Die Subjektive Seite der Schizophrenie 15.02.2017 | 15:30 – 17:00 Uhr | Theater der Hansestadt Stralsund Symposium: Jung sein – alt werden: Schizophrenie über die Lebensspanne Psychotisch sein, erwachsen werden: Adoleszenzpsychiatrie Prof. Dr. Anne Karow Themen der Adoleszenz Zentrale Entwicklungsaufgaben • Identitätsarbeit, Entwicklung Eigenverantwortlichkeit, Soziale Verantwortung und Integration in die Gesellschaft • Umbau der sozialen Beziehungen, Ablösung von den Eltern • Verselbständigung bezüglich Schule, Ausbildung, Wohnen • Umgang mit körperlichen Veränderungen und Sexualität Schwierige Themen in der Adoleszenz • Sollbruchstelle für Konflikte, die ihren Ursprung in der Kindheit haben • Identitätskrisen mit Suizidalität und herabgesetzter Bündnisfähigkeit, sowie gesteigertem Risikoverhalten • Schnelle Wechsel regressiver und progressiver Tendenzen mit Abhängigkeitswünschen und ausgeprägten Autonomiebestrebungen • Verschärfung der Machtkonflikte zwischen den Generationen • Wechsel zwischen Selbstbestimmung versus Anpassung an fremdbestimmte Normen und Regeln Umbauprozesse des Gehirns in der Adoleszenz – „Lokomotive mit unausgebildetem Fahrer“ Anpassungsprozesse im Präfrontalkortex, Aktivierung der Amygdala und Nachreifung Belohnungssystem verändern Bewertungsprozesse und Verhalten: Umwelt, Signalverarbeitung und Entscheidungen Geschwindigkeit der Gefühlserkennung geht um 20% zurück Unausgereiftes Abstraktationsvermögen führt zu Übergeneralisierungen Steigerung Impulsivität und geringere Risikoabschätzung Belohnungssystem stärker aktiviert und ansprechbar (mehr „Kicks“) Störungen im Tag/Nachtrythmus Adoleszentenkrise • Dysfunktionale Selbstregulierung mit Drogen, Alkohol oder Computerspielen • Meidung Kontakt zu Gleichaltrigen oder Promiskuität • Verweigerung/Absentismus von Schule oder Ausbildung, Interessensverlust an sozialen oder sportlichen Aktivitäten • Ausgeprägte Ängste, Freudlosigkeit, Lähmung, depressive Stimmung • Hass auf die Eltern mit einer heftigen Bekämpfung basaler familiärer Werte und Regeln • Exzentrische teilweise psychosenahe Verhaltensweisen mit ungeordnetem Denken, Suizidgedanken, eventuell selbstverletzendem Verhalten, aber auch fremdaggressive Gedanken oder Handlungen bis zu Radikalisierung/Amokphantasien Grimmer und Dammann, 2011 Altersrange, in dem sich die psychischen Erkrankungen manifestieren (N=9.282) 16.06.2005 Susanne Quante Kessler et al. Arch Gen Psychiatry 2005; 63: 593-602. Häufigkeit und Manifestationsalter für Psychosen 1) Die Lebenszeitprävalenz von Psychosen liegt zwischen 1-3% 1,2 2) 30-40% aller Psychosen werden bis zum 18. Lebensjahr manifest. Psychosen vor dem 12. Lebensjahr sind sehr selten3,4 3) 90% aller Psychosen beginnen mit einem Prodrom von 1-5 Jahren Dauer5 4) 90% aller Schizophrenien (60% Psychosespektrum) erfüllen die Kriterien für eine schwere psychische Erkrankung, viele bereits bei Erstkontakt6 1 Saha et al., 2005 2 Perälä et al., 2007 3 Kirkbride et al., 2006 4 Cannon et al., 1999 5 Schultze-Lutter et al., 2010 6 Delespaul et al., 2013 Diagnosen vor Psychose 100 Diagnose einer schizophreniformen Störung (26 Jahre) 95 93 Diagnose Manie (26 Jahre) 90 80 70 59 60 53 50 38 36 40 30 41 35 21 20 38 32 19 20 14 6 10 5 0 Diagnosen gesamt Diagnosen im Diagnosen im Diagnosen im Angststörung Alter von 11- Alter von 18 Alter von 21 15 Kim-Cohen et al. Arch Gen Psychiatry 2003; 60:709-17. Depression ADHD Conduct disorder Frühe Entwicklungsstörungen bei Psychosen 1946 British Birth Control Study (N=4746) über 43 Jahre wovon 30 eine Schizophrenie entwickelten (0.6%). Jones et al. Lancet 1994;344:1398-1402. Frühe Entwicklungsstörungen als Risikofaktor für psychotische Symptome im 11. Lebensjahr 0,2 Schwache psychotische Symptome (N=103) Starke psychotische Symptome (N=13) 0 -0,2 -0,11 -0,14 0,02 -0,11 -0,12 -0,4 -0,6 -0,57 -0,62 -0,8 Motorische Entwicklung (Alter 3-9 Jahre) -0,52 Rezeptive Sprache (Alter 3-9 Jahre) Cannon et al. Arch Gen Psychiatry 2002; 59: 449-456. Expressive Sprache (Alter 3-9 Jahre) IQ Alter 3-11 Jahre Diagnosen der Patienten der Adoleszentenstation (Alter 16-25; N=186; 2013-2015) Diagnostische Verteilung, Hauptdiagnosen, n (%) 15% 3% 39% 13% 4% 26% Major Depression Kombinierte oder andere Persönlichkeitsstörung Bipolare Störung Emotional Instabile Störung Störung aus dem schizophrenen Formenkreis Andere Komorbide psychische Erkrankungen, n (%) Komorbide Suchterkrankung (Missbrauch oder Abhängigkeit) 91 (50 %) Komorbide andere psychische Erkrankung 122 (66%) Psychoserisikodiagnostik bei Patienten des Adoleszentenbereichs (Alter 16-25 Jahre; N=186; 2013-2015) Psychosrisiko Risikodiagnostik durchgeführt, ja, n (%) 66 (35 %) Risikosyndrom für die Entwicklung einer Psychose, n (%) 37 (20 %) Bezogen auf N=37 mit Risikokriterien erfüllt: Kognitive Basissymptome (COPER/COGDIS), n (%) 19 (51 %) Abgeschwächte Psychotische Symptome (APS), n (%) 28 (75 %) Intermittierende psychotische Symptome (BLIPS), n (%) 8 (21 %) State/Trait Kriterium, n (%) 4 (11 %) Bipolar Prodrom, n (%) 6 (16 %) Hochrisikosyndrom liegt vor (APS und/oder BLIPS) 29 (78%) Karow et al., in Prep. Klinische Charakteristika von Patienten des Adoleszentenbereichs (N=186; 2013-2015) Familienanamnese und Traumaanamnese: Positive Familienanamnese Psychische Störung, n (%) 97 (52%) Trauma in Vorgeschichte sicher ja, n (%) 63 (34 %) Trauma in Vorgeschichte Verdacht auf, n (%) 18 (10%) Selbstschädigendes Verhalten Suizidalität bei Aufnahme 100 (54 %) Selbstverletzendes Verhalten, Patienten N (%) vor Aufnahme 88 (47 %) während Aufenthalt 43 (23 %) Suizidversuche, Patienten N (%) vor Aufnahme 5 55 (30 %) Anzahl Suizidversuche vor Aufnahme m (Range) 2 (1-10) während Aufenthalt 5 (3 %) Delinquenz in der Vorgeschichte 21 (11 %) Betreuung (pädagogische Betreuung durch Jugendamt, Vormundschaft oder gesetzliche Betreuung) 50 (27 %) Karow et al., in Prep. Klinischer Schwergrad und Alltagsfunktionsniveau im Verlauf der stationären Behandlung bei Patienten des Adoleszentenbereichs (N=186; 2013-2015) T=9.6(185)p<0.001 7 6 5 4 3 2 1 0 100 T=-18.0(185)p<0.001 80 5 4,5 60 40 49,2 38 20 0 Aufnahme Entlassung Klinischer Schweregrad (CGI) Karow et al., in Prep. Aufnahme Entlassung Globales Alltagsfunktionsniveau (GAF) Inanspruchnahme von Behandlungen Jugendliche vs. Erwachsene 100 80 100 Service Inanspruchnahmeraten (in %) 60 60 34,9 40 20 80 Service Inanspruchnahmeraten pro 1000 Personen 11,9 40 34 13% Service Inanspruchnahme im Vergleich zur Prävalenz in Altersgruppe 18 20 0 0 16-24jährige Personen ≥ 25jährige Personen Pottick et al. J Behav Health Serv Res 2008;35:373–389. 16-17jährige Personen 18-19jährige Personen Burgess et al. Aus New Zealand J Psychiatry 2009;43:615–623. Pathway to Care Studie (N=41) 50 40 Anzahl Kontakte zum Hilfesystem nach Beginn der Psychose 30 32,7 21,9 20 10 Ohne Diagnosestellung: 1.7 Stellung falscher Diagnose: 20.2 0 Bis zur richtigen Diagnosestellung Sarikaya, et al., 2015 Bis zum Beginn einer biopsychosozialen Behandlung Behandlungsverzögerung bei Jugendlichen vs. Erwachsenen 30 25 26,4 Jugendliche Erwachsene 20 15 12,9 9,1 10 5 8,2 3,4 2,4 0 Depression (in Jahren) 1 Bipolare Störungen (in Jahren) 2 1 Bromet et al. BCM Medicine 2011;9:90. 2 Merikangas et al.Arch Gen Psychiatry. 2011;68(3):241-51. 3 Schimmelmann and Lambert. Schizophr Res 2007; 95: 1-9. Psychosen (Dauer der unbehandelten Psychose in Wochen) 3 Zusammenfassung Forschungsstand juvenile Psychosen Ein juveniler Erkrankungsbeginn ist assoziiert mit… ausgeprägteren prämorbiden Auffälligkeiten1,2 (Motorik, Sprache, Schulleistungen, psychosoziale Anpassung) längeren DUP2,6 höheren familiären Belastung3 häufigerer frühkindliche Auffälligkeiten4 mehr Negativsymptomatik bei Behandlungsbeginn2 (Affektverarmung/ Sozialer Rückzug) einem ungünstigeren Verlauf5 1 Hollis et al. (1995) Br J Psychiatry 2 Ballageer et al. (2005) JAACAP 3 Rosso et al. (2000) Am J Psychiatry 4 Fleischhaker et al. (2005) Schizophr Bull Nicolson & Rapoport (1999) Biol Psychiatry 6 Schimmelmann et al. (2007) Schizophr Res 5 Allgemeine Anforderungen an die Transition in der Psychiatrie Geplanter Übergang von Adoleszenten oder jungen Erwachsenen mit einem chronischen medizinischen Problem von einer kindzentrierten zu einer erwachsenenzentrierten Gesundheitsbetreuung. Dieser Transfer sollte patientenzentriert, flexibel, verantwortlich, kontinuierlich, flächendeckend und koordiniert sein. Allgemeine therapeutische Anforderungen in der Adoleszenzpsychiatrie • Habilitation (Lat. Befähigung) vs. Rehabilitation als zentrale therapeutische Aufgabe • Notwendigkeit Orientierung nach Draußen und Einbindung aller Systeme (Familie/Schule/Wohngruppen/Behörden) • Überlappende Zuständigkeiten im Sozialrecht zwischen Familien- und Jugendhilfe und Sozialhilfe • Transition KJP EP mit entsprechender Schnittstellenproblematik • Oft Erstkontakt und -diagnostik, unterschiedliche Wirk- und Nebenwirkungsprofile von Medikamenten, Off-Label Use, Heilversuch Ziel ist es Entstehung und Aufrechterhaltung von schweren psychischen Störungen zu verhindern Mit Psychose durch die Adoleszenz… • Familiäre Belastungen und Konflikte „Mad“ versus „Bad“ Konflikt – Einbezug der Familie in die Therapie • Prolongierte Pubertät mit erhöhtem Unterstützungsbedarf verstärkt Autonomie/Abhängigkeitskonflikt • Konzentrationsdefizite, negative Symptome und/oder Nebenwirkungen – Adaptation an Leistungen • Verzögerungen und Brüche in Schule und Ausbildung Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit Schule • Selbstständige Lebensführung – Verdeckte Wohnungslosigkeit Mit Psychose durch die Adoleszenz… • Beginn einer Psychose oft verknüpft mit ersten Beziehungs-/Liebes-/Trennungserfahrungen – Bedeutung der Peer Group • Adoleszentäres Risikoverhalten – Selbstschädigendes Verhalten Impulsivität Umgang mit Drogen Non-Compliance • Neue Medien – Neue Möglichkeiten – Neue Risiken Sturm und Drang Besondere therapeutische Anforderungen • Davonlaufen statt Gefühle Reflektieren: Ambivalenz zwischen Bindung und Autonomie mit Anklammern und Wegstoßen • Vertrauensbildung braucht Zeit, lange Unklarheit über die Gefühle des Patienten • Durchgehend Entidealisierungs- und Entwertungsprozesse, Verweigerungshaltung, Regelübertritte, Provokationen nicht unbedingt Ausdruck schwerer Psychopathologie • Therapeuten übernehmen Elternfunktionen und pädagogische Aufgaben auch in Form klarer Regeln und Grenzen. • Bekämpft zu werden gehört zum therapeutischen Prozess • Gruppenbildung essentieller Bestandteil der Therapie, förderlich und problematisch Welche Behandlungsangebote funktionieren? Welche weniger? Wird sehr gut angenommen: • Einzeltherapie • DBT • DGB (nach Anpassung) • Beziehung&Kommunikation (früher SKT) • Sozialerbeit Teilnahme nach individueller Interessenslage: • Hundetherapie • Kreativangebote • Musiktherapie • Sport/Boxen Eher schwierig: • Bewegungsangebote/Achtsamkeitsübungen • Entspannungsgruppen • Berufseinsteigergruppen • Skillsgruppen • Selbstständig organisierte Gruppen Immer ein Thema: • Stationsregeln • Gruppendynamik • Beziehungen Erwachsenwerden mit Psychosen Zusammenfassung aus der Adoleszenzpsychiatrie • Bedarf ist hoch – Adoleszenzpsychiatrische Angebote werden sehr gut angenommen (Patienten, Angehörige und Professionelle) • Bisher nicht behandelte Patienten mit ausgeprägter Krankheitsschwere und Behandlungsbedarf werden besser erreicht und gehalten • Krankheitsbilder in Übergängen, oft Prognose noch sehr unklar, Frühe Behandlung = besseres Vertrauensverhältnis • Risikoverhalten, selbstschädigendes Verhalten und Regelübertritte sehr häufig, geringer Anteil an starker Eigengefährdung • Individuellen Gewichtung Kinder- und Jugendpsychiatrische und Erwachsenenpsychiatrische Schwerpunkte in der Behandlung – Notwendigkeit Interdisziplinärer Zusammenarbeit Weiter vorhandene Defizite in der Adoleszenzpsychiatrie • Zusammenarbeit mit Schulen (insbesondere höhere Schullaufbahn bzw. Schulabschlüsse >18 Jahre) • Ausbildungsförderung/Kontakt zu Betrieben • Verdeckte Wohnungslosigkeit/Mangel an Krisenwohnorten mit psychiatrisch geschultem Personal • Flexible und nachgehende ambulante Psychotherapie und/oder CaseManagement/Gemeinsame ambulante Behandlung im Netzwerk • Angebot ambulanter Familientherapie/Umgang mit psychisch erkrankten Eltern • Möglichkeit zusammen mit den PatientInnen nach draußen zu gehen! In das Bezugssystem: Familie, Schule, Ausbildung, Wohnung Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit! 27