»Kein Zwang im Glauben« Wie aussagekräftig sind Schriftzitate in Grundsatzer-klärungen von Glaubensgemeinschaften? – Die »Wormser Charta Von: Gerhard Eckstein, erschienen im Deutschen Pfarrerblatt, Ausgabe: 8 / 2009 In Folge der Ereignisse vom 11.9.2001 wurde am 20.2.2002 die "Islamische Charta" des Zentralrats der Muslime in Deutschland e.V. veröffentlicht. Der Begriff "Charta" wird aufgenommen in der "Wormser Charta" - einer "Grundsatzerklärung des Dachverbands der Muslime in Worms zum Thema Ehrenmord, Zwangsheirat, religiöse Bedingungen" von 2008. Darin heißt es u.a.: "Jeder hat das Recht auf Religionsfreiheit. Das gilt nicht nur für Menschen, die zum Islam übertreten, sondern auch für Muslime, die sich für eine andere Religion entscheiden. Der Koran untersagt jede Gewaltausübung, Koran Vers 2,256: "Kein Zwang im Glauben.""(1) Da der Hinweis auf Sure 2, Vers 256 auch sonst öfters von dialogbereiten Muslimen zu hören ist, möchte ich der Frage nachgehen, ob diese Stelle tatsächlich vom Recht auf Religionsfreiheit im Sinne der "Wormser Charta" spricht. Der genannte Vers steht in engem Zusammenhang mit Vers 255, dem Lob Gottes, des Herrn über Himmel und Erde. Es ist das Lob auf den Schöpfer, der mit seiner Schöpfung die Menschen reich versorgt.(2) Im Geschaffenen liegen Zeichen, die auf Gott hinweisen und zum Glauben führen.(3) Darum heißt es: "In der Religion gibt es keinen Zwang"(4), denn Gottes Schöpfung, seine Zeichen, führen jeden, der darüber nachdenkt, zum Glauben an den allmächtigen Gott und Schöpfer. Von Religionsfreiheit im Sinne der Charta ist nicht die Rede. Diese Auffassung wird unterstützt durch die Auslegung von Rudi Paret, der jedoch eine andere Begründung anführt. Paret verweist auf die Sure 10, Vers 99. Dort heißt es, wenn Gott gewollt hätte, wären alle Menschen gläubig geworden. "Willst du nun die Menschen zwingen, daß sie glauben?" Weiter nennt Paret Sure 12,103 und 16,37. Der einzelne Mensch kann nicht zur wahren Einsicht gezwungen werden. Er muss und kann selbst den Weg dazu finden.(5) Viele Muslime werden sich von diesen Argumenten nicht überzeugen lassen, weil sie von Nichtmuslimen vorgetragen werden. Sie werden auf eine eigene reiche Auslegungstradition hinweisen. Dazu gehört, dass nicht nur ein bestimmter Theologe bzw. Gelehrter zu Wort kommt, sondern dass die wichtigsten ­anerkannten Kommentatoren befragt werden. Kurz, es geht um die Auslegung einer Koranstelle oder eines Abschnitts im Laufe der Geschichte, wie sie z.B. Mahmoud Ayoub bietet.(6) Klassische und moderne Kommentare zur Stelle Am Anfang muslimischer Auslegung steht die Bestimmung von Ort und Zeit der Offenbarung. Die Ausleger sind bei Sure 2,256 verschiedener Meinung über den Anlass der Offenbarung.(7) Sie verweisen auf unterschiedliche Ereignisse im Leben des Propheten und seiner Gefährten, bei denen es um Fragen des Glaubensbekenntnisses geht. Ereignisse, die in den Hadithsammlungen (der Sunna) überliefert werden und die die Grundlage der Koranauslegung bilden. Berichtet wird von Menschen, die durch die Not der Umstände oder durch die Begegnung mit Menschen eines anderen Glaubens Juden oder Christen geworden sind. Sie sollen unter Hinweis auf die Offenbarung von 2,256 nicht gezwungen werden, ihren Glauben aufzugeben.(8) Das Problem mit diesen Stellen ist, dass sich in den Hadithsammlungen auch gegenteilige Entscheidungen finden lassen, die von einem notwendigen Zwang in Glaubensfragen sprechen.(9) Al-Tabari, Abu Ja`far Muhammad ibn Jarir (839 - 923), einer der angesehensten Gelehrten, berühmter Koranausleger und Historiker, der in Bagdad lehrte, schrieb ein bis heute gültiges Standardwerk der Auslegung. In ihm zieht er aus 2,256 einen allgemeinen Schluss: Die Araber seien gezwungen worden, dem Islam beizutreten, weil sie eine ungebildete Gemeinschaft (ummah ummiyah) gewesen seien, die kein Buch hatten. Die Leute der Schrift(10) müssen nicht gezwungen werden, den Islam anzunehmen, wenn sie die Kopfsteuer (jizah) oder die Landabgabe (kharaj) zahlen.(11) Diese Ansicht haben auch Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 1/4 andere berühmte Gelehrte vertreten. Al-Zamakshari, Abu al-Kasim Mahmud b. Umar (1075 - 1144), war ein hervorragender Theologe und Sprachwissenschaftler. Obwohl dogmatische Aussagen von ihm - wie z.B. die über die Erschaffung des Korans - abgelehnt werden, ist sein Korankommentar wegen der philologischen Arbeit auch in orthodoxen Kreisen anerkannt. Sein Kommentar steht nach dem von Al-Tabari an zweitwichtigster Stelle. Zamakshari schreibt zu 2,256, dass Gott den Glauben nicht durch Zwang herbeiführt, sondern durch freie Wahl (s. Sure 10,99). Gott hätte die Menschen zwingen können, aber er hat es nicht getan. Man sage, es handle sich um ein Verbot in der Religion Zwang auszuüben. Doch sagen einige, dass dieser Vers aufgehoben sei durch die Suren 9,73f und 66,9 ("Kämpfe gegen die Ungläubigen und die Heuchler und sei hart gegen sie!"). Andere bezögen die Offenbarung 2,256 auf die Leute der Schrift, die durch Entrichtung der Steuer vom Zwang befreit seien. Schließlich würde ein Fall überliefert, bei dem ein Vater seine beiden Söhne, die Christen geworden waren, zwingen wollte, zum Islam zurückzukehren. Als der Vater die Angelegenheit vor den Propheten brachte, sei das Wort Gottes, "in der Religion gibt es keinen Zwang", offenbart worden.(12) Al-Baydawi, Abd Allah ibn Umar (gest. 1286?), war ein bedeutender Theologe und Jurist in Persien. Sein Kommentar gilt als orthodoxes Gegenstück zu Zamakshari und ist bei Sunniten hoch geschätzt. Baydawi schreibt zu unserer Stelle: Da die Gewalt (ikraha) ein Zwang sei, etwas Anderes zu tun, sähe er in ihm keinen Nutzen, der ihm angemessen sei. Aber es sei klar geschieden das richtige Verhalten vom Irrtum, und der Unglaube sei eine Verfehlung, die zu ewigem Elend führe. Nun werde gesagt, das Wort "kein Zwang in der Religion" sei aufgehoben (abrogiert) durch die Offenbarung 9,73f und 66,9. Was die Schriftbesitzer beträfe, so gelte für sie kein Zwang, wenn sie vor der Verkündigung Muhammads Christen wurden. Nach der Gründung Medinas gelte das nicht mehr.(13) Die Meinung, dass der Vers aufgehoben sei, findet sich auch bei anderen namhaften Auslegern. Neben den klassischen Kommentaren, die hier nicht alle aufgeführt werden können, sind noch zwei moderne zu nennen, die in der islamischen Welt weitverbreitet sind und besonders von der Jugend viel gelesen werden(14): Mawdudi, Sayyid Abu al-A´la (1903 - 1979), lebte im heutigen Pakistan. Mawdudi ist Modernist und einer der großen islamischen Erneuerer. Er war als Journalist und Politiker tätig. Aber er hat auch ein Diplom als religiöse Autorität erworben und als solche eine Übersetzung des Korans mit Kommentar in Urdu geschrieben.(15) Mawdudi ist überzeugt, dass mit Glaube (din) in Vers 256 das vollständige Lehrgebäude oder Glaubenssystem des Islams gemeint sei. Glaube, Moral und das ihnen entsprechende Verhalten können einem Menschen nicht gewaltsam aufgezwungen werden.(16) Es geht Mawdudi um die Annahme des Glaubens und nicht um Religionsfreiheit und das Recht für Muslime, sich für eine andere Religion zu entscheiden. Wer den Islam angenommen hat und sich dann für eine andere Religion entscheidet, der fällt vom Glauben ab und hat eine schmerzhafte Strafe zu erwarten (Sure 3,86-91).(17) Sayyid Qutb (1906 - 1966) war ein führendes Mitglied der Muslimbruderschaft in Ägypten. Er hat sich im Kampf für eine gerechte gesellschaftliche Ordnung nach den Idealen des Islams und in der Auseinandersetzung mit dem Nasser-Regime radikalisiert und wurde 1966 hingerichtet. Von Sayyid Qutb stammt ein großer Korankommentar, den er in seiner langen Gefangenschaft und unter deren Bedingungen überarbeitet hat.(18) Qutb schreibt, dass der Islam im Gegensatz zu den Verfolgungen der Christen unter den Römern und dem christlichen Imperium unter Konstantin erklärt, dass es keinen Zwang in Sachen des Glaubens gibt. In diesem Prinzip sieht Qutb "die Manifestation der Gnade Gottes gegen den Menschen. (Darin liegt) seine Größe und die Achtung vor seinem freien Willen, seinem Denken und Gefühl."(19) Im Laufe der weiteren Ausführung heißt es: Islam "ist das System, das seinen Anhängern erklärt, vor irgendwelchen anderen (Systemen), daß es ihnen verboten ist, Menschen zu zwingen, diesen Glauben anzunehmen."(20) Aus diesem Zitat wird deutlich, dass Sayyid Qutb die Freiheit meint, sich zum Islam zu bekennen. Er spricht nicht von einer allgemeinen Glaubensfreiheit und der Möglichkeit, dass Muslime sich für eine andere Religion entscheiden. "Zurückweisung des Glaubens (des Islams - Anm. G.E.) ist der Irrtum, den der Mensch fliehen muß und der ihn nicht kennzeichnen darf."(21) Fazit Wenn wir die Auslegung von Sure 2, Vers 256 im Laufe der Geschichte verfolgen, dann zeigt sich, dass verschiedene Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 2/4 Ansichten über den Anlass der Offenbarung " Es gibt kein Zwang in der Religion" bestehen. Auch darüber, ob die Worte eine bleibende Gültigkeit besitzen, oder ob sie aufgehoben sind, besteht keine einhellige Meinung. Einigkeit besteht - und das ist wichtig, denn es geht bei strittigen Fragen immer um den Konsens der Gelehrten(22) - darin, dass die Leute der Schrift (Juden, Christen und Zoroastrier), die vor dem Auftreten Muhammads diesen Glauben angenommen haben und deren Nachkommen nicht gezwungen werden dürfen, den Islam anzunehmen. Bei der Freiheit zum Glauben geht es um den freien Willen und die Einsicht des Menschen, sich durch die Zeichen Gottes zum Schöpfer, dem alleinigen und wahren Gott (2,255), führen zu lassen. Nicht angesprochen und diskutiert wird von den Kommentatoren die Möglichkeit oder die Freiheit für Muslime, sich für eine andere Religion zu entscheiden. Dem entspricht die Rechtspraxis in muslimischen Ländern. Dass Muslime nicht die Freiheit haben, sich für eine andere Religion zu entscheiden, zeigen immer wieder Berichte in den Medien, wie der über den Konvertiten Abdul Rahman, der in Afghanistan strafrechtlich verfolgt wurde.(23) Es sind aber nicht nur Einzelfälle, sondern es ist eine grundsätzliche Haltung, die sich im Verhalten gegenüber den Anhängern der Ahmadiyya, der Baha`i oder zu den Bergvölkern der Mru in Bangladesch zeigt. Was folgt daraus? Ich möchte mit der Darlegung der Auslegung von Sure 2,256 nicht die gute Absicht der Verfasser der "Wormser Charta" in Frage stellen. Aber einige Fragen drängen sich doch auf: Haben die Verfasser der Thesen keine islamischen Gelehrten zu Rate gezogen? Hatten die Imame der beteiligten Gemeinden keine Einwände? In wieweit ist eine Charta relevant, deren Aussagen und Begründungen in einem so wesentlichen Punkt wie dem, dass Muslime sich für eine andere Religion entscheiden dürfen, gegen die mehrheitliche Überzeugung der islamischen Welt stehen? Und wie muss diese These auf die nichtmuslimischen Gesprächspartner wirken, die die Auslegung und die Auslegungsgeschichte der genannten Koranstelle kennen oder nachschlagen? Die Erklärung, dass man der Überzeugung sei, dass es eine Religionsfreiheit gibt, die auch Muslimen die Möglichkeit eröffnet, sich für eine andere Religion zu entscheiden, ist aus unserer christlichen und westlichen Sicht sehr zu begrüßen. Aber bei der Begründung für diese Freiheit kann und darf man sich nicht auf Sure 2, 256 berufen. Selbst dann, wenn die Stelle je diese Verstehensmöglichkeit gehabt haben sollte, zeigen doch andere Stellen wie z.B. Sure 9,73f, dass durch veränderte historische Bedingungen eine anfängliche Religionsfreiheit verloren gegangen ist.(24) Wenn die Erklärung der Glaubensfreiheit in der "Wormser Charta" ernst genommen werden will, dann müssen deren Verfasser eine andere Begründung geben. Anmerkungen: 1 "Wormser Charta", o.J., 5. Absatz. 2 Sure 16, Vers 3ff u.ö. 3 Sure 16, Vers 11 u.ö. 4 Sure 2, Vers 256. 5 Rudi Paret, Der Koran. Kommentar und Konkordanz, Stuttgart 1980, 54f. 6 The Qur´an and Its Interpreters, vol. 1, State University of New York Press, Albany 1984. 7 Ayoub, a.a.O., 252ff. 8 Ayoub, a.a.O. 253. 9 Z.B.: Sahih Al-Bukhari, Bd. 9, New Delhi 1987, 201, Überlieferung: 271. 10 Juden, Christen und Zoroastrier. 11 Ayoub, a.a.O., 253f. 12 Zamakhari, Al-Kashshaf..., Beirut 1946, repr. o.J., Bd. 1, 203f, dt. Übers. bei H. Gältje, Koran und Koranexegese, Zürich 1971, 283f. 13 Al-Baydawi, Anwar al-Tanzil..., 58. Aufl., Dschidda, o.J., 58, Text: arabisch. 14 Auch nach eigener Erfahrung in England und Ägypten. 15 Tafhim al-Qur´an, engl. Ausgabe: Towards Understanding the Qur´an, Leicester, Bd. 1, 1988. 16 Mawdudi, a.a.O. (s.o.), 199, Anm. 285. 17 Mawdudi, a.a.O., 330, "Apostasy". 18 Fi zilal al-Qur´an, in engl. Übers. liegt vor Bd. 30: In the Shade of the Qur´an, New Delhi, 1990. Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 3/4 19 Ayoub, a.a.O. 254f, Zitate nach der engl. Übers. des arab. Originaltextes. 20 S. Anm 19. 21 Ayoub, a.a.O., 255. 22 S. u.a. A. Saeed, Interpreting the Qur´an, London 2006, 115. 23 "Max Planck Forschung" Nr.1/2009, 42. 24 So Saeed, a.a.O., 141-143. Deutsches Pfarrerblatt, ISSN 0939 - 9771 Herausgeber: Geschäftsstelle des Verbandes der ev. Pfarrerinnen und Pfarrer in Deutschland e.V Langgasse 54 67105 Schifferstadt Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 4/4