Hessischer Rundfunk hr2-kultur Redaktion: Dr. Karl-Heinz Wellmann Wissenswert Stammzellzauber Von Karl-Heinz Wellmann Mittwoch, 25.04.2012, 08.40 Uhr, hr2-kultur Sprecher: Karl-Heinz Wellmann 12-042 COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Verwendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/ der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. Seite 2 Anmod. Am 25. April 2002 – heute vor genau zehn Jahren – beschloss der Deutsche Bundestag ein Strafgesetz speziell für die Stammzellforschung. Embryonale Stammzellen dürfen seitdem nicht mehr nach Deutschland eingeführt werden, sie dürfen in Deutschland nicht hergestellt werden, und im Labor darf mit ihnen auch nicht geforscht werden. Im Grundsatz zumindest. Ausnahmen von diesem Verbot sind laut Stammzellgesetz nämlich erlaubt, allerdings nur nach genauer fachlicher Prüfung und im Rahmen hochrangiger Forschungsziele. Der Abstimmung im Bundestag vorausgegangen war ein heftiger Streit darüber, welche Konsequenzen eine solche Beschränkung der Forschungsmöglichkeiten in Deutschland haben werde. Karl-Heinz Wellmann hat bei zwei Experten nachgefragt, welche Entwicklung die Stammzellforschung in Deutschland genommen hat. ---------------------------------------------------------------------------------------------------------O-Ton 1 "Der Kreis der embryonalen Stammzellforscher ist relativ gering in Deutschland – und klein geblieben." Autor Sagt Professor Jürgen Hescheler vom Institut für Neurophysiologie am Universitätsklinikum in Köln. Dort züchtet er funktionstüchtige Herzzellen aus embryonalen Stammzellen. O-Ton 2 "Sehr viele Stammzellforscher sind zum damaligen Zeitpunkt in die so genannte adulte Stammzellforschung, die bei weitem nicht das selbe Potential hat wie die embryonale Stammzellforschung, gegangen, da hat es keine Beschränkungen gegeben, da konnte dann schneller und besser geforscht werden. Auch von den Drittmittel-Geldgebern hatte man den Eindruck, dass sehr viel mehr Geld in die adulte Stammzellforschung gegangen ist und weniger in die embryonale Stammzellforschung." Autor Stammzellen sind, wie der Name schon andeutet, jene Zellen, von denen alle anderen Körperzellen abstammen, aus denen also alle andere Zelltypen Seite 3 hervorgehen können. Embryonale Stammzellen sind in der Lage, sich zu allen Organen weiterzuentwickeln, aus denen ein Tier oder ein Mensch besteht. O-Ton 3 "Ganz am Anfang des Lebens ist die Befruchtung der Eizelle, dann hat man eine einzige Zelle, die sich dann teilt, und nach mehreren Teilungsstufen zu dem sehr frühen Blastozysten-Stadium kommt. Das ist eine bläschenförmige Struktur, die sich in die Gebärmutter einnistet. In dieser Blastozyste sind ungefähr 100 Zellen, man spricht da von der inneren Zellmasse oder den embryonalen Stammzellen, und aus diesen Zellen entsteht unser kompletter Körper." Autor Wenn embryonale Stammzellen aus einer solchen Blastozyste des Menschen entnommen werden, dann können sie sich zwar noch in die spezialisierten Zellen aller Organe des Menschen fortentwickeln. Aber nicht mehr zu einem kompletten Menschen. Dass embryonale Stammzellen im Labor problemlos am Leben erhalten werden können, das ist nicht zuletzt der Fortpflanzungsmedizin zu verdanken, der Invitro-Fertilisation. Um Eizellen außerhalb des menschlichen Körpers erfolgreich befruchten zu können, musste man Techniken entwickeln, um diese Zellen im Labor zu kultivieren. Und auch die Stammzellen, die für die Forschung genutzt werden, sind ein Nebenprodukt der Fortpflanzungsmedizin. Jürgen Hescheler. O-Ton 4 "Das heißt also, wenn ein Ehepaar, die auf natürliche Weise keine Kinder bekommen, trotzdem einen Kinderwunsch haben, können der Frau Eizellen entnommen werden, und üblicherweise werden etwa 10 Eizellen entnommen. 10 Kinder wären zu viel, das heißt man befruchtet zunächst einmal 2 oder 3 Eizellen, und pflanzt die befruchteten Eizellen in die Gebärmutter der Frau ein. Wenn das bei diesem ersten Versuch schon funktioniert, dann hat man 7 oder 8 Eizellen übrig. Die werden für eine Entwicklung von Blastozysten in der Seite 4 Zellkultur genommen, aus den Blastozysten wird die innere Zellmasse entfernt, und aus dieser inneren Zellmasse entsteht schließlich eine Kultur von embryonalen Stammzellen." Autor Der Kölner Physiologe und Herzforscher Jürgen Hescheler war Anfang 2003 nach seinem Bonner Kollegen Oliver Brüstle der zweite deutsche Wissenschaftler, dem die Forschung an embryonalen Stammzellen erlaubt wurde. Zum einen optimiert seine Arbeitsgruppe gewissermaßen das Handwerkszeug des Stammzellforschers: Wie müssen embryonale Stammzellen behandelt werden, damit aus ihnen verlässlich Herzmuskelzellen hervorgehen? Welche Gene werden im Verlauf dieser Spezialisierung aktiviert oder abgeschaltet – und zu welchem Zeitpunkt? O-Ton 5 "Das andere, auch noch sehr wichtige Ziel ist, dass man mit den embryonalen Stammzellen auch in die Klinik geht, das heißt, dass man Zellen nachzüchtet, außerhalb des Körpers, in unserem Fall zum Beispiel die Herzmuskelzellen, und dass man diese Zellen dann durch eine Injektion in das kranke Organ hineinbringt." Autor An Mäusen ist diese Vorgehensweise bereits erprobt. So konnte in Köln beispielsweise nachgewiesen werden, dass sich die Lebenserwartung von Mäusen nach einem Herzinfarkt verbessert, wenn man ihnen im Labor hergestellte Herzzellen injiziert, Herzzellen, die man aus embryonalen Stammzellen gewonnen hat. O-Ton 6 "Ja, das konnten wir zeigen. Das war einer der ersten Versuche gewesen, dass wir gezüchtete Herzzellen bei der Maus nach einem künstlich herbeigeführten Seite 5 Herzinfarkt in den Herzmuskel injiziert haben – da haben wir eine signifikante Verbesserung der Überlebensrate gefunden. Autor Außerdem hat das Herz der so behandelten Mäuse auch wieder kräftiger gepumpt als zuvor. Nun haben Mäuse aber ein ziemlich kleines Herz. Deswegen müssten im nächsten Schritt die Experimente an größeren Herzen wiederholt werden, konkret: an Schweineherzen. Erst danach könnte man daran denken, die Methode auch an einem Menschen zu erproben. Für die Fortsetzung der Studien am so genannten Großtier-Modell fehlt allerdings derzeit das Geld. Und so lange das Geld fehlt, bleibt es ein schöner wissenschaftlicher Traum: Der Traum, dass man eines Tages die nach einem Infarkt abgestorbenen Herzmuskelzellen ersetzen kann durch im Labor nachgezüchtete Abkömmlinge von embryonalen Stammzellen. Doch es gibt eine Alternative: die so genannten adulten Stammzellen. O-Ton 7 "Grundsätzlich nehmen wir Patienten-eigene, also Menschen-eigene Zellen die wir entweder aus dem Knochenmark der Patienten gewinnen oder aus dem Blut." Autor Sagt Professor Andreas Zeiher; er ist Direktor der Herzklinik der Frankfurter Universität. Adulte Stammzellen sind – wörtlich genommen – erwachsene Stammzellen, also Stammzellen, die zum Beispiel im Blut oder im Knochenmark eines Erwachsenen vorkommen. Solche adulten Stammzellen werden in der Frankfurter Universitätsklinik bereits seit einigen Jahren zur Therapie des Herzinfarktes genutzt. Zur Therapie des Herzinfarktes beim Menschen. Seite 6 O-Ton 8 "Wir nehmen die Zellen aus dem Knochenmark, mit einer ganz normalen Absaugung von Knochenmark, unter örtlicher Betäubung, und dann werden die Zellen im Blutspendedienst, der für solche Verfahren ausgerüstet ist, wie wir sagen: aufgereinigt. Wir wollen nur eine besondere Zellfraktion haben, und dann enden wir so mit ungefähr 200 bis 300 Mio. Zellen, die nach 2- bis 3stündiger Aufreinigung direkt in das Herz wieder eingespritzt werden. Die Zellen werden nicht länger aufbewahrt, sie werden auch nicht kultiviert, oder zum Wachstum angeregt – wir nehmen sie so, wie wir sie aus dem Knochenmark rauskriegen, aber nur bestimmte Zellen. Wir wollen natürlich keine Entzündungszellen da reinspritzen." Autor Stammzellen abzusaugen, das ist seit Jahrzehnten an vielen Kliniken aus Sicht der Ärzte ein Routineeingriff; allerdings ist er nicht als "Stammzellgewinnung" bekannt geworden, sondern als "Knochenmarkspende". O-Ton 9 "Das sind mehr oder weniger die gleichen Zellen, die pro Tag 200 Milliarden neue Blutzellen machen. Es sind die klassischen Blutstammzellen die das Knochenmark ja vorhält, um uns Tag für Tag mit neuen Blutkörperchen zu versorgen. Nur: Die Funktionen, die wir jetzt uns von ihnen wünschen, ist eben nicht, dass sie im Herzen Blutzellen machen, sondern dass sie ihre Wachstumsfaktoren und Schutzfaktoren für den Herzmuskel freisetzen und damit die Heilung des Herzinfarktes begünstigen." Autor Adulte Stammzellen sind hier also eine Art Arzneimittel. In diesen Stammzellen befinden sich körpereigene Wirkstoffe, die ins Herz hinein gebracht werden; mit ihrer Hilfe werden die Selbstheilungskräfte des Körpers unterstützt. Warum aber können blutbildende Stammzellen in einer solchen Notsituation dem Herzen zu Hilfe kommen? Seite 7 O-Ton 10 "Das ist ein Mechanismus, den wir in den letzten 6, 8 Jahren verstanden haben, der von der Natur wohl vorgesehen wurde, um kleinere oder kleinste Schäden zu reparieren. Diese Zellen schwimmen auch zum Teil im Blut und können somit Zugang haben zu vielen Organen und dort vielleicht kleinere Schäden reparieren. Natürlich, wenn solch ein Gau eintritt wie ein Herzinfarkt, wo Milliarden Herzmuskelzellen zugrunde gehen, da reicht das nicht aus und deswegen versuchen wir, den von der Natur erfundenen Reparaturmechanismus einfach zu verstärken, indem wir die Zellen aus dem Knochenmark herausnehmen und dann direkt ins Herz einbringen." Autor Dieser Umgang mit adulten Stammzellen beruht also auf einem völlig anderen therapeutischen Konzept, als man es bei den embryonalen Stammzellen zu entwickeln versucht. Andreas Zeiher. O-Ton 11 "Was wir gelernt haben, sowohl aus unseren klinischen Untersuchungen als auch aus Tierexperimenten, ist, dass die Zellen sich sicherlich nicht langzeit einbauen in das Herz selbst und dort dann selbst zu Herzmuskelzellen werden. Sie müssen ungefähr 3 bis 4 Wochen dort bleiben, und so lange setzen sie Schutzfaktoren für das Herz und Wachstumsfaktoren für die Gefäßneubildung frei, und damit wird der körpereigene, von der Natur her schon erfundene Reparaturprozess des Herzens – insbesondere beim frischen Herzinfarkt – verbessert und verstärkt. Aber man darf nicht glauben, dass die Zellen sich selbst umwandeln in großen Mengen zu Herzmuskelzellen und deshalb an der Pumpfunktion was ändern." Autor Die Stammzelltherapie ist aber auch am Frankfurter Universitätsklinikum noch kein Standard-Heilverfahren. In der Regel warten die Ärzte nach einem akuten Herzinfarkt drei bis vier Tage, ob die normale Therapie bereits den gewünschten Erfolg bringt, also zum Beispiel die klassischen Herzmedikamente. Erst wenn die Herzfunktion zwischen dem 4. und 7. Tag nach einem Infarkt noch immer eingeschränkt ist, wenn sich mittelfristig eine Herzschwäche zu entwickeln droht, dann erst ziehen die Ärzte die Stammzelltherapie als zusätzliche Seite 8 Maßnahme in Erwägung. Der Frankfurter Kardiologe Andreas Zeiher ist sich zwar sicher, dass das von ihm in den vergangenen rund 10 Jahren maßgeblich mitentwickelte Therapiekonzept für einzelne Herzpatienten nützlich ist. Das ging bereits im Jahr 2010 aus einer klinischen Studie an 204 Frankfurter Patienten hervor. Was aber noch fehle, sei eine richtig große Studie. O-Ton 12 "Wir hier in Frankfurt haben ungefähr fast 1000 Patienten behandelt, im HerzKreislauf-Bereich, weltweit sind im Herz-Kreislauf-Bereich weit über 10.000 / 15.000 Patienten behandelt worden. Ich bin aber weiterhin der Meinung, dass es noch kein etabliertes Behandlungsverfahren ist. Wir müssen in einer großen Studie zeigen, dass die Patienten durch die Behandlung länger leben und weniger Herzschwäche ausbilden, und gottseidank hat diese große Studie jetzt angefangen. Es ist eine europaweite Studie mit 3000 Patienten, wo nachgeschaut wird, wie viele nach 3 Jahren nach dieser Behandlung verstorben sind – bzw. mehr überlebt haben, was wir hoffen. Sinnigerweise wird diese Studie von der Europäischen Union finanziert, denn Stammzellen aus dem eigenen Knochenmark von Patienten sind nicht patentierbar, Sie finden daher auch keine Industrie, die sich da drauf stürzt, um ein Geschäft draus zu machen. Ich denke, in 4 Jahren wissen wir dezidiert, ob der Ansatz tatsächlich den Menschen nutzt, das ist auch das was an vorderster Stelle stehen muss, auch vor allen persönlichen Eitelkeiten und vor jeder Diskussion, welche Zelle ist denn besser als die andere." Autor Die embryonalen Stammzellen sind derzeit von der Anwendung am Menschen noch weit entfernt – die weltweit erste klinische Studie mit vier Querschnittgelähmten wurde Ende 2011 erfolglos abgebrochen. In ihr hatte man den Einsatz von gezüchteten Nervenzellen testen wollen. Allerdings hat die Arbeit mit embryonalen Stammzellen zumindest die Grundlagenforschung vorangebracht, nicht zuletzt auf dem Gebiet der Krebsforschung. Erforscht wurde zum Beispiel die Frage, wann und wie Gene in einer Krebszelle aktiviert oder abgeschaltet werden, erläutert der Kölner Physiologe Jürgen Hescheler. Seite 9 O-Ton 13 "Man hat wirklich sehr wegweisende Erkenntnisse gefunden, die die Forschung insgesamt sehr beflügelt haben. Da gehört beispielsweise auch die Tumorforschung dazu. Man hat festgestellt, dass der Tumor sich wie fast ein eigener Embryo verhält, das heißt, er hat auch seine eigenen Stammzellen aus denen der Tumor entsteht. Die Tumorstammzelle, das hat man gelernt. Es wird auch diskutiert, dass die adulten Stammzellen womöglich genau das Repertoire sind, aus denen die Tumorstammzelle und der Tumor entsteht; man hat auch sehr viel zu Signalwirkungen gelernt, wie interagieren die Zellen, wie bewirken die Zellen es, dass sie sich in eine bestimmte Richtung entwickeln, man hat viel zur Genetik gelernt, welche genetischen Grundlagen sind vorhanden. Diese Forschung ist durch die Arbeit an embryonalen Stammzellen sehr beflügelt worden." Autor Der Frankfurter Herzforscher Andreas Zeiher sieht den Nutzen der embryonalen Stammzellforschung sogar ganz generell darin, dass man zu verstehen lernt, welche Erbanlagen die Organe eines Menschen gewissermaßen steuern. Außerdem ist es inzwischen möglich, auch aus adulten Stammzellen funktionstüchtige spezialisierte Körperzellen heranzuziehen, der Fachausdruck hierfür lautet: induzierte pluripotente Stammzellen. Man könnte in Zukunft solche Zellen beispielsweise von Patienten mit einer angeborenen Herzrhythmusstörung heranzüchten. Danach könnte es gelingen, die fehlerhaften Erbanlagen zu identifizieren; und schließlich könnte man ein Medikament entwickeln, das bei solchen Patienten eingesetzt werden kann und der Fehlfunktion gegensteuert. O-Ton 14 "Persönlich bin ich ganz froh, dass dieses Schwarzweiß-Denken zwischen embryonalen und erwachsenen Stammzellen endlich aufgehört hat. Die embryonalen Stammzellen werden meiner Meinung nach nie eine klinische Anwendung am Herzen finden, weil das Risiko einfach zu groß ist, dass man mit diesen Zellen Tumoren produziert, weil wenn nur eine Zelle übrigbleibt, die nicht zur Herzmuskelzelle wird, dann kann daraus ein Tumor entstehen. Das Seite 10 passiert dann nach 10, 15 Jahren – wenn Sie sich vorstellen, wie lange sie Sicherheitsprüfungen machen müssten, um das auszuschließen, dann ist das etwas, was einfach für Patienten in Zukunft nicht infrage kommt. Aber: Man kann natürlich die embryonalen Stammzellen dazu benutzen, zu verstehen, wie eine Zelle was werden kann, denn das ist ja die eigentliche Funktion der embryonalen Stammzelle, dass sie direkt zu Herzmuskelzellen, Gefäßmuskelzellen, Hirnzellen werden kann. Aber der klinische Einsatz ist in meinen Augen in absehbarer Zeit absolut irreal und nicht möglich."