Prof. Dr. Heiner Boeing Deutsches Institut für Ernährungsforschung

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„Krebs und Ernährung – Essen wir uns krank?“
Prof. Dr. Heiner Boeing
Deutsches Institut für Ernährungsforschung
Potsdam-Rehbrücke
Der in den 70er Jahren aufgrund der verbesserten länderspezifischen
Datenlage mögliche Vergleich von Mortalitätsraten auf der einen Seite und
der Aufnahme von Lebensmitteln und Nährstoffen auf der anderen Seite
erbrachte
aufgrund
von
Korrelationsanalysen
die
Erkenntnis,
dass
Ernährung möglicherweise ein Kandidat ist, der das unterschiedliche
Auftreten dieser Erkrankung weltweit mit bedingt. Wegweisend für diese
Sichtweise war die zusammenfassende Darstellung dieses spezifischen
Ansatzes durch die beiden englischen Epidemiologen Richard Doll und
Richard Peto für die Amerikanische Akademie der Wissenschaften, die zu
der Schätzung führte, dass ca. 35 % der Krebstodesfälle in den USA auf
Ernährung zurückzuführen sein könnten. Ein Anteil von 30 % bis 35 %, mit
dem die Ernährung an dem Krebsaufkommen einwirkt, steht seitdem als
Zahl im Raum und wurde auch durch neuere Abschätzungen im
Wesentlichen nicht verändert.
Mit den prospektiven Kohortenstudien mit mehreren Hunderttausend
Studienteilnehmern, die seit den 90er Jahren an vielen Orten der Welt
begonnen wurden, gibt es neue Möglichkeiten, die Beziehung zwischen
Ernährung
und
dem
Auftreten
von
Krebserkrankungen
unter
Berücksichtigung der individuellen Gewohnheiten zu bewerten. Ziel dieses
auf einem hochstehenden Studiendesign beruhenden Vorgehens ist es,
einzelne Ernährungsgewohnheiten in ihrer Rolle so „dingfest“ zu machen,
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dass sich daraus Präventionsstrategien entwickeln lassen. Dieser Vision
haben sich jedoch die bisher einlaufenden Ergebnisse weitgehend
entzogen. Vielmehr befinden wir uns in der Situation, dass sich einerseits
früher auffällige Risikoassoziationen wie z. B. das abgesenkte Krebsrisiko
bei einer hohen Aufnahme von Obst und Gemüse nicht in dem vermuteten
Umfang bestätigen ließen. Andere Ernährungsfaktoren wie der Verzehr von
Fleisch und Fleischwaren traten dagegen deutlicher als früher in
Erscheinung.
Wiederum
wurden
unterschiedliche
Befunde
bei
den
Ballaststoffen berichtet, die in der amerikanischen Bevölkerung keinen
Bezug zum Dickdarmkrebsrisiko besaßen, jedoch in einer groß angelegten
europäischen Studie. Andererseits ergaben sich wiederum konsistente
Befunde, die frühere Ergebnisse bestätigten. So konnte Alkohol als ein
wesentlicher Faktor für die Karzinome im oberen Verdauungstrakt bestätigt
werden und auch als eine Substanz, die postmenopausal das Risiko für
Brustkrebs erhöht. Konsistent ist auch der Befund, dass die Fettsucht das
Risiko
für
einige
Krebserkrankungen
wie
Brust-,
Dickdarm-,
und
Gebärmutterkrebs erhöht.
Die EPIC-Studie, die auf verschiedene gemessene anthropometrische
Parameter
zurückgreifen
kann,
zeigt
aber
auf,
dass
bei
einigen
Krebserkrankungen wie dem Pankreaskarzinom und Darmkrebs bei Frauen
nicht das traditionelle Maß zur Beurteilung des Übergewichts, der Body
Mass Index, mit einem erhöhten Krebsrisiko assoziiert ist, sondern der
Bauchumfang. Bei diesem Befund ergibt sich die Frage, welche präventiven
Maßnahmen wir besitzen, gerade das Anwachsen des Bauches zu
verhindern.
Um zu einem besseren Verständnis des Ernährungsfaktors im Rahmen des
Risikos für chronische Erkrankungen zu gelangen, werden in der
Ernährungsepidemiologie neue Wege beschritten, die unter dem Begriff
„Ernährungsmuster“ zusammenzufassen sind. Der Ansatz besteht darin,
nicht einzelne Ernährungsfaktoren zu untersuchen, sondern sie in der
Kombination zu betrachten. Es bleibt abzuwarten, inwieweit dieser Ansatz
dazu beiträgt, die bisher häufig divergierenden Ergebnisse zu den einzelnen
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Ernährungsfaktoren aus den prospektiven Studien besser zu verstehen und
zu einem Gesamtbild zusammenzufassen.
Im Rahmen der Diskussion und den in den Studien bestehenden
Risikobeziehungen spielt die Frage der Belastung durch Schadstoffe nur
eine untergeordnete Rolle. Dies ist auf der einen Seite dadurch bedingt,
dass im Normalfall eine strikte Regulierung der Schadstoffmengen unterhalb
eines vermuteten Risikos stattfindet. Auf der anderen Seite gibt es bisher
nur wenige Hinweise, dass diese Substanzen wesentlichen Einfluss auf das
Krebsgeschehen nehmen. Eine Abwägung, ob die in den Tierversuchen
erfolgreich getesteten sekundären Pflanzenstoffe in Obst und Gemüse
stärker das Krebsrisiko beeinflussen als manchmal darin entdeckte
Schadstoffe,
Pflanzenstoffe
ist
in
der
beantwortet
Vergangenheit
worden.
zugunsten
Prospektive
der
sekundären
Kohortenstudien
mit
biologischen Materialien eröffnen die Möglichkeit, über substanzspezifische
Stoffwechselveränderungen (fingerprints) der Frage des Beitrags von
Schadstoffen in der Ernährung und dem Krebsrisiko auf solider Basis
nachzugehen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir wissenschaftlich eine sehr
spannende Zeitperiode erleben, da sich das Gebiet „Krebs und Ernährung“
eher durch eine Verunsicherung hinsichtlich etablierter Sichtweisen
auszeichnet als durch eine klare Botschaft. Dies ist u.a. dem Faktum
geschuldet, dass Ernährung eine hohe Komplexität besitzt, die erst mit der
Zeit in ihrer Tragweite hinsichtlich des Risikos für Krebserkrankungen richtig
verstanden wird.
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