Friedrich W. Stallberg Alter-Gefühl-Gesellschaft. Zur Problematisierung des emotionalen Wandels im höheren Lebensalter I. Das Problem Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die aufregende, aber noch kaum weiterverfolgte Annahme, dass der gegenwärtige demographische Wandel mit Schrumpfung und Alterung der Gesellschaft auch mit bedeutsamen Veränderungen der Gefühlserfahrungen, Gefühlslagen und Gefühlskulturen verbunden ist. Dies ist insofern zunächst nur selbstverständlich, als 1) Älterwerden eben auch eine Verlängerung emotionaler Sozialisationsprozesse im Sinne einer veränderten Realisierung von genetischen Möglichkeiten des Fühlens und des zeitlich ausgedehnten Erfahrens, Bedenkens und Verarbeitens von Erlebniszuständen beinhaltet und 2) umfassende Wandlungen von Lebenslagen, Lebensformen und Lebensweisen eben auch neue Rahmenbedingungen, Auslöser und Normen für alterstypische Emotionen hervorbringen. Es geht aber um mehr. Eine Gesellschaft mit einem immer größer werdenden Anteil älterer Mitglieder, die zum Teil allein leben oder darüber hinaus sozial isoliert sind, das kleiner werden ihrer sozialen Umwelt in Form etwa des Wegsterbens Gleichaltriger erleben, vielfach von Einkommensarmut bedroht sind oder zumindest einen erheblichen finanziellen Abstieg zu bewältigen haben, mit dem Altwerden zunehmend hohen Erkrankungsrisiken ausgesetzt sind, zu einem beträchtlichen Teil einmal altersspezifische psychische Leiden aufweisen, mit dem Eintreten diverser Handlungsabhängigkeiten und Kontrollverluste als Normalfall zu rechnen haben, nicht selten auch Opfer von Gewaltverhältnissen und Gewalttaten sind, entwickelt auch eine besondere Art von emotionalem Klima: Sie wird tendenziell depressiver, weist höhere Angstraten auf, erlebt möglicherweise intensive Debatten über das wünschenswerte Generationenverhältnis, welche auch Neidaspekte einschließen können. Des weiteren ist zu erwarten, dass sich kulturelle Konzepte darüber, was wann wie von wem gefühlt werden soll, d.h. wann etwa Stolz, Dankbarkeit oder Unzufriedenheit berechtigt sind und wann nicht, sich in zunächst nur subtiler Weise verändern. Und schließlich das im Alltagsleben und auch hier Entscheidende: Mehr und mehr Personen stoßen auf vielfältige Auslöser für schwierige Empfindungen, welche ihr Wohlbefinden gefährden, hohe Anforderungen an die Regulierungsfähigkeit der Betroffenen stellen und auch der sozialen Umgebung zu schaffen machen. Das alles vollzieht sich dem Wandel des Alters in Form von 1 Entstandardisierung, Pluralisierung, Biographisierung und Feminisierung entsprechend höchst differenziert. Es geschieht auch in Abhängigkeit von ganz ungleicher sozialer, räumlicher und institutioneller Umwelt, dem erlangten Sozialstatus, erworbenen Kompetenzen und verfügbaren Ressourcen Und schließlich ist für die Interpretation der hier interessierenden Entwicklungen davon auszugehen, dass es sich um häufig verdeckte, flüchtige, uneingestandene und aufwendig kontrollierte emotionale Prozesse handelt, deren Problempotential dementsprechend leicht unterschätzt wird II. Die Perspektive Die hier aufgeworfene Frage ist also: Wie verändert sich mit dem gesellschaftlichen Strukturund Wertewandel die emotionale Realität des Alters? Und wie gestaltet sich das Spannungsverhältnis zwischen objektiven Emotionsbedingungen und subjektiven Empfindungsweisen. Die damit benannten emotionstheoretischen und alterssoziologischen Anliegen werden mit einer problemsoziologischen Perspektive verfolgt. Altersbedingte und altersspezifische Gefühle1 werden nur daraufhin betrachtet, inwieweit und in welcher Hinsicht sie für das betroffene Subjekt und auch gesellschaftlich problematisch sind, d.h. als belastend interpretiert werden und Veränderungsanstrengungen unterzogen werden. Das ist dann lohnend, wenn wir im Sinne zumindest alltagsweltlicher Bewertungen wie auch populärwissenschaftlicher Stellungnahmen anzunehmen bereit sind, dass gerade die emotionalen Bedingungen und Prozesse im höheren Lebensalter Schwieriges und Unerwünschtes hervorbringen. Diese Perspektive beinhaltet die Annahme, dass Gefühle nicht nur insofern sozial sind, als das sie sich im Kontext der Gesellschaft ergeben und soziale Anlässe haben, sondern auch aufgrund ihres Interaktionsbezugs, ihrer Verknüpfung mit sozialen Rollen und ihrer sozialen Konsequenzen.2 Sie geht zweitens davon aus, dass Gefühle in der Gegenwartsgesellschaft ein, wie uns gerade die bahnbrechenden neurobiologischen Forschungen der letzten Jahre deutlich gemacht haben,3 keineswegs nur privater Gegenstand sind, vielmehr für den Einzelnen als zentrales Handlungsmotiv, Bedingung für Gesundheit, Lebenssinn und beruflichen Erfolg, Ausdruck von angestrebter Selbstverwirklichung höchste Bedeutung besitzen. Dies heißt auch, dass ihre Beeinträchtigung durch negative Hintergründe und Umstände nicht nur vom Betroffenen beklagt wird, sondern durchaus auch den Status eines anerkannten gesellschaftlichen Problems erlangen kann.4 An der öffentlichen Thematisierung von Stress etwa, Mobbing, Burn-Out, fehlendem Glück und Depression lässt sich das gut erkennen. 1 Im Folgenden wird zwischen den Konzepten Gefühle und Emotion der sprachlichen Auflockerung halber nicht unterschieden. Sie gelten hier als mit einem Mindestmaß von Erregung verbundene Lagebeurteilungen des Subjekts. Diese Gleichsetzung steht zugegebenermaßen im Widerspruch zu den meisten wissenschaftlichen Begriffspositionen (dafür vgl. etwa Kiesow/ Korte 2005, S. 289 ff. und Hartmann 2005), die Gefühlsempfindungen, Stimmungen und Emotionen in der einen oder anderen Weise voneinander abgrenzen, wäre aber erst dann nachteilig, wenn eine feinere Analyse der Erlebenszustände älterer Gesellschaftsangehöriger angestrebt würde. 2 Die Verschränktheit subjektiver Empfindungen mit gesellschaftlichen Verhältnissen wird in der Gegenwartssoziologie im Sinne auch einer stärkeren Subjektorientierung zunehmend anerkannt, hat dementsprechend ein eigenes Forschungsgebiet entstehen lassen und zu dem lange Zeit psychologisch dominierten Gegenstand Emotion einen wissenschaftlich breiteren und vielfältigeren Zugang eröffnet. Vgl. dafür die Übersichten bei Flam 2002 und Schützeichel 2006. 3 Vgl. etwa Damasio 2000 und Roth 2003. 4 Das Problem kann auch weniger in den aufkommenden Problemen selbst als in der gesellschaftlich geforderten Gefühlsregulierung bestehen. Diese ist dann im Sinn des kritischen Ansatzes von A. Hochschild (1990) als repressive und riskante Anpassungsleistung mit möglichen Stress- und Entfremdungsfolgen einzuschätzen. 2 Die Umsetzung des Ansatzes führt uns zu einer sozialen Welt problematischen Fühlens alt Werdender und alt Gewordener, die ihrer Fülle und Vielschichtigkeit wegen nur in Teilen und an einigen Fällen beschrieben werden kann. Das Problematische wird 1) lediglich an unerwünschten Gefühlszuständen und – haltungen aufgezeigt, nicht am Schwund oder Fehlen des Wünschenswerten. Es bleibt 2) auf die Befindlichkeiten Angst, Einsamkeit, Neid und Scham beschränkt, wiewohl etwa Probleme des Trauerns, der Feindseligkeit, der Ohmacht, der Langeweile ähnliches Interesse verdienen würden. Die gesamte Problemlandschaft lässt sich so darstellen: Altersspezifische Probleme des Fühlens Individuelle Probleme Ich fühle zu intensiv, zu viel: z.B. Angst, Einsamkeit, Neid, Scham, Schuld, Trauer Ich fühle nicht das, was ich möchte: z.B. nicht Freude, Dankbarkeit, Zufriedenheit Ich fühle nicht das, was von mir sozial erwartet wird: etwa „reife“, „verhaltene“ Gefühle Ich fühle zu wenig, weniger als ich möchte: Habitualisierungsproblem, fehlende stimulierende Erfahrungen, Depression Ich weiß nicht, was ich fühle: Folgeprobleme ständigen Gefühlsmanagements, Identitätsprobleme, Depression, Sinnes-/Gedächtnisschwund Ich kann nicht ausdrücken, was ich fühle: Kraftlosigkeit, emotionale Erstarrung. einengende Umwelten oder Altersbilder Ich kann meine Gefühle nicht konstruktiv bearbeiten: geringes oder geringer gewordenes Repertoire von Techniken der Gefühlsarbeit Soziale Probleme III. Belastende Gefühle können Folge problematischer gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen sein: Krise des Sozialstaats, Dynamik des technischen Wandels, Privatisierung der Lebensformen, Werte- und Sinnerosion Negative Gefühle können in problemträchtigen, d.h. unzureichenden, widersprüchlichen, gestörten Sozialisationsverhältnissen entstanden sein. Belastende Gefühle können ihren jeweiligen Grund in problematischen, etwa Angst erzeugenden, Konflikt beladenen, Verlusterfahrungen hervorrufenden sozialen Interaktionen haben. Negative Gefühle lassen sozial unerwünschte Ereignisse und Handlungen entstehen: Pflegegewalt, Kriminalitätsfurcht, Rückzugsverhalten, Isolation, Alterskriminalität, Sucht, Suizid, „erfolgloses“ Altern, Schwund von Solidarität und Gerechtigkeit Der Forschungsstand und seine Einschätzung Ich muss den Forschungsstand zum Thema vor allem darum knapp würdigen, weil er mein Vorgehen zumindest in Frage stellt und eine Art Legitimation erforderlich macht. Allzu viel gibt es freilich nicht darzutun: Die empirische Alternsforschung hat sich gegenüber emotionalen Zuständen und Prozessen ungewöhnlich viel Zurückhaltung auferlegt (siehe dazu Hüppe 1998, 55ff.), während andersherum die Variable Lebensalter in der 3 sozialwissenschaftlichen und psychologischen Emotionsanalyse ( vgl. Flam 2002 , Ulich/Mayring 1992) noch kaum präsent ist. Eine Verknüpfung von veränderter Bevölkerungsstruktur, Lebenslagen im Alter und Alterskultur einerseits, emotionalem Wandel andererseits ist überhaupt nicht auffindbar. Sofern aber das besondere Fühlen Alternder und Älterer als Thema in den Blick kommt, werden vorwiegend psychologische und medizinische Aspekte verfolgt. Zum einen interessiert, wie Betroffene es schaffen, unter potentiell belastenden Umständen dennoch ein relatives Wohlbefinden aufrechtzuerhalten –diese Perspektive findet sich am prominentesten in der Psychologie des erfolgreichen Alterns, die in Deutschland von Paul und Margret Baltes entwickelt wurde. Die Altersforschung wundert sich zwar immer wieder über dieses Zufriedenheitsparadoxon und findet es auch mitunter hinderlich für die Legitimation von Interventionsbedarf ( vgl. Naegele/Weidekamp-Maicher 2002), hat aber letztlich doch keine stärkeren Zweifel an der Richtigkeit der Ergebnisse. Auf einem anderen Schauplatz wird geprüft, wie und wohin sich subjektive Erlebniszustände in Situationen der Depression und Demenz verändern, steht also das Drama des Fühlens unter dem Druck von Sinnes-, Erinnerungs-, Identitätsverlust im Brennpunkt (vgl. Re 2003). Überraschend wenig Aufmerksamkeit gilt dagegen der Entstehung und Verbreitung einzelner Problememotionen wie etwa der Angst vor dem Sterben, der AusgeschlossenheitsEinsamkeit, der Inkompetenzscham, dem Unterlegenheitsärger und ihrer Qualität, Intensität, Dauer und Manifestation. Die noch wenigen empirischen Untersuchungen sind in ihren Ergebnisaussagen, weil ganz strengen wissenschaftstheoretischen Grundsätzen und methodologischen Standards verpflichtet, zumeist sehr vorsichtig. Bei allen natürlich auch vorhandenen Differenzen ist aber die Botschaft eindeutig: Alte Menschen fühlen in der Gegenwartsgesellschaft danach nicht wesentlich anders als jüngere, weisen keineswegs oder jedenfalls nicht durchgängig häufiger negative Empfindungen auf – allenfalls in Sachen Einsamkeit wird eine stärkere Belastung mehrheitlich angenommen - , erleben Gefühle ähnlich intensiv wie jüngere, wenngleich sie womöglich in ihrem Gefühlsausdruck zurückhaltender erscheinen, verfügen über besonders entwickelte Kompetenzen der Gefühlsregulierung in Form vor allem von kognitiven Strategien des „günstigen“ Vergleichens (Abwärtsvergleich mit anderen, Rückschau auf das eigene Leben), der Setzung neuer Standards, der Aufgabe nicht mehr erreichbarer Ziele, der positiven Umdeutung zunächst bedrohlicher Informationen (dazu BFSF 2002, Emotionalität im Alter 2005, Labouvie-Vief 2005, Re 2004, Smith, J. u.a. 1996). Der Befund des erfolgreichen Modifizierens des eigenen Fühlens im Sinne der inneren Anpassung an belastende Situationen, mit dem die Vertreter des positiven Paradigmas vom Alter immer wieder argumentieren, ist der am besten abgesicherte. Gerade er eröffnet aber auch die Chance zur Kritik an der Gesamtaussage. Warum sind denn weithin „selektive Optimierung mit Kompensation“, „stabilisierende und schützende Prozesse“, „dynamische Integration“ , „Gefühlsoptimierung“ und „akkomodative Bewältigung“ – so die einschlägigen Bezeichnungen der Literatur– beobachtbar, wenn es nicht ständig auch zwingenden Anlass zu Gefühlsarbeit im Alter gäbe? Skepsis ruft auch die ungehemmt positive Einschätzung der Gefühlsregulierung Älterer hervor.5 Zumindest wäre sie als ambivalent zu markieren, als auf den ersten Blick wohl tendenziell erfolgreicher Umgang mit belastenden Empfindungen, der aber 1) doch auf problematischen sozialen Druck verweist, 2) durchaus negative Ereignisse 5 Diese bleibt bei aller sonst üblichen Askese keineswegs auf die deskriptive Ebene beschränkt, vielmehr ist ein zumindest unterschwelliges Lob der Bewältigung durchaus erkennbar. 4 wie Konfliktunfähigkeit, Ohnmacht, Anpassung, Resignation, Rückzug, Ressentiments zur Folge haben kann. Ich will aber für meine Weigerung, der Altersforschung bescheiden zu folgen, einen weiteren Kritikpunkt anführen: Mir scheint, sie bezieht sich in ihrer Analyse zu sehr auf die einschlägigen Modelle psychischer Störung, lässt alltäglichen, aufs erste nicht behandlungsbedürftigen Emotionen mit negativem Erleben keine gebührende Aufmerksamkeit zukommen. Ich wundere mich weiterhin über eine auffällige Beliebigkeit der Begriffe, welche es erlaubt, willkürlich über die Unterschiede von Emotion und Kognition, Gefühlsregung, Gefühlshaltung und Lebensgefühl, Gefühl und Gefühlsregulierung hinwegzugehen. Das trägt durchaus nicht unerheblich zur Stützung der Wohlbefindensannahme bei. Schließlich sei noch auf ungelöste methodische Probleme der stark befragungsorientierten Alternsforschung verwiesen. Sie ist natürlich nicht ohne den Verdacht, ältere Befragte könnten nur typisch für den empirisch erreichbaren Personenkreis sein, belastende Gefühle verbergen, diskutiert gleichwohl aber kaum über ihr Instrumentarium und seine Rechweite. Gerade dies wäre aber unumgänglich: Unter welchen Bedingungen können denn ältere Individuen in prekären Lebenssituationen – die Schwerkranken und Sterbenden, die sich vor alltäglicher Gewalt Fürchtenden, die chronisch Trauernden dazu gebracht werden, sich über ihr Fühlen authentisch zu äußern? Wie lassen sich denn Befragungssituationen so organisieren, um Personen, und nicht nur Ältere, zu Eingeständnissen zu veranlassen, dass sie sich einsamer, ängstlicher und niedergeschlagener fühlen als sie selbst es wollen? Wie lassen sich intime Gefühlslagen wie die des Beschämt seins überhaupt verlässlich erheben? Eine empirische Erforschung problematischen Fühlens im Alter muss weiter und tiefer als zumeist üblich angelegt sein. Sie sollte der Differenziertheit ihres Gegenstands gebührend Rechnung tragen. Dieser weist bei näherem Hinsehen wenigstens fünf Ebenen auf – den/die Auslöser der Problememotion (Handlungssituationen, medial berichtete Ereignisse, innere Vorstellungen), die emotionale Empfindung selbst mit wiederum komplexen Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Erlebensvorgängen, ihren physiologischen Niederschlag (Erregung, Müdigkeit, Kälte/Wärme etc.), den äußeren Ausdruck der Emotion (Gestik, Mimik) und schließlich das potentiell problematische Folgehandeln (Rückzug, Meidung, Geiz, Zwänge, Flucht in die Vergangenheit, Konservativismus). Die demzufolge vorzunehmende Trennung ist aber nicht nur analytisch bedeutsam, etwa in dem Sinne, dass über das objektive Vorhandensein einer Emotion nicht allein ihre (mitgeteilte) Anerkennung durch den Betroffenen entscheidet. Es wird vielmehr rasch deutlich, dass die unterschiedlichen Aspekte emotionalen Empfindens und emotional motivierten Handelns auch von der empirischen Forschung methodologisch unterschiedliches verlangen. Die so gern genutzten Befragungen eignen sich eigentlich nur für die Erhebung des subjektiven Gefühls im engeren Sinn und sollten dann eher qualitativ als quantitativ orientiert sein. Ansonsten ist aber für die Gefühlsanlässe und –gründe, die Gefühlsdarstellung und die Gefühlsverarbeitung anderen Forschungsmethoden wie der Beobachtung und der Sekundäranalyse empirischer Daten der Vorzug zu geben. Um die Argumentation abzuschließen: Ich gehe, gestützt vor allem durch eher außerwissenschaftliches Material wie diverse Medienberichte, biographische Äußerungen und anderes von der zunehmenden Bedeutung problematischen Fühlens in der alternden Gesellschaft aus. Unabhängig von nachweisbarer Verbreitung und Intensität ist aber die Realität der im höheren Alter auftretenden Emotionen und ihrer speziellen Anlässe, Verarbeitungsformen und Folgen sowieso diskussions- und untersuchungsbedürftig. 5 IV. Thesen 1. Die alternde Gesellschaft ist eine der Angst und Ängstlichkeit Dass die postmoderne Gesellschaft des Westens in ihrer Handlungsrealität deutlich von subjektiven Angstempfindungen beeinflusst ist, wird immer wieder mal registriert und schlägt sich in unzähligen Veröffentlichungen und in prägenden Kategorien wie „Risikogesellschaft“ und „Zeitalter der Angst“ nieder. Die Psychologisierung subjektiver Bedrohtheit mit der Konsequenz einer Konzentration auf vermeintlich behandlungsbedürftige Störungsbilder lässt ganz wichtige Zusammenhänge aber unbemerkt bleiben. Angst ist im gesellschaftlichen Leben als Handlungsgrund, -merkmal und –folge einfach allgegenwärtig. Sie tritt überall da auf, wo zwischen Menschen Machtunterschiede und Abhängigkeiten bestehen, wo mit Mitteln von Druck und Drohung operiert wird, wo konkurriert, gestritten Leistung abverlangt, Bestehendes gegen Neues verteidigt wird, der Ausgang von Handlungen ungewiss ist, sich Dinge und Situationen dramatisch rasch und gründlich verändern. Angst spielt in vielerlei Geschehnisse hinein: sie lässt Menschen einengende soziale Normen beachten, Gefährlichem aus dem Wege gehen, nach mehr Sicherheit und Ordnung rufen, gewalttätig oder süchtig werden. Die Verbindung zwischen Angst, höherem Alter der Gesellschaft und Alternsprozess ihrer Mitglieder wird öffentlich insofern vollzogen als immer wieder problematisierende Schlagzeilen wie „Opas Ängste wurzeln tief. Krieg, Krankheitsfurcht und Entwertungsgefühle plagen alte Menschen“ (www.lwl.org/LWL/Gerontopsychiatrie/Angsterkrankungen), „Deutsche haben Angst im Alter arm zu sein“ (stern shortnews 20.01.2005), „Schutz vor der Angst im Alter“ (Psychiatrie aktuell) produziert werden. Darüber hinaus stehen uns zunehmend Rat gebende Informationen zur Verfügung, wie sich trotz aller Risiken ein „Altern ohne Angst“ (Schmidbauer 2001) herbeiführen lässt und finden sich in den aktuellen politischen Debatten des öfteren Hinweise auf Altersangst wie auch Appelle an vermutete Besorgnisgefühle. Geäußert werden von prominenten Betroffenen wie nur Leuten von der Straße etwa Ängste vor nicht finanzierbarer Pflegebedürftigkeit, Unzulänglichkeiten des Gesundheitssystems, einer unangemessenen Lebensverlängerung, vor sozialem Abstieg und Verarmung. In der wissenschaftlichen Angstforschung zeigt sich, nicht unerwartet, ein vielfältigeres oder unklareres Bild. Einerseits würdigen Experten Angst als „Grundgefühl des Alters“ (Kemper 1995, 70) und ist eine Spezialliteratur mit verschiedensten Untersuchungen entstanden ( vgl. als Überblick Blonski 1995), andererseits vermögen die Forschenden ein häufigeres Auftreten problematischer Angst im höheren Alter zum Teil keineswegs zu erkennen. Das geschieht dann insbesondere, wenn Verteilungen von Angststörungen nach Altersgruppen erhoben und Ältere mit etwa Phobien und Panik nicht allzu zahlreich entdeckt werden. Selten gewürdigt werden dabei die hinter den Daten zu vermutenden Gewöhnungen älterer Menschen an erlebte Angststörungen, ihre Konzentrationen auf vermeintlich bedrohlichere Erkrankungen und eine Distanz zu psychotherapeutischer Behandlung. Ganz anders sind die Ergebnisse und Einschätzungen, wenn das alltägliche Sich einrichten in der Altersangst und das häufige Auftreten von Angst als Begleitmotiv in Rechnung gestellt wird. Deutlich erkennbar ist die hohe Bedeutung der Angst in der Lebensrealität Älterer in der genauen Befragung. Noch mehr würde eine soziologisch orientierte Analyse ans Licht bringen, die sich weniger der Ermittlung angstbelasteter Personen verschreibt als 1) der Bedeutung von Ängsten in der Biographie Älterer und 2) dem Aufdecken Angst erzeugender sozialer Situationen. 6 Vorerst muss die These der Angstbestimmtheit der alternden Gesellschaft mit veränderten Lebensbedingungen, bedrohlichen Altersbildern und neu beschriebenen Angstformen argumentieren. So ist es berechtigt, anzunehmen, dass die Gesellschaft der Jahrtausendwende mit unter anderem der Transformation des Sozialstaats und speziell der Reduzierung erwartbarer Versorgungsleistungen, der strukturellen Schwächung der Familie als Bastion des emotionalen Ausgleichs, der intimen Kommunikation und auch der Pflege, der dramatischen Wissensexplosion und immer rascher ablaufenden technischen Innovationen, der Unbestimmtheit und Vielfalt normativer Orientierungen mit dem Zwang zur Revision der Lebensweise seine vielen älteren Mitglieder mit einer Fülle objektiver Risiken unter Druck setzt und je nach individueller Situation überfordert. Diese Risiken können subjektiv als Minderung von Lebenschancen und Einengung von Spielräumen erfahren und darüber hinaus als existentielle Gefährdung interpretiert werden. Die altersspezifischen Ängste sind also partiell im aktuellen Wandel der sozialen Welt begründet. Sie zeigen sich dann etwa als Verarmungsangst, Hilfsbedürftigkeitsangst, Innovationsangst, Technikangst, Öffentlichkeitsangst, Vereinsamungsangst, Gewaltangst, Interaktionsangst, Leistungsangst, sofern noch Berufsarbeit ausgeübt wird. Andere, primär an die Verlängerung der letzten Lebensspanne geknüpfte, in der Ausprägung gleichfalls neue Ängste sind eher existentieller Art, betreffen Risiken der Erkrankung und des Schwindens der Lebenskraft, den drohenden Verlust der Selbständigkeit, Beweglichkeit, Erinnerung – Hilflosigkeitsangst, Inkompetenzangst, Demenzangst - , können sich ferner als Kriminalitätsfurcht, die weniger mit dem wirklichen Opferrisiko als mit der subjektiv wahrgenommenen Verletzlichkeit zu tun hat (Greve/Hosser/Wetzels 1996; Reuband 1999) ausdrücken. Die Existenzängste Altgewordener und Altwerdender kulminieren in der Bedrohung durch Tod und Sterben. Auch hier sind die subjektiven Verhältnisse durch neue Interventionsmöglichkeiten, vermehrtes Gesundheitswissen und öffentliche Debatten über Sterbehilfe und Sterbebegleitung unklarer und bedrängender geworden. Als spezielle Angstvarianten in diesem machtvollen Bedrohtheitskomplex lassen sich die Angst vor körperlichem Leiden, vor Würdeverlust, davor, das Wichtigste nicht mehr tun zu können, vor der Lebensbilanz, dem Vergessenwerden, dem Unbekannten, vor dem Nichtsein, vor Bestrafung, vor dem Sterben und Tod anderer Menschen nennen , um das Schicksal Nahestehender(Wittkowski 1990). Während hier noch das physische Nicht-Mehr-Sein den Bezugspunkt bildet, verweisen andere Befürchtungsweisen auf das soziale Sterben in Form schleichender Ausgrenzung und Geringschätzung und das psychische Sterben in Form des allmählichen Verfalls der eigenen Identität. Noch eine letzte Unterscheidung sei vorgenommen: Die Angst des alternden Individuums kann sich, wie bislang dargetan, auf zukünftig Drohendes und gegenwärtig schon unter Druck Setzendes richten. Sie steht aber auch mit vergangenen, zum Teil biographisch weit zurückliegenden Erfahrungen in Verbindung. Diese sind nicht selten traumatischer Art, vielfach dann ganz unbewältigt und können unter dem Einfluss aktueller Ereignisse immer wieder aufbrechen, möglicherweise in verschobener Form. In der deutschen Gesellschaft ist dies zunächst die Situation all der jetzt über 60jährigen, die zutiefst bedrohliche Erlebnisse als in unterschiedlichen Rollen Kriegsbeteiligte oder von Kriegsfolgen Betroffene zu verarbeiten haben. Diese, neuerdings stark erörterten Ängste sind nun aber keineswegs auf die schon Älteren beschränkt und damit von zeitlich begrenzter Bedeutung; vielmehr wirken sie als übertragene Emotion zumindest in der nachfolgenden Generation tendenziell fort und erschweren den ohnehin mühsamen Umgang mit den alltäglichen Angstproblemen. 7 2. Die alternde Gesellschaft ist durch problematische Situationen des Sich Schämens und Beschämt Werdens belastet Von Scham, der so schmerzhaften Empfindung, die entsteht, wenn der Blick anderer auf das fällt, was wir unter allen Umständen bedeckt halten wollen und nun als Makel oder Versagen definitiv ins Bewusstsein tritt, wird in der wissenschaftlichen Diskussion ein gewisser Bedeutungsverlust, zumindest aber ein qualitativer Wandel im Sinne von Anlassverschiebung, Individualisierung und Informalisierung angenommen. Für das ältere Gesellschaftsfünftel scheint sich aber anderes, nämlich eine Ausdifferenzierung einer speziellen altersgebundenen Scham zu vollziehen. Dass es sie wirklich mit vielfältigen problematischen Folgen gibt, ist im härteren empirischen Sinne nur ganz eingeschränkt zu belegen. Das ist in der Forschungslage begründet – einzig die institutionsinterne Pflegescham ist durch eine Studie von Katharina Gröning (Frankfurt/M. 2000) ein wenig dokumentiert -, steht aber auch im Zusammenhang mit der genuinen Verborgenheit von Schamgefühlen, die allenfalls im Kontext des Vertrauenswürdigkeit und in ausreichender zeitlicher Distanz eingestanden werden. So muss die eingebrachte These wieder „freihändig“ auf der Grundlage mitgeteilter Fälle, von Medienberichten und eigenen Erfahrungen ausgeführt werden.6 Die Entstehungsgründe für die Normalität des Schamerlebens im höheren Lebensalter sind in diversen Funktionseinbußen und physisch-psychischen Beeinträchtigungen, der Reduzierung individueller Handlungskompetenz, niedrigerer Macht zur Grenzziehung und Grenzbewahrung, dem kleiner Werden der intimen Räume, dem Druck struktureller Neuerungen, unklaren Vorstellungen von angemessenem Altersverhalten, höherer Sensibilität für Zeichen von Abwertung, Belustigung, Ungeduld, Demütigung und dem Festhalten an traditionellen Konzepten von Würde und Ehre zu finden. Das Sich schämen ist eines des plötzlichen Sichtbarwerdens von Körperanteilen, die sich der Kontrolle entziehen, eines der Auffälligkeit durch inadäquate Handlungsvollzüge oder auch eines vor allem der Zugehörigkeit zu einer ausgegrenzten, nicht mehr respektierten Personengruppe. Sie betrifft zumeist das ältere Individuum, kann sich aber auch als Gefühl der mit ihm Verbundenen oder nur in sachlicher Beziehung zu ihm Stehender einstellen. Die besonders dramatischen Schamsituationen scheinen sich auf die schon hochaltrigen Gesellschaftsmitglieder zu konzentrieren. Ich meine damit die Scham über den Verlust von Basiskompetenz, die Scham der Pflegebedürftigkeit, des auf den Körper-Reduziert-Werdens, der Nivellierung, der Infantilisierung, der Inkontinenz, „Scham über ekelige und schmutzige Körperinhalte, die nicht mehr unter Kontrolle sind“ (Gröning 2000, 42), die Scham der zeitweiligen Rückkehr schmerzhafter Bewusstheit über den eigenen Wertverlust. Auch für die noch jüngeren Alternden kann der Blick auf die Risiken der Beschämung bei fortschreitender Schwäche und Abhängigkeit aber schon äußerst Angst erzeugend sein. Daneben gibt es eine hohe Chance der Betroffenheit von anderen Schamfallen. Dies sind bei Durchlaufen der letzten Phase von Berufstätigkeit die Scham der Leistungsschwäche, des Ertappt Werdens als innovationsfeindlich, nicht hinreichend fortgebildet, ausgebrannt, schon in der inneren Emigration befindlich. Dies können darüber hinaus in anderen Handlungsbereichen die Scham des nicht zum eigenen Alter-Stehens, die Scham der Zugehörigkeit zu einer ungeliebten Bezugsgruppe sein, die Scham der Enthüllung wirtschaftlicher Notlagen, die unsere ganze Lebensgeschichte zu diskreditieren vermag, die Scham über die eigenen anachronistischen Werte (Prüderie, Scham über die Scham), die 6 Zuletzt hat die Thematik der Altersscham immerhin auf den Lindauer Psychotherapiewochen 2007 Beachtung gefunden. Siehe Maercker 2007 und Radebold 2007. 8 Scham über das Nichtstun oder belanglose Aktivitäten, die Scham der Nichterfüllung sozial bedeutsamer Altersnormen (sexuelle Passivität), die Scham über abgelehnte Veränderungen des Körpers, über den schmerzhaft als unpassend definierten Partner, über das Verhalten oder den gesellschaftlichen Misserfolg der Kinder und anderes mehr. Wir stoßen also auf eine Fülle von sozialen Anlässen, in denen sich eine Kluft von Ich-Ideal und Realität zeigen kann. Ihnen durch konsequente Grenzsicherung, hohe Intimitätsanforderungen, Perfektion, persönliche Weiterentwicklung, Umdefinition selbst gesetzter Standards, Zurückweisung unangemessener Erwartungen und Rückzugsverhalten entgegenzutreten, wird auf Grund ihrer strukturellen und kulturellen Verankerung nur sehr eingeschränkt möglich sein. 3: Die alternde Gesellschaft ist eine Gesellschaft der zunehmenden Isolation und Vereinsamung Die Behauptung zunehmender Einsamkeit in der schrumpfenden Altersgesellschaft ist eine, die sich an den Forschungsstand zumindest anlehnen kann. In der gängigen Überblicksliteratur zur Lebensphase Alter (vgl. Backes/Clemenz 1998, 205 ff.) wird die Existenz eines Einsamkeitsproblems prinzipiell zugestanden, im Sinne der einschlägigen Befunde dann aber deutlich zurückgenommen und zur Realität einer Minderheit, insbesondere sozial, physisch und psychisch eingeschränkter Hochaltriger erklärt. Keine Aufmerksamkeit gilt dabei der Frage, wie und unter welchen Bedingungen Einsamkeitsgefühle denn überhaupt erfahrbar sein könnten. Auch neuere empirische Forschungen gelangen ziemlich übereinstimmend zu Ergebnissen, welche die populäre Annahme weit verbreiteter Alterseinsamkeit in Frage stellen.7 Die Situation ändert sich dann erheblich, wenn 1) die Frage des Vorliegens individueller Einsamkeit gleichermaßen an den Lebensverhältnissen einer Person mit etwa Daten zu objektivem Alleinsein, der mitgeteilten Gefühlsqualität, der Selbstdarstellung und vor allem auch am beobachtbarem Kontakthandeln geprüft und 2) die subjektive Äußerung zu (fehlender) Einsamkeit vornehmlich als nach außen gebrachte Selbstdeutung eingestuft wird.8 Einsamkeit, bestimmt als Erleben von innerem Abstand und Verlassenheit bis hin zur Verzweiflung, als Bewertung der Qualität und Häufigkeit von Kontakten als unbefriedigend oder als Sehnsucht nach Verbundenheit, wird gegenwärtig durch etliche sozialstrukturelle und kulturelle Veränderungsprozesse gefördert. Risiken speziell auch für ihr Auftreten als Alterseinsamkeit ergeben sich zum einen in der Produktion von Alleinsein mit einem immer höheren Anteil von Einpersonenhaushalten (in Deutschland von über 30% bei den 65jährigen, mehr als die Hälfte bei den unter 35jährigen und über 70jährigen in Großstädten ), der Ausweitung also der Gruppe der Ledigen, Geschiedenen und Verwitweten. Diese Singularisierung wiederum steht in Verbindung mit Trends wie der Ausdifferenzierung der privaten Lebensformen mit Rückgang der Kinderzahl im Familienhaushalt, geringerer Heiratsneigung, zunehmender Kinderlosigkeit und hoher Scheidungsquote. Neben diesem Bedeutungsverlust traditioneller Weisen von Zusammenleben und Zusammensein sind aber weitere Bedingungen der Einsamkeit zu beachten, wie die historisch neuartige lange Dauer des Miteinanderlebens vieler Paare, deren Kommunikation unbefriedigend geworden ist; die Verbreitung der subjektiven Bereitschaft zu kritischer Bewertung erlebter Beziehungen; die 7 Zuletzt BMSF 2002 und Reuband 2008. Siehe vor allem die Einsamkeitsuntersuchung von Hanisch- Berndt und Göritz 2005. Sie stellen Vereinsamung in der institutionellen Heimpflege in den Zusammenhang von Heimstruktur, Heiminteraktion, Außenbeziehungen und Situation der Bewohner und richten ihr Forschungsinteresse auf Beziehungsalltag und Lebensperspektive der Befragten. 8 9 Abwertung der Einsamkeit als schöpferischer Kraft und Herausforderung für die persönliche Entwicklung in der Mediengesellschaft sowie zunehmende Probleme der Sinnfindung, welche ein erfülltes Leben im Alleinsein erschweren. Die Einsamkeit des Alters zeichnet sich typischerweise dadurch aus, dass sie nicht nur situativ und zeitlich begrenzt auftritt, nicht selbst gewählt, sondern aufgezwungen, womöglich Folge unwiderruflichen Verlustes und ein dauerhaftes Lebensgefühl ist. Sie verbindet sich tendenziell mit Trauer, Verzweiflung und Depression, der Langeweile des Ausweichens und der Konzentration auf eher Nutzloses, der abweisenden Feindseligkeit und Verdrossenheit. Ausgrenzung und Rückzug gehen eine fatale Kombination ein und münden im schlimmsten Fall in einen Vorgang des sozialen Sterbens. Es mag freilich vielfach so sein, dass die Betroffenen ihre innere Befindlichkeit nicht als eine der Einsamkeit bezeichnen: sie benennen dann ihr negatives Erleben milder, bestreiten den eigenen Anspruch auf erfüllende Beziehungen, werten die Intensität der vorhandenen Kontakte auf, interpretieren ihre Lebensweise klug als Normalität, rechtfertigen die Distanz, die nahe stehende Andere zu ihnen einnehmen und bekämpfen problematische Spannungszustände mehr oder minder erfolgreich. Ich denke, wir sollten uns als kritische Beobachter von der tapferen Anpassung an Kommunikations- und Begegnungsarmut nicht allzu sehr beeindrucken lassen, sondern die Einsamkeitsproblematik als Ausdruck einer mehr als bedenklichen Diskrepanz zwischen Sein und Sollen gebührend zur Sprache bringen. 4. Die alternde Gesellschaft ist eine Gesellschaft mit zunehmenden Neidvermutungen und Neidkonflikten Diese Aussage geht davon aus, dass sich die Ausweitung von Neidemotionen und das Auftreten einer durch das Altwerden der Gesellschaft geförderten Neidproblematik ausschließlich über die Analyse der öffentlichen Neiddiskurse erkennen lässt. Ihre Prüfung ist nur auf diese Weise möglich, weil es sich bei Neid um ein unerwünschtes, sozial geächtetes Gefühl handelt, welches sich im Alltag strikt zu verbergen sucht, das die je Betroffenen mit Begründungen, Kritik und Theorie maskieren und auch sich selbst niemals eingestehen. Neid wird zugeschrieben, um Ansprüche und Veränderungsinteressen abzuwerten; diejenigen, deren Motive so diskreditiert werden, müssen dies wiederum mit dem Ausdruck von Empörung zurückweisen. Derzeit vermehren sich die öffentlichen Behauptungen über das Vorhandensein von Generationenneid. Dafür, dass altersbedingter Ärger darüber, etwas, was andere besitzen, nicht zu haben, tatsächlich an Bedeutung gewinnt, sprechen verschiedene allgemeine Entwicklungen. So scheinen Angehörige sowohl der gleichen Generation als auch der verschiedenen Generationen über mehr Gelegenheit und auch die Berechtigung zu verfügen, ihre Lebenschancen und Lebensverläufe ins Verhältnis zu setzen. Dieses Vergleichen ist sozusagen die Basis für eventuelle Neidempfindungen, muss altersbegründete Ungleichheit genauso wenig akzeptieren wie schicht- und geschlechtsspezifische. Es wird vielmehr auf dem Hintergrund des Wandels von der Leistungsgesellschaft zu einer des willkürlichen, durch Zufälligkeiten von Markt und Medien produzierten und darum jederzeit problematisierbaren Erfolgs (Neckel 2001) häufig zum Ergebnis kommen müssen, dass bestehende Differenzen von Macht, Reichtum, Prestige und Wohlbefinden eine ungerechte Benachteiligung darstellen – eine weitere Neidvoraussetzung. 10 Die Deutung erkennbarer Ungleichheiten als ungerecht wird gegenwärtig sicherlich durch den Wandel der überkommenen Mechanismen und Regeln der Verteilung der gesellschaftlichen Ressourcen und die damit ausgelösten Besorgnisse, aber auch faktischen Schlechterstellungen unterstützt. Sofern sie sich mit individuellen Wertlosigkeitsgefühlen verbindet und dann tatsächlich Neid hervorbringt, wird dieser bevorzugt Generationenneid sein. Er richtet sich dann auf begehrenswert erscheinende Lebensbedingungen, Rechte und Ressourcen Jüngerer (oder auch Älterer), die uns übergreifender historischer Gegebenheiten oder nur des persönlichen Schicksals wegen nicht zuteil wurden. Als Neid auf Privilegierte in der gleichen Lebensphase kann er etwa Gesundheit, Reichtum und hier speziell ohne eigenes Zutun ererbte Vermögen, weiter bestehende Zweisamkeit, gut entwickelte Netzwerke, Lebenssinn, die Beachtung und Loyalität, die ihnen erwiesen wird und den gewonnenen Platz in der Welt zum Gegenstand haben. Neid drückt sich mit dem Altwerden gern als dauerhafte Entrüstung und/oder Verdrossenheit aus; ist dann begleitet vom Verlust der Mit-Freude, Würdigung und Großzügigkeit. Immer weniger ist es möglich, ihn produktiv zu gestalten, etwa in Form verstärkter Bemühungen um die begehrte Sache. Genau so wenig kommen noch entschlossene Angriffshandlungen auf die Beneidfeten in Frage. Immer schwerer wird es, sich einzubilden, man könne das Begehrte auch erlangen, wenn man es nur wirklich wolle. So steigt die Angewiesenheit darauf, Erfolge, Status, Besitz, Kompetenzen anderer oder Zeit, Gesellschaft, Kultur insgesamt schlecht zu machen. 11 Literatur Backes, Gertrud M., Clemenz, Wolfgang : Lebensphase Alter. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Alternsforschung, Weinheim-München 1998. Blonski, Harald (Hrsg.) ,1995: Alte Menschen und ihre Ängste, München; Reinhardt Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Vierter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland: Risiken, Lebensqualität und Versorgung Hochaltriger- unter besonderer Berücksichtigung dementieller Erkrankungen, Bonn 2002. Damasio, Antonio: Ich fühle also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins, München, 2000. Emotionalität im Alter: 2005 (www.geocities.com/SoHo/Lofts/5072/EmotionAlter.Htm?200521) Flam, Helena: Soziologie der Emotionen. 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