Friedrich Nietzsche Freier Vortrag von Klaus Georg Lagatz (13.5.1924 – 17.11.2001, Musikwissenschaftler, Violinist, Privatgelehrter und Lehrer für Transzendentale Meditation) gehalten im November 1981 im Bonner Lehrinstitut für Transzendentale Meditation. (Niederschrift einer Tonbandaufzeichnung. Korrigiert und mit Fußnoten versehen von Lorenz Geßwein.) Die isländische Saga berichtet uns, dass ein kleines tapferes Volk auf einsamer Insel mutig gegen die Übermacht eines Feindes kämpfte, diesem aber unterlag. Der Chronist weiß zu berichten und schließt mit der Erkenntnis und Bekenntnis: Jeder dieser Kämpfer hat bis zum Letzten ausgehalten. Der letzte Hieb war nicht schwächer denn der erste. Friedrich Nietzsche hat eine besondere Beziehung zu Bonn: er hat hier zwei Semester studiert (Theologie und Klassische Philologie) und war Mitglied der Bonner Burschenschaft „Frankonia“.Friedrich Nietzsche ist wohl der kühnste Denker, den das Abendland je gezeugt hat. Er ist aber auch der umstrittenste Denker. Es scheint am Ende dieses Jahrhunderts, dass sich die Nebel zu lichten beginnen, um die Konturen seines Werkes deutlich werden zu lassen. Ende vorigen Jahres sind zwei weitere Biographien und eine NeuGesamtausgabe seiner Werke erschienen. Es nimmt kein Ende und man wird auch in Zukunft noch viel unbeackertes Land, was er hinterlassen hat, zu Tage fördern. Gewiss, andere Denker haben auch immer wieder Anlass gegeben zu Streitgesprächen – Kant, die Neu-Kantianer, Hegel, die Links-, die RechtsHegelianer; aber die Geistesgeschichte hat ihnen allen in der Zeit einen gebührenden Platz eingeräumt. Das ist nicht so bei Friedrich Nietzsche. Jedem Nein setzt er ein Ja und jedem Ja setzt er ein Nein entgegen. Das hat nun verschiedene Gründe. Es liegt erstens an der Struktur, an der Persönlichkeit Friedrich Nietzsches. Zweitens an dem Zeitlauf, in dem er lebte und wirkte. Und drittens an der Zeit, die sich in seinem klaren Bewusstsein widerspiegelte. Zunächst: Nietzsches Vorfahren - alles Pastorengeschlechter - stammen aus slawischem Gebiet heraus. Das heißt, der slawische Mensch ist ja in sich gespalten, zwiespältig. Das können Sie am besten nachlesen und nachempfinden bei der Romanfigur der russischen Dichter. Denn jeder Mensch, wir alle, sind ja letztlich der Schnittpunkt des Blutes unserer 1 Vorfahren; und das macht sich auch besonders bei Friedrich Nietzsche bemerkbar. Zweitens: die Zeit, in der er lebte, ist sehr widersprüchlich. Das Deutsche Reich war 1806 (Schlacht bei Jena und Auerstedt) untergegangen. Napoleon hatte in seinen Feldzügen das deutsche Land entkräftet. Man lebte bescheiden, man lebte innerlich – das war die Zeit des Biedermeier. Aber zugleich kam noch etwas anderes hinzu: der Gedanke einer Nationalstaatlichkeit. 1805 werden in Jena zum ersten Mal die Burschenschaften gegründet. Es folgt das Wartburgfest und die Revolution 1848/49, die politische Lösung der Einheit Deutschlands scheitert in der Paulskirche. Dann noch ein Drittes, aus romantischen Quellen gespeist – die deutsche Romantik. Carl Maria von Weber komponiert den „Freischütz“, die erste deutsche romantische Oper, zugleich auch ihr Höhepunkt. Es ist die Zeit besonders der deutschen Märchen, es ist auch die Zeit der Liebes- und Todessehnsucht, der Richard Wagner in „Tristan und Isolde“ ein Denkmal gesetzt hat. Es ist auch die Zeit eines E.T.A. Hoffmanns und auch die Zeit vieler deutscher romantischer Dichter, z.B. Hölderlin und Novalis. Aber diese Zeit ist so widersprüchlich, dass nun wiederum Gegenströme sich mehr und mehr bemerkbar machen. Das ist das Zeitalter der Naturwissenschaften. - 1828 stellt Wöhler – ein Chemiker in Jena – aus anorganischen Stoffen einen organischen Stoff her, nämlich den Harnstoff. Das hieße also der Schritt von der Quantität zur Qualität. Das übrigens heute noch eine Stütze ist für den Dialektischen Materialismus. Weiterhin: 1835 fährt die erste Dampfeisenbahn von Nürnberg nach Fürth, die Telegrafen lassen die Nachrichten um die Welt schwirren, und so kommt zugleich auch die Maschine in die Ökonomie; das heißt, die Maschine schafft Kapital, das Kapital die bürgerliche Gesellschaft. Und nun tut sich eine weitere Frage auf, nämlich die soziale Frage. Kirchliche Würdenträger und atheistische Repräsentanten wie Lasalle und der Bischof von Mainz, von Kettelar, versuchen im Sozialen eine Lösung zu finden, die allerdings erst durch Gesetz 1881 von Bismarck gefasst wird. Wir sehen eine Zeit großer Entwicklungen, und trotz romantischer Sehnsucht die Zeit des aufkommenden wissenschaftlichen Zeitalters. Es ist auch die Zeit der Spaltungen: zunächst einmal fällt auch in dieses Jahrhundert die Entdeckung der radioaktiven Substanzen (Marie und Pierre Curie). Es ist auch, sagen wir mal, die Spaltung der Besitzenden und der Besitzlosen, es ist auch eine Spaltung des Bewusstseins, nämlich die Trennung von Idee und Wirklichkeit. All das vollzieht sich in dieser Zeit, etwa von 1830 bis 1900. 1844, in dem Jahr, in dem der gelehrigste Schüler von Hegel, Karl Marx, einmal schreibt: “Der Kommunismus beginnt notwendig mit dem 2 Atheismus“, wird Friedrich Nietzsche geboren, und zwar als Sohn einer alten, eingesessenen Pfarrersfamilie, in Röcken, das liegt nicht weit von Weißenfels in Mitteldeutschland. 1 Der Vater stirbt früh, 1850 zieht dann die Familie nach Naumburg, er geht auf das dortige Domgymnasium und besucht dann noch von 1858 bis 1864 die Gelehrtenschule zu Schulpforta. Er verlebt die Jugend eigentlich ganz unbeschwert mit einer zwei Jahre älteren Schwester, Elisabeth Nietzsche. Er ist ein fleißiger Schüler in Schulpforta, die als strenge Schule bekannt ist. Hauptgewicht sind dort die alten klassischen Sprachen, Latein und Griechisch. 1864 verlässt er mit einem guten Abitur das Internat und studiert zwei Semester in Bonn evangelische Theologie und Klassische Philologie (Latein, Griechisch und Archäologie), dann nach zwei Semestern zurück nach Leipzig, studiert vier Semester und bekommt noch vor seiner Promotion die Berufung auf die alte ehrwürdige Universität nach Basel. Das war, sagen wir einmal, der Preis, den ihm sein Lehrer Ritschl, ein ganz berühmter Philologe, zugedacht hat. Eine Gelehrtenlaufbahn in diesem Alter, mit 25 Jahren einen Lehrstuhl inne zu haben, das gab es im Abendland ganz selten. Was Nietzsche nun dahin geführt hat, war Folgendes: seine erste Schrift, die er als junger Privatgelehrter geschrieben hat, war „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“. Eine Schrift, die allerdings bei den Fachkollegen auf wenig Beifall stieß, denn Nietzsche hatte die Sprache der Wissenschaften verlassen und bedient sich der Sprache des Mythos. Mythos ist aber die Sprache des Bildnisses, des Gleichnisses, und er nimmt als Vorbild das Alte Testament. Was hat nun Nietzsche dazu veranlasst? Nietzsche sieht in dem aufkommenden Zeitalter den Menschen in seiner ganzen Gebrechlichkeit und Hinfälligkeit zwischen den beiden Machtblöcken der Wissenschaftlichkeit einerseits und des aufkommenden Dialektischen Materialismus andererseits irgendwie in der Klemme. Er suchte nach einem neuen Menschenideal, er suchte nach einer neuen Menschenformung. Das ist die Beziehung zwischen den Gesetzmäßigkeiten von Ursache und Wirkung. Und das Machtmittel der Wissenschaft, das ist Methode. Aber Nietzsche möchte die Wahrheit jenseits von Gut und Böse finden, denn er setzt jedem Ja ein Nein und jedem Nein ein Ja entgegen. Das heißt, er will alles auflösen und jenseits dieser Auflösung versucht er die reine Wahrheit zu finden. Deshalb ist auch seine Interpretation so schwierig, und deshalb ist er bis heute noch der umstrittenste Denker, den es überhaupt auf diesem Erdkreis gibt. Nietzsche war sich vollkommen im Klaren, dass er, wenn er nun einen neuen Menschentyp entwickeln will, sich einer neuen Sprache bedienen muss. Eine höhere Sprache bedeutet auch ein höheres Bewusstsein. Der 1 Am 25.3.1801 stirbt in Weißenfels Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, der philosophische Kopf und führende Dichter der deutschen Romantik. 3 Mensch, den er haben will, soll etwas ganz anderes sein. Er sieht als große Gefahr erstens die Überschätzung der Geschichte nach rückwärts gewandt und die Überschätzung des Wissens nach vorwärts gewandt. „Das Wissen“, so schreibt er, „mindert den Menschen in der Feinheit seiner Sensibilität.“ Es geht ihm dann das Gefühl für das Innergeistige (Spirituelle) verloren. Was will er denn dann? Er will den unendlich verwirrten Knoten menschlichen Daseins einmal logisch durchdenken und den genialen Menschen mit dem gesunden Menschen vereinen. Und jetzt greift Nietzsche zurück auf große Denker: Parmenides und Hegel; denn Nietzsche ist als Denker der letzte Metaphysiker des Abendlandes. (Metaphysik ist das Suchen nach dem Wesen, die Wissenschaft vom Sein an sich.) Er muss dieses Denken in seiner ganzen Großartigkeit in eine Bildnissprache bringen, damit sie verständlich wird. Denn je abstrakter eine Wahrheit ist, umso gleichnishafter muss sie sein. (Denken Sie z.B. an das Alte Testament.) Nietzsche möchte aber auch, dass der Mensch etwas leisten soll, nicht nur im Wissen, sondern auch im Wollen. Er beklagt sich, man legt überall Examen ab im Wissen, aber nicht, ob man auch Wollen kann. Und diese Gedanken hat er in seiner großen Schrift “Der Wille zur Macht“ niedergelegt, wobei hier nicht politische Macht gemeint ist, sondern ethische. 2 Sein Vorgänger, Schopenhauer, sagt ja, das menschliche Dasein bewegt sich nur zwischen Schmerz und Langeweile. Gewiss, der Schmerz, so sagt Nietzsche, sein Kennzeichen, dass er dem Menschen weh tut, ist ja kein Argument gegen ihn; vielmehr soll der Mensch den Schmerz überwinden, denn der Schmerz reißt ja innere Ebenen des Lebens auf. 3 Und deshalb bejaht Nietzsche den Schmerz, er bejaht dieses ganze Dasein; aber nicht im Hinblick auf ein Jenseits, sondern in dem Diesseits, auf dieser Erde; und deshalb versucht er mit hegelscher Dialektik das Leben in den Griff zu bekommen. Das heißt, das Leben ist ein Fluss. Hierin ist er sich mit dem griechischen Denker Heraklit einig. Werden und Vergehen. Ein Leben hat immer ein Woher und ein Wohin, ein Stück Vergangenheit und ein Stück Zukunft. Aber Nietzsche will, dass das ganze Dasein, das ganze Leben hier diesseits gelebt wird, mit der vollen Wirkung, mit dem vollen Werden, mit dem vollen Vergehen. 2 Ein Grundgedanke, den Rainer Maria Rilke in die Worte fasste: „Wolle die Wandlung.“ Also ethische Wandlung hin zum höheren, spirituellen Menschsein. 3 Friedrich Hölderlin, dessen Werke Nietzsche in seiner Jugend sehr liebte und der auch sein Vorgänger ist, schreibt in seinem Hauptwerk „Hyperion“: „Wer auf sein Elend tritt, steht höher.“ 4 Und da kommt er zu dem Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen. Das ist wie ein Kreis: denn der Kreis, der Punkt eines Kreises, kann Anfang und Ende zugleich sein. Das ist nun seine Zielrichtung. Aber er weiß auch, wenn er ein neues Menschenbild entwirft, muss er auch ein neues Verhältnis zu dem Schöpfer bekommen. Zarathustra lässt sagen: „Gott ist tot.“ Friedrich Nietzsche leugnet niemals das Dasein eines Gottes, sondern stellt fest, dass das Verhältnis zwischen Mensch und Gott gestört ist. Warum hat eigentlich dieser Ausspruch so große Wirkung gehabt? Da möchte ich einmal zurückgreifen in die Geschichte. Etwa 400 Jahre vorher gibt es ein Kirchenlied, was ich einmal vor Jahren aufgespürt habe, da steht drin: „O welche Not, o Gott ist tot!“ - Das singen die Gläubigen unbeteiligten Herzens, und verlassen das Gotteshaus, um zur Tagesordnung überzugehen. Aber 400 Jahre später, wenn Nietzsche das sagt, dann fährt es allen Theologen in die Knie! Wie kam das? - Nun, das wissenschaftliche Denken war immer mehr in tägliche Bereiche eingedrungen. Das wissenschaftliche Denken (der dialektische und historische Materialismus) versuchte nun all das, was der Christ als Jenseits betrachtet, zu untersuchen, zu verneinen und auch alles auf dieser Erde aufgrund des Materiellen darzustellen. Und deshalb waren Nietzsches Worte so ungeheuer. Seit dem 17. Februar 1600, der Verbrennung Giordano Brunos - der aufgrund stoischer Schriften und der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit behauptet hatte, es gibt kein Oben und kein Unten, keinen Himmel und keine Hölle, die Welt ist also unendlich - lebten beide Weltbilder, das theozentrische und das anthropozentrische (das heißt, das Weltbild, wo Gott im Mittelpunkt steht, und das Weltbild, wo der Mensch im Mittelpunkt steht) gleichsam friedlich nebeneinander. Mit dem Ausspruch Nietzsches aber, „Gott ist tot“, änderte sich das Gleichgewicht. Man versuchte nun aufgrund wissenschaftlichen Denkens, wissenschaftlicher Erforschungen (z.B. die Erforschung der Erbgesetze) den Menschen aus einer anderen Perspektive zu erklären und zu sehen (denken Sie an Darwin oder Häckel), und deshalb war die Wirkung so unheimlich groß gewesen. Aber Nietzsche geht weiter und sagt: Gewiss, es gibt einen Schöpfer. Aber wo ist er denn? Er ist oben nicht und er ist unten nicht, er ist links nicht und nicht rechts. Ich finde ihn nicht. - Das berühmte Gleichnis im Zarathustra, wo der Mann mit der Lampe am helllichten Tag Gott sucht: „Wo ist er denn? Hat er sich verlaufen wie ein Kind oder ist er abgereist mit einem Schiff? - Wir wissen es nicht! Wo ist er denn?“ Und auf dieser Suche bewegt sich sein ganzes Leben. Es ist überhaupt die Kernfrage seiner gesamten Philosophie, seines gesamten Werkes. 5 Ein Vorgänger sagt z.B.: „L`homme surpasse infinement l`homme.“ -„Der Mensch überschreitet unendlich den Menschen.“ Das war Pascal. Oder, der Mensch, bzw. das Leben, ist ein ständig sich transzendierendes Wesen. Das ist eigentlich nichts Neues. Das haben die Meister des Fernen Ostens, die vedischen Rishis, die Heiligen des Mittelalters – alle haben die das gesehen. Nur, jetzt kommt die Frage, womit sollten sie es denn tun, wie sollten sie es denn greifen? Und Nietzsche sieht darin den Ansatzpunkt, er sagt es immer wieder: Der Mensch, das Leben, das Bewusstsein ist die Ur-Tatsache des Daseins. Nur aus dem Bewusstsein lässt sich das Menschwerden und die Beziehung Mensch-Gott überhaupt erklären. Denn das Bewusstsein, und das sah Nietzsche ganz klar, ist letztlich unendlich. Es gilt nun, dieses Bewusstsein zu überschreiten. Und dazu bedient er sich des Mittels des Zarathustras. Der Zarathustra wendet sich nun allerdings nur an ganz bestimmte Menschen. Er sagt: „Ich bin ein Geländer am Strom. Fasse mich, wer mich fassen kann.“ Er will einen Menschen haben, der alles alleine tragen kann: Krankheit, Not, Verleumdung, Unrecht, - um einen einzigen Preis – den des Standhaltens. Das sagt auch der Christ, und der Christ bejaht es. Aber der Christ projiziert das alles auf das Jenseits. Während Nietzsche durch die Erkenntnis der ewigen Wiederkunft das auf das Diesseits gelenkt haben möchte. Und so lässt er nun seinen Zarathustra in einer neuen Sprache sprechen (eine neue Sprache bedeutet ein neues Bewusstsein), so lässt er ihn erklingen: denn der Zarathustra ist geschrieben im Geiste der Musik, der Zarathustra ist geschrieben im Geiste des 1. Satzes der Neunten Symphonie Beethovens. Und wie tief hat Nietzsche hier gedacht! Denn nur, wenn etwas schwingt, wenn etwas klingt, kommt der Mensch in eine höhere Bewusstseinsebene. Und in dieser höheren Bewusstseinsebene bekommt er Wissen, bekommt er Erfahrung. Das ist wie eine Partitur in der Musik. Das wusste er. Das wissen wir auch aus dem Initiationsritus des Sanskrittextes, das weiß auch die Römische Kirche, die das in der lateinischen Liturgie immer wieder festgestellt hat. Nietzsche wusste genau, nur so kann er eine Weiterentwicklung des Menschen bekommen. Es geht ihm immer um eine Höherentwicklung. Er nimmt an, der Mensch entwickelt sich gemäß dem Gesetz wie eine Spirale, vom Niederen zum Höheren, aber nur aus dem Bewusstsein heraus, nur aus dem Transzendieren. Und das Transzendieren ist wohl der höchste Akt menschlichen Daseins, menschlichen Hierseins. Nietzsche sah aber auch noch etwas anderes im Kommen: er sah, dass der Mensch in seiner Gebrechlichkeit einen neuen Anfang braucht, ein SichÖffnen zu einer Neuen Welt, zu einer Neuen Geistigkeit und 6 Spiritualität, und nur darin ist der Ansatz zu finden, dass er sagt, wir sollen uns nicht fortpflanzen, sondern wir sollen uns höherpflanzen. Wir sollen rechtwinklig sein an Leib und Seele. Und sein höchstes Gebot gilt der Reinheit. Reinheit, das ist die Hygiene seiner Seele, und auch die Hygiene seines Leibes. Nur darin sieht er alles, weil nur in der Reinheit des Bewusstseins sich das Leben widerspiegelt; und dann wird die Entwicklung dieser Welt mit diesem Menschen ein Fortkommen haben.Nietzsche verlässt dann nach 10 Jahren seine Lehrtätigkeit in Basel, die er leider in der Folge seines Krankseins aufgeben musste. Er litt schon als Gymnasiast immer unter schlechten Augen und einem gewissen Kopfdruck. Er konnte niemals länger als zwanzig bis dreißig Minuten lesen. Die Ursache der Krankheit ist bis jetzt noch nicht erklärt. Nietzsche war selbst ein sehr sensibler Mensch, er sucht immer das Klima seiner Seele. Er reist von 1879 bis zu seinem Zusammenbruch in Turin 1889 quer durch Europa, nach Naumburg an der Saale oder nach ....(?), nach Sils-Maria, nach Nizza, an den Golf von Genua. Er will nach Japan, er will ins Hochland von Südamerika. Er spürt den atmosphärischen Druck, er spürt einen gewissen kosmisch-spirituellen Druck. Und nur so sind seine Werke zu erklären. Er schreibt, er muss schreiben. Für ihn ist praktisch die Niederschrift ein Diktat höherer Mächte. Er schreibt es auch in „Ecce homo“: „Alle Wort-Schreine und Seins-Worte tun sich auf. Ich bin nur ein Mundstück jenseitiger Imperative.“ Er kommt nun durch seine Baseler Lehrtätigkeit auch mit jenem Musiker zusammen, der schicksalhaft mit ihm verwoben ist – Richard Wagner. Nietzsche hat Wagners Jugendwerke, „Tannhäuser“, „Lohengrin“, „Tristan und Isolde“, hoch verehrt; und Nietzsche war immer – bis zum Letzten – Wagnerianer. Diese Freundschaft scheiterte jedoch an Einem, nämlich an dem „Parsifal“, dem letzten Werk Wagners. Nietzsche sieht in dem „Parsifal“ den Kniefall Wagners vor dem Kreuz – was er eigentlich gar nicht war. Und in dem Christentum sieht wiederum Nietzsche die Verneinung des Lebens, weil das Christentum alle Leiden und Freuden letztlich auf ein Jenseits projiziert. Und das widerspricht der nietzscheschen Denkungsart. In Friedrich Nietzsche schauen sich praktisch der Atheismus und das Christentum gegenseitig an. Ich kann sagen, in Nietzsches Seele kämpft der Priester Christi mit dem Jünger des Dionysos. Dionysos, das ist der griechische Gott des Rausches, der Freude, des Leides, auch der Gott des Werdens und Vergehens. Und dem setzt er entgegen den Gott des Lichtes, Apollon. Und beide zusammen sind die 7 Lebenselemente, die sich Nietzsche idealisiert vorstellt. Nietzsche kommt nicht los von diesen beiden Anschauungen, aber er kommt auch nicht los vom Christentum. So kämpft er immer wieder. Im „Also sprach Zarathustra“ schreibt er: „Siehe die Christen, auch unter ihnen sind Helden!“ Man spürt doch in ihm die christliche Erziehung und das evangelische Pastorenhaus. Ebenso schreibt er als junger Student in Leipzig an einen seiner Freunde: „Ich habe drei mal hintereinander die Matthäuspassion gehört. Glaube mir, wer das Christentum verloren hat – hier kann er es wieder finden!“ Und im zweiten Teil der Matthäuspassion steht „O Gott, erbarme Dich unser!“ Das war Nietzsches Lieblingschoral! Sie sehen, welcher Irrtum heute noch besteht, auch noch kirchlicherseits, Nietzsche unbedingt als vollen Atheisten – der er nämlich gar nicht war – oder als Christen-Gegner einzustufen. Das sind alles Vorurteile, die sich fast 100 Jahre nach seinem Ableben immer noch erhalten haben. Nietzsches große Sehnsucht ist die Musik – er wollte unbedingt Künstler werden. Musik –das ist der Überfluss, das ist die Überfülle menschlichen Daseins. „Kunst brauchen wir, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen.“ „Ein Leben ohne Musik ist einfach eine Strapaze, ein Irrtum.“: Hier schaut der Künstler in Nietzsche tiefer als der Denker. Das ist ihm der Balsam für die Seele. Und er weiß, eine mögliche Erlösung des Menschen kann nicht die Wissenschaft vollbringen, sondern einzig allein die Kunst, aber auch die Lebenskunst, in der er ja im „Zarathustra“ immer wieder Lehr- und Leitsätze gibt. Nietzsches Leben verläuft sehr unruhig, es gibt ein Auf und Ab. Er hat teilweise solche Kopfschmerzen, dass sie ihm das Bewusstsein nehmen. Und wenn er nicht die Pflege der Mutter, der Schwester oder der Freunde gehabt hätte, er hätte nicht mehr weiter existieren können. Wie es nun war, 1876 ist er auch noch Gast Wagners in Bayreuth, zur Eröffnung der Bayreuther Festspiele. Er trennt sich 1878 von ihm wegen des Parsifals und versucht nun die Überwindung all dieser Klippen in einem Werk, nämlich der „Fröhlichen Wissenschaft“ („...Heil! wer neue Tänze schafft!/ Frei sei unsere Kunst geheißen,/Fröhlich unsere Wissenschaft!“) Es gelingt ihm nun über die Mutter und Schwester eine kleine Waldsiedelei zu finden, und zwar in Tautenburg bei Jena. 1882 hat er dort zwei Monate gewohnt. Ich kenne dieses Haus, es ist etwa eine dreiviertel Stunde von der Saale gelegen, getrennt durch einen herrlichen Rotbuchenwald. Damals mögen dort etwa fünf oder sechs Bauernhäuser gewesen sein. Der Pfarrer Stölpe versuchte diesen Ort zu beleben, indem er kleine Fremdenpensionen einrichten ließ, ganz bescheiden. Es ist heute noch für die Jenaer Studentengemeinde ein Ort für besinnliche Stunden, für besinnliche Ferien, heute noch ein Ort für die Meditation. Nietzsche bleibt dort zwei Monate, dann geschieht Folgendes: ein großes Ereignis ist die Drucklegung seiner „Fröhlichen Wissenschaft“ und als zweites hat er im 8 Mai 1882 den Klavierauszug von „Parsifal“ durchgearbeitet und sieht darin die Musik, den Balsam für seine Seele. Es kommen seine Schwester, Elisabeth Nietzsche, es kommt auch die Mutter, die Freunde und die Geliebte, Lou Salomé, die spätere Assistentin von Sigmund Freud und Geliebte von Rainer Maria Rilke. Nietzsche wartet auf ein Zeichen von Bayreuth, die anderen reisen hin zur Uraufführung des „Parsifal“, aber sein verletzter Stolz hält ihn zurück. Er bleibt allein da. Und wäre zu gern in Bayreuth gewesen, um der Uraufführung des „Parsifal“ beizuwohnen... Was ich Ihnen jetzt erzähle, habe ich von der Haustochter der Pension Hahnemann, wo Nietzsche damals lebte, die Haustochter, die das damals alles miterlebte und schon eine hoch betagte Dame war, als sie mir das mitteilte. 4 Sie erzählte, dass Nietzsche damals den ganzen Tag in den Wäldern spazieren ging, in einer großen Stille, die auch heute noch da ist. (Ich habe diese Wälder mit meinen Eltern durchwandert.) Dort hat er sich auf verschiedene Bänke gesetzt, die damals schon dort standen. Nietzsche war still, er hatte eine fast lautlose Sprache; und man konnte sich Nietzsche nicht unter Menschen vorstellen. Er trug immer ein großes Stück Einsamkeit und ein großes Geheimnis mit sich. Er sagt ja auch: „Der Musiker ist immer für sich und immer einsam.“ Nietzsche hat sich auch immer als Musiker verstanden. Musik, das war das Höchste, das war die letzte Erfüllung seines Seins. Er wollte, dass die Musik klingt und schwingt und innerhalb dieses Klingens und Schwingens die Menschen in eine höhere Ebene bringt, die er immer wieder angestrebt hat und anstrebt. … Die anderen kommen inzwischen zurück – Lou Salomé und Schwester Elisabeth –, berichten von Bayreuth und sind ganz begeistert. Er hört das nun alles und weiß jedoch nicht, wie er sich verhalten soll. Dazu kommt, dass Friedrich Nietzsche dort vielleicht das erste und das letzte Mal – sagen wir einmal – die innere Beziehung zu einer Frau gehabt hat, nämlich zu Lou Salomé. Wochenlang wandern sie durch diese Wälder, berichtete mir die alte Dame Hahnemann, und er glaubt nun, dass er vielleicht im Herbst oder im nächsten Jahr Lou Salomé heiraten könne. Aber dieser Plan scheitert. Und so ist auch das Wort zu verstehen, das er einmal geprägt hat: „Die großen Sehenden, das sind auch die großen Scheiternden.“ Dieses Tautenburg hat in ihm so viel zurückgelassen und hat in ihm auch wiederum so viel geklärt, dass er sich entschloss, weiter an seinem Zarathustra zu arbeiten. Und nun war noch etwas: in der Nähe von Tautenburg, etwa zwei Stunden Wegs über die Saale hinüber, liegen die Dornburger Schlösser. Goethe hatte sie noch kurz vor seinem Tode besucht, und Goethe hatte sich besonders auf den Dornburger Schlössern mit einer großen Gestalt beschäftigt, nämlich mit Ambrosius Merlinus. Ambrosius Merlinus war der 4 Klaus Georg Lagatz wurde am 13.5.1924 geboren und besuchte diese Pension Ende der 30ger Jahre. 9 geistige Führer, der Guru der Gralsritter. Und Parsifal war ja auch ein Gralsritter, er wurde später der Gralskönig. Mit Ambrosius Merlinus haben sich die Mönche von Heisterbach – hier bei Bonn – im Mittelalter beschäftigt, Dante, E.T.A. Hoffmann, Goethe und Nietzsche. Wie weit nun eine innergeistige, spirituelle Verbindung da ist, - das glaub’ ich wohl, dass jetzt gerade in Tautenburg, in der Nähe der Dornburger Schlösser, in der Nähe, wo Goethes Geist noch waltet, wo er den „Parsifal“ entdeckt hat, die Musik, und wo er vielleicht noch ein Zeichen zu bekommen erwartet, eine Einladung Wagners zur Uraufführung (denn er hätte ja hinfahren können, sie haben ihn ja alle eingeladen, die Lou Salomé und seine Schwester) – er wollte noch irgendetwas Besonderes. Es bleibt offen; und die alte Dame sagte mir auch, er war wohl letztlich verzweifelt. Und aus der Verzweiflung reist er am 27. August 1882 ab. Daraus hat sich vielleicht noch etwas Drittes entwickelt, nämlich die Weiterführung seines Zarathustras. Er beendet einen der vier Teile des „Also sprach Zarathustra“ in Italien, in dem Augenblick, in dem Richard Wagner stirbt. Nietzsche nimmt das als ein dämonisches Datum an. Er dachte immer an das Wirken und Walten dämonischer Kräfte. Nun, Wagner ist gestorben, und Nietzsche sagte einmal: „Nun bin ich ganz allein.“ Und Wagner hat zu Elisabeth Nietzsche nach der Uraufführung des „Parsifal“ 1882 in Bayreuth gesagt: „Ohne Friedrich Nietzsche bin ich ganz verlassen.“ Also, es war letztlich immer noch eine große geistige Freundschaft beider großer Menschen. - Was ist nun geschehen? Nietzsche versucht zuletzt im „Ecce homo“ eine neue Welt zu bauen, gleichsam einen neuen Dombau. Und er sucht nach dem letzten Gott. Da fällt ihm die Schrift des Manu, eines hinduistischen Heiligen, der die Gesetze des Lebens niedergeschrieben hat, in die Hände, und sieht darin die Erfüllung oder Ergänzung des christlichen Glaubens. Einst hat er es ja Wagner übel genommen, dass er zu viel Christliches in den „Parsifal“ hereingenommen hat, aber jetzt wird er doch sehr nachdenklich: denn Nietzsche hat nun versucht, in seinen ganzen Gemarkungen etwas ausfindig zu machen, nämlich auf der einen Seite Jesus Christus und auf der anderen Seite Gautama Buddha. Er kannte die Bibel, das Alte und Neue Testament, er kannte aber auch die Schriften der indischen Gelehrten, er kannte die Schriften des vedischen Wissens, er kannte auch die Sätze des Manu. Und es scheint, dass sich Nietzsche in seinem letzten Suchen verloren hat. Es wird niemand und niemals eine Antwort darauf geben. Wir wissen heute, dass er den Menschen suchte, der immer wieder transzendiert. Und er schreibt in den „Unzeitgemäßen Betrachtungen“: „Ich möchte haben, dass vor jeder Stadt, luftig und hell, verschont vom 10 Lärm und vom Druck der Kirche, Hallen sind, in denen der Mensch zur Besinnung kommt, zur Stille, zur Meditation.“ Das war eigentlich der Kern. Denn er sagte: nicht oben, nicht unten, nicht rechts, nicht links, sondern nur in dem Menschen selbst ist die eigene Entwicklung angelegt. Und wir Meditanten wissen ja, wie einfach es ist, zu meditieren und zu transzendieren infolge der Technik, die uns Maharishi Mahesh Yogi gebracht hat. Und wenn wir das täglich tun, aber auch unsere Pflicht erfüllen, täglich im Leben sind, nicht auf den Lohn eines Jenseits hoffend – das hat ja Nietzsche abgelehnt –, sondern das volle Leben leben, in voller Fülle, so wie es ist, alles bejahen, nicht vorwärts und nicht rückwärts – das ist der Sinn seines Seins gewesen, und überhaupt der Sinn seines Daseins. Und wenn Nietzsche auch zuletzt noch versucht, die Hürde zu überwinden (worüber es überhaupt keine Aussage mehr gibt), nämlich den Menschen zu überschreiten und er daran scheitert, dann ist das vollkommen erklärbar, denn auch er hatte seine Grenzen. Nur an des Menschen äußerstem Maß erkennen wir dieses Maß. Nietzsche stirbt am 25. August 1900. Vor ihm das geistige Gewitter, das reinigt, stirbt er in einem Naturgewitter über Weimar, genauso, wie bei einem Gewitter Beethoven oder Dostojewski gestorben sind. Und nach vierzehn Sommern beginnt das große Stahlgewitter. Einst hatte er gerufen in die Einsamkeit: „Man wird mich nach dem nächsten großen Krieg erst verstehen.“ – Es sind zwei große Kriege über diese Erde gegangen. Haben wir ihn verstanden? Nietzsches letzte Erfüllung war doch die Musik. Der „Parsifal“ – den er ja so liebend gern gehört hätte, der sich aber seinen irdischen Ohren entzogen hat –, vielleicht wird dieser „Parsifal“, das Bühnenfestspiel, das Weihespiel Wagners, in dem nämlich der Komponist christliches Erlösungswerk und buddhistisches Nirwana vereint hat, – vielleicht ist es die Antwort auf diese Frage. Parsifal, „perse le val - durchdringe das Tal“, von der Seins-Sehnsucht zur Seins-Erfahrung, zur SeinsGewissheit. Ich schließe diese Abendstunde mit der Musik aus dem „Parsifal“(Ouvertüre). Und ich bitte Sie, wenn der letzte Klang sich vom Diesseits gelöst hat, ein paar Minuten stille zu verbleiben. Parsifal enthüllt den Gral, und der ihn reinen Herzens schaut, erhält lebensspendende Gnade. Und der Chor der Gralsritter singt und beschließt das Weihespiel mit der Verheißung: „Erlösung dem Erlöser.“ 11 Ergänzung zu dem Vortrag von Klaus Georg Lagatz Der folgende Text über Friedrich Nietzsche stammt von Sri Aurobindo (15.8.1872 – 6.12.1950), einem indischen Jogi, Dichter und Philosophen, der in England aufwuchs und dort Griechisch, Latein, Englisch, Französisch und Geschichte studierte. Sri Aurobindo sprach auch vollkommen Alt-Italienisch und Deutsch. Er studierte intensiv Goethes und Nietzsches Schriften. Sri Aurobindos Interpretation der Persönlichkeit und des Werkes Nietzsches stellt die vollkommene Sichtweise eines großen Weisen dar, eines Philosophen im Sinne Platons, eines göttlichen Sehers also, der imstande ist, die Dinge von einer sehr hohen, allumfassenden Warte aus zu beurteilen. Dieser Seher-Blick ist frei von den Begrenzungen des normalen menschlichen Denkens.- Der Text über Friedrich Nietzsche stammt aus dem Essay „Der Übermensch“ und ist nur eine von mehreren, aber die wichtigste und ausführlichste Aussage Sri Aurobindos über Nietzsche. (Er stammt aus der Textsammlung „Das Rätsel dieser Welt“.) „der römische Caesar mit Christi Seele“ – der expandierende, beharrliche Wille zur selbstlosen, edlen Tat... 12