Dokumentvorlage ORDO - Ordo - Jahrbuch für die Ordnung von

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ORDO – Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2012) Bd. 63
Ulrich Witt
Ordnungsökonomik und Soziale Marktwirtschaft in Bedrängnis
Inhalt
I. Einleitung ........................................................................................................... 159
II.
III.
IV.
V.
Wie hält es die Ordnungsökonomik mit der Sozialen Marktwirtschaft? ...........
60 Jahre Soziale Marktwirtschaft – ein kollektiver Lernprozess .......................
Die Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte ...............................................
Ordnungsökonomik und die Frage der Besteuerung in der „Sozialen
Marktwirtschaft“ – ein konkreter Vorschlag ......................................................
VI. Fazit ....................................................................................................................
Literatur .......................................................................................................................
Zusammenfassung .......................................................................................................
Summary: Ordo-liberalism and the German “Social Market Economy” in qundary ..
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I. Einleitung
Das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft war und ist der Kern der politisch-weltanschaulichen Rechtfertigung der Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik Deutschland.
Hervorgegangen ist es aus der „unmöglichen“ Synthese der Ideen zweier wenig
kongruenter Denkschulen: auf der einen Seite einem ordo-liberalen Politikverständnis,
auf der anderen Seite einer Sozialstaatsidee, die stark von der katholischen Soziallehre
beeinflusst ist. Entsprechend vieldeutig war und ist dieses Leitbild. Es hat deshalb stets
für kontroverse Auslegungen gesorgt (Watrin 1979; Gutowski und Merklein 1985;
Streit und Kasper 1995; Starbatty 2004 um nur einige zu nennen). In der Praxis hat es
zu einem hohen Maß an privater Vertragsfreiheit und Rechtssicherheit einerseits und
korporativen und staatswirtschaftlichen Elementen andererseits geführt. Letztere zielen
auf soziale Absicherung mit entsprechender Umverteilungswirkung. Im politischen
Ringen, das auf die Herausforderungen der Zeit reagiert, verschieben sich die Gewichte
zwischen marktlicher Freiheit und korporativer und sozialstaatlicher Einflussnahme
immer wieder. Die Folge waren und sind Debatten darüber, wo die Grenzen dessen
liegen, was mit dem Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft noch vereinbar ist, und wo es
deformiert zu werden droht (Heuß 1997; Lenel 1997; Streit 2005).
Wenn das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft schon bisher kontrovers war, in
welche Bedrängnis wird es dann erst durch die zukünftigen Herausforderungen
kommen, die sich schon jetzt abzeichnen? Globalisierter Wettbewerb, Bewältigung der
Umweltprobleme, Bevölkerungsrückgang und -alterung, Verschuldungstendenzen,
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unwägbare Einflüsse weiterer europäischer Integration – alles zusammen reichlicher
ordnungspolitischer und sozialer Zündstoff. Wie werden sich Ordnungspolitik und
Sozialstaatsidee zukünftig zueinander stellen? Wird sich das Leitbild einer Sozialen
Marktwirtschaft überhaupt bewahren lassen? Was lehrt die Vergangenheit? Wie könnte
konkret die diesem Leitbild entsprechende wirtschaftspolitische Antwort auf die
genannten Herausforderungen aussehen? Diese Fragen haben nicht nur für das
Selbstverständnis der Wirtschaftspolitik in Deutschland und ihre inhaltliche
Legitimierung erhebliche Bedeutung. Sie deuten auch ganz konkret darauf hin, dass
jetzt politische Weichenstellungen nötig werden, um der Vision der Sozialen
Marktwirtschaft eine Zukunft zu sichern und sie gegebenenfalls auch „europafest“ zu
machen.
Der vorliegende Beitrag setzt sich wie folgt mit diesen Fragen auseinander. Der
nachfolgende Abschnitt beschäftigt sich mit der Inkongruenz der beiden Teile des
Leitbildes der Sozialen Marktwirtschaft. Dieser liegt letztlich das Spannungsverhältnis
zwischen Effizienz einerseits und Fairness oder Gerechtigkeit andererseits zugrunde.
Abschnitt III beleuchtet kurz den Wandel, dem die praktische politische Umsetzung des
Leitbildes der Sozialen Marktwirtschaft in der Geschichte der Bundesrepublik
ausgesetzt war. Dieser Prozess spiegelt institutionelle und mentale Veränderungen
wider, die zum Teil von den Mutationen der Konzeption selbst ausgelöst wurden. Zum
Teil folgten sie aber auch auf dramatische exogene Umbrüche, wie dem der deutschen
Wiedervereinigung. Abschnitt IV wendet sich der wirtschaftspolitischen Ebene zu und
präsentiert einige „informed guesses” über die Auswirkungen der schon erwähnten
zukünftigen Probleme, mit denen die Soziale Marktwirtschaft konfrontiert sein wird.
Als wichtige Nebenbedingung dabei ist das nachlassende Wirtschaftswachstum im
Auge zu behalten. Wo in der Vergangenheit durch Einkommenszuwächse die
Verteilungskonflikte des Sozialstaates entschärft werden konnten, wird dies zukünftig
weniger möglich sein. Abschnitt V diskutiert eine konkrete Politikempfehlung, die den
ordnungspolitischen Rahmen erweitert und mit der sich die Zukunft der Sozialen
Marktwirtschaft sichern ließe. Zum Abschluss bietet Abschnitt VI eine kurze
Zusammenfassung.
II. Wie hält es die Ordnungsökonomik mit der „Sozialen
Marktwirtschaft?
Um die nachfolgenden Überlegungen besser einordnen zu können, ist es sinnvoll,
sich das Verhältnis von Ordnungspolitik einerseits und sozialstaatlicher Fürsorgepolitik
andererseits noch einmal in Erinnerung zu rufen. Die von Böhm (1951) und Eucken
(1952) in Grundzügen formulierte Ordnungspolitik ist eine normative Konzeption. Ihr
zufolge sollen sich die politischen Instanzen in einer freiheitlichen Marktwirtschaft
darauf beschränken, den Wirtschaftssubjekten einen rechtlichen Rahmen zu setzen. Dies
ist die Wettbewerbsordnung, die gewissermaßen die „Spielregeln“ für die Teilnahme
am Wirtschaftsprozess definiert (Vanberg 1998). Eingriffe von Seiten der Regierung
oder ihren administrativen Organen in die Vertragsfreiheit sollen unterbleiben. Insoweit
ist diese Ordnungskonzeption liberal.
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Die Konzeption eines „laissez-faire“-Regimes wird jedoch ablehnt. Die vertragliche
Gestaltungsmacht der Marktteilnehmer soll nicht uneingeschränkt gelten: Privat
vereinbarte, rechtliche Bindungen wirtschaftlicher Aktivitäten sollen die
Wettbewerbsordnung nicht verletzen oder unterlaufen. Die Befürchtung, der
Preismechanismus könne von innen heraus außer Kraft gesetzt werden, ist der
geschichtlichen Erfahrung der Weimarer Zeit geschuldet. Zugleich spielt allerdings
auch die Vorstellung der vollständigen Konkurrenz als Ideal der Wettbewerbspolitik
eine Rolle. Zu verhindern, dass die Vertragsfreiheit zu einer Beschränkung des
Wettbewerbs genutzt wird, ist eine Aufgabe, die staatlichen Organen zugewiesen wird.
Diese werden dabei in der Tradition des deutschen Öffentlichen Rechts wahrgenommen
(d.h. als dem Gemeinwohl verpflichtet und immun gegenüber Einflussnahmeversuchen
von Partikularinteressen). Insoweit ist die Ordnungspolitik Böhm-Euckenscher Prägung
ordo-liberal – also liberal in definierten Grenzen.
Die ordo-liberale Politikkonzeption erstreckt sich neben der Wettbewerbspolitik
(oder allgemeiner dem privatrechtlichen Rahmen der Wirtschaft) auch auf weitere
wichtige Handlungsfelder der Wirtschaftspolitik. Durch Verallgemeinerung des
Ordnungsdenkens vor allem bei Eucken (1952) werden Interdependenzen mit der Geldund Währungsordnung (mit einem Primat für die Preisstabilität) ebenso betont wie die
Ächtung einer „Prozesspolitik”. Unter letzterer sind Detailsteuerungsversuche zu
verstehen, nicht zuletzt solche der makroökonomischen Lenkung. Sie zielen auf die
Herbeiführung bestimmter wirtschaftlicher Ergebnisse wie etwa Beschäftigungs-,
Wachstums- und Produktivitätszielen. Prozesspolitik wird als letztlich
freiheitsbeschränkend verstanden.
Wie jede normative Konzeption hat auch die Ordnungspolitik einen Adressaten – die
Regierung und ihre administrativen Organe – und ringt im Meinungswettbewerb um
Deutungshohheit und Einfluss (Meier und Mettler 1988). Dem Adressaten wird die
Umsetzung der Ordnungsvorstellungen in der Wirtschaftsverfassung und der politischen
Praxis nahegelegt. Dazu werden Argumente und Begründungen für die normativen
Prämissen geliefert. Wie jede andere normative Politikkonzeption bietet auch diese
reichlich Stoff für Diskussionen, nicht nur, aber vor allem in volkswirtschaftlichen
Fachzirkeln. Unter dem Einfluss der Neuen Politischen Ökonomik ist sie später z.B.
dafür kritisiert worden, dass sie „krypto-normativ“ sei (Kirchgässner 1988). Nicht ganz
unberechtigt ist die Kritik, dass sie die Eigeninteressen der Politiker und die
Einflussnahme von Interessengruppen nicht ausreichend berücksichtige.
Der breiten Öffentlichkeit ist die Ordnungspolitik allerdings weniger ins Bewusstsein
gedrungen. Wenn die Soziale Marktwirtschaft Popularität erlangt hat, so lag das
weniger an der ordnungsökonomischen als an der anderen Komponente der Synthese,
also der Forderung nach sozialstaatlicher Fürsorge für die, die sie benötigen. Diese
zweite Komponente der Sozialen Marktwirtschaft ist unterschiedlich begründet worden.
Letztlich beruft sich jede Begründung jedoch auf eine Gerechtigkeits- oder
Fairnessnorm. Für Müller-Armack (1950; 1956), der den Begriff der „Sozialen
Marktwirtschaft“ prägte, stehen beide Komponenten in einer – mehr gewünschten als
wirklichen – Harmoniebeziehung zueinander.
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Die marktwirtschaftliche Ordnungspolitik war als liberaler Gegenvorschlag zu den
sozialistisch-planwirtschaftlichen Vorstellungen der Nachkriegszeit in Westdeutschland
gedacht. Müller-Armack teilte die Ablehnung sozialistischer Ideale aus
weltanschaulichen Gründen. Er hielt aber auch ein Korrektiv für ein liberales
Marktregime in Form einer sozialen Absicherung für nötig. Abzusichern seien zum
einen eine auskömmliche wirtschaftliche Existenz für die Leistungsschwächeren, zum
anderen diejenigen, die durch Lebensrisiken getroffen werden, deren Folgen sie nicht
mehr selbst auf menschenwürdige Weise tragen können. Zu diesen Lebensrisiken
gehören nicht zuletzt die, die einem liberalen Marktregime zueigen sind, wie das Risiko
des Verlustes des Arbeitsplatzes und der Erwerbslosigkeit. Aus der Sicht seiner „Irenik“
ergibt sich das gewünschte Korrektiv durch das sozial-staatliche Fürsorgeprinzip nach
dem Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre.
Die Kehrseite des Korrektivs ist, dass es unvermeidlich mit einer
Einkommensumverteilung gegenüber der aus dem Marktgeschehen hervorgehenden
Primärverteilung verbunden ist. Wo diese Umverteilung ihre Grenzen findet, ist kaum
durch objektivierbare Kriterien zu bestimmen (Kersting 2004). Auch das
Subsidiaritätsprinzip, demzufolge zwar der Tatbestand, nicht aber der Umfang der
Fürsorge objektivierbar ist, leistet dies nicht. Entsprechend anfällig für den Einfluss
eigennütziger Partikularinteressen („rent seeking“) ist die praktische Verwirklichung
des Sozialstaatsprinzips. Der Anreiz ist groß, sich eine leistungslose,
umverteilungsfinanzierte Rente durch Geltendmachung eines (angeblichen)
Fürsorgebedarfs zu sichern; ebenso die Versuchung, eine immer bessere Fürsorge zu
verlangen.
Genau aus diesem Grunde wurde und wird die Synthese, die das Leitbild der
Sozialen Marktwirtschaft darstellt, immer wieder in Frage gestellt. Indirekt, aber
einflussreich ist die Kritik, die Friedrich August von Hayek geübt hat. Die
Ordnungsökonomik verdankt ihm eine tiefere sozialphilosophische Begründung einer
freiheitlichen Marktordnung (Wegner 2012, Kap. 3). Seine Polemik gegenüber allem
„Sozialen”1 ist deshalb im Lager der Ordnungsökonomen ernst genommen worden (und
scheint manchem auch aus der Seele gesprochen). In den letzten Jahren ist die
Sozialpolitik als Konkretisierung der sozialen Komponente der Sozialen
Marktwirtschaft unter den Anhängern des Ordo-Liberalismus tatsächlich in die
Defensive geraten. Sie wird – nicht unberechtigt – hauptsächlich mit einer
reformbedürftigen Praxis identifiziert, siehe etwa Vaubel (1990), Kleinhenz (1997),
Oberender und Okruch (1997), Pies (2004). In ihrer programmatischen Verteidigung
der Ordnungsökonomik als sinnstiftendes Angebot der akademischen Wirtschaftspolitik
erwähnen Goldschmidt et al. (2009) sie nicht einmal mehr.2
1
2
Siehe etwa Hayek (1969) oder (2002), obwohl Hayek (1960, Kap. 19) den Sozialstaat selbst gar nicht
ablehnt.
Im Gegensatz dazu versucht Goldschmidt (2004) aus theoriegeschichtlichen Betrachtungen heraus
eine ordnungsökonomische Begründung der Sozialpolitik. Dies führt zu wichtigen Fragen, deren
Beantwortung allerdings auf Schwierigkeiten stößt. So ist nicht klar, wie das von Goldschmidt zur
Legitimierung von Sozialpolitik vorgeschlagene Kriterium der Zustimmungsfähigkeit in der
praktischen Sozialpolitik umgesetzt werden sollte (Althammer 2004). Das Kriterium ist auch nicht
ordnungs- sondern kontrakttheoretischer Natur. Dies kann zu Widersprüchen führen, wenn das, was
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Diese Entwicklung ist jedoch im Ringen um Deutungshoheit und
wirtschaftspolitischen Einfluss problematisch. In der öffentlichen Wahrnehmung ist an
der Sozialen Marktwirtschaft als politisch-weltanschaulicher Rechtfertigung gerade die
integrative, soziale Komponente populär. Das Denken in Ordnungen wird dagegen –
wenn überhaupt – eher als abstrakte „Beiladung“ und graue Theorie wahrgenommen.
Wenn der Ordnungsökonomik die sozialstaatliche Idee immer nachrangiger oder gar
lästig erscheint, dann ist dies ihrem politischen Einfluss nicht zuträglich. Eine
Ablehnung oder auch nur Herabstufung der „sozialen“ Komponente würde in den
Augen der Öffentlichkeit und damit der praktischen Politik die Legitimierung von
Vorschlägen untergraben, die von der Ordnungsökonomik für die Bewältigung der
erwähnten Zukunftsprobleme gemacht werden können.
Es ist darüber hinaus zu befürchten, dass die Ordnungsökonomik auch im
akademischen Diskurs Gefahr läuft, weiter marginalisiert zu werden, wenn sie sich von
der – logisch sicherlich nicht zwingenden – Kombination mit der Sozialstaatsidee weiter
abwendet. Der Grund ist, dass die positive ordnungspolitische Theorie stark affin ist zu
den international viel einflussreicheren Theorien von Public Choice, Constitutional
Choice und Neuer Politischer Ökonomie. Diese Affinität geht so weit, dass der
eigenständige Charakter der Ordnungsökonomik immer weniger beachtet wird (von
dogmengeschichtlichen Betrachtungen abgesehen). Zudem sind viele der
ordnungspolitischen Aussagen heute in den erwähnten neueren Theorien z.T. sogar
konziser begründbar und in eine Demokratietheorie eingebettet.3 Im Gegensatz dazu
sind die normativen Teile der „unmöglichen“ Synthese – also gerade die Verknüpfung
mit der sozialen Komponente – nicht Allgemeingut der modernen
Wirtschaftswissenschaft.4 Eine kohärente normative Begründung der Verbindung von
Liberalismus
und
Sozialstaatsidee
und
daraus
folgender
spezifischer
Politikkonzeptionen stellt daher ein vielversprechendes, aber vernachlässigtes
Forschungsziel dar.
Ein Grund für die Vernachlässigung ist das kulturspezifisch eher geringe Interesse an
Sozialpolitik in der angelsächsisch dominierten Ökonomik. Sie tut sich im
wirtschaftspolitischen Kontext schwer, Effizienzkriterien einerseits und Gerechtigkeitsoder Fairnesskriterien andererseits die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken.
Reflexionen über die Legitimität dieser Kriterien werden weitgehend anderen
3
4
zustimmungsfähig ist, nicht auch ordnungskonform ist und umgekehrt. Hinsichtlich des weiter
vorgeschlagenen Kriteriums der Privilegienfreiheit ist nicht klar, inwieweit es sich vom schon
geltenden Gleichbehandlungsprinzip unterscheidet, dessen Wirkung dem ordnungsökonomischen
Anspruch ja offenbar nicht genügt.
Vanberg (1998). Siehe dazu auch Homann und Pies (1996), die Sozialpolitik gar nicht erst
ordnungspolitisch zu begründen versuchen, sondern auf eine konstitutionenökonomische
Argumentation setzen. Selbst in ihrem wettbewerbstheoretischen Teil ist die an der vollständigen
Konkurrenz orientierte Euckensche Ordnungsvorstellung längst einem komplexeren Verständnis der
Wettbewerbsdynamik gewichen, wie es in der neo-Schumpeterianischen Konzeption des
Innovationswettbewerbs besser repräsentiert ist.
Offenbar ist diese Synthese nicht einmal den deutschsprachigen Opponenten der Ordnungsökonomik
bekannt, wie die Kontroverse über diese in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 2009 erkennen lässt.
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Sozialwissenschaften und der Sozialphilosophie überlassen.5 Dabei sind gerade diese
Aspekte für Sinngebung und Legitimierung demokratischer Wirtschaftspolitik von
zentraler Bedeutung. Weiter unten soll dies (notgedrungen skizzenhaft) am Beispiel der
Herausforderungen durch die erwähnten Zukunftsprobleme gezeigt werden. Die
Auseinandersetzung mit den normativen Grundlagen der Synthese der Sozialen
Marktwirtschaft ist ein vielversprechender Weg, um konkrete Politikempfehlungen für
die erwähnten Probleme herzuleiten.
Bevor dies erläutert wird, sind jedoch einige Bemerkungen dazu nützlich, welche
Wirkung das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft in seiner sechzigjährigen Geschichte
entfaltet hat. Wo es die Realität der Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik
Deutschland geprägt hat, geschah dies oft auch in unintendierter Weise. Die Väter des
Leitbildes haben nicht antizipiert, dass die gesellschaftlichen Gruppen im Zeitablauf
lernen würden, sich der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft zur Rechtfertigung
ihrer Interessenverfolgung zu bedienen. Hierauf bezieht sich ja auch die allseits
beschworene Reformbedürftigkeit der sozialpolitischen Praxis in der Bundesrepublik.
Aus der Tatsache, dass ein solcher Lernprozess unvermeidlich ist müssen Lehren für die
zukünftige Interpretation der Sozialen Marktwirtschaft gezogen werden. Darüber hinaus
erfordert natürlich auch der tiefgreifende wirtschaftliche Wandel der letzten Jahrzehnte
eine Anpassung der Konzeption und mancher oder in den Anfangsjahren damit
verfolgten Intentionen.
III. 60 Jahre Soziale Marktwirtschaft – ein kollektiver Lernprozess
Am Beginn der Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik Deutschland stand eine
Vision. Nach nationalsozialistischer Diktatur und im Angesicht von Flüchtlingselend
und Kriegszerstörungen sollte etwas entstehen, das aus den Fehlern der Vergangenheit
die richtigen Schlüsse zieht. Dabei sollte gemeinsam realisiert werden, was in der
zeitgenössischen Sicht – anders als heute – keineswegs selbstverständlich
zusammengehörte. Der eine Teil war die privatwirtschaftliche Organisation der
Volkswirtschaft, die eine wohlstandserzeugende Dynamik über freie (aber gegen
Wettbewerbsbeschränkungen geschützte) Märkte entfalten sollte. Der andere Teil war
eine sozialstaatliche Sicherung von vielen, nicht zuletzt durch die Marktdynamik
bedingten Lebensrisiken und der Schutz der weniger Leistungsfähigen vor
Verelendung.
Vielen Liberalen schien das Versprechen der sozialstaatlichen Absicherung eine
politisch und moralisch unverzichtbare Akzeptanzvoraussetzung für die von ihnen
favorisierten freien Märkte (siehe etwa Röpke 1942). Die Akzeptanz war tatsächlich
alles andere als sicher. Von den noch lebendigen Erinnerungen an die
Massenarbeitslosigkeit der Weltwirtschaftskrise vor dem Kriege profitierten in der
politischen Debatte der Zeit eher die Anhänger sozialistischer Wirtschaftsformen. Die
Wirtschaft lag infolge des Krieges darnieder. Die alltäglich zu erfahrende Not legte
5
Eine große Ausnahme sind die Arbeiten von Amartya Sen und den Anhängern seines „capability
approaches”. Siehe Kuklys (2005) für eine Zusammenfassung.
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nicht unbedingt ein Schüren der Konkurrenz durch Privatinitiative anstelle von
staatlicher Planung nahe. Erst wenn auch die wirtschaftlich Schwächeren oder die in
Notlagen Geratenen am Erfolg der marktlichen Ordnung beteiligt werden könnten,
schien eine Zustimmung erreichbar. Faktisch war der Preis dafür eine bedingte,
staatliche Umverteilungsgarantie.
Im Rückblick hat sich die vom Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft geprägte
Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik über 60 Jahre allen Unkenrufen zum Trotz
als ungeahnt erfolgreich erwiesen. Dies sollte man auch bei aller Kritik, die aus dem
Blickwinkel der Neuen Politischen Ökonomik geübt wird, nicht übersehen. Die
Marktdynamik, die sie entfaltete, leistete nicht nur einen rasanten Wiederaufbau. Sie
ermöglichte auch einen heute schon fast vergessenen, umfangreichen Lastenausgleich
bei den Kriegsfolgekosten. Sie schuf die Grundlagen für ein Maß an Freiheit und
gesellschaftlicher Mobilität, die in der deutschen Geschichte ohne Beispiel sind
(Giersch, Paqué und Schmieding 1993). Sie bewältigte 40 Jahre später auch die
Wiedervereinigungslasten – wenn auch mit ungleich größeren Mühen.
Für jeden Einzelnen fühlbar, ging es mit dem Wohlstand bergauf, messbar an den
Konsumausgaben je Einwohner. Sie stiegen in der alten Bundesrepublik von Anfang
der 50er Jahre bis zur Wiedervereinigung real um mehr als das Vierfache (von jährlich
rund 4.000 auf 17.000 €, deflationiert in Preisen von 2009). Nach anfänglichem, vereinigungsbedingtem Rückgang ist dieses Niveau inzwischen – wenn auch mit
abnehmenden Zuwächsen – für Gesamtdeutschland wieder erreicht.
Was an sozialer Sicherheit gewonnen wurde, mag der folgende Vergleich verdeutlichen. Im Jahre 2009 waren durch Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe jedem
Einwohner im Falle der Bedürftigkeit ein Einkommen von 359 € netto je Monat sowie
freie Unterkunft, Heizung u.a. staatlich garantiert. Annähernd 10 % der Bevölkerung
nahmen diese Leistungen in Anspruch. Im Jahre 1951 waren einem Beamten im
einfachen Dienst (Bes.Gr. A 8a, heute A4, z.B. Hauptwachtmeister, Dienstaltersstufe 2)
ein Grundgehalt von 160 DM brutto je Monat sowie kleinere Gehaltszulagen staatlich
garantiert. Legt man den Verbraucherpreisindex der Bundesbank für einen
Kaufkraftvergleich zugrunde, so entsprechen 160 DM in 1951 gerade 357 € in realer
Kaufkraft in 2009 (160 x 4,363 / 1,95583). Ein solcher Beamter erfreute sich damals
also eines sicheren Bruttogrundgehalts, das heute netto dem ALG II entspricht, das
jedermann sicher ist.
Natürlich haben sich in den Jahren zwei Voraussetzungen fundamental verändert.
Erstens gibt es heute viele Dinge vom Fernseher über die Tiefkühlpizza bis zum
Mobiltelefon zu kaufen, die 1951 noch gar nicht als Konsumgüter existierten. Wo es
dem Beamten von damals nichts bedeutete, auf sie zu verzichten, weil er sie noch gar
nicht kannte, ist das für einen Arbeitslosen oder Sozialhilfeempfänger heute anders. Da
wir inzwischen gelernt haben diese Dinge zu schätzen, schmerzt es, wenn man sie sich
verkneifen muss. Zweitens ist unser subjektives Wohlbefinden, wie die einschlägigen
Forschungen immer wieder belegen, nicht von der absoluten, sondern der relativen
Höhe unserer Konsummöglichkeiten abhängig. Und in dieser Hinsicht stand der Beamte
im einfachen Dienst 1951 relativ gut da. Er galt mancher Zeitgenossin als „gute Partie”.
Von Arbeitslosen oder Sozialhilfeempfängern heute kann man gleiches nicht sagen.
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Diese beiden Beobachtungen werfen ein Schlaglicht darauf, wie Wünsche und
Ansprüche mit dem Wohlstand ko-evolvieren – eine wichtige Einsicht, auf die zurück
zu kommen sein wird.
Ko-evolution hat sich in den vergangenen 60 Jahren freilich auch noch anders
ausgedrückt, nämlich in der Instrumentalisierung der Sozialen Marktwirtschaft für
korporative Interessen (Streeck 1993; Oberender und Okruch 1997; Kerber und Hartig
1999; Witt 2002 um nur einige Stimmen zu nennen). Die Lohnfindung unterlag der
Tarifautonomie und damit dem strategischen Verhalten der Tarifparteien. Dieses
evolvierte in Wechselwirkung mit der zunehmenden Neigung der Öffentlichkeit, die
Verantwortung für Wachstum und Vollbeschäftigung nicht den Tarifparteien, sondern
der Regierung zu übertragen. Eucken (1952, Kap. 9) hatte Massenarbeitslosigkeit wie in
der Depressionszeit als nicht tolerierbar angesehen. Sein Rezept war jedoch die
Intensivierung des Wettbewerbs zu deren Vermeidung. Regierungsinterventionen nach
keynesianischem Muster waren für ihn als Teil der „Prozesspolitik“ unvereinbar mit
einer ordo-liberalen Wirtschaftsverfassung. In den 1970er Jahren wurde dieses
Verständnis in der Debatte um Globalsteuerung, konzertierte Aktion und das
„Stabilitätsgesetz“ aufgeweicht. Die Anhänger der Ordnungsökonomik spalteten sich in
die, welche die reine Lehre vertraten (z.B. Hoppmann 1973; Tuchtfeldt 1973) und jene,
die Ordnungsökonomik auch ohne fiskalpolitische Abstinenz für möglich und sinnvoll
hielten (z.B. Schlecht 1968).
Hier war in der Politik ein Entdeckungsprozess (oder vielleicht besser:
Imitationsprozess) im Gang. Er hatte seine Impulsgeber in der zeitgenössischen
angelsächsischen, wirtschaftstheoretischen Debatte (Schüller 2005). Die Öffnung für die
Prozesspolitik war nicht bloß effizienzorientiert, sondern auch sozial motiviert – der
Bekämpfung von Arbeitslosigkeit dienend – und fand damit im weiten Mantel der
Sozialen Marktwirtschaft auch noch Platz. Diese Umdeutung hat viel dazu beigetragen,
dass die Gewerkschaftsbewegung in Deutschland ihren Frieden mit der
Ordnungsökonomik bzw. deren abgespaltenem Teil machen konnte (Bieber 1986). Der
Grund liegt im Rückblick auf der Hand: Durch Tarifautonomie einerseits und
regierungsamtliche Vollbeschäftigungsgarantie andererseits war faktisch genau der
Bereich aus der wettbewerblichen Ordnung der Märkte herausgenommen worden, in
dem sich der Preis der Arbeit bildete.
Gemessen am Anspruch der neuen Politikkonzeption waren die praktisch-politischen
Folgen kontraproduktiv – und doch in der Öffentlichkeit wenig beanstandet. Das
institutionelle Nebeneinander von wettbewerblichen Produkt-, Dienstleistungs- und
Kapitalmärkten, von wohlfahrtsstaatlicher Absicherung der Lebensrisiken, v.a.
bezüglich der Arbeitslosigkeit und von einer korporatistischen Ordnung der
Arbeitsmärkte, führte zu dem, was gerade verhindert werden sollte: der Rückkehr der
Massenarbeitslosigkeit (siehe Abbildung 1). Die Tarifparteien hatten klare Anreize, sich
in ihren (legal verbindlichen) Zentralverhandlungen zu Lasten der Allgemeinheit zu
einigen. Die vereinbarten Lohnerhöhungen, v. a. für geringer qualifizierte
Arbeitnehmer, führten in den Arbeitsmärkten zu einem Angebotsüberhang – sprich
Arbeitslosigkeit. Die Befürworter des Junktims von Tarifautonomie und
Vollbeschäftigungsgarantie ignorierten den Zusammenhang.
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Die qualitative Veränderung der Wirtschaftsordnung zeigte sich in aller Deutlichkeit
im Moment der deutschen Wiedervereinigung. Die gewandelte Praxis der Sozialen
Marktwirtschaft war in diesem Moment wieder einer Herausforderung ausgesetzt, die
jener der Nachkriegsjahre vergleichbar war. Anders als in jenen Aufbaujahren in
Westdeutschland gelang es nun nicht mehr, in den Neuen Ländern ein sich endogen
entfaltendes „Wirtschaftswunder“ in Bewegung zu setzen. Was auf dem hohen Niveau
von Kapitalausstattung, Know-how, und Pro-Kopf-Einkommen in den alten Ländern
schon eine hohe, subventionierte Arbeitslosigkeit erzeugte, führte in den Neuen Ländern
zu einer wahren Massenarbeitslosigkeit (siehe Abbildung 1). Dass es nach 20 Jahren in
den Neuen Ländern einen bescheidenen Wohlstand gibt, ist in erster Linie einer
Transferpolitik zu verdanken. Sie resultiert in manchen Landstrichen dort in einer
Fürsorgeerwartung, die die Wiedervereinigungsfolgen pauschal als ein sozialstaatlich
abzusicherndes Lebensrisiko begreift. Die entsprechende massenhafte Vermehrung der
Bedürftigkeitsfälle hat ihren Preis. War in Friedenszeiten das verfügbare Pro-KopfEinkommen im Westen Deutschlands historisch i.d.R. höher als in Österreich und der
Schweiz, so ist es seit der Wiedervereinigung nun unter das dortige Niveau gesunken.
Abbildung 1: Arbeitslosenquote BRD und Neue Länder 1950-2011
Die Anhänger der ordo-liberalen Lehre haben sich im politischen Ringen um
Sinngebung und Einfluss also zunehmend weniger durchsetzen können. Die Soziale
Marktwirtschaft mit einem keynesianisch gefärbten Liberalismus (d.h. einem der keine
fiskalpolitische Abstinenz kennt) und gut dotiertem Fürsorgebudget erfreut sich
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dagegen einer erstaunlich breiten Zustimmung und entsprechender demokratischer
Legitimität (Bertelmann-Stiftung 2010). Wie ist dies in Anbetracht der an sich
ernüchternden Bilanz möglich? Man sollte diese Frage ernst nehmen und in die
Reflexion über die Zukunft der Ordnungsökonomik einbeziehen. Offenbar haben
Gerechtigkeits- und Fairnessgedanken gegenüber reinem Effizienzdenken in der
politischen Öffentlichkeit in Deutschland einen beträchtlichen Stellenwert. Selbst wenn
man dazu neigt, dies als ideologische, von den Medien geschürte Verkennung des
Eigeninteresses durch die Mehrheit zu interpretieren, wird das Faktum damit nicht aus
der Welt geschafft.
Man kann den hohen Stellenwert ja durchaus auch als etwas Positives sehen, nämlich
als Reflex menschlicher Empathie und Solidarität: Die Produktivität, die freie
Wettbewerbsmärkte erzeugen, ist ein Segen. Aber was ist mit denen, die nicht genug
leisten können oder die Pech hatten und unverschuldet in eine Notlage geraten? Sie
würden an dem Segen nicht teilhaben. Diese Sicht führt nah an Müller-Armacks Irenik
heran. Unter solchen Vorzeichen werden die Ordnungsökonomen der „unmöglichen”
Synthese etwas abgewinnen müssen, wenn sie im Ringen um Sinngebung und Einfluss
aus der Defensive kommen will. Dies gilt umso mehr, als das Wohlwollen in der
Öffentlichkeit gegenüber sozialen Anliegen begünstigt wird durch das – im historischen
Vergleich auch in der Breite – hohe Wohlstandsniveau. Es wäre ihrem
Selbstverständnis nach die Aufgabe der Ordnungsökonomik, die Ordnung zu
konzipieren, die den Missbrauch von Empathie und Solidarität – ob billigend in Kauf
genommen, vorsätzlich oder nur fahrlässig verursacht – in tragbaren Grenzen hält.
IV. Die Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte
Halten wir also fest: Was Deutschland in sechs Jahrzehnten mit der Vision der
Sozialen Marktwirtschaft erreicht hat, ist trotz vieler Verwässerungen der
ursprünglichen Konzeption beachtlich und verdient im historischen Vergleich alle
Wertschätzung. Dessen ungeachtet ist ein Überdenken der Vision nötig. Was angesichts
der wirtschaftlichen Not und der Zerstörungen nach dem Kriege richtig war, ist nach 60
Jahren Wirtschaftswachstum nicht unbedingt immer noch angemessen. Dies gilt schon
weil Gerechtigkeit und Verteilungsprioritäten in einer so prosperierenden Gesellschaft
wie heute einer anderen Interpretation bedürfen. Noch mehr ist ein Überdenken jedoch
gefragt, damit aus der Sozialen Marktwirtschaft eine Vision wird, die auch angesichts
der sich auftürmenden Zukunftsprobleme noch die Integration von freiheitlichen und
sozialen Wertvorstellungen für die praktische Politik leisten kann.
So bequem es scheint, die tradierte Praxis der Sozialen Marktwirtschaft einfach
fortzuschreiben und dabei auf wachstumsgespeiste Umverteilungsspielräume zu setzen,
so fahrlässig wäre es. Vergleichbare Zuwächse wie in der Vergangenheit sind alles
andere als gesichert. Es gibt Indizien und plausible Gründe, die darauf hindeuten, dass
im Durchschnitt mit weniger Wachstum als in der Vergangenheit zu rechnen ist.
Exponentielles reales Wachstum (d.h. konstant hohe Wachstumsraten) kann es auf
Dauer nicht geben; je reicher eine Wirtschaft schon ist, umso wahrscheinlicher werden
die Wachstumsraten abnehmen. Tatsächlich zeigen die Wachstumsraten des
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preisbereinigten Bruttoinlandprodukts je Einwohner vom Beginn der Bundesrepublik an
einen klaren Abwärtstrend (siehe Abbildung 2, die den Trend durch eine einfach lineare
Regressionsgerade wiedergibt).
Weiter deuten sich wirtschaftliche Veränderungen an, die unabhängig von einer
reinen Trendextrapolation mittelfristig auf eine wachstumsdämpfende Wirkung
schließen lassen. Da ist zum einen der absehbare Bevölkerungsrückgang und das
zunehmende Durchschnittsalter der Bevölkerung. Unter sonst unveränderten
Voraussetzungen führen solche Prozesse immer zu geringeren Zuwächsen der
Wirtschaftsleistung. Zum anderen werden sich wichtige Ressourcen (Rohstoffe und
Energie) und die Inanspruchnahme der natürlichen Umwelt für wirtschaftliche Zwecke
deutlich verteuern, wenn das exponentielle Wirtschaftswachstum in den
bevölkerungsreichen Schwellenländern weiter anhält. Sinken Ressourcenintensität und
Umweltverbrauch von Gütern und Dienstleistungen nicht schneller als die weltweite
Ressourcennachfrage steigt, werden die Preissteigerungen unvermeidlich das Wachstum
dämpfen.
Abbildung 2: Wachstumsraten BIP/Einwohner 1951 - 2003 (preisbereinigt)
Früher oder später werden sich die Folgen der stürmischen Entwicklung der
Schwellenländer auch auf die internationale Arbeitsteilung auswirken. Zwar profitiert
Deutschland mit seiner starken Exportwirtschaft derzeit überproportional von deren
Wachstum, doch ist diese Situation längerfristig nicht stabil. Die deutsche Nische in der
internationalen Arbeitsteilung wird sich in den nächsten Jahrzehnten verengen.
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Abgesehen von wechselkursbedingten Verwerfungen im Zusammenhang mit dem EuroExperiment beruht die starke Exportstellung hauptsächlich darauf, dass ein großer Teil
der inländischen Erwerbstätigen im internationalen Vergleich Qualifizierungsvorteile
hat. Diese Vorteile ermöglichen das hohe Innovationstempo in Deutschland und die
Fähigkeit, z.B. im Fahrzeugbau, Maschinenbau, in der Elektrotechnik und der Chemie
mit wissensintensiven Spezialangeboten den Weltmarkt zu bedienen. Darüber hinaus
kann unsere Industrie deshalb die lukrativen Teile der Wertschöpfungskette –
Forschung und Entwicklung, Management, Marketing, kundenbezogene Einzelfertigung
– weitgehend im Inland halten, während weniger Qualifikation erfordernde und weniger
werthaltige Herstellungsprozesse in Niedriglohnländer verlagert werden.
Die Qualifizierungsvorteile schwinden jedoch in dem Maße, in dem die jetzigen
Niedriglohnländer – allen voran China mit seiner merkantilistischen Förderpolitik wie
einst im Preußen des 19. Jahrhunderts – die riesigen Intelligenzpotentiale ihrer
Bevölkerung erschließen. Selbst wenn es gelingt in Deutschland den Bildungsaufwand
noch zu steigern, werden die jetzigen Innovationsvorsprünge deshalb schwer zu halten
sein. Hochqualifizierte Arbeitnehmer und Unternehmer in jenen Ländern werden dann
zunehmend auf den Weltmärkten gerade auch in den Nischen konkurrieren, die
gegenwärtig eine deutsche Domäne sind. Marktanteile werden wie in den vergangenen
Jahrzehnten schon gegenüber Japan, Taiwan und Korea verloren gehen und mit ihnen
Erlös- und Einkommensteile. Bei einer solchen Nivellierung ist es auch nicht mehr
auszuschließen, dass Teile der jetzt ausgelagerten industriellen Fertigung mit geringerer
Produktivität und Wertschöpfung nach Deutschland zurückkehren werden.
Ein weiteres Problem, das in seiner Dimension gerade erst erfahrbar wird, stellen die
Unwägbarkeiten dar, die mit einer weiteren europäischen Integration verbunden sind.
Die zukünftigen finanziellen Belastungen sind vom Umfang her schwer einzuschätzen,
können aber auch nicht einfach gleich Null gesetzt werden. Dies gilt erst recht, falls die
Sozialstaatsidee, die der Sozialen Marktwirtschaft zugrunde liegt, europaweit Geltung
erlangen sollte. Die institutionellen und mentalen Voraussetzungen, die eine
Ausbeutung des Fürsorgegedankens durch eigennützige Partikularinteressen
einzudämmen in der Lage sind, könnten in Europa nicht unterschiedlicher entwickelt
sein.
Schließlich ist das Problem zu lösen, dass die wirtschaftliche Basis des derzeitigen,
historisch unübertroffenen Wohlstands nicht nachhaltig ist. Diese Hypothek stellt eine
langfristige, kostspielige Herausforderung dar. Die Gewöhnung an (nicht-nachhaltig)
steigende Einkommen hat in der Vergangenheit Begehrlichkeiten geweckt. Zugleich
wurde das früher so bedeutende Anliegen der Zukunftsvorsorge geschwächt, was sich
u.a. in einer hohen privaten Verschuldungsneigung äußert. Die Einstellung ihrer
Wählerschaft antizipierend haben sich – allen deutlichen Hinweisen auf ein
nachlassendes Wachstum zum Trotz – die politischen Kreise nicht nur in der
Bundesrepublik unisono auf einen fast naiven Wachstumsglauben eingeschworen. Den
– wie erwähnt – notwendig rückläufigen Wachstumsraten zum Trotz, wird mit
expansiver Geld- und Fiskalpolitik versucht ein höheres Wachstum zu erzwingen. Aber
wo die realwirtschaftlichen Grundlagen eine stärkere Ausweitung der Produktion und
der Beschäftigung nicht hergeben, bewirken diese Maßnahmen nur eine monetäre
Ordnungsökonomik und Soziale Marktwirtschaft in Bedrängnis
171
Aufblähung, zunehmende staatliche Verschuldung und am Ende eine umso tiefere
Rückzahlungskrise.
Wenn Wissenschaft die Aufgabe hat, die Gesellschaft für Eventualitäten zu
wappnen, dann müssen Szenarien eines abnehmenden Wirtschaftswachstums – und
damit abnehmender Verteilungsspielräume – in eine solide Vision für die zukünftige
Soziale Marktwirtschaft einbezogen werden. Welche Rolle spielt ordo-liberales Denken
in dieser Vision? Wie werden sich sozialstaatliche Ansprüche und Möglichkeiten
zueinander verhalten und welche Lehren sind aus den kollektiven politischen
Lernprozessen zu ziehen, die einerseits zur politischen Akzeptanz der Sozialen
Marktwirtschaft seitens der Gewerkschaftsbewegung beigetragen haben, andererseits
aber das Einfallstor für korporative Interessenpolitik sind?
Was die ordo-liberale Idee angeht, wird sie mit ihrer Devise „staatliche
Rahmensetzung statt Detailsteuerung” auch unter solchen Bedingungen große Relevanz
beanspruchen können. In der Tagespolitik ist unter dem Druck der Interessengruppen
die Versuchung zum Detaileingriff immer groß. Wirtschaftssubventionen sind ein
Beispiel – und eine Schattenseite der Realität der Sozialen Marktwirtschaft. Die großen
Herausforderungen, die sich gerade im Umweltbereich stellen, sind, wie die
Energiepolitik zeigt, keine Ausnahme. Verschwenderische Subventionen, erst für die
Steinkohle und für die Einführung der Nuklearenergie und jetzt für erneuerbare
Energien, erweisen sich im Rückblick stets als Fehler. Sie lassen die Findigkeit der
wirtschaftlichen Akteure eher erlahmen, als dass sie Anreize setzen, sich auf eine
riskante Suche nach Verbesserungen zu machen. Eine sinnvolle Setzung von
Rahmenvorgaben seitens der Regierung und Enthaltsamkeit in der Detailsteuerung
könnte hier mehr bewirken.6 Deshalb wäre etwa in der Energiepolitik eine wirklich
konsequente Besteuerung durch Versteigerung von handelbaren und sukzessive
knapperen Emissionsrechten je erzeugter Energieeinheit unstrittig besser für die
Durchsetzung erneuerbarer Energietechnologie als die derzeitigen Subventionen.7
6
7
Der politische Wettbewerbsprozess hat auch neue Optionen erschlossen, die ursprünglich im ordoliberalen Konzept nicht vorgesehen waren, aber mit diesem kompatibel sind. Dazu gehören
regierungsseitige Hilfen bei Moderation und Koordination von Informationsflüssen, wie es in Japan
erfolgreich durch das MITI praktiziert wurde und wird (siehe z.B. Fransmann 1999). Dies ist vor
allem nützlich, wenn es um systemische Problemlösungen geht (wie etwa der „Faktor 4“ –
Materialreduktionsinitiative, siehe von Weizsäcker et al. (1997)). Hier kann ohne jeden
wettbewerbsverzerrenden Markteingriff durch Informationsermittlung und -vermittlung über neue
ressourcensparende Technologien und Produkte viel bewirkt werden.
Der Handel von Emissionszertifikaten soll hier auch deshalb erwähnt werden, weil das ordo-liberale
Votum für freie Märkte eigentlich nur dann Geltung beanspruchen kann, wenn der Preismechanismus
die „richtigen“ – die wirklichen sozialen Kosten widerspiegelnden – Preisrelationen verarbeitet.
Davon sind wir weit entfernt. Der beliebte Verweis auf ein analoges Politikversagen entlastet die
Anhänger eines sich selbst überlassenen Preismechanismus nicht.
172
Ulrich Witt
V. Ordnungsökonomik und die Frage der Besteuerung in der
„Sozialen Marktwirtschaft” – ein konkreter Vorschlag
Wenn das Wirtschaftswachstum weiter zurück geht, dann wird weniger der
ordnungspolitische Teil der Vision der Sozialen Marktwirtschaft davon betroffen sein.
Es wird vielmehr die soziale Komponente in Mitleidenschaft gezogen werden, also die
sozial-staatliche Sicherung von Lebensrisiken. Sozialpolitiker geht das unmittelbar an –
aber es sollte auch Ordnungspolitiker beunruhigen, von denen viele heute schon eine
Krise des Sozialstaats sehen. Es geht darum, eine ordnungskonforme Finanzierung
sozialstaatlicher Fürsorge zustande zu bekommen, obwohl Ansprüche und
wachstumsgebundene Möglichkeiten noch weiter auseinander driften werden. Einfach
nur mit Hayek den Sinn des Terms „sozial“ in Frage zu stellen und damit implizit den
Ansprüchen ihre Legitimität abzusprechen, würde dagegen auf eine Diskreditierung der
Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft hinauslaufen.
Was ernst zu nehmen ist, ist die Frage der Fehlanreize, die durch die gegenwärtig
praktizierte Gesamtordnung entstehen. Bei näherer Analyse erweisen sich manche der
Fehlanreize als nicht intendierte Nebenwirkung sozialer Errungenschaften. So hat die
Entlastung von Individuum und Familie von vielen Lebensrisiken – ein Kernbestandteil
der Sozialstaatsidee – ihre Kehrseite. Sie hat beides, die Anreize zur individuellen
Risikovorsorge und die Familie als Risiko- und Fürsorgegemeinschaft, geschwächt. Das
Allzeithoch an Freizeit und Konsummöglichkeiten und die Anpreisung des Konsums in
der allgegenwärtigen kommerziellen Werbung haben die Vorsorgemotivation in den
Hintergrund gedrängt. Die Folge ist, dass die Eintrittswahrscheinlichkeit des
Fürsorgefalls, für den die kollektive Absicherung einzustehen hat, tendenziell zunimmt.
Der Grund ist schlicht, dass die eigene Vorsorge nicht ausreicht oder fehlt. So nimmt
die Inanspruchnahme der Gesellschaft für die von ihr gesicherten Lebensrisiken
ungewollt zu.
Von der Finanzierungsseite her ist dieser Trend problematisch, nicht nur, weil bei
geringerem Wachstum die Umverteilungsspielräume abnehmen. Auch die ZahlerEmpfänger-Relation wird sich infolge einer alternden Bevölkerung verschlechtern. Im
Falle einer Rückkehr der industriellen Niedriglohnfertigung nach Deutschland würde
darüber hinaus die Lohnspreizung zunehmen. Im unteren Teil der
Einkommensverteilung können die Lohneinkommen dann so weit sinken, dass objektiv
ein Fürsorge- und damit Transferbedarf entsteht. Wie können die Weichen gestellt
werden, so dass auch bei weniger Wachstum die sozialstaatliche Sicherung nicht in eine
Finanzierungskrise gerät? Eine Politik, die nur abwartet, ob die Krise eintreten wird und
dann gegebenenfalls die sozial-staatlichen Garantien sukzessive einsammelt, setzt die
Soziale Marktwirtschaft und damit auch ihre Integrationsleistung aufs Spiel.
Bei enger werdenden Finanzierungsspielräumen liegt das öffentliche Augenmerk
zumeist zuerst auf einer Ausgabenkontrolle. Wie jedem Managementberater bekannt ist,
kann Ausgabenkontrolle pro-aktiv durch vorbeugende Maßnahmen oder re-aktiv durch
Ausgabenkürzungen durchgesetzt werden. Für die politische Akzeptanz der Sozialen
Marktwirtschaft – und damit auch des ordo-liberalen Tandems – wäre es wichtig, diese
Einsicht auch auf die Sozialpolitik anzuwenden und pro-aktiv Fürsorgespielräume zu
Ordnungsökonomik und Soziale Marktwirtschaft in Bedrängnis
173
schaffen. Dazu muss das Entstehen von Ausgabenbedarf vorbeugend beeinflusst
werden, also die Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Fürsorgefall eintritt. Dies kann
dadurch geschehen, dass man verstärkt versucht, die Fähigkeiten der im freien
Wettbewerb nicht ausreichend Leistungsfähigen zu fördern. Diese komplexe
Problematik soll hier jedoch nicht angeschnitten werden. Die noch wichtigere Strategie
ist, durch Stärkung der individuellen Vorsorge und Ersparnis dafür zu sorgen, dass
Umfang und Häufigkeit der Inanspruchnahme der Gesellschaft für eingetretene
Lebensrisiken geringer werden.
Ordnungskonform wäre es, wenn Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensumfang
durch das eigene Verhalten gesenkt würden, also durch mehr individuelle
Risikovorsorge. Einer solchen Strategie stehen allerdings die inhärenten Fehlanreize
einer Kollektivversicherung (das „moral hazard“-Problem) im Wege, die die
Risikovorsorge von Individuum und Familie schwächen. Änderung kann nur erwartet
werden, wenn es gelingt, die Vorsorgemotivation zu Lasten der Konsummotivation zu
stärken. Eine konkrete Möglichkeit, dies in einer bezüglich der ordo-liberalen
Konzeption kongenialen Weise zu erreichen, bietet sich mit anderen als den klassischen
Mitteln der ordo-liberalen Wirtschaftspolitik, nämlich der Fiskalpolitik. Die
Ordnungsökonomik Eucken-Böhmscher Prägung steht einer Instrumentalisierung der
Fiskalpolitik zur Erreichung von Stabilisierungszielen als einem Fall von Prozesspolitik
bekanntlich ablehnend gegenüber. Die spätere Spaltung in dieser Frage wurde oben
erwähnt. Erstaunlicherweise sind jedoch (anders als die Geld- und Währungspolitik) die
allokative Fiskalpolitik und die Steuerpolitik ebenfalls großenteils aus der Betrachtung
ausgeklammert worden.8 Die Anreizwirkungen der Besteuerung haben jedoch
beträchtliches ordnungsökonomisches Potential.
Tatsächlich zielt der nachfolgende Vorschlag darauf ab, dieses Potential zu nutzen.
Es gilt das Doppelproblem aus heutigen Fehlanreizen und sich abzeichnenden
zukünftigen Finanzierungsengpässen in der staatlichen Fürsorge simultan zu lösen. Das
kann durch eine ordnungskonforme Umgestaltung des Steuersystems und den damit
verbundene Veränderung der Anreizstrukturen geschehen. Gegenwärtige Praxis ist es,
je nach festgestellter Fehlentwicklung und aktueller Kassenlage, mittels einer Vielzahl
wenig koordinierter Detaileingriffe nachzuregeln – Prozesspolitik pur. Dies wäre nach
bisherigen Erfahrungen erst recht zu erwarten, wenn die Fürsorgeaufgabe künftig einer
europaweit und damit notwendig noch bürokratischer agierenden Administration zu
übertragen wäre. Die hier vorzuschlagende Problemlösung setzt mit der Umgestaltung
der Besteuerung dagegen an den Rahmenbedingungen an. Innerhalb des einmal
veränderten steuerlichen Rahmens können sich die individuellen Anpassungen an die
Notwendigkeiten dann nach den individuellen Prioritäten der Wirtschaftsteilnehmer
vollziehen.
Eine sinnvolle Umgestaltung muss dazu führen, dass die Finanzierbarkeit der
sozialstaatlichen Fürsorge nachhaltig gesichert werden kann. Zugleich soll sie Umfang
und Häufigkeit reduzieren, mit der eingetretene Lebensrisiken gesellschaftliche
8
Siehe Eucken (1952). Dabei ist die Ausgestaltung der Ausgabenpolitik entscheidend für die durch eine
Wirtschaftsordnung bereitgestellten öffentlichen Güter und die Ausgestaltung der Steuerpolitik für
Effizienz, Wohlfahrt und Verteilung.
174
Ulrich Witt
Fürsorge nötig machen. Beide Ziele sind durch eine Umschichtung auf der
Finanzierungsseite der sozialstaatlichen Fürsorge erreichbar, die letztlich die
vorgelagerten, individuellen Vorsorgeaktivitäten und -fähigkeiten verbessert. Derzeit
werden Sozialabgaben und Teile der Einkommenssteuer zur Finanzierung
herangezogen. Sie werden von immer weniger Erwerbstätigen aufgebracht werden
müssen. Weiter wird mit der gegenwärtigen Finanzierung die Einkommensentstehung
belastet. Das senkt den Anreiz zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit und vermindert
Spielräume für Sparen und Vermögensbildung. Im Gegensatz dazu sollte die Belastung
von der Einkommensentstehungsseite auf die Seite der Einkommensverwendung
umgeschichtet werden. Dies kann geschehen, indem Sozialabgaben und
Einkommenssteuer gestrichen und im gleichen Aufkommensumfang die Besteuerung
des Konsums erhöht wird. Damit entsteht ein Anreiz zum Vertagen von Konsum, d.h.
zur Vermögensbildung. „Verbrauchen” wird gegenüber dem „Vorsorgen” kostspieliger.
Eine Besteuerung des Konsums anstelle der Einkommen ist in der Literatur häufig
diskutiert worden. Eine Umsetzung wurde jedoch selten versucht. Sie hat auch wenig
Aussicht auf Akzeptanz, solange der Konsum durch eine Verbrauchs-, Umsatz- oder
Mehrwertsteuer mit einem einheitlichen Steuersatz belastet wird (Gelegentlich finden
sich auch ein oder zwei ermäßigte Sätze für besondere Tatbestände). Auf dieser
Grundlage ein Steueraufkommen zu erzielen, das dem der Einkommenssteuer
entspricht, würde einen sehr hohen einheitlichen Steuersatz erfordern (mehr als eine
Verdopplung gegenüber dem gegenwärtig in der Bundesrepublik geltenden
Mehrwertsteuersatz). Da aus hohen Einkommen vergleichsweise unterproportional
mehr konsumiert wird, würde ein einheitlicher Konsumsteuersatz bezogen auf die
Einkommen faktisch einer regressiven Grenzbesteuerung gleich kommen. Anders
ausgedrückt: Je niedriger das Einkommen, umso höher wäre der Einkommensanteil, der
für Steuern aufzubringen wäre. Dass dies, anstelle der gegenwärtigen, progressiven
Einkommensbesteuerung politisch durchzusetzen wäre, scheint schwer vorstellbar.
Ein einheitlicher Steuersatz auf den Konsum (wie bei der Umsatzsteuer) mit
besagtem degressiven Effekt ist jedoch nicht die einzige Möglichkeit. Eine
Konsumsteuer kann auch progressiv ausgestaltet werden. Wer viel konsumiert, zahlt
dann überproportional mehr Steuern. Auch diese Idee ist nicht neu. Sie findet sich (für
andere Zwecke vorgeschlagen) schon bei Friedman (1943). Dazu muss sie allerdings,
anders als die Umsatzsteuer, ad personam vom Konsumenten erhoben werden.
Steuertechnisch ist das weit weniger kompliziert als es scheinen mag – kein Finanzamt
bräuchte dazu vergrößert zu werden. Dem Vorschlag von Frank (1997) entsprechend
wäre wie bisher eine Einkommenserklärung nötig. Als neue Maßgabe würden dann alle
nachweisbaren, nicht-konsumptiven Aufwendungen vom Einkommen abgezogen und
der verbleibende Betrag als Besteuerungsgrundlage einem progressiven Tarif
unterworfen.
Dies kann ohne Probleme auch in einer so offenen Volkswirtschaft wie der
deutschen funktionieren, ohne dass sich (neue) Möglichkeiten der Steuervermeidung
oder
-flucht
ergeben.
Eine
Einkommensbesteuerung
müsste
lediglich
für
Einkommensempfänger mit Wohnsitz außerhalb des Steuergebiets beibehalten werden.
Ordnungsökonomik und Soziale Marktwirtschaft in Bedrängnis
175
Es ist aber klar, dass eine so tiefgreifende Umstellung der Besteuerung nicht
unerhebliche technische Implementierungsprobleme zu lösen hätte. Vermutlich wäre sie
deshalb besser in Form einer stufenweisen Migration der Einkommensbesteuerung in
eine Konsumbesteuerung zu organisieren. Diese praktischen Probleme brauchen an
dieser Stelle jedoch nicht diskutiert zu werden. Wichtig ist zunächst, den Vorschlag als
eine ordnungsökonomisch sinnvolle, konkrete Antwort auf die zukünftigen
Herausforderungen in die öffentliche Politikdebatte einzuführen.
Eine Anpassung des privaten Konsums an eine progressive Konsumsteuer kann
vorübergehend einen negativen Beschäftigungseffekt haben, wenn er nicht durch eine
entgegen gerichtete Steigerung der privaten Investitionen kompensiert wird. Wegen des
bevölkerungsbedingt mittelfristig weiter rückläufigen Arbeitsangebotes braucht daraus
jedoch keine erhöhte Arbeitslosigkeit zu erwachsen. Auch das gesellschaftliche
Wohlfahrtsniveau braucht durch die Umstellung von einer progressiven
Einkommensbesteuerung zu einer progressiven Konsumsteuer nicht zu sinken. Im
Gegenteil, den mittelfristigen individuellen Konsumeinbußen steht langfristig eine
Sicherung des Konsums durch Vermögensaufbau gegenüber, der später
wohlfahrtssteigernd wirkt. In der Gegenwart wird ferner besteuerter Konsum durch
einen vermehrten nicht-besteuerten Konsum substituiert, z.B. von selbsterzeugten
Gütern oder von Familienglück (was vielleicht sogar das generative Verhalten positiv
beeinflusst und an der demographischen Front hilft).
Konkret hängt die „Wohlfahrt“, die wir erleben, ja ohnehin davon ab, was wir zu
schätzen gelernt haben – wie der Vergleich von Beamtengehalt 1951 und ALG II heute
deutlich gemacht hat. Wenn in Zukunft das Innovationstempo bei den Konsumgütern
wegen eines veränderten Konsumverhaltens weniger hoch sein sollte, werden wir das
nicht als entgangene Wohlfahrt erleben. Was nicht da ist, lernen wir nicht zu schätzen –
und vermissen es infolgedessen auch nicht (Witt 2001). Auch die zweite Einsicht aus
dem obigen Vergleich ist für die Wohlfahrtswirkung einer progressiven Konsumsteuer
wichtig. Subjektives Wohlbefinden hängt stark von der relativen Höhe der
Konsummöglichkeiten ab. Lassen höhere Konsumausgaben den relativen Status
unverändert, weil jeder mehr ausgibt, verbessert sich die individuelle Wohlfahrt deshalb
nicht notwendig. Die Gleichung „höhere Konsumausgaben gleich höhere individuelle
Wohlfahrt“ gilt dort nicht, wo steigende Konsumausgaben zum Mittel von
Statuswettläufen werden, bei denen sich im Durchschnitt niemand besser stellen kann
(Frank 1997). Eine progressive Konsumsteuer macht Konsumausgaben als Mittel von
Statuswettläufen unattraktiver und kann dadurch helfen, nutzlosen Ressourcenverzehr
einzudämmen (was indirekt das Wohlfahrtsniveau langfristig erhöht).
VI. Fazit
Die vorgetragenen Überlegungen kreisten um eine Frage, die die
Ordnungsökonomen von heute stärker beschäftigen sollte: Was wird aus der Sozialen
Marktwirtschaft? Der Hintergrund sind die sich für die Zukunft abzeichnenden,
massiven Finanzierungsprobleme. Das derzeitige Credo der praktischen Politik ist, in
erster Linie auf die Hoffnung auf mehr Wirtschaftswachstum zu setzen. Ansonsten wird
176
Ulrich Witt
mit einer Fülle von Detailregelungen nach- und gegenzusteuern versucht, als wäre
Enthaltsamkeit bei der „Prozesssteuerung“ eine noch nie gehörte Norm. Die
vorhersehbaren (und von der Ordnungsökonomik prognostizierten) Konsequenzen sind
mehr statt weniger Bürokratie, Inkonsistenzen und Effizienzverluste, rent seeking und
windfall profits. (Ein vielsagendes Beispiel ist die Subventionierung der sog.
Riesterrente, um Anreize für eine Vermögensbildung zu geben.)
Vor allem aber ist die Kurzsichtigkeit der Strategie besorgniserregend angesichts der
Tatsache, dass sich die Indizien für ein zukünftig weiter deutlich abnehmendes
Wirtschaftswachstum mehren. Es wird dann nicht mehr möglich sein, gleichzeitig wie
bisher namhaft mehr Ressourcen für alles bereit zu stellen: für den privaten Konsum, für
wohlfahrtsstaatliche Umverteilung, für die Beseitigung von Umweltbelastungen, für den
Umbau der Wirtschaft in Richtung auf mehr Nachhaltigkeit, für europapolitische
Aufwendungen und schließlich für mögliche militärische Mehraufwendungen, die bei
relativ zurückgehender Wirtschaftsmacht geopolitisch notwendig sein könnten.
Wichtig scheint es unter diesen Vorzeichen, den wissenschaftlichen Diskurs über die
Wechselbeziehung von Ordnungsökonomik und Sozialer Marktwirtschaft unter neuen
Vorzeichen wieder aufzunehmen und in die Öffentlichkeit zu tragen. Bei endlichen
Wachstumsprozessen kann ein materieller Mehrkonsum nicht unbegrenzt aufrecht
erhalten werden. Die Einsicht, dass Wünsche und Ansprüche mit dem Wohlstand koevolvieren, sollte jedoch die Bedeutung relativieren, die das Fehlen weiterer, großer
Zuwächse des privaten Konsums hat – vor allem bei einem ohnehin schon historisch
ungeahnt hohen durchschnittlichen Konsumniveau. Aufgabe des politischen Diskurses
ist es, gesellschaftliche Akzeptanz dafür zu schaffen, dass Änderungen in der
Verwendung der knapper werdenden Mittel und eine Umgestaltung der sozialstaatlichen Finanzierung anstehen. Wenn dies gelingt, wird die Marktwirtschaft nicht
viel wirtschaftliches Wachstum benötigen, um „sozial“ bleiben zu können. Sie kann
dann nicht bloß für die Schaffung von Wohlstand und sozialer Sicherheit das
Erfolgsmodell sein, sondern auch für deren Erhaltung – allen Herausforderungen zum
Trotz.
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Zusammenfassung
Bei geringer werdendem Wirtschaftswachstum werden die von der Politik nutzbaren
Verteilungsspielräume
zukünftig
abnehmen.
Gleichzeitig
werden
die
wirtschaftspolitischen Herausforderungen durch den Wandel der Bevölkerungsstruktur,
den zunehmenden internationalen Wettbewerbsdruck, den Umbau der Wirtschaft für
mehr Nachhaltigkeit und die Unwägbarkeiten des europäischen Integrationsprozesses
zunehmen. Wie stellt sich die Ordnungsökonomik unter diesen Bedingungen zur
Zukunft der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft – der Synthese von OrdoLiberalismus und Sozialstaatsidee? Der vorliegende Beitrag diskutiert, wie sich die
beiden Komponenten dieser Synthese in der Vergangenheit verändert haben und wie
ihre Synthese den genannten Herausforderungen zum Trotz in ordnungskonformer
Weise auch für die Zukunft bewahrt werden kann.
Summary: Ordo-liberalism and the German “Social Market Economy” in qunadary?
In the future, dwindling economic growth rates will leave less room for redistributive
policies. At the same time, increasing challenges of a changing age structure of the pop-
Ordnungsökonomik und Soziale Marktwirtschaft in Bedrängnis
179
ulation, of increasing international competition, the transition to a more sustainable
economy, and the imponderables of the European integration process will have to be
met. Under these conditions, what position will ordo-liberalism take towards the “social
market economy” – the historical synthesis of liberal and social thought in the future?
The present paper discusses what changes the two parts of the synthesis underwent in
the past and how, consistent with ordo-liberal ideas, their synthesis can be maintained
despite the challenges it faces in the future.
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