühne“ oder mit dem „Idioten“, mit den „Brüdern Karamasov“ oder mit Tolstois „Anna Karenina“. Vielleicht
haben auch Sie nicht mehr aufhören können, völlig hingegeben an die vielen hundert Seiten. Und vielleicht haben Sie sich auch gefragt, warum das so ist. Es passiert ja in diesen Romanen wenig. In Schuld und Sühne steht ziemlich am Anfang
ein Mord und die vielen hundert Seiten handeln von nichts anderem als der seelischen Entwicklung des Mörders. Im Idioten passiert eigentlich überhaupt nichts,
in unzähligen Gesprächen und Milieuschilderungen werden Gedanken und Weltanschauungen entwickelt. Und dennoch: man kann diese Romane nicht mehr weglegen, sie sind wie Drogen. Es geht von dieser Literatur eine ganz besondere Faszination aus. Dies gilt nicht nur für Dostojewski, sondern auch für Puschkin, Gogol
und eben auch für Tschechow.
Es ist sehr schwer zu sagen, was sie ausmacht. Russische Literatur hat etwas Weites, wie die russische Landschaft, sie ist weit, nie eng. Die Figuren haben eine Art
Weitläufigkeit, welche die Deutsche Literatur kaum kennt. Das mag eben zusammen hängen mit der Weite der Landschaft, ich weiss es nicht, ich war leider noch
nie in Russland. Aber die Landschaft ist es wohl, welche die Figuren bestimmt.
Weit und tief, das sind die Figuren der russischen Literatur.
Anton Tschechow: Der Kirschgarten
Dann, glaube ich, sind wir ebenso gefangen von der russischen Gesellschaft oder
mehr noch von der Gesellschaftsordnung. Die grosse russische Literatur – das gilt
auch für den Kirschgarten – erzählt von Russland unter dem Zaren. Und es gibt
eigentlich nur zwei Gesellschaftsschichten: Adel und Bauerntum. Einen Mittelstand
gibt es nicht. Es gibt die Adeligen und die Bauern oder gar die Leibeigenen; wer
zu keiner dieser beiden Schichten gehört, ist ein Verlorener wie Raskolnikow.
Russische Literatur spricht immer wieder von Grund und Boden, von der Scholle
geht alles aus. Wer nicht mehr der Scholle verbunden ist, geht als Mensch in dieser
Gesellschaft verloren. Es ist nun eine sträfliche Vereinfachung, für die ich die Spezialisten um Verzeihung bitte, wenn ich das Folgende sage. Aber gleichsam als
Formel für den heutigen Abend kann diese Vereinfachung dienlich sein: Die Verbundenheit mit der Scholle gilt für den Adel, ebenso wie für den Bauern. Der Adelige ist der Besitzer der Scholle, der Bauer oder Leibeigene bearbeitet sie. Jene
russische Literatur, die uns fasziniert, erzählt also immer von den Geschehnissen
und Schicksalen in einer feudalistischen Agrarwirtschaft.
Das war mein Damen und Herren, ein vager Versuch die Faszination der russischen
Literatur zu erfassen: Weite der Landschaft und Weite der Menschen, Verbundenheit mit der Scholle in den beiden Gesellschaftsschichten Adel und Bauerntum. Die
Verbundenheit mit der Scholle macht uns die russische Literatur vertraut, die
chthonische Tiefe rührt uns an. Die starre Gesellschaftsordnung ist uns fremd.
Vertrautheit und Fremdheit, daraus ergibt sich wohl unsere Faszination. Durch ihre
Fremdheit zieht sie uns an, durch ihre Vertrautheit lässt sie uns durchhalten.
Diese etwas vage Charakterisierung trifft nun auch auf Tschechow zu und vor allem
auf sein letztes Theaterstück, den Kirschgarten. Was ich zu umreissen versucht
habe, ist Grundlage des Stücks.
Es spielt um 1900 – also in der Endphase des Zarenreichs - auf einem russischen
Landgut mit einem Herrenhaus, das von einem wunderschönen, riesigen Kirschgarten umgeben ist. Das Landgut gehört der Andrejewna Ranjewskaja und ihrem
Bruder Andrejewitsch Gajew. Die Ranjewskaja hat eine Tochter Anja und eine Pflegetochter Warja. Wir befinden uns also in der adeligen Gesellschaft einer Gutbesitzerin.
Die Ranjewskaja kehrt nun – und so beginnt das Stück - zusammen mit ihrer
Tochter Anja, der Gouvernante Charlotte und einem Lakai aus Paris zurück. Sie
hat fünf Jahre in Paris gelebt, sie ist vom Ladgut geflüchtet vor fünf Jahren, weil
ihr einziges Söhnchen in einem nahe gelegenen Flusse ertrunken war. Sie ist einem
Geliebten nach Paris gefolgt, ohne wirkliche innere Überzeugung. Nun kehrt sie
zurück und wird in ihrem Haus von den Daheimgebliebenen empfangen.
Ihr Ladgut ist aber völlig überschuldet. Sie hat in Paris auf Kosten einer in Russland
nicht mehr funktionierenden Landwirtschaft gelebt, alles Geld ist aufgebraucht.
Auch ihr Bruder Gajew hat nie mit Geld umgehen können. Die adelige Familie ist
eigentlich völlig verarmt und mittellos. Sie vernimmt, dass ein Versteigerungstermin angesetzt ist, weil die Zinsen seit langem nicht mehr bezahlt worden sind.
Aber die Ranjewskaja und ihr Bruder leben so, wie wenn sie reich wären und Geld
nirgends eine Rolle spielte. Sie werden mit Geld förmlich um sich und machen sich
keine Gedanken, wie letztlich alles bezahlt werden soll.
Am Empfang bei der ihrer Rückkehr nimmt auch Lopachin teil. Lopachin stammt
aus der anderen Gesellschaftsschicht. Sein Grossvater und sein Vater waren Leibeigene auf dem Landgut, sie wurden früher nicht einmal in die Küche hinein gelassen. Lopachin aber hat sich als Kaufmann empor gearbeitet und ist nun sehr reich,
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Anton Tschechow: Der Kirschgarten
er könnte das Gut ohne weiteres kaufen und tut das dann auch. Trotzdem ist er
ein Vertreter der russischen Gesellschaftsordnung geblieben. Er fühlt sich seiner
Herrschaft gegenüber immer noch verbunden und verpflichtet. Statt das Gut also
einfach zu kaufen, beschwört er die Ranjewskaja und ihren Bruder den riesigen
Kirschgarten parzellieren zu lassen, Datschen, also Ferienhäuser zu bauen, und
diese zu einem hohen Preis an Sommergäste zu vermieten. Da das Landgut in der
Nähe einer grösseren Stadt liegt, wäre das äusserst lukrativ und würde alle finanziellen Probleme der Besitzer lösen. Aber er stösst mit seinen immer dringlicher
vorgebrachten Vorschlägen auf ein für ihn völlig unbegreifliches Unverständnis.
Die Ranjewskaja und ihr Bruder haben absolut kein Verständnis für Geschäfte. Sie
sind es als Adelige gewohnt, nicht zu arbeiten, nichts zu tun, bedient zu werden.
Dass man mit dem, was man hat, etwas anfangen könnte, um zu Geld zu kommen,
ist ihnen in einem Masse fremd, das Lopachins Fassungsvermögen übersteigt. Es
ist ganz undenkbar für die Ranjewskaja, dass man die Kirschbäume abholzt, der
Kirschgarten gehört als etwas Unwandelbares derart zu ihrer Jugend und zu ihrem
Leben, dass eine Veränderung ihrem Leben jeglichen Boden entziehen würde. Sie
hat eigentlich nicht einmal Angst vor der Veränderung, sie kann sie sich gar nicht
denken, sie sich gar nicht vorstellen, sie bleibt völlig außerhalb ihres Bewusstseins.
Der Kirschgarten symbolisiert die Kindheit und die Erinnerungen, von denen sich
die Geschwister Ranjewskaja und Gajew nicht trennen können. Aber noch mehr:
er ist das Symbol einer gesellschaftlichen Ordnung, die äusserlich blüht, im Innern
aber hohl ist und überholt, die nur noch scheint, nicht mehr ist. Sie ist noch fähig
der Prachtentfaltung – der Kirschgarten steht in voller Blüte – aber nicht mehr der
Veränderung und der Entwicklung.
Die ganze Oberschicht ist der Ranjewskaja gleich. Niemand – ausser Lopachin –
kann sich eine Veränderung vorstellen, die Gesellschaftsordnung ist sakrosankt,
von Gott gegeben. Das Stück zeigt uns eigentlich auf weiten Strecken im Grunde
nichts anderes als diese Unfähigkeit der Figuren zur Veränderung. Alle leben auf
diesem Gut so, und nicht nur die Adeligen. Auch diejenigen, die eigentlich von
einer Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse profitieren könnten, stützen
sie. Alles erstarrt in Lethargie. Die zahlreichen Nebenhandlungen im Stück gedeihen nicht, nichts setzt sich fort, alles erstarrt in der Unfähigkeit zur Veränderung
und Wandlung.
Da ist der Student Trofimov, er ist bereits fünfzig Jahre alt und immer noch Student.
Er verdient seinen Lebensunterhalt mit Übersetzungen, verliebt sich in Anja, die
Tochter des Hauses. Die Liebe ist vielleicht sogar gegenseitig, aber ob etwas daraus wird, weiss man nicht recht. Trofimov ist ein Sozialutopist, der mit Worten
neue postkapitalistische Gesellschaftsformen verkündet, aber selbst nichts tut,
sondern in der Abhängigkeit des Adels bleibt.
Warja, die Pflegetochter, möchte eigentlich Lopachin heiraten, er sie eigentlich
auch. Auch das könnte den Kirschgarten retten. Aber es wird nichts daraus. Die
Ranjewskaja betreibt die Verbindung nicht wirklich und Lopachin ist wohl immer
noch durch die gesellschaftlichen Schranken gehemmt. Die Gouvernante Charlotte
Ivanowna sieht keine Zukunft, sie weiss nicht einmal, woher sie stammt. Sie ist
ein Zirkuskind, das immer noch schwierige Zaubertricks beherrscht und die Gesellschaft in Erstaunen versetzt. Aber alles ist blosser Schein, wie der Kirschgarten.
Oder es gibt den Gutsschreiber Epichonow, der unsterblich verliebt ist in das Stubenmädchen Dunjascha, sich selbst aber nur als einen Unglücksraben wahrnimmt,
dem im Tag „zweiundzwanzig Unglücke“ widerfahren. Dass so aus seiner Liebe
nichts wird, liegt auf der Hand.
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Auch der Gutsbesitzer eines Nachbargutes, Simeonow-Pischtschik, lebt bloss als
ein adeliger Bettler, der keine Ahnung hat, woher er den Zins für seine verschuldeten Güter hernehmen soll.
Am deutlichsten vielleicht kommt die Unfähigkeit zur Veränderung der Menschen
in der Dienerschaft zum Ausdruck. Da gibt es Firs, den 87-jährigen Greis, der seine
Dienerrolle völlig verinnerlicht hat. Er ist nicht bereit, den Status des Leibeigenen
aufzugeben. Er fühlt sich der Erhaltung der Klassen völlig verpflichtet. Gajew behandelt er immer noch wie ein Kind, er ist dauernd darauf bedacht, dass dieser
warm genug angezogen ist.
Am Schluss des Stücks, als alle abreisen, wird er im Haus vergessen, er gehört
zum Inventar. Der andere Diener, der junge Lakai Jascha, ist das Gegenteil. Er ist
auch nicht an der Veränderung der Verhältnisse interessiert, da er sie schamlos zu
seinen Gunsten ausnützt.
Was nicht aufzuhalten ist, passiert. Es kommt zur Versteigerung des Gutes. Die
Ranjewskaja gibt in Erwartung der Nachricht des Verkaufs – wie könnte sie anders
– einen Ball im Hause. Zwar ist die Gesellschaft ärmlich. Der alte Firs bemerkt
dazu: „Früher haben bei uns auf den Bällen Generäle getanzt, Barone und Admirale,
aber jetzt schickt man nach dem Postbeamten und dem Stationsvorsteher, und
nicht mal die kommen wirklich gern!“ Aber man gibt eben trotzdem einen Ball.
Man amüsiert sich.
Lopachin kommt und verkündet, dass er das Landgut nun gekauft habe. Die Nachricht trifft nun die Ranjewskaja schwer: Der Prolet ist nun der Besitzer von Gut
und Garten. Bei den Übrigen löst die Nachricht kaum viel aus. Die Unfähigkeit, den
Wandel zu begreifen, setzt sich fort.
Im letzten Akt herrscht Abreise. Die Ranjewskaja reist wieder nach Paris, mit dem
Geld, das ihr eine Grosstante geschickt hat, das eigentlich dazu gedacht hat war,
die Zinsen zu bezahlen. Sie wird es in Paris durchbringen, niemand weiss, was
nachher geschehen soll. Die Familie verliert sich, Gajew will eine Stelle als Bankbeamter annehmen, aber man ahnt, dass er die nötige Ausdauer nicht haben wird.
Die beiden Töchter gehen einer unsicheren Zukunft entgegen.
Die Menschen verlassen das Gut, die Zeit drängt, der Zug fährt. Man hört, wie die
Kirschbäume abgeholzt werden. Zurück bleibt der alte Firs, den man buchstäblich
vergisst.
Der Kirschgarten ist ein Stück des Übergangs – Theater macht immer sichtbar.
Nichts ist am Ende klarer sichtbar als die Tatsache, dass diese Gesellschaftsordnung sich überlebt hat und keine Berechtigung zum Dasein mehr hat. Was kommt,
ist auch sichtbar: Eine Eisenbahnlinie wird gebaut, Telegraphie kommt auf, englische Investoren kommen und suchen nach Bodenschätzen, eine kapitalistische Ära
bricht an, Lopachin ist ihr Vertreter. Zwar immer noch in der alten Gesellschaft
verwurzelt, aber trotzdem als Unternehmer äusserst effizient und erfolgreich.
Das Erstaunliche ist aber das Folgende: Tschechow stellt zwar den Untergang der
alten russischen Gesellschaftsordnung dar, aber er beklagt ihn nicht. Ebenso wenig
redet er einer kapitalistischen Gesellschaft als der grossen Neuerung das Wort.
Auch stellt er sich nicht auf die Seite Trofimovs und verkündet eine utopische postkapitalistische Gesellschaft. Alle diese Möglichkeiten liegen im Stück drin, aber
keine kommt zum Tragen. Und jede dieser Tendenzen kann Grundlage einer Inszenierung sein. Man kann das Stück inszenieren als eine Tragödie, indem man
die Gefühle der Verlierer in den Vordergrund stellt und die Ranjewskaja darstellt
als eine tragische Figur. Die Uraufführung in Moskau 1904 hat das Stück so gedeutet, was aber Tschechow gar nicht gefallen hat.
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Man kann das Stück auch inszenieren als ein Ausdruck des sozialen Aufbruchs, der
die alte Gesellschaft und ihre Überholtheit hinter sich lässt, den Kapitalismus eines
Lopachin ebenso verteufelt und das Heil in Trofimovs Utopien sucht. Das wäre
gleichsam die kommunistische Art, das Stück zu inszenieren.
Beide Formen werden Tschechow nicht gerecht. Er selbst wollte den Kirschgarten
als Komödie verstanden wissen. Das mag auf den ersten Blick erstaunen. Zwar
gibt es unzählige komische Momente, immer wieder passieren Dinge, die komisch
sind, Tschechow nützt die Möglichkeiten zur Situationskomik souverän aus. Sie
werden Ihnen nicht entgehen. Auch die Figuren sind komisch, Gajew lutscht dauernd Bonbons und spricht in den unpassendsten Situationen über Billard, Firs murmelt dauernd Unverständliches, Pischtschik schluckt aus Blödsinn eine ganze
Schachtel Tabletten und schnarcht dann, weil es wohl Schlaftabletten sind, an den
wichtigsten Stellen, Trofimov stürzt die Treppe herunter, ein Koffer wird auf eine
Hutschachtel gestellt und der Hut zerdrückt und vieles mehr. Es ist ein souveränes
Handhaben der Situationskomik, ein Blick auf die letztlich komischen Widerwärtigkeiten des Lebens. Aber das reicht, meine ich, noch nicht hin, von einer Komödie
zu sprechen. Trotzdem kommt aber der Begriff Komödie der Sache doch am nächsten.
Wir werden vielleicht an Dürrenmatts Komödienbegriff und –bestimmung erinnert
oder an Brechts episches Theater.
Ein Theaterstück soll - das ist für Dürrenmatt die Möglichkeit und Pflicht des Theaters - den Zuschauer aufstören, soll in ihm Fragen provozieren, aber nicht Fragen
an das Stück, sondern an ihn selbst. Dies lässt sich nur erreichen, wenn es gelingt,
den Zuschauer in Distanz zum Bühnengeschehen zu bringen. Lebt er mitten im
Geschehen mit, identifiziert er sich mit den Figuren, verliert er die nötige Distanz,
nimmt die Denkweise der Figuren auf, statt über sie nachzudenken. Dies zu erreichen, ist nicht einfach. Zu gerne identifiziert sich der Zuschauer, in der Identifikation liegt ein wesentliches Moment der Unterhaltung.
Dürrenmatt bricht diese Identifikation des Zuschauers immer wieder durch Verfremdung und durch das Groteske. Die Figuren handeln inkommensurabel, das
Unvereinbare wird auf der Bühne vereinbart. Der Zweck besteht darin, zu verhindern, dass Sie als Zuschauerinnen und Zuschauer das Geschehen als gegeben hinnehmen, statt darüber nachzudenken. Brechts „episches Theater“ hat die gleiche
Funktion. Nur steht bei Brecht die Weltanschauung des Marxismus dahinter, auf
die Brecht seine Zuschauer durch seine Verfremdungen lenken will. Das ist bei
Dürrenmatt nicht so. Bei ihm steht kein geschlossenes weltanschauliches System
mehr dahinter – im Gegenteil.
Ich meine nun, dass man darüber nachdenken müsste, ob Tschechows „Kirschgarten“ nicht Dürrenmatts Dramentheorie in gewisser Weise vorweg nimmt.
Dürrenmatt meint, dass in unserer Zeit keine Tragödie mehr gebe, da eine Tragödie, welche von der Bühne her den Zuschauer läutern und bessern soll – wie das
die Funktion der griechischen Tragödie war – nicht mehr möglich ist. Denn eine
Tragödie, welche diese Funktion erfüllt, setzt voraus, dass gesellschaftliche Werte
wie Verantwortung, Mass absolut gelten. In einer Gesellschaft, die zum Beispiel
keine Vorstellung mehr hat von Schuld oder sozialer Verantwortung, läuft eine
Tragödie ins Leere. Es gibt für Dürrenmatt heute nur noch die Möglichkeit der
Groteske, das Tragische auf die Bühne zu bringen. Für ihn deshalb nur noch die
Komödie eine mögliche Form, die Tragik sichtbar zu machen.
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Anton Tschechow: Der Kirschgarten
Ich möchte die Tatsache, dass Tschechow im „Kirschgarten“ konsequent von einer
Komödie spricht, so deuten. Die Ranjewskaja und ihr Bruder können keine tragischen Figuren sein, denn ihnen fehlt jedes Bewusstsein für Verantwortung, sie sind
sich keiner Schuld bewusst, sie können gar keine Schuld auf sich laden, weil ihnen
dieses Bewusstsein fehlt. Als tragische Figuren wirken sie deshalb nicht glaubwürdig. Sie sind nicht tragisch, weil ihnen selbst die Tragik ihrer Situation nicht bewusst ist. Als Komödienfiguren aber können wir sie immerhin ernst nehmen. Trofimov ist als ewiger Student keine tragische Figur. Er hat ebenso wenig eine Vorstellung von wirklicher Verantwortung, wenn er dauernd von sozialen Utopien
spricht, aber sich selbst davon ausnimmt.
Man kann den „Kirschgarten“ deswegen eben kaum als Tragödie inszenieren. Was
sollen wir Zuschauer von einer Ranjewskaja lernen? Ein postkapitalistisches Stück
daraus zu machen, geht aber ebenso wenig an. Dazu fehlt im Stück letztlich jeder
Anhaltspunkt.
Nein, wir müssen Tschechows „Kirschgarten“ verstehen als eine Komödie, die uns
weglockt von allen politischen und gesellschaftlich-historischen Tendenzen. Die
Grossartigkeit des Stücks liegt nicht darin. Sie liegt im freien Blick auf die conditio
humana. Sie stellt den Menschen dar in seiner Schwäche, seiner Dummheit und
Arroganz, aber auch seiner Liebenswürdigkeit, seiner Liebesfähigkeit und seiner
Grösse.
30. März 2010
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