Aufgabenstellung: Analysieren Sie den Szenenausschnitt S. 34, Z. 1 bis S. 35, Z. 38 aus dem Drama „norway.today“ von I. Bauersima. Lösungshinweise für die Korrektur: 1. Einleitung zum Gesamtwerk: Das Theaterstück „norway.today" von Igor Bauersima wurde erstmals im Jahr 2003 im Fischer Taschenbuch Verlag veröffentlicht. Im Jahr 2000 erlebte das Drama seine Uraufführung in Düsseldorf. Dieses Drama weist das gängige pyramidale 5-Akt-Schema auf: Exposition, steigende Handlung, Höhepunkt/Peripetie, fallende Handlung, Lösung. Dabei ist der Ort gleichbleibend (Fjord in Norwegen, Einheit des Ortes), es besteht ein überschaubarer Zeitraum (etwa ein Tag und eine Nacht, Einheit der Zeit) und die Handlung ist in schlüssig aufeinander aufbauenden Schritten (ohne Nebenhandlung, Einheit der Handlung) gestaltet. Die Thematik des Stücks ist aktuell und bezieht sich auf die heute auch heute noch existierenden Suizidforen, die besonders für Jugendliche ansprechend sind. In solch einem Forum haben sich auch unsere zwei Protagonisten kennen gelernt. In dem Textauszug aus dem dritten Akt geht es um eine Schlüsselszene. Julie drängt August dazu, sich mit ihr sofort die Klippe hinunterzustürzen; August lehnt ab, will den Tod „noch“ aufschieben. Es kommt zum Kampf und Julie fällt beinahe in den Abgrund, sie kann sich noch festhalten und bittet August verzweifelt um Hilfe, denn sie möchte nicht fallen. August zögert die Hilfe hinaus. Dies ist für den Zuschauer ein Wendepunkt, denn man erkennt, dass keine der beiden Figuren eigentlich sterben will. 2. Gesamtzusammenhang: Kennenlernen im Internet - Suizidverabredung - fake/echt (virtuell/real) - Liebe - Naturerleben - Rückkehr ins Leben Im ersten Akt (Exposition) lernen die beiden Figuren sich kennen, indem August auf Julies Angebot zusammen Suizid zu begehen reagiert. Sie verabreden sich und fahren nach Norwegen. Dort sprechen sie über ihre Selbstmordmotive (2. Akt, Steigerung). Schnell stellt sich (für den Leser) heraus, dass sie eigentlich nicht sterben wollen und instinktiv am Leben hängen (3.Akt, Wendepunkt für den Zuschauer, Umschlag der Handlung). In der Folge erleben sie während ihres kurzen Aufenthaltes am Fjord eine intensive Zeit. Sie sehen das Polarlicht, verlieben sich, übernachten im Zelt (4. Akt, abfallende Handlung, Retardation). Ihre Versuche, Abschiedsreden zu halten, misslingen; sie stellen fest, dass das reale Leben doch Sinn macht (Wendepunkt für die Figuren). Der ursprüngliche Gedanke, dass das Leben „fake“ ist und nicht wirklich, entpuppt sich nun als falsch (5. Akt, Lösung). 3. Inhalt/Aufbau des Auszuges: Diese Textstelle weist in ihrem Aufbau zwei Gesprächsabschnitte auf. Im ersten Abschnitt (S. 34, Z.1 bis S. 35, Z.17) kann der Zuschauer einerseits Julie beobachten, die August auffordert mit ihr in den Abgrund zu springen, und bekommt andererseits Augusts Abwehrversuche mit. Es kommt sogar zu einem Kampf zwischen den beiden. Im zweiten Abschnitt (S. 35, Z. 18 bis 38) – nach Julies Beinahe-Absturz – findet ein Rollenwechsel statt, Julie bittet nun um Hilfe, aber August scheint nichts tun zu wollen, er lenkt mit dem Ghettoblaster ab. 4. Figurengestaltung: Wie eben schon gesagt, ist zunächst die selbstsichere Julie in der fordernden, drängenden Position. Sie ist die Überlegene, sie gibt vor, jetzt sterben zu wollen. August zögert, will die Tat aufschieben. Julie wird handgreiflich, bedrängt August, so dass sie am Abgrund beinahe in die Tiefe rutschen. Sie bedrohen sich gegenseitig. Als Julie dann über dem Abgrund baumelt, verkehrt sich die Situation in ihr Gegenteil. August ist der Überlegene, rächt sich nun durch Nichtbeachten der Hilferufe. Julie ist verzweifelt, entschuldigt ihr vorheriges Verhalten und appelliert an sein Gewissen, kämpft um ihr Leben. Es ist also eine komplementäre Situation zu beobachten, wobei die Positionen allerdings wechseln, zunächst hat Julie die superiore und August die inferiore Stellung inne und dann umgekehrt. Bezüglich der Selbstmordmotivation zeigt sich, das beide eigentlich nicht sterben wollen. 5. Sprachliches Handeln der Figuren: Diese Konfliktsituation enthält eine verbale Auseinandersetzung, die zu einem Positionswechsel der beiden Figuren führt, was sich auch sprachlich zeigt. Julie (be-)drängt August, sie verwendet siebenmal die Aufforderung (den Befehl) „Los“, sie spricht in hektischen, kurzen Sätzen, es sind Ausrufezeichen vorhanden. August dagegen will „noch“ warten, seine Sätze sind unvollständig (elliptisch), er ringt um Formulierungen (Auslassungspunkte), die seine Unentschlossenheit deutlich machen: „Jetzt gleich, das ist doch ... ich wollte noch was schreiben und...“(S. 34, Z. 8f.). Er wehrt sich mehrfach (fünfmal: „Lass los!“), die Situation eskaliert bis zur absurden Morddrohung „Ich bring dich um, verdammt.“( S. 35, Z. 16). Der erfolgte Rollenwechsel äußert sich in Julies Bitten um Hilfe (siebenmal) und in den Regiehinweisen („off“), die zeigen, dass August jetzt oben (im Hintergrund) ist und Julie unten zappeln lässt. Es fallen auch einige umgangsprachliche Ausdrücke und wenige jugendsprachliche Besonderheiten auf. 6. Dramaturgische Merkmale: Der Szenenausschnitt gehört zum dritten Akt, der den Wendepunkt der Handlung darstellt (siehe die Hinweise in Arbeitsschritt 1 und 2). Drei ausführliche, beschreibende Regieanweisungen geben die Aktionen der beiden Akteure wieder, so dass der Leser weiß, was in diesem entscheidenden Moment passiert, als die beiden beinahe abstürzen (Spannungsaufbau). Als Requisit wird ein Ghettoblaster verwendet, mit dem August herumhantiert und es dadurch hinausschiebt, Julie zu helfen (Spannungsverzögerung). 7. Beurteilung dieser Szene (der Intention): Die Formulierungen, die auf die Gefahr hinweisen, die durch die Rangelei am Abgrund entsteht, sind absurde (ironische?) Wortspiele angesichts der eigentlich geplanten Vorhabens sich gemeinsam umbringen zu wollen: „Wenn ich da runterfalle, hängst du für Mord.“ (August: S. 35, Z. 8) und „Wenn du mir nicht hochhilfst, fall ich runter. (...) Und ... du hast mich auf dem Gewissen.“ (Julie: S. 35, Z. 36-38) Der Autor will dem Zuschauer verdeutlichen, dass die beiden Figuren am Leben hängen, es selbst aber nicht zugeben wollen. Die Erkenntnis, dass das Leben doch lebenswert ist, wird erst später im 5. Akt kommen und ausdrücklich von ihnen festgestellt werden. 8. Kritische Stellungnahme: Betrachtet man diese Szene in Bezug auf das ganze Stück, dann muss man als Leser kritisch feststellen, dass die beiden Figuren eigentlich nie echte Selbstmordmotive hatten. Ein Leiden am Leben, das zum Todeswunsch führt, ist weder zu beobachten noch kann man das aus den Dialogen schließen. Die Begründung, dass das Leben und die Gesellschaft, alles bloß „fake“ ist, lässt sich nur schwer als schwerwiegendes Motiv nachvollziehen. Insofern ist auch das Ende des Stückes, die Entscheidung der beiden gegen den Tod und für ein Weiterleben, für den Leser nicht unbedingt überzeugend, denn es hat ja keine wirkliche Krise stattgefunden.