D as Argument 320 58. J a h r g a n g H e f t 6 / 2016 I Redaktion dieser Ausgabe Sabine Plonz (Herausgeberin dieses Heftes), Ruth May (Koordination), Frigga Haug, Peter Jehle, Carina R. Klugbauer, Jan Rehmann In eigener Sache ............................................................................. Verlagsmitteilungen ....................................................................... Volker Braun Der Morgen der Migranten ..................................... Silke Wittich-Neven Gesteuerte Gnade ........................................ Einladung zur XXI. InkriT-Tagung 2017 ....................................... 775 775 777 778 780 Aktuelle Analysen Rainer Schultz Kuba nach Fidel ............................................................................. 781 Peter Eisenberg Leichte Sprache .............................................................................. 792 Mario Kessler Nach den US-Wahlen: Ein Brief aus New York .............................. 797 Ethik im Kapitalismus als Arbeit an der Utopie Mitmenschliche Praxis und politische Ethik heute – ein utopisches Projekt. Editorial (SP) ......................................... 799 Sabine Plonz Zum Verhältnis von Ökonomie und Moral. Eine Fallstudie ........... 802 Fortsetzung auf S. II Gesamtkoordination: Ines Schwerdtner [email protected] · Tel. 069 272 44 151 August-Hecht-Straße 33 · 63067 Offenbach Argument Verlag · [email protected] Glashüttenstr. 28 · D-20357 Hamburg Tel. 040 401800-16 · Fax -20 Einzelbestellung & Abonnement [email protected] Tel. 030 6 11-39 83 · Fax -42 70 Buchhandelsauslieferungen: Deutschland Prolit · [email protected] Tel. 06 41 943-93 24 · Fax -93 89 Österreich Hain · [email protected] Tel. +43 (0)1 282-65 65 · Fax -52 82 Schweiz AVA · [email protected] Tel. +41 (0)44 762-42 50 · Fax -42 10 DAS ARGUMENT 320/2016 © IIInhalt Elisabeth Conradi Verteilungsgerechtigkeit oder achtsame Zuwendung? Ethico-politische Dimensionen der Sorge in deutschsprachigen Care-Diskursen ............................................................................. 818 Frigga Haug Das Ethische aus dem Himmel der Werte in die alltäglichen Praxen aller Menschen holen. Nachtrag zur zweigeschlechtlichen Moral und Auftrag an weitere Erkundung ................................................ 833 Joan C. Tronto Kann »Sorgende Demokratie« eine politische Theorie der Transformation sein? ..................................................................... 839 Carina R. Klugbauer Die Grenzen des demokratischen Sorgebegriffs. Zur Moral des Sorgens ................................................................... 849 *** Wolfgang Fritz Haug Karl Marx’ Metakritik der Religion ............................................... 861 Christel Hartinger 1941–2016 (Else Laudan u. Gisela Oechelhaeuser) ......................................... 880 Personenangaben; Zeitschriftenschau; Summaries ....................... 912 Jahresinhaltsverzeichnis ............................................................ *I–*X DAS ARGUMENT 320/2016 © Inhalt III Besprechungen Philosophie Plass, Hanno (Hg.), Klasse Geschichte Bewusstsein. Was bleibt von Georg Lukács’ Theorie? (Ulrich Brieler) ........................................................ 881 Böhme, Gernot, Ästhetischer Kapitalismus (Jan Loheit) ............................... 884 Rancière, Jacques, Die Lektion Althussers (Alex Struwe) .............................. 886 Derrida, Jacques, Politik und Freundschaft. Gespräch über Marx und Althusser (Alex Struwe) .................................................................................. 886 Sprache und Literatur Braun, Volker, Handbibliothek der Unbehausten. Neue Gedichte (Gerhard Bauer) .............................................................................................. 888 Eribon, Didier, Rückkehr nach Reims (Karl Heinz Götze) ............................. 891 Ibacka Valiente, AnouchK (Hg.), Vertrauen, Kraft & Widerstand. Kurze Texte und Reden von Audre Lorde (Kornelia Hauser) .......................... 894 Pädagogik Hirschfeld, Uwe, Notizen zu Alltagsverstand, politischer Bildung und Utopie (Quint Czymmek) ........................................................................................... 896 Schröder, Frank (Hg.), Unternehmensstrategie Ausbildungsqualität. Berliner Initiativen für kleine und mittlere Unternehmen in einem sich wandelnden Arbeitsmarkt (Gerhard Zimmer) ................................................ 897 Soziologie Nachtwey, Oliver, Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne (Peter Bescherer) .......................................................... 899 Soziale Bewegungen und Politik Balibar, Étienne, Europa: Krise und Ende? (Michael Rahlwes) .................... 901 Srnicek, Nick, u. Alex Williams, Inventing the Future: Postcapitalism and a World Without Work (Fabian Zuppke) .......................................................... 902 DAS ARGUMENT 320/2016 © IVInhalt Ökonomie Plickert, Philip, Die VWL auf Sinnsuche. Ein Buch für zweifelnde Studenten und kritische Professoren (Alexander B. Voegele) ........................ 904 Fuchs, Christian, Reading Marx in the Information Age. A Media and Communication Studies Perspective on Capital Volume I (René Bohnstingl) ........................................................................................... 905 Westra, Robert, Dennis Badeen u. Robert Albritton (Hg.), The Future of Capitalism after the Financial Crisis. The Varieties of Capitalism Debate in the Age of Austerity (Lukas Humer u. Paul Majdzadeh-Ameli) .................. 907 Geschichte Heither, Dietrich, u. Adelheid Schulze, Die Morde von Mechterstädt 1920. Zur Geschichte rechtsradikaler Gewalt in Deutschland (Christian Dietrich) . 909 Grothe, Ewald, (Hg.), Carl Schmitt – Ernst Rudolf Huber: Briefwechsel 1926 –1981 (Peter Uwe Hohendahl) ............................................................... 910 Erratum In Argument 318 muss es im Editorial, S. 463, Abschnitt III., 6. auf 7. Zeile, statt: »von Ursachen« richtig: »und Konflikten« heißen. DAS ARGUMENT 320/2016 © 799 Mitmenschliche Praxis und politische Ethik heute – ein utopisches Projekt Editorial Mitmenschlich orientierte Praxis wird im Kapitalismus zur konkreten Utopie, deren Verwirklichung herrschenden Sachzwängen, Alltagsdenken und politischem Handeln abgerungen werden muss. In der aktuellen politischen Konjunktur wird ihre Prekarität aufs Neue deutlich: Die Akzeptanz der Demokratie wird von einflussreichen Akteuren und Interessengruppen untergraben und sie nimmt bei vielen Gruppen, die sich konkret oder diffus sozial bedroht sehen, weiter ab. Weltweit kommen antidemokratische Regierungen an die Macht, teils über Wahlen, teils durch Manipulation und Gewalt und arbeiten unverhohlen an der Aushöhlung republikanischer Institutionen. Diskurse und Praxen der Menschenfeindlichkeit haben an Einfluss gewonnen und drängen diejenigen, die in der Not ein freundliches Gesicht zeigen (Merkel), in die Defensive. Internationale Konflikte und Bürgerkriege eskalieren, langfristig erarbeitete Vereinbarungen zur Eindämmung ökologischer Bedrohungen werden beiseitegeschoben. Wenn wir derzeit eine Krise des Politischen erleben, muss Ethik kritisch, politisch und wirksam sein, indem sie das Kontrafaktische der mitmenschlich orientierten Praxis zu denken, bekräftigen und leben hilft. Einfach gesagt: sie muss sich gegen den Tod und für ein menschenwürdiges Leben Aller engagieren. Es reicht jedoch nicht, gegen Hasstiraden, Gewalt und Intoleranz, Sexismus oder Rassismus moralisch Einspruch zu erheben und liberalen Idealen zu huldigen. Sondern es kommt darauf an, die Verknüpfung dieser Phänomene mit dem im Blick zu behalten, was immer noch ›privat‹ genannt wird, obwohl es der Feminismus lang schon als ›politisch‹ enttarnt hat. Ein Heft, das sich ausgehend von geschlechterkritischen Analysen mit Theorien über fürsorgliche Praxis, über achtsame Zuwendung oder über die Utopie eines integrativen Konzepts von Arbeit und Zeitverwendung sowie mit menschenrechtlich begründeten internationalen Abkommen befasst, erscheint in der Hoffnung, Denkanstöße auf dem Weg zu einer solchen Ethik zu geben. Die hier versammelten Beiträge stellen sich dem politischen und transformierenden Anspruch je verschieden. In der Diskussion zwischen Autorinnen und Redaktion wurde gefragt: Wohin führt das Interesse an Ethik? Ist es als Abwendung von der Kritik der politischen Ökonomie zu verstehen oder als Hinwendung zum Praktisch-Werden feministischer Kritik, die sich auf ein Konzept politischer Ethik zubewegt? Lässt sich in kritischer Theorie ein moralkritischer Diskurs führen, der Ethik auch konstruktiv zu denken vermag und normativen Ansprüchen gerecht wird, die für ein menschenwürdiges, für ein zumindest relativ gutes Leben unverzichtbar sind? Bei allen Differenzen, die mit den leitenden Theorien der Autorinnen, ihren analytischen und praktischen Prioritäten, dem konkreten Feld, DAS ARGUMENT 320/2016 © 800Editorial das sie bearbeiten, zu tun haben, zeichnet sich ab: Es geht darum, den theoretischen und praktischen Raum zu schaffen, in dem mitmenschliches, kooperatives und nicht gewalttätiges Handeln möglich ist. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit und nicht zwingend ein Projekt ambitionierter Theoriearbeit, oder? Angesichts der faktisch wirksamen sozialdarwinistischen Anthropologie, auf die sich der Kapitalismus stützt, ist es eben doch eine anspruchsvolle Aufgabe. Während ihrer Bearbeitung wurde bei allen Einwänden und Zweifeln am Denkansatz der Anderen deutlich: Es geht uns darum, in der Konfusion des Alltäglichen und der scheinbar gesicherten Theorien eine alternative Sichtweise zu gewinnen, von der aus der geschlossene Ring der gesellschaftlichen Verhältnisse aufgebrochen und diese transformiert werden können, so dass Menschen solidarisch und einander verantwortlich leben können. In diesem Schwerpunkt nimmt die feministische Redaktionsgruppe die 2011 geführte Diskussion um das Thema der tätigen Sorge für sich und andere wieder auf (DA 292). Seinerzeit war es um den analytischen Gehalt des rasch um sich greifenden ›Care‹-Begriffs, sein Verhältnis zur Kritik der politischen Ökonomie, die Abgrenzung zwischen Reproduktions- und Hausarbeitsdiskussion und um die ethischen Implikationen der verschiedenen Fachdiskurse gegangen. Dieses Heft ist noch stärker theoriegeschichtlich interessiert. Angesichts der Marginalisierung nicht neoliberaler, erst recht kapitalismuskritischer Analysen braucht es auch ethikgeschichtliche Reflexion zum Ökonomie-Moral-Verhältnis, um die zeitgenössische kritische Theorie zu stärken. Dazu gehört, die Zweiteilung der politischen Ökonomie in einen bürgerlichen und einen marxistischen Strang als Herausforderung aufzufassen, das jeweilige Profil im Licht des anderen zu schärfen. Denn im klassischen Liberalismus vor Marx, gerade bei Adam Smith, war Raum für einen moralischen Diskurs, der dem Anspruch nach in dessen ökonomischem Werk zwar nicht obsolet geworden war, in der Durchführung jedoch auch nicht zufriedenstellend aufgehoben wurde, oder schärfer ausgedrückt: in Aporien endete, die sowohl von nachfolgenden Moral- als auch von ökonomie­theoretischen Entwürfen im doppelten Sinn hinter sich gelassen wurden. So hat Marx einen theoretischen Neuansatz zum Begreifen der gesellschaftlichen Verhältnisse gemacht, zu dem konstitutiv gehört, auch die ideologische Seite des bürgerlichen Denkens, einschließlich seiner moralischen und religiösen Komponenten zu entdecken. Wolf Fritz Haugs Untersuchung der »Metakritik der Religion« in diesem Heft beleuchtet diese Seite von Marxens Kritik und zieht die Linien zu Blochs Konzept der konkreten Utopie. Dennoch gibt das Ringen der liberalen Aufklärung um den Ort des Moralischen angesichts seiner Eingrenzung auf den häuslich-familiären Handlungsraum und seiner Überwältigung durch die Macht der kalkulierenden Vernunft in der historischen Entfaltung des Kapitalismus Denkanstöße für heutige Ethik. Jener alte Liberalismus steht an der Wasserscheide, an welcher der moderne Kapitalismus das Zepter übernimmt und die Moral, auch die moralische Kritik der Ökonomie aus dem Bereich des Vernünftigen und politisch Diskursfähigen herausfällt. Zwar geht es heute nicht um eine Remoralisierung der Gesellschaft, DAS ARGUMENT 320/2016 © Editorial 801 die zwangsläufig restaurativ wäre. Doch es geht um die Möglichkeit von Ethik angesichts der neoliberalen Totalisierung des Ökonomischen und der ihr entsprechenden Moral. Auf diesem Feld sollte im Schwerpunkt des Heftes eine zwischen bürgerlichen und marxistischen Strömungen klaffende Lücke konstruktiv überbrückt werden, die sich eben auch im Nachdenken über »Lebenssorge« auftut, um einen weiteren Begriff aus den mit ›Care‹ unglücklich zusammengefassten Debatten aufzugreifen (den Cornelia Klinger verwendet). In der feministischen Diskussion wiederholt sich die Problematik, dass sich ökonomische Fundierung gesellschaftlicher Kritik und ethisch-konstruktive Argumentation auf verschiedenen Flughöhen bewegen und die je andere allenfalls ausschnitthaft zu Gesicht bekommen. Immerhin müssen sie so auch nicht kollidieren. Konkret stellt Joan Tronto die Sorgeperspektive als radikaldemokratischen Transformationsansatz vor, bleibt dabei aber auf Distanz zum marxistischen Arbeits- und Reproduktionsbegriff, während Carina Klugbauer ihr das Übergehen kapitalismuskritischer Analysen ankreidet, weil damit die geforderte solidarische Werthaltung der Bürgerinnen und Bürger in der Luft hänge. Beide aber unterstreichen das Anliegen der Utopie gelebter Mitmenschlichkeit unter den krisenhaften Umständen dieser Tage. Es gibt, so zeigen die Beiträge von Elisabeth Conradi und Frigga Haug, die von der geschlechter- und sorge-ethischen Diskussion der achtziger Jahre (nach Gilligan) ausgehen, in der Geschichte des Feminismus gemeinsame Wegabschnitte und gut begründete Abzweigungen. In der Zusammenschau beider Aufsätze erschließen sich wesentliche Zusammenhänge der Theoriebildung, die der Inflation des Care-Begriffs substanzielle Konzepte ethisch-politischer Praxis entgegenstellen. Einen methodisch anderen Weg schlägt Sabine Plonz ein, die politische Ethik in Auseinandersetzung mit dem konkreten Thema entlohnter Hausarbeit in Gegenwart und Geschichte anvisiert. Es bleibt noch einiges zu tun, um weiterzukommen in der zu Beginn des Heftprojekts aufgeworfenen Fragestellung: Wie sind Moral und Ökonomie in kapitalismus- und geschlechterkritischen Theorien aufeinander bezogen, und wie wird darin die Frage nach der mitmenschlichen Praxis so gestellt und beantwortet, dass sie politisch relevant ist? Sabine Plonz DAS ARGUMENT 320/2016 ©