Ethische Verantwortung für die Institutionskultur

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Brauchen wir eine neue Ethik in
der Jugendhilfe?
Fragen der Haltung, Normen und
Institutionenkultur zur Prävention
von Machtmissbrauch und sexueller
Gewalt
Fachgespräch vor Ort
Husumer Schloss
12.April 2011
Klaus Graf , Bonn
Husum April 2011
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Inhalt
1. Was heißt hier eigentlich Ethik?
•
Moral/Ethos und Ethik – Begriffsbestimmungen und Beispiele
2. Zur Ethik des Kinderschutzes
•
Ethische Werte im Kindesschutz
•
Ethische Haltungen im Kindesschutz
•
Macht und Verantwortung in ethischer Perspektive
Die Geschichte von Mirko und Franziska
3. Kinderschutzethik innerhalb der Institution
•
Ethische Verantwortung für die Institutionskultur
•
Ethisch-basierte Entscheidungsprozesse in der Institution
4. Fallbeispiele und Thesen
Anhang
Grafische Darstellungen, Literaturhinweise
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1. Was heißt hier eigentlich Ethik?
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ETHIK ≙
Kritik der Moral;
Theorie der Moral;
Entwicklung von
Kriterien für gut,
richtig und gerecht
MORAL ≙ soziale Normen, deren Verbindlichkeit sich
aus ihrer überwiegenden Anerkennung in
einem Handlungsbereich ergibt
Wirtschaftsethik
Bänkermoral
Christliche Ethik
Kath. / Ev. Moral
Wissenschaftsethik
Wissenschaftsmoral
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Erziehungshilfeethik
Erziehungshilfemoral
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2. Zur Ethik des Kinderschutzes
Ethische Werte im Kinderschutz
Kinderschutzethik bedeutet die Sorge (Care) um ein Höchstmaß an
•
Kindeswürde und
kindlichem Wohlergehen
•
kindlicher Autonomie
•
Protektiver und partizipativer Gerechtigkeit
für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in der Jugendhilfe
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2. Zur Ethik des Kinderschutzes
Ethische Haltungen im Kinderschutz
Kinderschutzethik bedeutet die Sorge (Care) um ein Höchstmaß an…
Achtsamkeit
Beteiligung
Anwaltschaft
Toleranz
Rationalität
…im Umgang mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Jugendhilfe
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1. Was heißt hier eigentlich Ethik?
Institutionelle Macht in der Jugendhilfe
„Die Geschichte der Kinder- und Jugendhilfe ist eine Geschichte von
Kontrollmaßnahmen, der Sozialdisziplinierung, der Ausübung von Macht
(und Gewalt )gegenüber Kindern, Jugendlichen und Familien, aber
ebenfalls von sozialen und pädagogischen Reformbemühungen um die
Lebensverhältnisse von Kinder, Jugendlichen und Familien zu verbessern.“
(M. Wolff et. al.: Lehrbuch der Kinder- und Jugendhilfe, 2009)
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Verantwortungsethik als Korrelat zur Macht
•
Verantwortung für die Folgen unseres Handelns ( Max Weber)
•
Verantwortung für persönliche Gewissensbildung
und die ethische Gesinnung (A. Schweitzer)
•
Dialogische Verantwortung (M. Buber;)
Verantwortung vom Anderen her ( E. Levinas)
•
Verantwortung für Werte, Normen, Haltungen (Hans Jonas)
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Franziska und Mirko
•
•
•
•
•
•
•
•
Frau Angermann ist die Leiterin einer Wohngruppe von sechs Jungen im Alter von 15 – 17 Jahren, darunter auch der
17jährige Mirko, der in wenigen Monaten aus der Wohngruppe ausziehen will.
Eines Tages bittet die 22jährige Erzieherin Franziska, die in einer anderen Wohngruppe arbeitet, Frau Angermann um ein
vertrauliches Gespräch. Sie –Franziska- habe sich in Schwierigkeiten gebracht und brauche Ihren kollegialen Rat. Frau
Angermann hat mit Franziska ein sehr gutes kollegiales Verhältnis und deshalb verabredet sie sich mit ihr für den nächsten
Abend nach Dienstschluss. Franziska bittet Frau Angermann um Vertraulichkeit und schildert dann ihr Problem:
Sie habe sich vor vier Monaten mit Mirko auf „so etwas wie ein Verhältnis“ eingelassen. Franziska berichtet, dass Sie auch
miteinander geschlafen haben. Bei der Beziehung seien auf beiden Seiten echte und tiefe Gefühle im Spiel, von denen sie
eigentlich wusste, dass sie sich nicht mit ihrer Position vereinbaren lassen. Als Franziska erfuhr, dass Mirko entgegen ihrer
Absprache einem seiner Mitbewohner von ihrer Beziehung erzählt hat, sei ihr klar geworden, dass sie diese Beziehung
sofort beenden müsse. Sie habe ihm erklärt, warum sie keinen privaten Kontakt mehr zu ihm haben könne. Dies wolle er
nun aber nicht akzeptieren und drangsaliere sie seitdem per SMS und – für jedermann lesbar - über Facebook.
Frau Angermann gibt Franziska den Rat, der gemeinsamen Vorgesetzten gegenüber reinen Wein einzuschenken. Dem will
Franziska jedoch nicht folgen. Sie hat Angst vor einer Kündigung, befürchtet sogar eine Strafanzeige. Sie sehe ein, dass sie
falsch gehandelt habe, aber sie habe aus dem Fehler gelernt. Wenn ihr gekündigt oder sie sogar angezeigt würde, könne sie
ihren Job als Erzieherin und damit ihren Traumberuf an den Nagel hängen. Dies wäre für sie das Schlimmste, was sie sich
vorstellen könne.
Frau Angermann hat Franziska bislang als junge, engagierte und entwicklungsfähige Kollegin schätzen gelernt.
Gleichzeitig macht sie sich aber auch große Sorgen um Mirko, der in seiner Kindheit schwere Traumatisierungen erfahren
hat: Er leidet seitdem unter enormen Bindungsproblemen. Zudem hat er bereits drei Ausbildungen begonnen und
abgebrochen
Welche ethischen Werte und ethischen Haltungen werden hier berührt?
Welche Wertkonflikte ergeben sich?
Welche Verantwortung tragen: a) Franziska; b) Frau Angermann; c) die Institution?
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Kind
Jugendlicher
junger Erwachsener
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3. Kinderschutzethik innerhalb der Institution
• Ethische Verantwortung für die Institutionskultur
• Ethisch- basierte Entscheidungsprozesse in der Institution
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Ethische Verantwortung für die Institutionskultur
Moralische Reifegrade einer Institution ( Ethos der Institution)
Stufe 1: Einhalten von gesetzlichen Standards zur Risikovermeidung ( z.B.§§ 8a;
72 SGB VIII)
Stufe 2: pro-aktiver Umgang mit moralischen Fragen
Stufe 3: die Implementierung ethischer Standards
Grundsätzlich ist zu bedenken: Es geht immer um eine
– Ethik mit Kindern und Jugendlichen (z.B. Erarbeitung der Kinderrechte;
Werteerziehung)
– Ethik mit Mitarbeitenden, für Kinder und Jugendliche (Ethisch-basierte
Entscheidungen, Ethikworkshop, Ethikkomitee etc.)
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Ethische Verantwortung für die Institutionskultur…
.. bedeutet:
•
die Verantwortung aller Mitarbeitenden auf allen Hierarchieebenen für die Gestaltung einer
institutionellen Kultur des Kinderschutzes
•
die Schaffung eines ethischen Referenzrahmens für fachliche und rechtliche Standards des
Kindesschutzes
Es geht in der Jugendhilfe-Institution darum, Verantwortung für die Handlungsfolgen , für
die Gewissensbildung, für Werte und Haltungen zu übernehmen.
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Ethische Verantwortung für die Institutionskultur
Praxisbeispiele aus der Ev. Jugendhilfe Godesheim
Prozesse und Strukturen
•
(Seit 2003): Sensibilisierung für moralische und ethische Fragestellungen durch
Fortbildungen, Fachtage und thematische Bearbeitungen in Leiterrunden und
Mitarbeiterkonferenzen
•
(2005): Handreichung: „Glaube und Werte in der Ev. Erziehungshilfe“
•
(2009): Verankerung der ethischen Voraussetzungen in Rahmenkonzeption,
Leitbild und Leitsätzen
•
(Seit 2009): Werteverankerung in Erziehungsplanung, Dokumentation und
Wirkungsmessung
•
(Seit 2010): Werteverankerung in der Mitarbeiterführung
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Praxisbeispiele aus der Ev. Jugendhilfe Godesheim
(2010)
•
•
Werte des Zusammenlebens
– Motto des Jahres 2010: „Das Jahr der Achtung“
– Motto des Jahres 2011: „Das Jahr der Gerechtigkeit“
Kinderrechtsprojekte: Voting für die Kinderrechte in der Ev. Jugendhilfe
(Malwettbewerbe / Kinderrechtesongs / überregionale Auftritte mit inklusivem
Charakter)
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Kinderrecht des Monats – Kinderrechteposter
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Ethische Verantwortung für die Institutionskultur
Praxisbeispiele aus der Ev. Jugendhilfe Godesheim
Die beiden Schlüsselprozesse
•
die Evangelische Jugendhilfe Godesheim auf dem Weg zu einem Sicheren Ort
für Kinder und Erwachsene
•
die Evangelische Jugendhilfe Godesheim auf dem Weg zu einer Gerechten
Gemeinschaft
für Kinder und Erwachsene
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Ethische Verantwortung für die Institutionskultur
Praxisbeispiele aus der Ev. Jugendhilfe Godesheim
Der sichere Ort? Eine Methodik aus der Traumatherapie
•
der sichere Ort macht die ethischen Werte der kindlichen Würde und Autonomie
erfahrbar
•
um nicht auf das Phänomen der Gewalt fixiert zu bleiben, sondern pro-aktiv zu
gestalten
•
ein sicherer Ort vermag Wohlbefinden und Entwicklung bei Kindern zu erzeugen.
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Ethische Verantwortung für die Institutionskultur
Praxisbeispiele aus der Ev. Jugendhilfe Godesheim
Warum die gerechte Gemeinschaft?
•
die gerechte Gemeinschaft macht den ethischen Wert protektiver und
partizipativer Gerechtigkeit erfahrbar
•
Kinder und Jugendliche und Familien sollen erleben, dass sie selbst Rechte haben
und geschützt sind
•
Kinder und Jugendliche und Familien sollen aber auch erfahren, dass der Andere
diese Rechte hat
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Die gerechte Gemeinschaft
Praxisbeispiele aus der Ev. Jugendhilfe Godesheim
Beschützende und befähigende Gerechtigkeit erleben….
•
in der unmittelbaren pädagogische Beziehung
•
durch das Leben in der Gruppe
•
durch die Kinder- und Jugendvertretung
•
durch eine Kinderbeauftragte ( angestellte Ev. Pfarrerin )
•
durch eine Ombudsfrau ( externe Rechtsanwältin)
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Kinderbeauftragte und Ombudsfrau
Praxisbeispiele aus der Ev. Jugendhilfe Godesheim
•
Implementierung einer Kinderbeauftragten und einer Ombudschaft als
Konsequenzen aus einem Missbrauchsgeschehen in den 1970er Jahren
•
unmittelbare Einbindung der Ombudsfrau in die ethischen und fachlichen
Leitlinien der Institution
•
enge Zusammenarbeit zwischen Kinderbeauftragten und Ombudsfrau
regelmäßige Auswertungsgespräche zwischen Träger, Kinderbeauftragten und
Ombudschaft statt
•
geregelte Verfahren zur Meldung eines besonderen Vorkommnisses an LJA/ JA;
Sorgeberechtigte; ggf. Information der Staatsanwaltschaft/ bzw. Erstattung einer
Strafanzeige
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Ethische Verantwortung für die Institutionskultur
Praxisbeispiele aus der Ev. Jugendhilfe Godesheim
Die Ombudsfrau und unser Hinweisergebersystem ( ab Juli 2011 )
•
Eine Ombudsfrau zur bewussten Durchbrechung potentiellen Machtmissbrauchs
durch die Institution
•
ausschließlich für Missbrauch, Misshandlung, Aufsichtspflichtverletzungen
•
die Ombudsfrau steht nicht nur den heutigen Kindern und Jugendlichen sondern
auch Ehemaligen zur Verfügung
•
ebenso Mitarbeitern, die einen im Hinblick auf ihr kollegiales Verhältnis einen
externen / und oder Anonymität gewährenden Ansprechpartner suchen
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Ethische Verantwortung für die Institutionskultur
Ein internetbasiertes Hinweisgebersystem
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Ethisch-basierte Entscheidungsprozesse
in der Institution
Jedes Problem besitzt eine moralische und sachliche Dimensionen
Verantwortliche Entscheidungen in der Jugendhilfe treffen
bedeutet zu fragen, inwieweit eine Entscheidung…
•
mit den ethischen Werten und ethischen Haltungen der Institution vereinbar ist
(moralische Legitimation )
•
fachlich ( pädagogisch/psychologisch/medizinisch/schulisch) begründbar ist
•
juristisch legal ist
•
wirtschaftlich vertretbar ist (Effektivität/Effizienz)
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Leitfaden für ethisch-basierte Entscheidungsprozesse
I.
Problemanalyse
•
•
•
Wie ist die Ausgangslage?
Welche Fragestellungen ergeben sich aus der Ausgangslage?
Gibt eine Priorität der zu bearbeitenden Fragen?
II.
•
•
•
•
Die moralische Dimension des Problems
III.
•
•
•
Welche moralischen Wertvorstellungen haben Sie/ Ihre Kollegin/Ihr Team in dieser Frage ?
Kennen Sie die moralischen Wertvorstellungen der Betroffenen?
Welche ethischen Werte und Haltungen der Institution werden berührt?
Welche Wertkonflikte ergeben sich?
Die sachlichen Dimensionen des Problems
Welche pädagogischen/psychologischen/ psychiatrischen Gesichtspunkte spielen eine Rolle?
Sind juristische Aspekte zu berücksichtigen?
Welche Rolle spielt die Frage der Wirtschaftlichkeit in diesem Falle?
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Leitfaden für ethisch-basierte Entscheidungsprozesse
IV.
Lösungs- /Handlungsoptionen
•
•
•
•
Inwieweit können die Betroffenen selbst in die Problemlösung einbezogen werden und zu einer
eigenständigen Entscheidung finden?
Welche unterschiedlichen Möglichkeiten der Problemlösung ergeben sich in ethischer und
sachlicher Hinsicht?
Welches wäre das geringste Übel? Welches wäre die erstrebenswerteste Lösung?
Welche Auswirkungen hätten die jeweiligen Optionen für die Betroffenen?
Was würde geschehen, wenn gar nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt gehandelt würde?
V.
Ethisch-basierte Entscheidung & Umsetzung
•
•
•
Welche der Optionen geben Sie bei rationaler Abwägung der Vor- und Nachteile den Vorzug?
Wer übernimmt welche Verantwortung?
Wer muss nun was tun?
VI.
Überprüfung der Entscheidung im Nachgang
•
•
•
Was hat die Entscheidung bewirkt?
Was sagen die Betroffenen?
Würden die Betroffenen und Sie selbst dieselbe Entscheidung noch einmal treffen?
•
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Jenny und Hassan
•
•
•
•
•
•
Jenny ist 14 und lebt bei ihrer alleinerziehenden Mutter. Sie ist in einer teilstationären
Erziehungshilfemaßnahme, seit sie durch ihre Clique in mehrere kleine Diebstähle verwickelt wurde und
über längere Zeiten immer wieder der Schule fernblieb.
Eines Tages vertraut sie Frau Kampe ; Sozialpädagogin in der Tagesgruppe mit, dass ihr 18 jähriger
syrischer Freund Hassan gegen Ihren Willen mit ihr geschlafen habe und sie jetzt Angst habe von ihm
schwanger zu sein. Frau Kampe, die Hassan flüchtig kennt, stellt diesen zur Rede, als er Jenny abends aus
der Tagesgruppe abholt.
Hassan verteidigt sich wütend und wirft Jenny lautstark Vertrauensbruch vor. Er habe sie niemals
gezwungen und außerdem wolle er sie heiraten. Sein Vater wisse bereits davon. Der sei zwar gar nicht
einverstanden, das sei ihm aber völlig egal.
Jenny gibt auch an, Hassan heiraten zu wollen. Jennys Mutter, die das alleinige Sorgerecht besitzt, weiß
von den Heiratsplänen und befürwortet diese.
Wie ist der Sachverhalt im ethischer Hinsicht zu bewerten?
Welche Möglichkeiten verantwortlichen Handels ergeben sich?
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Frau Herbst und ihre Kinder
•
•
•
•
•
Manuela Herbst ist 22 Jahre alt. Ihren ersten Sohn hat sie mit 15 Jahren bekommen, den zweiten Sohn mit
17 und den dritten mit 20. Sie ist seit 6 Jahren mit Andre verheiratet. Beide haben sich in einer
Wohngruppe der Heimerziehung kennengelernt. Nach der Geburt ihres zweiten Sohnes ist Manuela mit
den beiden Kindern ins Frauenhaus geflüchtet, weil sie von Andre, der unregelmäßig seinem Ein-Euro-Job
nachging und zunehmend Drogenprobleme hatte, immer häufiger geschlagen und auch mehrfach
vergewaltigt worden.
Sie lernte dann Jörg kennen, mit dem sie nun ihr drittes Kind hat. Die Mitarbeiterinnen des Frauenhauses
wendeten sich damals ans Jugendamt. Da zwischen Manuela und ihren Kindern eine stabile Bindung
besteht und Manuela alles tut, um den Bedürfnissen ihrer Kinder gerecht zu werden, wird sie seit über
einem Jahr täglich ambulant von der sozialpädagogischen Mitarbeiterin eines Jugendhilfeträgers betreut.
Manuela besitzt das alleinige Sorgerecht. Die Kinder haben sich insgesamt zufriedenstellend entwickelt.
Auch Jörg wohnt inzwischen mit in der Wohnung.
Dann tauchte Andre plötzlich eines Tages wieder auf. Er war zunächst sehr nett und seine beiden eigenen
Kindern hängen sehr am Vater. Seit einiger Zeit aber bedrängt er Manuela sexuell, sobald Jörg nicht
anwesend ist. Unter Tränen hat sie der Sozialpädagogin erzählt, dass es bereits wieder zu einer
versuchten Vergewaltigung gekommen sei. Der älteste Sohn habe das abends leider auch mitbekommen.
Gleichzeitig spricht sie davon, dass sie Andre immer noch liebt. Sie fühlt sich sehr zu ihm hingezogen. Mit
Jörg hat sie noch nicht gesprochen. Die Mitarbeiterin des Jugendhilfeträgers versucht Manuela davon zu
überzeugen, dass sie die Beziehung zu Andre radikal beenden müsse. Dabei spürt sie aber, dass sie
Manuela mit ihren Argumenten und ihren Werten nicht erreichen kann.
Sie bringt den Sachverhalt in die nächste Teamsitzung, zu der sie auch die zuständige Mitarbeiterin des
Jugendamtes einlädt.
Wie ist die Lage ethisch, fachlich und rechtlich zu bewerten und zu verantworten?
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These 1
Für den Schutz von Kindern in Institutionen der Jugendhilfe, reicht es nicht aus:
•
sozialwissenschaftlich-fachliche Standards einzuführen
•
§§ 8a, 72 SGB VIII zu beachten
•
eine Reihe von Dienstanweisungen zu erlassen
•
denn: Kinderschutz hat nicht nur eine fachliche und eine rechtliche Dimension, sondern
auch eine moralische Dimension
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These 2
In den 1970er Jahren wurde mit Recht die überkommene Jugendhilfemoral überwunden.
Das Problem dabei:
Im Gegensatz zu vielen anderen gesellschaftlichen Handlungsfeldern, fand kein
systematisches Nachdenken über eine bereichsspezifische Ethik statt. Wir nutzen daher in
unseren Institutionen die 2000 jährige philosophische Tradition des Nachdenken über
ethische Werte und Haltungen zu wenig .
Wir benötigen heute eine Ethik der Kinder- und Jugendhilfe als eigenständige Bereichsethik
Neben unsere Sachkompetenzen muss eine ethische Kompetenz und eine ethische
Professionalität treten
Husum
April 2011 2010
Konferenz
im Godesheim
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These 3
Kinder- und Jugendhilfe ist: „Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung“
(11. Kinder- und Jugendbericht)
Nur mittels einer Ethik kindlicher Würde, Autonomie und Gerechtigkeit kann
die Kinder- und Jugendhilfe ihrer Verantwortung angesichts immer größerer
gesellschaftlicher Disparitäten gerecht werden.
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Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit
Moral predigen ist leicht, Moral
begründen schwer
Arthur Schopenhauer
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Brauchen wir eine neue Ethik in der Jugendhilfe?
Anhang
Husum April 2011
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Ethik als notwenige künftige Grundorientierung
der Jugendhilfe
NachkriegsPhase
SozialwissenschaftlichePhase
ÖkonomisierungsPhase
PostmodernePhase
FürsorgeOrientierung
LebensweltOrientierung
DienstleistungsOrientierung
EthikOrientierung
Primat staatlicher und
kirchlicher
Moralvorstellungen
„moralisch inspirierte
Kasuistik“ (Thiersch)
„Moralische Leerstelle der
Dienstleistung“ (Kutscher)
Deskriptive / Normative
Ethik der Kinder- und
Jugendhilfe
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Erziehungshilfe gestern und heute
Moralische Leitwerte, Macht und Gewalt
InitialPhase
seit ca. 1830
Christliche
Vereine /
Rettungshaus
Rettung / Mission
GründungsPhase
seit 1878
WeimarerPhase
1918-1933
Preußischer Staat
Weimarer Staat
Öffentliche und
freie
Organisationen
Öffentliche und
freie
Organisationen
Zwang
Fürsorge
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NationalsozialistischePhase
1933-1945
Nationalsozialistischer Staat
Jugendkonzentrationslager
MinderwertigenFürsorge
Auslese
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46
Erziehungshilfe gestern und heute
Moralische Leitwerte, Macht und Gewalt
NachkriegsPhase
bis ca. 1961
RJWG / JWG
Früher Bundesrepublikanischer
Staat
Öffentliche und freie
Organisationen
SozialwissenschaftlichePhase
ca. 1970-1990
JWG / KJHG
ÖkonomisierungsPhase
ca. 1990 bis heute
KJHG
Sozialstaat
Neoliberaler Staat
Pädagogen /
Therapeuten
(Expertokratie!)
Ökonomen
Öffentliche / freie
Organisationen
Eltern
Kinder
Öffentliche und freie
Organisationen
PostmodernePhase
KJHG
Transnationales
Recht
Postmoderne
Gesellschaft
Kinder
Eltern
Öffentliche und
freie
Organisationen
Ombudschaft
Zucht
Gehorsam
Ordnung
Pos. Rechtsnormen
Wirksamkeit
Neue Härte
Expertise
Selbstverwirklichung
Lebenswelt
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Würde / Wohl
Autonomie
Befähigungsgerecht.
Teilhabegerechtigkeit
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Literaturhinweise
•
Düwell/Hübenthal/Werner (Hg.) : Handbuch Ethik. Stuttgart ²2006
( Grundsätzlicher Überblick über zeitgemäße philosophische Ethik;
gut lesbare Einzelartikel)
•
Kotska/Riedl: Ethisch entscheiden im Team. Ein Leitfaden für soziale Einrichtungen. Freiburg 2009 (Caritas;
sehr kurz! und sehr pragmatisch)
•
Steinkamp/ Gordijn: Ethik in Klinik und Pflegeeinrichtung, Köln ³2010 ( Beispiele für Ethikkomitees etc. )
•
Körtner: Evangelische Sozialethik; UTB Göttingen 1999 ( Ev.Theologischer Zugang )
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