Leben ist nicht gleich Leben

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Leben ist nicht gleich Leben
Dekan Dr. Friedemann Richert, Künzelsau
I.
Hinführung
Leben ist nicht gleich Leben. Es kann entweder gut oder schlecht geführt werden. - Hier aber stocke ich schon. Denn von einem gut oder einem schlecht geführten Leben zu reden kann man nur, wenn man um das Ethische weiß.
Um das Ethische zu wissen, bedeutet aber, sich nicht von den Kategorien von
"falsch" und "richtig" (diese gehören zur Naturwissenschaft), sondern von den
Kategorien von "gut" und "böse" leiten zu lassen. Wer sich aber von "gut" und
"böse" gedanklich leiten lässt, der hat eine wichtige Unterscheidung bereits getroffen, nämlich: Er unterscheidet zwischen Wahrheit und Wirklichkeit, zwischen Metaphysik und Physik, zwischen dem irdischen und dem himmlischen
Leben.
Und weiter: Wer im ethischen Sinne nach "gut" und "böse" fragt, der kann sich
in seinem Geiste und Denken nicht der naturalistischen Erkenntnistheorie anschließen, die da lehrt: verum factum est, zu Deutsch: Das Wahre ist das Gemachte. Denn für die naturalistische Erkenntnistheorie fallen Wirklichkeit und
Wahrheit in eins zusammen, sodass am Ende dieses Denkvorgangs überhaupt
keine ethischen Aussagen mehr getroffen werden können: Das Leben wäre einfach ein Geschehen ohne ethische Bedeutung, die Welt wäre dann eben alles,
was der Fall ist, wie Wittgenstein hierzu sagen würde.1 In Folge dessen zerfiele
das Leben in einen Ablauf von bedeutungslosen Prozessen, und die Welt wäre
nur eine Ansammlung von einzelnen Tatsachen. Und der Mensch wäre dann
ebenso eine solch bedeutungslose Tatsache. Und all seine Lebensdeutungen
nach gut und böse, nach schön und schwer, wären dann nur erkenntnislose
Selbsttäuschungen. Der Mensch wäre dann ein gedankliches Selbstmissverständnis, der sich selbst zu denken sucht, sich aber niemals findet, da es ihn ja in
Wirklichkeit gar nicht gibt.
Gedanklich begegnet uns diese Haltung im Existentialismus, der ja keine metaphysische Begründung von Ethik mehr denken will. Übrig bleibt dann nur eine
Mutmaßung von Ethik, die etwa über den Wertebegriff Klarheit zu verheißen
verspricht. Das aber wiederum ist ein Trugschluss par excellence, lebt doch der
Wertebegriff seinerseits von der Geltungstheorie gesellschaftlicher Absprachen,
1
Vgl. Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Nr. 1.
2
wie Friedrich Nietzsche eindrücklich nachgewiesen hat. Und diese Absprachen
sind, wie wir alle hinlänglich wissen, politisch und gesellschaftlich variabel und
darum kulturell sehr unterschiedlich konnotiert. Man denke nur an den Begriff
der Scham und der Ehre, die anders geartet etwa zwischen der westlichen und
der islamischen Welt gedeutet werden.
Wer also einer Wertegesellschaft das Wort redet, redet letztlich einer beliebigen Gesellschaft das Wort. Deswegen, um dem zu entgehen, will modernes Leben sich als in jeweiliger Verantwortung stehend für die unwägbaren Situation
des Lebens begreifen. Die Folge ist ein universeller Verantwortungsbegriff, der
seinerseits sinnentleert, weil nicht praktizierbar, ist. Der anstelle dessen gern
verwendete Begriff der Postmoderne hingegen ist ein die Machtverhältnisse verschleiernder Begriff und nicht geeignet, Leben und Welt, Verantwortung und
Haltung zu beschreiben.
Das moderne Leben aber öffnet der ethisch verbrämten Beliebigkeit Tür und
Tor. Hiervon legen die seit dem Ende 1950 Jahre entstandenen Bereichsethiken
beredt Zeugnis ab. Seither ist nicht mehr von einer allgemeinen Ethik, sondern
von einer Vielzahl von angewandten Ethiken. (Haben Sie sich schon einmal
überlegt, was eine nichtangewandte Ethik sein soll?)
Hierzu zählen: die Medizinethik, die politische Ethik, die Rechtsethik, die
Wirtschaftsethik, die Unternehmensethik, die Wirtschaftsethik, die Verwaltungsethik, die Agrarethik, die Tierethik, die Ernährungsethik, die Bioethik, die
Wissenschaftsethik, die feministische Ethik, die Genderethik, um nur einige Bereichsethiken zu nennen.
Wer jedoch so begrenzt denkt und sein Welt- und Menschenbild danach ausrichtet, der bleibt letztlich in der subjektiven Wirklichkeit, ohne Wahrheitsmöglichkeit, verhaftet. Das aber ist unvernünftig, besteht doch das Wesen der Vernunft darin, Wahrheit denken und erkennen zu können, wie Aristoteles uns
lehrt.2 Davon zu unterscheiden ist die moderne Rationalität, welche die Regel
der Tendenz zum Zweckgerichteten und Berechnenden in sich trägt. Und deswegen immer instrumentell und interessengeleitet ist. Diese Form des Denkens
aber gebiert das moderne, einsame, autonome Individuum, welches ganz unterschiedliche Vorstellungen von dem Guten und dem Bösen zu benennen weiß.
Galt vormals die Metaphysik als Garant für die Begründung ethischen Denkens, so wurde diese metaphysische Begründung der Ethik mit Beginn der Aufklärung durch die autonome Vernunft, verstanden als Rationalität, ersetzt. So
entstand das stahlharte Gebäude der Moderne mit seinen bekannten Pathologien.
Es folgten ihr dann, als weitere Begründungsgrößen für die Ethik, das Volk mit
2
Vgl. Aristoteles, Über die Seele, III 4-5.
3
seiner völkischen Ethik, und die Nation (Stichwort Kolonialismus) mit ihren
verheerenden Folgen. Sodann wurde der Gedanke der politischen Einigung Europas als Wertegemeinschaft entworfen (Europäische Union), bis schließlich die
Ökonomie als erkenntnisleitendes System im Denken sich erfolgreich zu Wort
gemeldet hat:
Nicht mehr die Frage nach dem Guten und Gerechten, sondern allein die Frage
nach dem Nützlichen ist die bestimmende Größe für die Wahrheit. So formuliert,
in Anlehnung an William James, der Pragmatismus das Nützliche als das Wahre.
Die Folgen dieser Denkart indes sind immens, weil seither keine inhaltlichmetaphysischen, sondern nur noch verfahrenstechnische Fragen von öffentlicher
Bedeutung sind. Nur so ist es erklärbar, dass etwa der Begriff der Diskriminierung ins zentrale Denken der europäischen Rechtstradition Einzug gehalten hat.
Beispielhaft sei hier auf die Genderisierung unserer Gesellschaft hingewiesen,
die da lehrt: Das Geschlecht ist eine gesellschaftliche Konstruktion, weswegen
die Heterosexualität der erotischen Liebe zwischen Mann und Frau zunächst als
Unterdrückungsmechanismus zulasten der Frau gewertet werden muss, der nur
durch eine bunte Vielfalt von Geschlechtern (Diversity) aufzuheben sei.
II.
Platons Lehre vom Leben
Leben ist nicht gleich Leben. Es kann entweder gut oder schlecht geführt werden. Für Platon indes steht fest, dass jede Lebensführung Einfluss nimmt auf den
Zustand der Seele und damit des Lebens und Denkens, gemessen an dem, wie
man mit seinem ganzen Leben eigentlich leben soll.
Dies gelingt nach Platon dadurch, dass der Mensch für sich selbst Sorge trägt.
Diese Selbstsorge ist indes die charakteristische Tätigkeit der Seele des Menschen und meint den philosophisch verantworteten Anspruch auf das Leben sowohl in seiner privaten als auch öffentlicher Form. Für Platon ist die Seele die
Regentin des Lebens, die aktiv den Menschen in seinem Lebensvollzug begleitet. Hier stellt sich für Platon nun die Frage nach dem Heil und Gelingen des
Lebens, von dem er ein verfehltes Leben unterscheidet.
Als praktische Antwort hierauf gibt Platon die Auskunft, dass nur in der wohlgeordneten Gemeinschaft (im Staate) das Leben gut geführt werden kann. Deswegen bedarf das Leben der Erziehung durch ordnende Gesetze. Diese sind
dann gut, wenn sie die Seele des Menschen zum Guten hinführen. Drei mögliche
Lebensweisen wollen sich hierzu dem Menschen andienen:
4
(1.) Das Gute ist in der Lusterfüllung, dem Hedonismus, zu finden;
(2.) Das Gute ist in der Enthaltsamkeit, der Askese, zu finden;
(3.) Das Gute ist in der Haltung der Einsicht, der Philosophie, zu finden.
1. Zur Lust und Askese
Platon entfaltet nun in seinem Dialog Philebos den Gedanken, dass weder ein
Leben in höchster Lust (Hedonismus) noch ein Leben in reiner Vernunft (Askese) ein gutes Leben gewähren kann:
Da die Lust stets einen wankelmütigen und vergänglichen Charakter hat,
scheidet sie für Platon als Garant des Guten an sich schon aus, wenngleich der
Lust auf der Rangordnung des Guten immerhin der fünfte Platz eingeräumt
wird. So kommt Platon zur folgender Rangordnung von Ideen, die dem Guten
zugeordnet werden:
1. das Maßvolle und die damit verbundene vorzügliche rechte Zeit;
2. das richtige Verhältnis vom Schönen, Vollkommenen und Hinreichenden;
3. die Einsicht und die Vernunft, die beide nahe bei der Wahrheit wohnen;
4. das Wissen, die Künste (Kunstfertigkeit) und die richtigen Meinungen als Besitz der Seele. Denn Denken ist das Reden der Seele mit sich selbst, vgl. Sophist
263e);
5. die schmerzlosen und reinen Lüste.3
So lehrt Platon:
„Nach (diesem) Urteil ... stände also die Lust ihrer Geltung nach erst an fünfter Stelle. …
Und also nicht an erster Stelle, auch wenn das alle Ochsen und Pferde und alle anderen Tiere
insgesamt dadurch behaupten, daß sie der Freude nachjagen; diesen glaubt die Menge, wie
die Wahrsager den Vögeln, und kommt so zum Urteil, daß die Lust das beste sei, wenn wir
ein gutes Leben führen wollen, und sie meinen, die Liebe der Tiere sei ein gültigeres Zeugnis als die Liebe, die sich in jenen Worten findet, die im Sinne der philosophischen Muse
immer wieder verkündet worden sind.“4
3
4
Vgl. Philebos 66a-c.
Philebos 67a-b.
5
Und auch ein Leben in reiner Vernunft, ohne jegliche Lust und Vergnügen, ein
rein asketisches Leben also, ist für Platon nicht erstrebenswert, da ihm die Freude am Leben und am Schönen, am Vollkommenen und am Hinreichenden fehlt.5
2. Zum philosophischen Leben
Ein gutes und wahrhaftiges Leben vermag allein die philosophisch gewonnene
Einsicht zu verbürgen, die ein Leben aus wahrer Erkenntnis und wahrer Lust zu
gestalten vermag. Voraussetzung hierfür ist freilich die philosophische Selbstsorge. Diese eröffnet nämlich den Weg zu einem guten Leben, welches für Platon in die Seelsorge mündet. So sagt Sokrates in seiner Verteidigungsrede vor
dem Athener Gericht:
„Denn, wenn ich umhergehe, tue ich nichts anderes, als euch, jung und alt, zu überreden,
nicht so sehr für den Leib zu sorgen noch für das Geld, sondern um die Seele und darum,
dass sie möglichst gut werde.“6
„Sokrates wurde oft entgegengehalten, dies oder jenes – z.B. dass Unrecht leiden besser sei als Unrecht tun – könne man nicht sagen, ohne ins Abseits zu geraten. Er pflegte darauf zu antworten: »Was man sagen kann, kann ich nicht beurteilen. Wer ist ‹man›? Was alle sagen, ist nicht wichtig, denn alle haben ja
nicht nachgedacht. Lass uns lieber sehen, ob wir beide, du und ich, es einsehen.»“7 Dieses Einsehen führt den Menschen in ein seelsorglich geführtes Leben, welches möglichst gut zu werden sucht. So lässt Platon den Sokrates während seines Prozesses Folgendes sagen:
„Mein Bester, du bist doch ein Athener, ein Bürger der größten und an Bildung berühmtesten Stadt. Schämst du dich nicht, dass du dich zwar darum bemühst, wie du zu möglichst viel Geld, zu Ruhm und Ehre kommst, um die Einsicht aber und um die Wahrheit
und darum, dass deine Seele möglichst gut werde, dich weder sorgst noch kümmerst?“8
Dem Wohl seiner Seele hat der Mensch mit seinem Leben in der Haltung der
Einsicht, verstanden als „Denken, Verstand und Klugheit“ und Wahrheit Rechnung zu tragen. Beide leiten demnach zu einem seelsorgerlich-guten Leben an,
welches letztlich aus der Erkenntnis des wahrhaft Guten entsteht. Und diese
5
Vgl Philebos 21d-e.
Platon, Apologie 30b.
7
Robert Spaemann, Schritte über uns hinaus, S. 14.
8
Platon, Apologie 29e.
6
6
führt den Menschen zur Glückseligkeit, zur Eudaimonia. Hierzu sagt der Philosoph Robert Spaemann:
„Daß Menschen und Dinge, die unser Begehren erwecken, etwas anderes, Größeres versprechen, als sich selbst, etwas also, das sie selbst prinzipiell nicht halten können, ist die Grunderfahrung, die Platons Lehre vom „Guten selbst“ zugrunde liegt. … Diesen Horizont, der unsere
konkreten Einzelziele umgreift, nannten die Alten eudaimonia.“9
Denn allein das Wissen um das Gute ist nicht ambivalent, im Gegensatz zu allem anderen Wissen, das sowohl zum Guten als auch zum Schlechten gebraucht
werden kann.10 Das gute Leben zu finden ist daher für Platon die schönste Aufgabe, der sich ein Mensch widmen kann. So sagt Sokrates im Dialog Gorgias
zur Frage nach der rechten Lebensweise:
„Die schönste Untersuchung aber von allen, die es gibt, ist die: wie der Mensch sein, was
er treiben und wieweit er in seinem Alter danach streben soll und wieweit in seiner Jugend. Denn wenn ich irgendetwas in meiner Lebensführung nicht recht mache, dann sei
gewiss, dass ich dabei nicht absichtlich fehle, sondern infolge meiner Unwissenheit.“11
Der Mensch lebt zunächst in allgemeiner Unwissenheit über das Ziel des Lebens. Von seiner Selbstsorge angeleitet, erkennt der Mensch freilich, dass er
nicht freiwillig irrt. Mithin verfehlt der Mensch auch nicht freiwillig sein Lebensziel. Denn gut leben wollen alle Menschen. Was aber das wahrhaft gute Leben ist, das will Platon mithilfe der sokratischen Seelenführung finden, die sich
hierbei auch der Hebammenkunst bedient. Darunter versteht Platon die Kunstfertigkeit des Sokrates, bei einem philosophischen Gespräch von Frage und
Antwort einen geeigneten Gesprächspartner die gesuchte Erkenntnis selbst finden zu lassen; ist diese doch in seiner Seele bis dahin unerkannt vorhanden.12
Denn die lernwillige, unsterbliche Seele kann sich in einem mit Sokrates geführten philosophischen Gespräch durchaus an ihr ursprünglich göttliches Leben mit
dem entsprechenden Ur-Wissen erinnern. Darum wird die Hebammenkunst des
Sokrates als ein ihm verliehenes Gottesgeschenk bezeichnet, das dem anderen in
9
Spaemann, Glück und Wohlwollen, S. 35.
Diese Einsicht erörtert Platon in seinem Dialog Hippias II. Im Sonnengleichnis im Staat 506b-509b erläutert Platon die
Idee des Guten als das, was dem Erkennbaren Wahrheit mitteilt. Darum denkt Platon das Gute selbst als über dem Sein an
Würde und Kraft stehend.
11
Gorgias 487e-488a.
12
Vgl. Theaitetos 148e-151d, wo Sokrates seine „Hebammenkunst“ beschreibt. Als klassisches Beispiel hierfür dient Menon 80d-86c, in dem Sokrates einen bis dahin mathematisch unkundigen Sklaven durch die Hebammenkunst so in die Mathematik einführt, dass der Sklave nunmehr sein mathematisches Wissen als Wiedererinnern (Anamnesis) von latent vorhandenem Wissen versteht.
10
7
Form der je richtigen Frage seelsorgerlich zugutekommt. Folglich ist das gute
Leben ohne eine gezielte Seelenpflege nicht zu bekommen.
Ein Kennzeichen dieser Seelenpflege ist nach Platon die Mündigkeit des Menschen: Er ist "Herr im Hause seiner Seele" und nicht, wie die Neuzeit lehrt, ein
getriebenes, unmündiges Wesen (so Freud) oder gar ein evolutionäres Selbstmissverständnis, das gar keine unsterbliche Seele besitzt, sondern nur als säkulare Person oder als Selbst begriffen werden kann.
Platon hingegen begreift den Menschen als beseeltes Lebewesen, das als "Mitglied der Herde Gottes auf Erden" sein Leben in der Haltung des Guten zu führen hat.13 So begreift Platon das Leben als umfassende Aufgabe, die sich über
alle Lebenszeiten hinweg dem Menschen stellt, ist der Mensch doch zeitlebens
ein beseeltes Wesen. Ziel hierbei ist das Erreichen der Glückseligkeit, verstanden als Angleichung der Seele an Gott.
Und diese wird nach Platon nicht in der Haltung der ungezügelten Lust erreicht, sondern über die Haltung der Besonnenheit. Wenn diese die Seele leitet,
wird sie ein gegenüber den Menschen pflichtgemäßes Leben führen: ein gerechtes, frommes und tapferes Leben. Das aber zieht nach Platon die Folge nach
sich, dass dieser so lebende Mensch selbst gerecht, fromm und tapfer ist.
Das so bestimmte gute und glückselige Leben zeichnet sich durch die Tugenden der Gerechtigkeit und Besonnenheit aus, die die Seele als Lebensprinzip zu
einem pflichtgemäßen Leben anleiten. Um ein solches hier auf Erden führen zu
können, ist Platon an einem ausgewogenen Verhältnis von Seele und Körper des
Menschen interessiert. Nur auf diese Weise kann der Mensch wohlberaten leben
und handeln. So beschreibt Platon im Dialog Phaidros die Seele des Menschen
in seinem Mythos von der „geflügelten Seele“ wie folgt:
„Die Seele entspringt demnach einem geflügelten Gespann mit einem Wagenlenker, das den
Weg aus der Welt des Werdens nach oben zum Rand des himmlischen Gewölbes sucht. Denn
die Schönheit im Diesseits erinnert die Seele an ihre Herkunft, lässt ihr Flügel wachsen und
sie nach Rückkehr zum geistigen Bereich streben. Dies erklärt das dem Menschen eigene
Streben nach Wissen. Das Seelengespann des Menschen besteht aus einem trefflichen Pferd
und einem schlechten, das unwillig ist und den Wagen zur Erde niederzieht.“14
Als „schlechtes Pferd“ können demnach die Begierden und die Zügellosigkeit
ausgemacht werden, die durch die Besonnenheit indes in ihre Schranken gewie13
14
Vgl. Phaidon 61c-62c.
Michael Erler, Platon, S. 137f.
8
sen werden können. Denn eigentliches Merkmal der menschlichen Seele ist
doch ihr Wunsch, das begrenzt irdische Leben zu überwinden und anstelle dessen die göttlich befreiende Himmelsschau zu erleben. Aber erst die Seelsorge
eröffnet hierzu den Erkenntnisweg. Denn die Seele denkt Platon mit sich selbst
in Spannung lebend, nämlich nach dem „Begehrenden“, dem „Muthaften“ und
dem „Überlegenden“. Letzterem kommt allein die fürsorgende Herrschaft über
die Seele zu. Im Dialog Timaios lokalisiert Platon diese drei Teile der Seele entsprechend in Unterleib, Brust und Kopf.15. Ein ausgeglichenes Kräfteverhältnis
zwischen Seele und Leib dient indes dem guten Leben:
„Wenn da die Seele stärker ist als der Leib und sie in ihm in übermäßige Aufwallung gerät, so schüttelt sie ihn völlig durcheinander und erfüllt ihn von innen heraus mit Krankheiten, … Oder der umgekehrte Fall, wenn ein großer Leib, der stärker ist als die Seele,
mit einem geringen und schwachen Denkvermögen verbunden wurde: … so bekommen
die Bewegungen des Stärkeren die Oberhand und erweitern ihren Bereich, machen aber
die Seele stumpf und ungelehrig und vergesslich und rufen dadurch die größte Krankheit,
Unwissenheit, hervor.“16
Zwar räumt Platon der Seele des Menschen als seinem wahren Selbst den Vorrang ein, aber körperliche Gesundheit kommt der Seele zugute. Demnach ermöglicht erst ein bedachtes Verhältnis von Seele und Leib ein wohlberatenes
Leben, welches sich der „Krankheit der Unwissenheit“ zu entledigen weiß. Damit unterzieht Platon seinen Lebensbegriff einer grundlegend ethischen Betrachtung: Zum einen ist der Mensch als „ein „Mitglied der Herde Gottes auf Erden“
zur Leibespflege verpflichtet und bedarf hierzu auch einen guten Arzt, zugleich
ist der Mensch gehalten, sich selbst keine Gewalt anzutun. Deswegen lehnt Platon den Selbstmord ab.
Für Platon nun fällt dem Arzt die Aufgabe zu, dem Kranken nach besten Können zur Gesundheit zu verhelfen. Und die Frage, ob es für diesen oder jenen
Kranken wünschbar ist, weiterzuleben, geht den Arzt nichts an und kann von
ihm nicht beantwortet werden, sondern nur von einem "Seher", also von einem
göttlich inspirierten Propheten.17 Der Arzt aber hat zugleich mit seinem Handeln
zu gewährleisten, der Harmonie des Lebens gerecht zu werden, mithin also der
Selbstsorge und Seelenpflege des Menschen dienlich zu sein.
Deswegen aber muss der Mensch zum anderen lernen, in Freundschaft mit sich
selbst zu leben, ist sein Lebenskern in Wahrheit doch seine Seele, denn für Platon gilt es als ausgemacht,
15
Vgl. Timaios 69d-70a.
Timaios 87d-88b.
17
Vgl. Laches 195c-e.
16
9
„dass sich die Seele in jeder Hinsicht vor dem Leibe auszeichne und dass in diesem Leben hier einzig nur die Seele das ist, was das Sein eines jeden von uns ausmacht.“18
Ist die Seele der Inbegriff des Lebendigen, so hat sie einen vorrangigen Lebensstatus inne, dem der Mensch, will er die Glückseligkeit als Lebensziel erreichen,
gerecht werden muss. Dies gelingt, indem die durch leibliche Begierden und Affekte hervorgerufenen seelischen Beeinträchtigungen vernünftig und besonnen
kontrolliert werden.
„Platons Antwort auf Sokrates‘ Frage: «Wie soll ich leben?» ist eindeutig: Man
muss sich auf das wahre und unsterbliche Selbst konzentrieren und mit Hilfe
von Philosophie all das wie Tang oder Muscheln abstreifen, was körperlich und
sterblich ist.“19 Ein gutes Leben ist demnach ein philosophisches Leben, welches
sich auf die im Tode ereignende Trennung von Leib und Seele vorbereitet, um
eine reine Seele zu erhalten. So lässt Platon den Sokrates angesichts seiner bevorstehenden Hinrichtung sagen:
„«Das, wonach wir verlangen und als dessen Liebhaber wir uns ausgeben, der vernünftigen Einsicht nämlich, das wird uns offenbar erst dann zuteil werden, wenn wir gestorben
sind, … nicht aber im Leben. … Und so, rein und von der Unvernunft des Leibes befreit,
werden wir dann wohl unter gleichartigen Wesen leben und durch uns selbst die ganze
reine Wahrheit erkennen.» … «Die Reinigung besteht doch darin, dass wir die Seele …
so viel als möglich vom Leibe trennen und sie daran gewöhnen, sich allerseits von ihm
zurückzuziehen und sich zu sammeln und sowohl in diesem wie im künftigen Leben
möglichst allein für sich zu wohnen, gleichsam befreit von den Banden des Leibes?»
«Gewiss», gab er (= Simmias) zur Antwort. «Ist es dann nicht das, was wir als ‹Tod› bezeichnen: die Erlösung und die Befreiung der Seele vom Leib?» «Allerdings», sagte er.
«Wie wir aber behaupten, bemühen sich die echten Philosophen jederzeit am meisten und
als einzige darum, ihre Seele loszulösen; gerade das ist doch ihr Bestreben, die Loslösung
und Trennung der Seele vom Leib.»“20
Demnach ist die Kunst des Sterbens (ars moriendi) ein Kennzeichen eines seelsorgerlich verantworteten Lebens. Der Träger der ethischen Verantwortung für
das Leben ist daher die Seele, ist doch diese der bleibende Teil des Menschen,
der nicht in den Tod gefordert ist. Darum ist die Seele zugleich das menschliche
Vermögen der Lebens- und Charakterwahl, sodass die Sorge um die Seele im
18
Gesetze 959a.
Michael Erler, Platon, S. 139.
20
Phaidon 66e-67d.
19
10
Erwerb des Wissens besteht, die richtige Wahl zu treffen: Ein philosophisches
Leben zu führen.21
21
Vgl. Staat 616b-619e.
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