Peter A. Berger Kontinuitäten und Brüche Herausforderungen für die

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Peter A. Berger
Kontinuitäten und Brüche
Herausforderungen für die Sozialstruktur- und
Ungleichheitsforschung im 21. Jahrhundert
Vorbemerkung
Der folgenden Ausführungen wollen keinen vollständigen Überblick über den Stand der
Sozialstruktur- und Ungleichheitsforschung in Deutschland, die erstaunlicherweise erst mit
dem Übergang in die 1990er Jahre in der neu gegründeten Sektion Soziale Ungleichheit
und Sozialstrukturanalyse institutionalisiert wurde, geben. Angesichts der Bedeutung dieses
klassischen Feldes soziologischer Forschung, aber auch angesichts des Umfangs und der
Vielfalt der in diesem Feld behandelten Fragen ist dies auf wenigen Seiten auch gar nicht
möglich.1 Ebensowenig ist beabsichtigt, aktuell bearbeitete Forschungsfragestellungen bzw.
Projektzusammenhänge umfassend aufzulisten oder methodische Neuerungen ausführlich
darzustellen. Unberücksichtig müssen schließlich auch die vielfältigen Ergebnisse der sog.
„Transformationsforschung“ zu den sozialstrukturellen Umbrüchen in Ostdeutschland bleiben.2
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Eine entlang der Begriffe „Lebenslagen“, „Lebensläufe“ und „Lebensstile“ geordnete Übersicht zum Diskussionsstand zu Beginn der 1990er Jahre geben Berger/Hradil (1990); Zwischenbilanzen der Diskussion in der
DGS-Sektion „Soziale Ungleichheit und Sozialstrukturanalyse“ finden sich vor allem in W. Müller (1997), in
Berger/Vester (1998) sowie in Berger/Konietzka (2001); Hauptentwicklungslinien der deutschen Sozialstruktur werden z. B. in Geißler (2002), in Glatzer/Ostner (1999) sowie Glatzer u. a. (2002) beschrieben; vergleichende Analysen zur Sozialstruktur europäischer Gesellschaften finden sich in Hradil/Immerfall (1997); viele
einschlägige Beiträge zur Sozialstruktur der Bundesrepublik Deutschland enthält Schäfers/Zapf (2001); ein
umfassendes und laufend aktualisiertes Lehrbuch zur sozialen Ungleichheit in Deutschland hat Hradil (1999)
vorgelegt; eine mehr „praxisorientierte“ und anschauliche Einführung zu diesem Thema stellt Diezinger/Mayer-Kleffel (1999) dar; eine gute Zusammenfassung zum „Wandel sozialer Ungleichheit in modernen
Gesellschaften“ bietet Noll (2001); wichtige Teilstränge der Diskussion in den 90er Jahren sind in der von
Stefan Hradil bei Leske + Budrich herausgegebenen Reihe „Sozialstrukturanalyse“ dokumentiert; kommentierte Sammlungen von amtlichen Daten und Umfragedaten zur sozialstrukturellen Entwicklung enthält der
„Datenreport“, den das Statistische Bundesamt in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für
Sozialforschung (WZB) und dem Zentrum für Umfragen und methodische Analysen Mannheim (ZUMA) alle paar Jahre herausgibt (Statistisches Bundesamt 2002); weitere Hinweise können der Literaturliste entnommen werden.
Die meisten Ergebnisse sind in der bei Leske + Budrich erschienenen, umfangreichen Schriftenreihe der
„Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern“ e. V.
(KSPW) dokumentiert. Stellvertretend seien hier die Bände von Bertram u. a. (1996), Hauser u. a. (1996),
Hradil/Pankoke (1997), Lutz u. a. (1996), Nickel u. a. (1994), Schenk (1997) sowie von Bertram/Kollmorgen
(2001) genannt. Wichtige Beiträge zur Transformationsforschung enthalten Geißler (1993) und Diewald/Mayer (1995); zentrale Veröffentlichungen auf der Basis der „Lebenslaufstudie (Ost)“ des Max-PlanckInstituts für Bildungsforschung sind Huinink u. a. (1995) und Solga (1995).
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Nach einer knappen Übersicht über die Hauptlinien der (west-)deutschen Diskussion in
den letzten zwei Jahrzehnten sollen stattdessen in einer grob geordneten Weise eine Reihe
von grundsätzlichen Fragerichtungen und Einzelfragen skizziert werden, die in meinen
Augen im Feld der Sozialstruktur- und Ungleichheitsforschung weiter und intensiver zu bearbeiten sind. Die dort formulierten Fragen werden sich vor allem auf einen – denkbaren –
Wandel der Bedeutung von sozialen Ungleichheiten und sozialen Strukturen im Übergang
zur „Wissensgesellschaft“ des 21. Jahrhunderts konzentrieren und in einer gewissen Einseitigkeit dabei auch eher nach Brüchen als nach Kontinuitäten, und damit nach neuen Perspektiven und Problemstellungen, Ausschau halten.
1. Kohärenz vs. Differenzierung – die westdeutsche Sozialstruktur- und
Ungleichheitsforschung in den 1980er und 1990er Jahren
Als Reinhard Kreckel vor zwei Jahrzehnten einen Sonderband der Sozialen Welt mit dem
Titel „Soziale Ungleichheiten“ herausgab (Kreckel 1983), sorgte damals schon allein die
Rede von „Ungleichheiten“ im Plural für einige Irritationen in der (west-)deutschen Sozialstruktur- und Ungleichheitsforschung: Mit diesem Titel und den in diesem Band vereinten
Beiträgen sollte nämlich dazu aufgefordert werden, die in mancher Hinsicht zur Routine erstarrte Rede von „Klassen“ und „Schichten“ als den zentralen Strukturierungsmustern sozialer Ungleichheit in einer fortgeschrittenen und wohlhabenden Gesellschaft wie der Bundesrepublik Deutschland begrifflich und empirisch erneut auf den Prüfstand zu stellen –
was, wie die lebhaften und z. T. kontroversen Diskussionen der folgenden Jahre zeigten,
auch gelungen ist.
Auch nach 20 Jahren kann man nun diese Debatten, die noch keineswegs zum Abschluss gekommen sind, ganz gut durch die Gegenüberstellung eines Kohärenzparadigmas,
das zugleich die Kontinuität von Ungleichheitsmustern betont, und eines Differenzierungsparadigmas, das eher Brüche in der sozialstrukturellen Entwicklung in den Vordergrund
stellt, ordnen (vgl. Berger 1987).
1.1 Kontinuität und Kohärenz
Aus dem Blickwinkel eines Kohärenzparadigmas wird bis heute – und nicht nur in einführenden Lehrbüchern – davon ausgegangen, dass Muster sozialer Ungleichheit(en) weiterhin
mithilfe von Klassen- oder Schichtbegriffen beschrieben und in ihren verschiedenen Aspekten und Dimensionen zu einem weitgehend kohärenten Bild einer Schicht- oder Klassengesellschaft zusammengefügt werden können (vgl. z. B. Geißler 1996, 2002; Müller 1997;
Strasser/Dederichs 2000).
„Öffnungen des sozialen Raumes“ durch Wohlstandssteigerungen und Bildungsexpansion, durch Entwicklungen in Richtung auf eine Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft
und durch die Erosion traditioneller Werthaltungen sind aus dieser Perspektive noch keineswegs so weit gediehen, dass sich die Mechanismen der an Klassen- oder Schichtlinien
festgemachten Sozialintegration grundsätzlich verändert hätten – wobei freilich meist offen
bleibt, welchen Realitätsgrad man Schichten oder gar Klassen im Spannungsfeld von statistischen Konstrukten bzw. Kategorisierungen über korrelative Zusammenhänge „objektiver“
und „subjektiver“ Ungleichheitsaspekte bis hin zu sozial integrierten, gesellschaftlich und
lebensweltlich bedeutsamen „Großgruppen“ zuweisen kann oder soll. Die ebenfalls sozialintegrativ wirksame, leistungsgesellschaftliche oder „meritokratische Triade“ aus (Aus-)-
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Bildung, Beruf und Einkommen steht hier weiterhin im Zentrum sozialstruktureller Analysen, die sich daher in der Regel auf die „Bezahlte-Arbeit-Gesellschaft“ konzentrieren, damit aber oftmals nur die Lebenslagen von rund zwei Fünfteln der deutschen Bevölkerung
erfassen, nicht jedoch – oder nur indirekt – die Situation derjenigen, die von Transfereinkommen (ca. 25%) oder von privatem Unterhalt (etwa ein Drittel) leben.
Auch beim Blick auf Lebensläufe und Mobilitätsprozesse, der sich in den letzten beiden Jahrzehnten nicht zuletzt durch die Verfügbarkeit von Längsschnittdatensätzen und von
neuen statistischen Techniken zur Analyse von „Ereignissen“ und Übergangsraten erheblich geschärft hat, wurden und werden unter dem Dach des Kohärenzparadigmas jene Prozesse und Entwicklungen betont, die zur „Institutionalisierung“, „Verregelung“ und „Standardisierung“ von Lebenslaufmustern, zu einer weitgehenden Konstanz von Mobilitätsregimen und zur intergenerationellen Reproduktion sozialer Ungleichheit beitragen (vgl. z. B.
Blossfeld 1989; Blossfeld/Shavit 1993; Erikson/Goldthorpe 1992; Haller 1989; Henz 1996;
Mayer/Müller 1989; Mayer 1991, 1995; Mayer u. a. 1989; Müller 2001; Müller/Haun
1994). Und vor allem die PISA-Studien (Baumert u. a. 2001, 2002) haben in diesem Zusammenhang jüngst auf eine für manche doch unerwartet große Ungleichheit der Bildungschancen in Deutschland – auch und gerade im internationalen Vergleich – aufmerksam gemacht.
Lebensläufe werden hier nach einem Eisenbahnmodell konzipiert, in dem präzise definierte Anfangs- und Endpunkte existieren, wenige Verzweigungen vorgesehen sind und
sich die „Reisenden“ eher als „Kollektive“ denn als Individuen entlang vorgebahnter Routen bewegen (müssen) (vgl. Berger 1996, 1997). Skeptisch bis kritisch werden schließlich
auch jene Ansätze betrachtet, die von einer durch den Wohlstandsschub der Nachkriegsjahrzehnte ausgelösten „Entkopplung“ zwischen „objektiven“ Ungleichheiten bzw. Lebenslagen einerseits, den „subjektiven“ Verarbeitungsweisen, Werthaltungen und Einstellungen,
den kulturellen, lebensstilbezogenen Distinktions- und Abgrenzungskämpfen andererseits
ausgehen (vgl. u. a. die Beiträge in Müller 1997).
1.2 Brüche und Differenzierungen
Aus dem Blickwinkel des Differenzierungsparadigmas, dem Autoren wie Beck, Berger,
Hradil, Kreckel oder Schulze, aber auch die Forschergruppe um Vester zugerechnet werden
können, treten demgegenüber vor allem jene Differenzierungsmomente, Entstandardisierungen, Auflockerungen und Entwicklungsbrüche in den Vordergrund, die der Kohärenzperspektive eher als „Oberflächenerscheinungen“ gelten und aus ihrer Sicht den „eigentlichen Wesenskern“ oder die „Grundstrukturen“ einer (kapitalistischen) Klassengesellschaft oder einer geschichteten (Leistungs-)Gesellschaft kaum berühren: So wurde etwa
schon in den 60er und 70er Jahren auf die steigende Bedeutung wohlfahrtsstaatlicher Umverteilungen in Form monetärer und realer Transfers für die Strukturierung ungleicher Lebenslagen und damit auf die Grenzen von Sozialstruktur- und Ungleichheitsanalysen, die
sich auf die „(Erwerbs-)Arbeitsgesellschaft“ konzentrieren, aufmerksam gemacht (vgl.
Bergmann u. a. 1969; Lepsius 1979; Offe 1972, 1984). Insbesondere Stefan Hradil (1987)
hat dann nachdrücklich auf die Bedeutungszunahme jener Differenzierungen und „neuen“
Ungleichheiten (nach Geschlecht, Alter oder Nationalität, nach Region und Infrastrukturversorgung, nach Familienstand und Haushaltsgröße, nach Arbeitszeiten und Freizeitmöglichkeiten u. a. m) hingewiesen, die sich nicht oder nur bedingt auf die meritokratische Triade bzw. auf berufliche Positionen zurückführen lassen. Und Reinhard Kreckel (1990, 1992)
hat mehrfach angeregt, die in seinen Augen zu einfachen Vertikalitätsannahmen von Klassen- und Schichtenmodellen durch eine Vorstellung von „Zentrum“ und „Peripherie“ zu
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ersetzen, bei der sich zwar in Form des „korporatistischen Dreicks“ von Kapital, Arbeit und
Staat nach wie vor ein „Machtzentrum“ ausmachen lasse, sich jedoch, vermittelt u. a. über
Prozesse der Arbeitsmarktsegmentation und der sozialen Schließung, gleichzeitig vielfältige Peripherien finden, die sich kaum in eine eindeutige hierarchische Rangordnung „besserer“ oder „schlechterer“ Lebenslagen bringen und auch schwer in ein Klassen- oder Schichtenschema einordnen lassen
Die über die Grenzen der Fachöffentlichkeit hinaus einflussreichsten Entwicklungen im
Rahmen des Differenzierungsparadigmas sind jedoch zweifellos mit Begriffen wie Individualisierung und Erlebnisgesellschaft verknüpft: Schon zu Beginn der 80er Jahre hatte Ulrich Beck (1983, 1986; vgl. auch: Beck/Beck-Gernsheim 1994) in seiner sog. „Individualisierungsthese“ vermutet, dass die „lebensweltliche Realität“, d. h. die alltägliche Wahrnehmbarkeit und Wirksamkeit sozialer Klassen und Schichten, in der Bundesrepublik zunehmend verblasse. Vor dem Hintergrund eines an Max Weber (1976) orientierten Verständnisses von „sozialen Klassen“, für das (quasi-)ständische Mechanismen der Vergemeinschaftung ebenso eine Rolle spielen wie interessenbezogene Vergesellschaftungsprozesse, ging er davon aus, dass im Zuge von Wohlstandssteigerung, Bildungsexpansion und
Wertewandel tradierte „sozial-moralische Milieus“ (Lepsius 1973) ihre sozialintegrative
Kraft weitgehend verloren haben.
Dabei spielt einerseits das bildungs- und arbeitsmarktvermittelte Herauslösen aus vertrauten sozialen Kontexten und (Herkunfts-)Milieus, also soziale und regionale Mobilität,
eine zentrale Rolle. Und im Sinne eines Automodells von Lebensläufen, das mehr Wahlfreiheiten bei Startpunkten, Streckenwahl und Zielen vorsieht (vgl. Berger 1996, 1997),
geht es u. a. um die Entstandardisierung und Vervielfältigung „postindustrieller“ Lebensläufe, um den Bedeutungsgewinn von Beschäftigungsformen, die nicht (mehr) dem Modell
des „Normalarbeitsverhältnisses“ entsprechen, um Deregulierungen des Arbeitsmarktes, um
den Bedeutungsgewinn neuer familialer und nicht-familialer Lebensformen sowie um Flexibilisierungen der alltäglichen Lebensführung (vgl. zur Diskussion um die Individualisierungsthese u. a. die Beiträge in Friedrichs 1998).
Zum anderen verweist Beck schon in seiner „Risikogesellschaft“, aber auch in seinen
seither weitergeführten und mittlerweile in einem DFG-Sonderforschungsbereich der empirischen Prüfung unterzogenen Überlegungen zur reflexiven Modernisierung (vgl. Beck
1991; Beck/Giddens/Lash 1996; Beck/Bonß 2001) zugleich auf die Auswirkungen einer
zunehmenden Verwissenschaftlichung und Rationalisierung, die Traditionen „entzaubert“
und dadurch zu einer immer schnelleren Entwertung alltäglichen „Orientierungswissens“
führt. Zumindest implizit wird damit auch das auf Daniel Bell (1979) und Alain Touraine
(1972) zurückreichende Konzept einer postindustriellen „Wissensgesellschaft“ (vgl. Stehr
1994, 2000) aufgegriffen – freilich ohne dies bislang ausdrücklich auf Fragen sozialer Ungleichheit zu beziehen.
Nicht nur sozialintegrative Zugehörigkeiten (im Sinne von Selbst- und Fremdzurechnungen) zu sozialen Klassen oder Schichten, zu soziokulturellen Milieus oder Lebensstilgruppierungen, sind aus dieser Perspektive in erhöhtem Maße definitionsabhängig und entscheidungsoffen geworden. Sondern auch die jeweiligen Entscheidungen für oder gegen eine bestimmte Lebensform, für oder gegen eine „Single-“, Ehe- oder Familien„biographie“
werden angesichts neuer Möglichkeiten und Freiheiten in einer „Multioptionsgesellschaft“
(Gross 1994, 1999) in zunehmendem Maße begründungspflichtig, womit zugleich der biographische Reflexionsbedarf, aber möglicherweise auch die Abhängigkeit von massenmedial vermittelten Vorbildern steigt. Unter dem Stichwort „life politics“ wurden ähnliche
Überlegungen im übrigen auch von Anthony Giddens (1993a, 1993b, 1995, 2001) angestellt (vgl. Berger 1995), der wie Beck davon ausgeht, dass sich im Zuge des „Selbstrefle-
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xiv-Werdens“ von Modernisierungsprozessen in den westlichen Nachkriegsgesellschaften
ein epochaler Bruch vollzogen hat.
In seiner Analyse der Erlebnisgesellschaft geht Gerhard Schulze (1992) ebenfalls von
einem „kulturhistorischen Epochenbruch“ aus: Sowohl der meist mit den sog. „68ern“ assoziierte Wandel in Werthaltungen und Lebenseinstellungen (Stichworte: Postmaterialismus, Partizipation und „Selbstverwirklichung“), aber auch der steigende Massenwohlstand
(Stichwort: „Fahrstuhleffekt“) haben für ihn dazu geführt, dass insbesondere in den jüngeren Generationen die sozio-ökonomische, an Knappheiten und an der Befriedigung existenzieller Bedürfnisse orientierte Semantik in den Hintergrund tritt (vgl. Müller-Schneider
1994). An ihre Stelle treten für ihn Haltungen zur und Deutungen der Welt, in denen die
psycho-physische „Erlebnisqualität“ von Waren und Dienstleistungen die Hauptrolle spielt
und die – freilich keineswegs enttäuschungsfeste – Suche nach „schönen“ oder „angenehmen“ Erlebnissen oder Erfahrungen zur dominierenden Handlungsorientierung wird. Zugehörigkeiten zu sozialen Milieus sind nicht mehr durch „Beziehungsvorgabe“ festgelegt,
sondern müssen im Modus der „Beziehungswahl“ selbst hergestellt werden. Hauptsächliche
Orientierungspunkte dafür sind für Schulze neben dem Alter und der Bildung vor allem der
„manifeste Lebensstil“, der sich im Freizeitverhalten und in Konsumgewohnheiten ausdrückt. Für ihn unterlaufen insbesondere in den jüngeren Generationen neuartige Milieuund Lebensstildifferenzierungen („Selbstverwirklichungs-„ und „Spannungsmilieu“) dann
auch das Hierarchiemodell sozialer Schichten – weshalb er die von Pierre Bourdieu (1982)
für Frankreich herausgearbeiteten Klassen- und Distinktionskämpfe entlang der Achse des
„kulturellen Kapitals“ auf die älteren Generationen der westdeutschen Bevölkerung („Niveaumilieu“ vs. „Integrations-“ und „Harmoniemilieu“) beschränkt wissen will.3
Indem sie – gleichermaßen angeregt durch die Arbeiten Bourdieus und durch die klassischen Schichtungsanalysen Theodor Geigers (1972) – die „Vertikalitätsannahme“ der
hergebrachten Klassen- und Schichtenkonzepte gerade nicht aufgeben wollen, jedoch die
von Beck ebenso wie von Schulze beschriebenen Modernisierungserscheinungen, die „Öffnungen“ des sozialen Raumes und die entsprechenden Wert- und Mentalitätswandlungen
trotzdem sehr ernst nehmen, repräsentieren schließlich die Untersuchungen von Michael
Vester u. a. (2001) eine Art Mittelweg zwischen den hier in bewusster Zuspitzung gegenübergestellten Paradigmen der „Kohärenz“ und der „Differenzierung“ (vgl. Berger 1994a).
Zugleich stellen sie die Frage nach der „sozialen Integration“ bzw. nach der Herausbildung
neuer „kollektiver Identitäten“, die bei Beck oder Schulze, aber auch in der Vielzahl anderer Lebensstil- und Milieustudien eher implizit bleibt, ausdrücklich in den Vordergrund –
und neuerdings habe sich vor allem Arbeiten, die im Umfeld des von Wilhelm Heitmeyer
geleiteten Bielefelder Instituts für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung entstanden sind, auf Folgen (individualisierungsbedingter) Desintegrationsprozesse konzentriert
(vgl. z. B. Heitmeyer u. a. 1995; Heitmeyer 1997a, 1997b).
Das von Vester u. a. entwickelte, nach Ober-, Mittel- und Arbeiterklassenhabitus einerseits, nach Modernisierungsgraden (modern, teilmodern, traditional) andererseits unterscheidende Milieumodell weist dabei in theoretischer wie empirischer Hinsicht manche
Vorzüge auf: Es entspricht nicht nur der auf Geiger (1972) zurückgehenden Forderung, in
sozialstrukturellen Analysen die „Systemebene“ (=systemische Integration) mit der Ebene
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Auf die Vielzahl von Lebensstiluntersuchungen kann hier nicht näher eingegangen werden. Stellvertretend
seien nur die Sammelbände von Blasius/Dangschat (1994), Hradil (1992) und Schwenk (1996) sowie die Arbeiten von Georg (1998), Hartmann (1999), Klocke (1993), Konietzka (1995), Spellerberg (1996) und Lechner (2002) genannt, wobei letzterer am Beispiel von Chemnitz zu zeigen versucht, dass die „Erlebnisgesellschaft“ mittlerweile auch in Ostdeutschland „angekommen“ ist. Einen zusammenfassenden Überblick gibt
Garhammer (2000), und eine aktuelle Kontroverse über die Lebensstilforschung zwischen Hradil (2001),
Meyer (2001) und Schulze (2001) enthält Heft 3/2001 der Sozialen Welt.
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„sozialer Lagen“ und der „Mentalitätsebene“, also Fragen der sozialen Integration, zu verknüpfen. Es hat sich darüber hinaus auch in Untersuchungen zur Milieu- und Mentalitätsstruktur der ehemaligen DDR bzw. Ostdeutschlands bewährt (Vester u. a. 1994, vgl. Berger
2001a). Vor allem aber ist es anscheinend „offen“ genug, um auch auf neuerliche Schließungs- und Spaltungstendenzen in der deutschen Sozialstruktur zu reagieren: Nach neueren
Überlegungen von Michael Vester finden sich auch in (West-)Deutschland erste Anzeichen
für eine „Spaltung“ der Mittelklasse oder Mittelschicht in „Modernisierungsgewinner“ und
„Modernisierungsverlierer“, die sich im Zuge forcierter Globalisierungsprozesse und ökonomischer Krisen noch vertiefen könnte – hier gibt es nicht nur Anschlussmöglichkeiten an
die Diskussionen um eine „new underclass“, um erneut anwachsende Ungleichheiten bzw.
um sich intensivierende Prozesse sozialer „Exklusion“ (vgl. z. B. Kronauer u. a 1993; Kronauer 2002), sondern auch an Debatten um die Konturen und Träger einer sich globalisierenden Wissens- und Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts.
2. Soziale Ungleichheiten und soziale Strukturen im 21. Jahrhundert
Wie aus diesen skizzenhaften Bemerkungen deutlich geworden sein sollte, ist die sozialstrukturelle Forschungslandschaft in Deutschland eher „bunt“ bis „unübersichtlich“. Wie
nicht zuletzt die vielfältigen Beiträge zu den Tagungen und Bänden der Sektion „Soziale
Ungleichheit und Sozialstrukturanalyse“ zeigen, ist sie dabei freilich keineswegs von der
Hegemonie eines einzigen Diskurses geprägt, sondern zeichnet sich im Spannungsfeld zwischen Kohärenz- und Differenzierungsparadigma eher durch einen großen theoretischen
und methodischen Pluralismus aus. Nach meinem Eindruck hat diese Vielfalt theoretischer
Konzepte und methodischer Zugangsweisen freilich manchmal auch zu Unsicherheiten über den Gegenstand, über Grundbegriffe und Ziele sozialstruktureller Forschungen beigetragen. Zumindest ein Schwerpunkt der zukünftigen Diskussion müsste daher in der (erneuten) begrifflich-theoretischen Arbeit liegen (vgl. H.-P. Müller 1992), die sich schwerpunktmäßig mit dem Konzept „Sozialstruktur“, mit der (gewandelten?) Bedeutung sozialer
Ungleichheiten (vgl. Berger/Schmidt 2003) und mit diversen Vorstellungen eines Epochenbruchs in der (west-)deutschen Nachkriegsgesellschaft beschäftigen sollte.
2.1 Bedeutungswandel sozialer Ungleichheiten und sozialer Strukturen?
Mit Blick auf das soziologische Verständnis sozialer Strukturen und sozialer Ungleichheit(en) könnten dabei beispielsweise folgende Fragen leitend sein: Was bedeutet „soziale
Ungleichheit“ in einer trotz aller aktuellen ökonomischen Krisenerscheinungen und Verwerfungen im historischen wie im internationalen Vergleich nach wie vor „reichen“ Gesellschaft wie der Bundesrepublik Deutschland? Was hat sich in alltäglichen wie sozialwissenschaftlichen Wahrnehmungen von „sozialer Ungleichheit“ verändert, wenn diese sich in
vielen Fällen bzw. in vielen Regionen des sozialen Raums nicht mehr als Knappheitsungleichheiten, sondern eher als Reichtumsungleichheiten darstellen? Welche Auswirkungen
hat der „Fahrstuhleffekt“ des gestiegenen Massenwohlstandes – in den USA wird von einem „Rolltreppeneffekt“ gesprochen – insbesondere auch auf die geläufigen Vorstellungen
von der Objektivität sozialer Strukturen in dem Sinne, dass das Fehlen von Ressourcen oder
Handlungsmitteln bestimmte Handlungsmöglichkeiten ausschließt und/oder andere Handlungen „erzwingt“? Wie verhält es sich dann mit der gerade in Deutschland vielbeschworenen „Integrationskraft“ von Massenwohlstand und Wohlfahrtsstaat – insbesondere dann,
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wenn sich, wie z. Zt. viele Sozialwissenschaftler vermuten, die Fahrtrichtung des „Fahrstuhls“ bzw. der „Rolltreppe“ umkehrt?
Hilfreich könnte dabei eine präzisere Unterscheidung zwischen „ressourcengebundenen“ (z. B. Konsum) und „ressourcenungebundenen“ (z. B. Wahlverhalten) Verhaltensweisen sein (vgl. Schnell/Kohler 1995). Und als sinnvoll könnte sich auch ein erweiterter
Strukturbegriff erweisen, der zwischen Strukturen als „Regelmäßigkeiten“ (von Handlungsbedingungen und -intendierten oder nicht-intendierten Handlungsfolgen) und Strukturen als „Regeln“ (normativer und/oder kognitiver Art) unterscheidet (vgl. Reckwitz 1997) –
wobei weiter zu diskutieren wäre, in welchem Verhältnis diese beiden Strukturbegriffe zueinander und zu jenen weit verbreiteten Vorstellungen von „sozialen Strukturen“ bzw. von
„Sozialstruktur“ stehen, die diese z. B. als quantitativ beschreibbare Verteilungen von
Merkmalen (bzw. Menschen) in einem wie auch immer bestimmten, dimensionierten und
in Positionen oder „Lagen“ unterteilten „sozialen Raum“ konzipieren. Zu klären wäre dann
freilich auch, was jeweils genau gemeint ist, wenn von „Klassen-“ oder „Schichtgesellschaft“, von sozialen „Klassen“ und „Schichten“, von „Lebenslagen“ (vgl. z. B. Schwenk
1999) und „Lebens(führungs)formen“, von „soziokulturellen Milieus“ oder von „Lebensstil(gruppierung)en“ die Rede ist und dabei – gemäß dem „klassischen“ Erklärungsprogramm der Soziologie – von der Prämisse ausgegangen wird, dass sich individuelle Handlungen durch die (faktischen?) Zugehörigkeiten bzw. durch die von sozialwissenschaftlichen Beobachtern vorgenommenen Zurechnungen zu solchen Sozialkategorien „erklären“
und verstehen lassen.
In diesem Zusammenhang scheint es angesichts der Vielfalt sozialstruktureller Beschreibungsmodelle, die z. Zt. gehandelt werden, besonders sinnvoll und dringend, diese
Modellvorstellungen zu systematisieren und nach ihrer jeweiligen empirischen „Erklärungskraft“, z. B. für ressourcengebundene und -ungebundene Verhaltensweisen und Handlungen, zu befragen. Dies gilt für unterschiedliche Schicht-, Klassen- oder Berufsgruppenkonzepte, in besonderem Maße aber für Lebensstiluntersuchungen, die mit unterschiedlichen Indikatoren und Methoden arbeiten und z. T. zu divergierenden Lebenstiltypologien
kommen. Neben den „Schnittmengen“ verschiedener Lebensstil- und Milieumodelle müsste dazu auch die „Schnittmenge“ zwischen solchen „kulturalistischen“ Konzepten und den
eher „ökonomistischen“ Klassen-, Berufsgruppen- und Schichtvorstellungen, zwischen
„objektiven“ und „subjektiven“ Faktoren der „Wohlfahrt“ herausgearbeitet (vgl. z. B. Otte
1997; Spellerberg 1996; Zapf/Habich 1996) werden, wobei allerdings ein Rückfall in eine
erkenntnistheoretische Haltung vermieden werden sollte, die Reinhard Kreckel (1992) mit
Blick auf den Klassenbegriff als „naiven Realismus“ bezeichnet hat: Denn die Verwendung
„differenzierterer“ deskriptiver (Lebenslagen-, Lebensstil- und Milieu-)Modelle scheint mir
häufig unter der impliziten Prämisse zu erfolgen, dass ein im Vergleich zu „einfachen“
Klassen- oder Schichtmodellen höherer Differenzierungsgrad (im Hinblick auf die Anzahl
verwendeter Dimensionen und/oder unterschiedener Kategorien) schon per se auch einen
höheren „Realitätsgrad“ – und damit auch eine erhöhte Erklärungskraft – der jeweiligen
Klassifikationen zur Folge habe.
Zu untersuchen wäre schließlich das oftmals noch unklare Verhältnis oder „Wechselspiel“ objektiv-ökonomischer und subjektiv-kultureller Ungleichheiten und Differenzierungen: So können zwar Milieuzugehörigkeiten und Lebensstile ganz in der Tradition Bourdieus (1982) einerseits durchaus mit Bildungsabschlüssen, beruflichen Positionen und Einkommenslagen in Verbindung gebracht werden. Andererseits gibt es aber auch viele Anzeichen dafür, dass umgekehrt der „Habitus“ einer Person bzw. ihr Lebensstil als ein Moment
kultureller Differenzierung beispielsweise für Arbeitgeber eine Art „Signal“ oder eine informelle Zusatzinformation über die Leistungsbereitschaft und Belastungsfähigkeit von Ar-
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beitnehmern darstellt und deshalb als Selektionskriterium für den Eintritt in Teilarbeitsmärkte und Unternehmen oder die Ausgrenzung aus Arbeitsmarktsegmenten und Betrieben
wirken kann (vgl. z.B. Berger 1994b und die Untersuchungen zu den Rekrutierungsprozessen deutscher Wirtschaftseliten von Hartmann 1996, 1998; Hartmann/Kopp 2001).
2.2 Epochenbruch?
Bezogen auf einen mutmaßlichen „Umbruch“ oder „Epochenbruch“ in der sozialstrukturellen Entwicklung, wie er insbesondere von Beck in seiner „Individualisierungsthese“ und
seinen Überlegungen zur „reflexiven“ oder „zweiten“ Moderne, aber auch von Schulze in
seiner „Erlebnisgesellschaft“ angenommen wird, ist zunächst danach zu fragen, ob sich
neue Strukturierungsprinzipien sozialer Ungleichheiten herausgebildet haben – etwa im
Zuge des Übergangs von einem „fordistischen“ zu einem „postfordistischen“ Regulationsmodell, von einer industriellen Arbeitsgesellschaft zu einer postindustriellen Dienstleistungs-, Wissens- und Informationsgesellschaft (vgl. Bell 1979; Castells 2001, 2002,
2003; Stehr 1994, 2000) oder im Sinne von Robert Reich (1993) als Folge von Globalisierungsprozessen –, ob dabei die bisherigen („alten“) Ungleichheiten einer Neubewertung
oder Umwertung unterliegen, und ob neue Aspekte und Dimensionen, Determinanten und
Erscheinungsformen sozialer Ungleichheit auftreten und an Bedeutung gewinnen (z. B.
„kulturelles Kapital“, „Wissen“ oder „Information“; vgl. Kraemer/Bittlingmayer 2001).
Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch das Verhältnis verschiedener Differenzierungsachsen, die sozio-ökonomisch (z. B. ganz „klassisch“ durch Eigentum an Produktionsmitteln, durch berufliche Stellungen, durch Vermögen und Einkommen) bestimmt sind,
sich als Grenzen zwischen sozialpolitisch erzeugten „Versorgungsklassen“ (Lepsius 1979),
die durch die Zugänglichkeit wohlfahrtsstaatlicher Transfers und Infrastrukturvorgaben gezogen werden, ausprägen, sich aus Abgrenzungen zwischen Lebenslagen nach der Teilnahme am Erwerbssystem, nach Altersgruppen, Familienstand und Haushaltszusammensetzung ergeben (vgl. Zapf 1989) oder beispielsweise auch mit der Organisation von und dem
Zugang zu „(Informations-)Netzwerken“ zu tun haben können (vgl. Castells 2001, 2002,
2003).
Unter dem Stichwort „Epochenbruch“ ist zudem auf begrifflich-theoretischer Ebene zu
prüfen, welche der in der Diskussion angebotenen Konzepte und Unterscheidungen (Zentrum/Peripherie, Pluralisierung/Nivellierung, Differenzierung/Homogenisierung, Globalisierung/Regionalisierung, Exklusion/Inklusion, Polarisierung/Fragmentierung) sich zur Erfassung neuartiger Strukturierungsgefüge sozialer Ungleichheitsrelationen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene eignen und zugleich anschlussfähig sind für den allgemeintheoretischen soziologischen Diskurs (Stichworte: Rationalisierung, systemische Differenzierung, Modernisierung, Globalisierung, reflexive Modernisierung), aber auch für politikwissenschaftliche und ökonomische Überlegungen. Schließlich wäre zu klären, in welchem
Verhältnis die verschiedenen Strukturierungsmomente und Prozesse zueinander stehen:
Laufen sie parallel oder einander entgegen? Verstärken sie sich gegenseitig, stehen sie in
einem Spannungsverhältnis, oder können sie sich kompensieren? Gibt es mit Blick auf Ungleichheiten, aber auch auf die Sensibilitäten dafür, so etwas wie ein „wechselseitiges Steigerungsverhältnis“? Gerade zur letzten Frage könnte im übrigen auch eine stärkere Berücksichtigung aktueller systemtheoretischer Diskussionen (vgl. z. B. Luhmann 1995; Schimank
1998; Schwinn 1998) hilfreich sein.
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2.3 „Verzeitlichung“ sozialer Ungleichheit?
Beeinflusst durch die Mobilitäts- und Lebenslaufforschung, aber auch durch die Verfügbarkeit von Längsschnittdaten (SOEP, Lebensverlaufsstudien des MPI für Bildungsforschung,
Beschäftigtenstichprobe des IAB, Niedrigeinkommenspanel von Infratest Burke Sozialforschung) hat sich im letzten Jahrzehnt das Interesse an „dynamischen“ Sozialstruktur- und
Ungleichheitsanalysen erkennbar verstärkt (vgl. z. B. Allmendinger/Hinz 1997; Berger
1990; Berger 1996; Berger/Sopp 1995; Huinink u. a. 1995; Mayer 1990; Zapf u. a. 1996).
Dabei ist zum einen deutlich geworden, dass auch in kurzen Zeiträumen die Zuordnung von
Personen bzw. Haushalten oder Familien zu Positionen (etwa zu beruflichen Stellungen oder Einkommenslagen) keineswegs stabil ist, sondern sich hier auch in kurzfristigintragenerationeller Hinsicht vielfältige Bewegungen in sozialen Strukturen finden, die zumindest in den ersten Jahren der Transformation in den neuen Bundesländern besonders
häufig waren. Zum anderen hat nicht nur die Arbeitslosigkeitsforschung, sondern vor allem
auch die sog. „dynamische Armutsforschung“ (vgl. Leibfried u. a. 1995; Zwick 1994) darauf aufmerksam gemacht, dass die Zugehörigkeit zu sog. Rand- oder Problemgruppen keine „Konstante“ ist, sondern in vielen Fällen als eine „vorübergehende Episode“ erscheint.4
Unklar ist dabei freilich bislang geblieben, ob die registrierte individuelle „Beweglichkeit“,
sei es in intra- oder in intergenerationeller Hinsicht, nun eher als „hoch“ oder als „niedrig“
zu gelten hat – insbesondere zu dieser Frage sind weitere international vergleichende Untersuchungen unabdingbar (vgl. dazu auch Noll 2001: 426 ff.).
Dazu liegt mit diversen Panelerhebungen in verschiedenen europäischen Ländern sowie in den USA mittlerweile eine solide Basis vor, die es u. a. erlauben würde, nicht nur
makrostrukturelle Einkommensverteilungen, sondern auch individuelle Einkommensdynamiken in vergleichender Perspektive zu untersuchen. Dabei könnte etwa die These leitend
sein, dass Arbeitsmarktkrisen und Flexibilitätsforderungen einerseits, die oftmals unüberschaubaren und schwer kalkulierbaren Veränderungen sozialpolitischer Leistungsprogramme andererseits dazu geführt haben, dass fortbestehende Einkommensungleichheiten
überlagert (und möglicherweise verstärkt) werden durch neuartige Ungleichheiten im Hinblick auf die Kontinuität oder Diskontinuität von Einkommensströmen bzw. auf die „Sicherheit“ oder „Unsicherheit“ von Einkommenserwartungen (vgl. dazu auch die Beiträge
in Berger/Konietzka 2001 sowie Sopp 2003). Sinnvoll wären hier auch Anstrengungen, auf
individueller oder Haushaltsebene so etwas wie längerfristige „Einkommensbilanzen“ zu
rekonstruieren – ausgehend von der Vermutung, dass nicht so sehr punktuelle Einkommensungleichheiten als vielmehr längerfristige Einkommensverläufe und deren Stabilität bzw.
Instabilität die Wahrnehmung und Bewertung von Einkommensungleichheiten bestimmen.
Mit Blick auf Differenzierungsachsen sozioökonomischer, sozialpolitischer und familiär-privater Art (Markt, Staat und Familienkonstellationen) könnten dann schließlich auch
Fragestellungen nach dem relativen und im internationalen Vergleich variierenden Gewicht
der einzelnen Bestandteile von Haushaltseinkommen und nach den Faktoren, die deren
Veränderungen bestimmen, angeschlossen werden – wobei hier besonders darauf zu achten
wäre, dass nicht allein Arbeitsmarktveränderungen und unterschiedliche sozialpolitische
„Regime“ (vgl. Esping-Andersen 1990, 1999), sondern z. B. auch unterschiedliche „Bevölkerungsweisen“ bzw. demographische Faktoren (Geburtenraten und Alterstruktur) die Stel-
4
Auch auf das Thema „Armut“ kann aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden; einen Überblick über
die aktuelle Diskussion gibt Barlösius/Ludwig-Mayerhofer (Hrsg.) (2001); detaillierte Daten enthält der unter
dem Titel „Lebenslagen in Deutschland“ erstellte, erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung
(Bundesarbeitsministerium 2001).
10
Peter A. Berger
lung von Familienhaushalten im Einkommensgefüge beeinflussen (vgl. dazu auch: Blossfeld/Drobnic 2002).
Offen sind m. E. in diesem Zusammenhang nach wie vor Fragen nach den (subjektiven)
Konsequenzen von Mobilitätsprozessen bzw. nach den Mustern der Verarbeitung von Mobilität(sanforderungen): Wenn Armuts- oder Arbeitslosigkeitsphasen nicht (mehr?) dauerhaft auf kleine, gut abgrenzbare „Problemgruppen“ begrenzt, sondern z. T. bis weit in die
„Mittelschichten“ hinein zu „normalen“ Ereignissen bzw. Episoden des Lebenslaufes geworden sind, kann dies zu tiefgreifenden Verunsicherungen führen. Hier wäre dann eingehender zu fragen, ob und wie solche „Einbrüche“ antizipiert und durch „Vorsorgemaßnahmen“ abgefedert, wie sie verarbeitet oder kompensiert werden (können), welche Ressourcen(mängel) oder Eigenarten der individuellen Lebensführung, aber auch welche Defizite
an Wissen, kulturellem oder sozialem Kapital und welche institutionellen Barrieren bzw.
Selektionsmechanismen individuelle und kollektive Abwärts„spiralen“ in Gang setzen oder
verhindern können. Hierher gehören dann auch Fragen nach den „Modernisierungsgewinnern“ und „-verlierern“, die einerseits festgemacht werden können an Umstrukturierungen
der Arbeitswelt bzw. an Arbeitsmarktveränderungen, andererseits aber u. U. auch zurückverweisen auf einen biographisch tiefverwurzelten „Habitus“ oder auf historisch ältere
„Mentalitäten“, die die geforderte Flexibilität und Anpassungsfähigkeit oftmals behindern.
Eine weitere, bisher kaum beachtete Forschungsperspektive tut sich schließlich dann
auf, wenn Prozesse sozialer und regionaler Mobilität mit sozialer Integration in Beziehung
gesetzt werden (vgl. Berger 1996, 1997): Denn Mobilität heißt nicht nur ein Verlassen vertrauter Kontexte – was dann in einer eher „pessimistischen“ Traditionslinie von Pitrim Sorokin (1959]) über Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1980) bis hin zu Richard Sennet (1998) oftmals mit dem Verlust von Orientierungssicherheit und mit Identitätskrisen in
Zusammenhang gebracht wird. Vielmehr bedeutet Mobilität auch ein Eintreten in neue Zusammenhänge, ein Kennenlernen neuer Kontexte und Menschen und kann zu einer „reicheren“ Erfahrungswelt, zum Abbau von Stereotypen bzw. Vorurteilen und so – auf kollektiver
Ebene – zur sozialen Integration beitragen (vgl. Münch 1994, 1997; Turner 1984). Insbesondere zu den psychosozialen bzw. zu den sozialintegrativen oder desintegrativen Konsequenzen hoher oder steigender sozialer und regionaler Mobilität und zu der Frage, wie die
dabei oftmals auftretenden biographischen Brüche verarbeitet bzw. die durch Statusunsicherheiten und Statusinkonsistenzen entstehenden Identitätsprobleme „gelöst“ werden, besteht trotz einiger Anläufe (vgl. z. B. Schneider u. a. 2002) in meinen Augen nach wie vor
erheblicher Forschungsbedarf – auch und gerade mit Blick darauf, dass in der Diskussion
um Globalisierung einerseits auf die Bedeutung einer ortsungebundenen, hochmobilen „Informationselite“ (vgl. Reich 1993) sowie auf die prekäre Situation gering qualifizierter (Arbeits-)Migranten hingewiesen wird, andererseits aber gerade „soziales Kapital“, also Netzwerke von Beziehungen familiärer und nicht-familiärer Art, oftmals an lokale Kontexte gebunden ist. Zu klären wären hier auch Fragen danach, welches Ausmaß an sozialer oder regionaler Mobilität mittlerweile als „normal“ gilt bzw. welche Mobilitätszumutungen von
welchen Bevölkerungsgruppen abgewehrt werden.
Schließlich gehören hierher auch Fragestellungen, wie sie sich z. B. aus der Diskussion
um die Krise der Arbeitsgesellschaft ergeben (vgl. z. B. Bonß 2001; Mutz/Sing 2001): Welche Folgen hat der wohl unausweichliche Abschied vom „Normalarbeitsverhältnis“, haben
Deregulierungen und Arbeitsmarktkrisen für die Lebenslaufmuster in postindustriellen Gesellschaften – und für entsprechende normative und kognitive Erwartungen im Hinblick auf
Kontinuität und „Normalität“ (vgl. Mutz u. a. 1995)? Welche Bedeutung wird in Zukunft
der Dimension „Zeit“ im Muster sozialer Ungleichheiten zukommen? Wo lassen sich
nachhaltige „Temporalisierungen“ bzw. Verflüssigungen von Stukturen (vgl. z. B. Urry
Kontinuitäten und Brüche
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2000), wo (neuerliche) Verhärtungen und Verstetigungen beobachten? Wird „Zeit“ als ungleichheitsrelevante Ressource wichtiger – und wenn ja: Welches Gewicht haben dabei Arbeitszeitregime einerseits, individuelle Zeitverwendungspräferenzen oder Lebensführungsmodelle (vgl. Voß 1991) und neuartige Zeitverwendungsstile (vgl. Hörning u. a. 1990) andererseits?
Denkbar ist in diesem Zusammenhang nicht nur eine Systematisierung und evtl. Intensivierung der international vergleichenden Forschungen über Mobilitätsregime und Lebenslaufmuster. Sinnvoll könnten hier auch der Miteinbezug international vergleichender Arbeitszeit-, Freizeit- und Zeitbudgetuntersuchungen sein – insbesondere dann, wenn sie einerseits auf die Diskussion um „Lebensstile“ bezogen werden können und es andererseits
gelingen würde, Zeitverwendungsweisen nicht nur im Querschnitt (vgl. z. B. Garhammer
1999), sondern auch in einer auf den Lebenslauf bezogenen Längsschnittperspektive zu analysieren.
2.4 Medien-, Informations- und Wissensgesellschaft?
Mit Blick auf die verbreitete, aber oftmals ziemlich theorielose Rede von Medien-, Informations- und Wissensgesellschaft liegen die folgenden, z. T. eher wissenssoziologischen
Fragestellungen nahe (vgl. z.B. Berger 2001b; Heinrich-Böll-Stiftung 2002): Bringt diese
Entwicklung eine weitgehende Autonomie des Wissens und/oder von „Kultur“ mit sich, da
beides nicht mehr umstandslos auf „materielle“ Produktionsbedingungen zurückgeführt
werden kann? Was sind dann aber – „jenseits“ benennbarer Trägergruppen – die Mechanismen der Erzeugung, Selektion und Stabilisierung von Wissensformen und kulturellen
Bedeutungszuschreibungen? Kann „Wissen“, kann die Verfügung über „kulturelle Kompetenzen“, über Deutungs-, Definitions- oder Distinktions„macht“ in einer ähnlichen Weise
sozial exklusiv organisiert werden wie z. B. das Privateigentum an Produktionsmitteln? Oder ist „Wissen“, ist „kulturelles Kapital“ eine „Ressource“, die deutlich „inflationsanfälliger“ ist und z. B. als Basis von „Expertenherrschaft“ permanent Gefahr läuft, von Gegenexperten und Gegenkulturen in Frage gestellt zu werden (vgl. Stehr 1994, 2000)? Welche Bedeutung kommt in Konflikten um die „Legitimität“ von Wissen, „Kulturen“ und Lebensstilen den „Laien“ und „Laienbewegungen“ (von Selbsthilfegruppen über esoterische Zirkel
bis hin zu neuen sozialen Bewegungen) zu? In welchen Bereichen gilt dann aber trotz der
Fragilität von Wissen: „Wissen ist Macht“? Und welche Eigentümlichkeiten inhaltlicher
und/oder sozialer Art muss „Wissen“ haben, wie muss „Wissen“ sozial organisiert werden,
damit es als relativ dauerhafte Basis von Macht und Einfluss dienen kann? In welchem Zusammenhang steht die Verteilung von Wissensbeständen bzw. die Verteilung der Zugänge
zu Wissen dann mit Tendenzen zu einer „Expertenherrschaft“ bzw. zur Bildung und Reproduktion von „(Wissens-)Eliten“ (vgl. auch: Hradil/Imbusch 2003)? Welche Rolle spielen
dabei schließlich jene zumindest bis in die 1980er Jahre expandierenden Dienstleistungsbereiche, in denen einerseits – im Falle von personenbezogenen, sozialen, psychologischen
oder pädagogischen Dienstleistungen – Kommunikation selbst zum dauernd problematisierten Gegenstand und Inhalt der Berufstätigkeit wird, und in denen andererseits – wie z. B. im
Bereich der neuen Informationstechnologien und der Massenmedien – neue Expertengruppen von „Symbol-Analytikern“ (Reich 1993) und „Netzwerkern“ (Castells 2001, 2002,
2003) entstehen, die kulturelle Gehalte und die Prozesse ihrer Verbreitung bzw. Vermittlung permanent neu strukturieren und dabei auch kontrollieren?
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Peter A. Berger
2.5 Ungleichheitssemantiken: Soziale Konstruktion von Zugehörigkeiten?
Wenn die Diagnose einer tendenziellen „Autonomisierung“ der Wissens-, Informationsoder Deutungssphäre sowie einer zunehmenden „Entkopplung“ von „objektiven“ Lebenslagen und Ressourcenungleichheiten einerseits, Lebensstilen, kulturellen Deutungsmustern
und Wissensbeständen andererseits zutreffend ist, stellen sich schließlich auch neuartige
Fragen im Hinblick auf die Integration sozialer „Großgruppen“ bzw. auf die soziale Konstruktion von Zugehörigkeiten (vgl. z. B. Weiß u. a. 2001): Inwieweit verlaufen alltagsweltlich bedeutsame Zuschreibungen von Zugehörigkeiten bzw. Ein- und Ausschlusskriterien
noch parallel zu Klassen- oder Schichtengrenzen, die sozio-ökonomisch definiert werden
können, zu den Grenzen zwischen „Versorgungsklassen“ oder zu den Abgrenzungen zwischen Lebenslagen und Lebensformen?
In welchem Maße können sich dabei „alte“, vielfach schon überwunden geglaubte Differenzierungs- bzw. Inklusions- und Exklusionskriterien askriptiver (z. B. Geschlecht, Alter,
Region, Ethnie) oder kultureller (z. B. Religion, Weltbilder) Art durchsetzen oder sogar in
„modernisierter“ Form wiederaufleben? Wie weit reicht demgegenüber die eigenständige
Definitionsmacht von „Experten“ und/oder Massenmedien bei der Konstitution von „Problemlagen“ und „Problemgruppen“ einerseits, bei der Konstruktion von Lebensstilgruppierungen und Subkulturen andererseits? Und welche Rolle kommt dabei den staatlichen Institutionen sowie den Organisationen der Interessenvertretung zu, die ihr „Klientel“, ihre
„Leistungsempfänger“, ihre aktuellen und potentiellen „Mitglieder“ oder ihre „Anhängerschaft“ ja zum großen Teil nach internen Kriterien „zuschneiden“? Welche Ungleichheitssemantiken oder „Gesellschaftsbilder“ – im Sinne alltagsweltlich relevanter Gesellschaftsbeschreibungen und Bestimmungen des „eigenen Ortes“ in der Gesellschaft – stehen in
zeitgenössischen Gesellschaften zur Verfügung (vgl. Berger 1988, 1989; Streit 1994)? Und
wie „organisieren“ diese Gesellschaftsbilder die vielfältigen Konfliktfronten und Differenzierungslinien einer modernen Gesellschaft – und wer sind die „Träger“ bzw. „Verfechter“
entsprechender Politiken der Differenz und der Identität?
Neben theoretischen Arbeiten könnten hier (qualitative) Studien zu den Gesellschaftsbildern und Deutungsmustern verschiedener Bevölkerungsgruppen, aber z. B. auch internationale Vergleiche der amtlichen Statistiken zugrundeliegenden Klassifikationsregeln
durchgeführt werden (vgl. Schultheis u. a. 1996). Denkbar sind Inhaltsanalysen von Massenmedien mit dem Ziel, die dadurch vermittelten Schemata von Differenz oder Identität
und die entsprechenden Abgrenzungs- und Identifikationsangebote systematisch und ggf.
auch im interkulturellen Vergleich zu erfassen. Und schließlich sollte in diesem Zusammenhang versucht werden, die verschiedenartigen „Topologien“ bzw. räumlichen Denkschemata, die Gesellschaftsbildern und Ungleichheitssemantiken zugrunde liegen können
(z. B. vertikal vs. horizontal, Zentrum und Peripherie, oben und unten, innen und außen
u. a. m.) zu systematisieren und evtl. auch für standardisierte Befragungen nutzbar zu machen.
Kontinuitäten und Brüche
3.
13
Restriktionen, Optionen und „Wissen“
Zweifellos ließen sich noch eine Vielzahl weiterer und dringend zu bearbeitender Fragen
für die Sozialstruktur- und Ungleichheitsforschung im 21. Jahrhundert auflisten – so etwa
jene Fragestellungen, die, wie z. B. das „Altern“ fortgeschrittener Gesellschaften und denkbare Generationskonflikte oder mögliche Ungleichheiten und Spannungen zwischen „erwerbsorientierten“ und „familienorientierten“ Lebensformen und Lebensläufen, direkt mit
demographischen Wandlungen oder auch mit sich verändernden Migrationsströmen zu tun
haben. Darüber hinaus gewinnen angesichts fortschreitender Globalisierungsprozesse nicht
nur Ungleichheiten in, sondern vermutlich auch Ungleichheiten (und Unterschiede) zwischen nationalstaatlich verfassten Gesellschaften an Gewicht (vgl. z.B. Therborn 2001).
Und schließlich dürfte trotz der unübersehbaren Angleichung der Bildungschancen zwischen Frauen und Männern die Frage nach dem Ausmaß und den Ursachen fortbestehender,
geschlechtsspezifischer Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt und mit Blick auf die gesamtgesellschaftliche wie auf die „häusliche“ Teilung zwischen Produktions- und Reproduktions„arbeit“ weiterhin auf der Tagesordnung stehen (vgl. z. B. Frerichs 1997, Frerichs/Steinrücke 1993, Gottschall 2000).
In all diesen Forschungsfeldern geht es jedoch immer auch um das Verhältnis „alter“
und „neuer“ Ungleichheiten bzw. um einen möglichen „Bedeutungswandel“ sozialer Ungleichheit – weshalb hier auch mehr auf Brüche, Diskontinuitäten und Differenzierungen
als auf Konstanzen verwiesen wurde. Und in all diesen Feldern wird es zugleich um die
„Objektivität“ sozialer Strukturen gehen, mithin also darum, wie weit das „klassische“ Erklärungsprogramm sozialstruktureller Analysen – von Lagen, Positionen, Ressourcen und
Restriktionen zu indivuellen und kollektiven Verhaltensweisen, Handlungsdispositionen
und Einstellungen – angesichts einer zunehmenden Menge und Vielfalt von Optionen anwendbar bleibt.
Denn immerhin denkmöglich sind ja soziale Situationen und gesellschaftliche Entwicklungsniveaus geworden, in denen die Handlungsweisen der Individuen aus einer alltäglichen Teilnehmer- wie aus einer wissenschaftlichen Beobachterperspektive nicht mehr „direkt“ auf materielle „Zwänge“ und Restriktionen „zugerechnet“ werden können, sondern
zugleich damit gerechnet werden muss, dass sich hier „Wissen“, kulturelle Deutungsmuster, Symbolisierungen und Semantiken in einem Maße einmischen, das für die Sozialstrukturanalyse zum Teil ungewohnte und bislang noch nicht genügend thematisierte Herausforderungen mit sich bringt. Ungewohnt sind diese Herausforderungen vielleicht auch deshalb,
weil ja gerade makrosoziologische oder sozialstrukturelle Herangehensweisen sich noch am
ehesten auf eine klare Trennung zwischen einem Beobachter- und einem Teilnehmerstandpunkt verlassen konnten, nun aber damit konfrontiert werden, dass ihr „Gegenstand“ schon
durch ihre eigenen historischen wie aktuellen Klassifikationsbemühungen „vor- oder mitstrukturiert“ ist, soziale Strukturen in diesem Sinne also immer auch – und vielleicht in zunehmendem Maße – „wissensbasiert“ sind. Sich auch den damit zusammenhängenden methodologischen und erkenntnistheoretischen Fragen zu stellen, wird eine der Hauptaufgaben der Sozialstruktur- und Ungleichheitsforschung des 21. Jahrhunderts sein.
14
Peter A. Berger
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