Kaija Saariaho Lumière et Pesanteur

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Kaija Saariaho
Lumière et Pesanteur
Do 16. Februar 2017, 20 Uhr
Fr 17. Februar 2017, 20 Uhr
Konzerteinführung jeweils 19 Uhr
Stuttgart, Liederhalle
So 19. Februar 2017, 20 Uhr
Konzerteinführung 19 Uhr
Freiburg, Konzerthaus
SWR Symphonieorchester
Dirigent: David Afkham
Erstellt von Anja Renczikowski
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Inhalt
I. Die Komponistin Kaija Saariaho ............................................................................................... 2
I.a) Kaija Saariaho – Komponistin der Saison 2016/2017 des SWR .................................................. 2
I.b) Von Finnland nach Paris und in die Welt ................................................................................... 3
I.c) Zwischen Naturgeräuschen und Computerklängen ................................................................... 5
I.d) Lumière et Pesanteur ................................................................................................................. 6
II. Ausführende des Konzerts ...................................................................................................... 9
II. a) SWR Symphonieorchester ........................................................................................................ 9
II. b) David Afkham – Dirigent ........................................................................................................ 10
III. Quellen ............................................................................................................................... 12
a) Weblinks: .................................................................................................................................... 12
b) Hör- und Seh-Tipps: ................................................................................................................... 12
c) Literatur: ..................................................................................................................................... 13
IV. Unterrichtsmaterial ............................................................................................................. 14
a) Ein Leben in Stichworten ........................................................................................................... 14
b) Daten zum Werk ........................................................................................................................ 16
V. Material ............................................................................................................................... 17
a) Kaija Saariaho im Gespräch ....................................................................................................... 17
1. Inspirationsquellen ................................................................................................................. 17
2. Natur und Musik .................................................................................................................... 17
3. Komponieren mit und ohne Computer .................................................................................. 18
b) Simone Weil ............................................................................................................................... 18
1. Wer war Simone Weil? ........................................................................................................... 18
2. „La pesanteur et la grâce“ (Schwerkraft und Gnade) ............................................................ 20
3. Zitate und Aphorismen .......................................................................................................... 21
4. Die aktuelle Bedeutung von Simone Weil .............................................................................. 22
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I. Die Komponistin Kaija Saariaho
I.a) Kaija Saariaho – Komponistin der Saison 2016/2017 des SWR
Unkonventionell und überraschend ist der Lebenslauf der finnischen Komponistin Kaija Saariaho.
Geboren wurde sie 1952 in Helsinki und erlebte als Kind die Musik auf ihre ganz eigene Weise –
ganz ohne einen musikalischen Background in der Familie. Seit über 30 Jahren lebt sie in ihrer
Wahlheimat Paris. Mittlerweile zählt sie zu einer der erfolgreichsten Komponistinnen der
Gegenwart. Umfangreich ist ihr Schaffen und es wirkt nie elitär. Ihre Musik ist hörbar. Die ihr so
wichtige Verbindung zwischen musikalischen und persönlichen Vorlieben und eine enge
Verbundenheit zu ihrem Seelenleben sind immer spürbar. Man braucht keine „Anleitung“ um ihre
Musik sinnliche zu erfahren. Und doch sind einige Hinweise zu ihren Ideen hilfreich. Im Fokus der
Saison 2016/2017 des SWR Symphonieorchesters stehen neben Werken von Gustav Mahler ihre
Kompositionen. Zum Auftakt spielte das SWR Symphonieorchester „Cinq Reflets“, eine Art Suite,
deren fünf Szenen aus der Oper „L'amour de loin“ entnommen sind. Nach Orion, steht nun ein
weiteres Orchesterwerk auf dem Spielplan: „Lumière et Pesanteur“.
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I.b) Von Finnland nach Paris und in die Welt
Woher kommt das Interesse für eine bestimmte Sache? Manchmal ist die Auswahl groß und die
Entscheidung fällt mühsam, weil man sich gar nicht entscheiden kann. Dann wieder lässt ein
Mangel oder ein Zufall einen mit Dingen in Berührung kommen, die eine fesseln und nie wieder
loslassen. In Kaija Saariahos Familie spielte die Musik kaum eine Rolle. „Das erste Erlebnis waren
einige Schallplatten, die ich in meinem Elternhaus hörte. Aber da in meiner Familie keine Musiker
waren, handelte es sich eher um populäre Musik, die ich als erstes wahrnahm“, erinnert sie sich.
Ihr Zugang zur Musik kam aus eigener Kraft und eigenem Interesse. Wichtig war auch ihr Umfeld –
vor allem die Natur. Als sie weiter in ihren Erinnerungen gräbt, erzählt sie: „Aber was ich wirklich
als erste Erfahrung mit der Musik bezeichnen würde, fand tatsächlich in der Natur statt. Als ich ein
Kind war, habe ich viel Zeit im Wald verbracht; ich liebte besonders den Wald nach dem Regen. Er
bot ein faszinierendes Hörerlebnis, weil alles so widerhallend und doch still war.“ Und noch eine
wichtige Inspirationsquelle gab es in frühen Jahren – das Radiohören: „Ich wurde durch unser
Radio auf die klassische Musik aufmerksam, vor allem, indem ich selbst danach gesucht und mich
kundig gemacht hatte.“ Kaija Saariaho erinnert sich auch an die ersten prägenden
Konzerterlebnisse. „Besonders in der Sommerzeit war ich oft im Konzerthaus. Ich bin nie dorthin
gebracht worden, als ich alt genug war, habe ich selbst damit angefangen, zu den Konzerten zu
gehen. Das ist aber in einem Land wie Finnland sehr jung: mit elf oder zwölf Jahren.“ Wer jetzt
denkt – das ist aber früh und sich gleich eingeschüchtert fühlt, in diesem Alter noch keine
Konzerterfahrung gemacht zu haben, sollte sich keine Sorgen machen, denn auch Kaija Saariaho
ließ sich bei allem Interesse für klassische Musik abschrecken. „Als ich las, dass Mozart in diesem
Alter bereits ein großer Komponist war, war ich ganz deprimiert. Gleichzeitig weckte es in mir
dieses übergroße Bedürfnis, als Komponistin meinen eigenen Weg zu gehen.“ Dieser Weg war bei
aller Zielstrebigkeit nicht einfach. Sie brauchte mehrere Anläufe, bis sie sich schließlich für die
Komponistinnenlaufbahn entschied – da war sie Anfang Zwanzig. Als Frau musste sie vor allem
gegen männliche Überheblichkeit ankämpfen. Einige Lehrer wollten sie gar nicht unterrichten. „Sie
dachten, ich würde sowieso in ein paar Jahren heiraten“, erinnert sie sich. Als ihr erste
Auftragswerk vom finnischen Radio aufgenommen wurde, begrüßten die Musiker sie nicht einmal.
„Ein Cellist, den ich sehr bewundert habe, hat sich schier kaputtgelacht, als ihn fragte, ob er mal
ein Stück von mir fürs Radio aufnehmen würde.“ An der Sibelius-Akademie fand sie dann aber
doch Lehrer, die sie unterrichteten und die sie unterstützten. Mit ihren Studienkollegen, darunter
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der ebenfalls sehr bekannte Komponist Magnus Lindberg, gründete sie die Vereinigung
„EarsOpen!“, die nicht nur Konzerte in Kindergärten und Gefängnissen organisierte, sondern auch
viele zeitgenössische Werke und Musik des 20. Jahrhunderts nach Finnland brachte. Bis dahin war
die klassische Musikszene stark von dem finnischen „Übervater“ Jean Sibelius geprägt.
Zeitgenössische Musik gab es kaum. Vor allem ein konservativer und postromantischer Stil prägte
die Kompositionsschule in den 1970er Jahren in Finnland.
„Sibelius ist für jeden finnischen
Komponisten sehr wichtig. Schon allein deshalb, weil seine Musik so präsent ist, immer und
überall.“ Bereits in den Kindergärten und Schulen werden seine Lieder gesungen und in den
Konzertsälen seine Sinfonien oftmals gespielt. Erst als sie dann nach Freiburg und später nach Paris
ging, hat sich Kaija Saariaho intensiver mit seiner Musik beschäftigt. Sie habe zwar nie einen
übermächtigen Einfluss gespürt, wie einige ihrer Kollegen, doch war es für sie wichtig, wegzugehen
und dadurch einen neuen Blick auf die Heimat und die Musik dort zu bekommen. Aber auch die
Avantgarde betrachtete sie kritisch, denn dort gab es zu viele Regeln, Verbote. Wenn rhythmische
Muster oder tonale Anklänge vermieden werden sollten, wo war dann die Freiheit? „Die ersten
Jahre in Paris lehrten mich, dass so viele Dinge koexistieren und Leute sehr polemisch sind. Und ich
lernte, dass von mir nicht erwartet wird, immer allem zuzustimmen. Dies waren sehr wichtige
Erkenntnisse für meine eigene Identitätsbildung, weil ich fühlte, dass ich genau so existieren kann,
wie ich bin.“
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I.c) Zwischen Naturgeräuschen und Computerklängen
Wie kann man Kaija Saariahos Musik beschreiben. Worte können immer nur ein wenig von dem
erfassen, was jeder Hörer individuell für sich hört und erlebt. Berührend, immer sehr persönlich,
doch nie mit einem intellektuellen Habitus, sondern sehr zugänglich – das umschreibt kurz ihre
Musik. Nach ihrem Studium bei Paavo Heininen in Helsinki studiert sie in Freiburg bei Klaus Huber
und Brian Ferneyhough. Anfang der 80er Jahre begann sie in Paris am IRCAM, dem Institut de
Recherche et Coordination Acoustique/Musique, dem Forschungsinstitut für Akustik und Musik,
das sich im Centre Pompidou in Paris befindet, zu arbeiten. Sie war eine der ersten, die in Finnland
den Computer für ihre Klangfarben-Analysen einsetzte. Gelegentlich arbeitet sie auch mit
Tonbandzuspielen und live-elektronischem Equipment. (Die große Bandbreite ihrer verschiedenen
Kompositionen wird im Laufe der Werkschau beim SWR zur hören sein.) Würde man nur davon in
Kenntnis gesetzt, würde jeder wahrscheinlich eine sehr technische und sehr abstrakte Musik
erwarten. Doch beeindruckt ihre Musik durch eine große Sinnlichkeit und Emotionalität. Einflüsse
mögen ihre finnische Herkunft haben. Auch wenn sie sich unsicher sei, ob sie sich nach all den
Jahren als finnische
Komponistin zu betrachten: „Auf der einen Seite bin ich mir nicht sicher, ob
ich so denken kann. Auf der anderen Seite empfinde ich mich immer noch als eine sehr finnische
Person. Selbst wenn ich über die Jahre hinweg immer sehr schüchtern war, hat sich mein
öffentliches Auftreten dort stark verändert. Da meine Musik meine Person reflektiert, dürfte auch
die Musik in dieser Art und Weise finnisch sein. Ich denke deshalb schon, dass ich eine finnische
Komponistin bin. Trotzdem hängt es natürlich von der genaueren Definition ab. Aber der
musikalische Ausdruck und der Weg, in die Tiefe zu gehen und große Formen mit langen
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Zeitpannen zu bilden, das alles ist, denke ich, sehr nordisch.“ Wissenschaft, Technik und Natur
sieht sie nicht als Gegensätze – sie empfindet es keineswegs als Widerspruch, Naturgeräusche, die
an Vogelgezwitscher oder Wellen erinnern, am Computer zu erschaffen.
Ihre oft von Bildner und Lyrik inspirierte Musik, ist hoch reflektiert und entwickelt doch einen
geradezu klangmagischen Sog, in der Raum- und Zeitkoordination ausgeschaltet zu sein scheinen.
Ihre Musik „lebt“ quasi aus dem Klang heraus. Gerne weist sie darauf hin, dass sie Klänge schon
vor Beginn einer Komposition vor ihrem inneren Auge als Farben und Texturen sieht. Manche
Konzeptionen eines Werks beginnt sie mit einem Pinselstrich auf dem Papier.
Sie sei eine
disziplinierte Arbeiterin, die auch früh aufsteht und sehr konzeptionell vorgeht: „Ich gehe beim
Komponieren sozusagen vom Globalen ins Detail: ich stelle mir die Tempi vor, die Orchestration –
und dann beginne ich, mein musikalisches Material zu entwickeln: Ich definiere die Harmonien, die
Rhythmen, in welche Richtung sie sich entwickeln. Und dann erst beginne ich mit dem
Aufschreiben. Dazu brauche ich ausreichend Zeit – darum plane ich weit im Voraus, setze mir
bestimmte Deadlines. Ich hasse es nämlich, Stress zu haben!“
I.d) Lumière et Pesanteur
Ganz typisch für die Werke von Kaija Saariaho ist die Beschäftigung mit einem Themenfeld, dass
dann in verschiedenen Werken ausgearbeitet wird. Etwa die „Cinq Reflets de l‘amour de Loin“ den „Fünf Spiegelungen der fernen Liebe“, die auf ihr Oper „L‘amour de Loin“ zurückgehen. Das
Stück, das in der Werkschau des SWR Symphonieorchesters bereits zu Beginn der Spielzeit auf dem
Programm stand, vereint Material aus der Oper, ist jedoch als selbstständiges sinfonische Werk zu
verstehen. Ähnlich verfährt Saariaho auch mit „Lumière et Pesanteur“. Das Orchesterwerk geht auf
ein größeres Musiktheaterstück für Solosopran, Chor, Orchester und Elektronik zurück, das die
Komponistin als Oratorium „La Passion de Simon“ komponiert hat und welches im November 2006
in Wien uraufgeführt wurde. Wieder einmal konzipierte sie das Stück gemeinsam mit dem
libanesisch- französischen Librettisten Amin Maalouf und dem US-amerikanischen Regisseur Peter
Sellars. Die Drei hatten schon „L‘amour de loin“ und „Adriana mater“ gemeinsam realisiert. Thema
des Oratoriums ist das Leben der französisch-jüdischen Philosophin und Mystikerin Simone Weil.
Schon als Jugendliche begeisterte sich Saariaho für ihre Schriften. Besonders beeindruckte sie die
Aphorismen-Sammlung „La pesanteur et la grâce“ („Schwerkraft und Gnade“). Diese Sammlung
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von einzelnen Gedanken und Erkenntnisse war ihr so lieb, dass sie dieses Büchlein zu den wenigen
Gegenständen zählte, die sie in ihren Koffer packte, als sie 1981 zum Studium nach Deutschland
kam. Die „Kombination aus strengem Asketizismus (Anm.: eine strenge enthaltsame Lebensweise)
und leidenschaftlicher Suche nach Wahrheit“, faszinierten sie schon damals. Ebenso ein
Zusammenkommen von intellektueller wie spiritueller Lebenshaltung, das sie in Simone Weils
Werk erkannte. Der Regisseur Peter Sellars interessierte sich hingegen vor allem für politischen
Haltung der Protagonistin. Simone Weil teilte ihr Gehalt mit Arbeitslosen, arbeitete in Fabriken, um
die dortigen Arbeitsumstände kennenzulernen, die sie kritisch betrachtete und kämpfte gegen die
Ausbeutung der Arbeiter. Zudem beteiligte sie sich am spanischen Bürgerkrieg. Dass ihr Leben und
ihre philosophischen Ideen keineswegs immer in Einklang standen – oder vielmehr stehen konnte,
das war das zentrale Thema, das den Librettisten Amin Maalouf beschäftigte. Er sah in Simone Weil
vor allem einen sehr verletzbaren Menschen, der viele große Ideen hatte, im privaten Leben aber
viele Schicksalsschläge erdulden musste. So verwundert es nicht, dass „La Passion de Simone“ wie
eine Passion, wie eine Art Kreuzweg angelegt ist. In 15 „Stationen“, so Saariaho werden bestimmte
Stationen ihres Lebens und Wesenszüge ihrer Persönlichkeiten in Bildern musikalisch beschrieben.
In allen Bildern tritt die Sopranistin als eine Art Erzählerin auf. Einzig im achten Bild sing sie eine
Textpassage aus den Schriften: „Gott zieht sich aus der Welt zurück, um nicht so geliebt zu werden,
wie ein Geiziger einen Schatz liebt“. Ein zentraler Satz in ihren philosophischen Schriften, in dem
es darum geht, Schmerz und Unglück des Menschen zu verstehen. Erst durch die Tatsache, dass
Gott sich zurückzog und sich verbarg und in einer Gestalt nicht sichtbar wird, konnte er etwas
schaffen und nur so bleibt die Möglichkeit ihn als ebenso Leidenden zu erkennen – jemand, der
nicht über der Menschheit steht, sondern mit ihr.
Aus „Schwerkraft und Gnade“, dem Titel der Aphorismensammlung Simone Weils, deutete
Saariaho „Helligkeit und Schwerkraft“ - ein Titel, der auch viel über ihre musikalische Sprache sagt.
Der mit Saariaho befreundete Esa-Pekka Salonen, der viele Werke von Saariaho zur Aufführung
brachte, studierte das Oratorium 2009 in Los Angeles ein. Die Komponisten berichtet von einer
besonderen Vorliebe des Dirigenten und Freundes zur achten Station. Ein Grund für sie, ein
Orchesterarrangement des Stück zu komponieren. Für „Lumière et Pesanteur“ integrierte sie den
Sopranpart in den Instrumentalsatz.
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„Zwei Kräfte herrschen über das Weltall: Licht und Schwere“, so Simone Weil in „La pesanteur et la
grâce“. Die Schwerkraft und Gnade sind für sie zwei gegensätzliche Kräfte oder Energien die das
Weltall und die menschliche Seele beherrschen. Die Schwerkraft ist Ausdruck der
naturgesetzlichen Notwendigkeiten oder Mechanismen, denen alle Wesen, Pflanzen und
Menschen unterliegen. Die Schwerkraft ist allmächtig und alles Lebendige wird von ihr beherrscht.
Dagegen ist die Gnade Ausdruck des Übernatürlichen, symbolisiert durch das Licht. Die Gnade ist
eine Kraft, die die Schwerkraft außer Kraft setzen kann. Diese kann jedoch für Weil vom Menschen
nicht erzwungen werden. Das Licht ist auch Inspirationsquelle für viele Werke Saariahos – zumal
sie früher auch viel gemalt hat:
"Das hat mit meiner Konzeption von Klängen zu tun. Es gibt bestimmte Klänge in meinem Kopf, die
in mir - ohne dass ich es forcieren würde - Lichter und Farben auslösen. Ich denke sozusagen mehr
cineastisch - und das möchte ich dann in meiner Musik umsetzen. Und so wie Simone Weil ihr
Leben lang zwar nicht Gott gesucht hat, jedoch sie immer mit ihm beschäftigt hat, so sagt Kaija
Saariaho: „Musik ist meine Art mich dem Göttlichen zu nähern.“
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II. Ausführende des Konzerts
II. a) SWR Symphonieorchester
Die Zusammenführung des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des SWR und des SWR
Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg zum SWR Symphonieorchester dürfte einer der
ambitioniertesten Fusionsprozesse in der jüngeren Geschichte der ARD gewesen sein. Anders
gesagt: Das Orchester ist neu, aber es hat bereits Geschichte geschrieben. Zwei bedeutende
Traditionslinien und 70 Jahre an gelebter Erfahrung kommen überein. Mit der selbstverständlichen
Aufgabe, nämlich die Programme der neugeordneten Rundfunklandschaft im deutschen
Südwesten mit Musik zu versorgen, begann es 1946. Schon damals formten profilierte
Chefdirigenten ihre jungen Orchester – in Baden-Baden war es der weltläufige Hans Rosbaud, in
Stuttgart der gewissenhafte Hans Müller-Kray, der sich dabei gerne von Carl Schuricht unterstützen
ließ. Von Anfang an stand der öffentlich-rechtliche Auftrag im Zentrum, was neben der Pflege des
Standardrepertoires die experimentellen Aspekte mit einschloss oder, um es etwas anders auf den
Punkt zu bringen: die stete Verlebendigung des Überlieferten, des noch zu Entdeckenden und der
Neuen Musik! Im natürlichen Wandel dieser Bedürfnisse haben sich beide Orchester entwickelt,
wobei in Stuttgart und Baden-Baden (später Freiburg) durchaus unterschiedliche Akzente gesetzt
wurden. Nach der Gründergeneration am Chefdirigentenpult kamen neue Kräfte: in Baden-Baden
bzw. Freiburg Ernest Bour, Michael Gielen, Sylvain Cambreling und zuletzt François-Xavier Roth.
In Stuttgart hießen diese Leitfiguren, von denen jede für ein Programm steht, dann Neville
Marriner, Sergiu Celibidache, Georges Prêtre, Sir Roger Norrington und Stéphane Denève. Neben
diesen institutionalisierten Chefs kamen noch bedeutende Gastdirigenten hinzu. Sie zu nennen,
liefe partiell auf ein »Who is Who« der Branche hinaus. Seit der Fusion von SDR und SWF zum SWR
standen die beiden großen Sinfonieorchester bereits unter einer Dachorganisation als zwei
sinfonische Kollektive, die sich idealtypisch ergänzten. Die Geschichte geht weiter, sie hat gerade
erst begonnen.
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II. b) David Afkham – Dirigent
David Afkham ist der Chefdirigent des Orquesta y Coro Nacional de España. Er ist einer der am
meisten gefragten Gastdirigenten bei den besten Orchestern und Opernhäusern der Welt und hat
sich den Ruf als einer der begehrtesten Dirigenten der letzten Jahre aus Deutschland erarbeitet.
In den Spielzeiten 2015/16 und 2016/17 kehrt er zu den Münchener Philharmonikern, der
Staatskapelle Berlin, dem Schwedischen Radio-Sinfonieorchester, den Wiener Symphonikern (bei
einer Konzertreihe im Wiener Musikverein), dem Rotterdams Philharmonisch Orkest, dem
Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia, den Göteborger Symphonikern, dem hrSinfonieorchester Frankfurt und dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg zurück
und unternimmt eine Tournee mit dem Gustav Mahler Jugendorchester. David Afkham freut sich
auf seine Debüts beim Chicago Symphony Orchestra, bei den Bamberger Symphonikern, dem
Danish National Symphony Orchestra, dem Oslo Philharmonic Orchestra und dem Israel
Philharmonic Orchestra.
Zu den Engagements der letzten Zeit gehörten Debüts beim Koninklijk Concertgebouw Orkest
Amsterdam, dem London Symphony Orchestra, dem City of Birmingham Symphony Orchestra, dem
Deutschen Sinfonie-Orchester Berlin, der Filarmonica della Scala, dem Philharmonia Orchestra
London sowie beim Cleveland Orchestra und beim Seattle Symphony Orchestra. Dazu gab er sein
Debüt in New York beim Mostly Mozart Festival.
Im Sommer 2014 gab David Afkham sein sehr erfolgreiches Operndebüt mit Verdis »La traviata«
beim Glyndebourne Festival Opera. Mit der gleichen Produktion ging er später auf Tour. Zu den
zukünftigen Opernplänen gehören »Bomarzo« am Teatro Real Madrid und »Hänsel und Gretel« an
der Oper Frankfurt.
Der 1983 in Freiburg geborene David Afkham erhielt mit sechs Jahren seinen ersten Klavier- und
Geigenunterricht. Schon mit 15 Jahren wurde er als Jungstudent in den Fächern Klavier,
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Musiktheorie und Dirigieren an die Musikhochschule Freiburg aufgenommen. 2002 errang er beim
Bundeswettbewerb »Jugend musiziert« einen 1. Preis in der Kategorie Klavier solo. Sein
Dirigierstudium schloss er dann an der Hochschule für Musik »Franz Liszt« in Weimar ab. David
Afkham war Stipendiat des Richard-Wagner-Verbands Bayreuth und Mitglied des Dirigentenforums
des Deutschen Musikrats. Zudem war er erster Stipendiat des »Bernard Haitink Fund for Young
Talent«. Er assistierte seinem Mentor Bernard Haitink bei zahlreichen Projekten, darunter bei
Konzertzyklen mit dem Chicago Symphony Orchestra, dem Koninklijk Concertgebouw Orkest und
dem London Symphony Orchestra. 2008 gewann er den Londoner Donatella Flick-Wettbewerb und
wurde dafür zwei Jahre lang mit dem Posten des Assistenz-Dirigenten des London Symphony
Orchestra betraut. Im August 2010 wurde er mit dem in diesem Jahr erstmalig vergebenen »Nestlé
and Salzburg Festival Young Conductors Award« ausgezeichnet. Seine dreijährige Amtszeit als
Assistenzdirigent des Gustav Mahler Jugendorchesters schloss David Afkham im Sommer 2012 ab.
Seit 2014 ist David Afkham Chefdirigent des Spanischen Nationalorchesters in Madrid.
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III. Quellen
Wo gibt es mehr?
a) Weblinks:
Ein kleines Porträt der Komponistin Kaija Saariaho gibt es auf der Seite des SWR:
http://www.swr.de/swr-classic/symphonieorchester/swr-classic-video-kuenstlerin-der-saison-kaijasaariaho/-/id=17055418/did=17762710/nid=17055418/10x4glu/index.html
Nähere Informationen zu Kaija Saariaho sind im Internet auf der Seite http://saariaho.org/
zu finden. Hier gibt es Fotos, eine ausführliche Biografie und Informationen zu ihren Werken.
Auch: http://saariaho.org/works/lumiere-et-pesanteur/
Die Botschaft von Finnland in Berlin hat eine sehr informative Seite im Internet mit einigen
Informationen zum finnischen Musikleben. Neben Hinweisen zur klassischen Musik, gibt es auch
Informationen zur Jazz-Szene, dem finnischen Tango und Electro-Pop und Heavy Metal Musik.
www.finnland.de/public/default.aspx?nodeid=40381
b) Hör- und Seh-Tipps:
Von „Lumière et Pesanteur“ gibt es keine Aufnahme und auch keinen Mitschnitt. Einblicke in das
Werk geben aber das Vorgänger-Stück „La Passion de Simone“:
Ein Auszug:
http://saariaho.org/video/
CD-Aufnahme:
Kaija Saariaho: „La Passion de Simone“ mit Dawn Upshaw (Sopran), Finnish Radio Symphony
Orchestra, Tapiola Chamber Choir, Esa-Pekka Salonen (Dirigent) bei dem Label Ondine
(ODE 1217-5)
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Beim New Yorker Radiosender ist „eine Aufzeichnung von „“La Passion de Simone“ zu hören:
http://www.wqxr.org/#!/story/ice-roomful-of-teeth-julia-bullock-perform-kaija-saariaho-lapassion-de-simone/
Auch auf Youtube: www.youtube.com/watch?v=gsdTvcFhNOw
Für allgemeine Eindrücke in das Orchesterwerk der Komponistin:
Label Ondine ist ein Schuber mit vier CDs mit verschiedenen Orchesterwerken Kaija Saariahos
erschienen: Ondine (ODE 1113-2Q)
c) Literatur:
Woher? Wohin?: Die Komponistin Kaija Saariaho (Schott Music GmbH & Co. KG 2007) heißt der
Titel des in der Edition „neue zeitschrift für musik“ herausgegebenen Büchlein. Der Herausgeber
Hans-Klaus Jungheinrich versammelt Beiträge eines Symposiums im Rahmen von „Auftakt 2006“
der Alten Oper Frankfurt a.M.
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IV. Unterrichtsmaterial
a) Ein Leben in Stichworten
Kaija Saariaho
14.10.1952: geboren in Helsinki als Tochter des Industrierats Launo Laakkonen und seiner Frau
Tuovi. Sie erhält früh Orgel- und Klavierunterricht.
1960er Jahre: Sie beginnt Konzert in Helsinki zu besuchen – ihr ganz „persönliches Abenteuer“.
Saariaho versucht alle mögliche Musik zu hören. Oft spricht sie später in Gesprächen von einer
fehlenden kulturellen Prägung bzw. Erfahrung.
1972: Abitur. Danach beginnt sie Malerei und Zeichnen an der Kunstgewerblichen Hochschule in
Helsinki zu studieren; gleichzeitig studiert sie Musikwissenschaft an der Universität. Zu dieser Zeit
komponiert sie erste Lieder.
1972: Heirat mit Architekten Markku Saariaho. Ein Jahr später trennt sich das Paar.
1976-1980: studiert Saariaho an der Sibelius-Akademie in Helsinki unter Leitung von Paavo
Heininen. Der Vater steht nicht hinter ihrer Entscheidung, er betrachtet ihr Leben als „ruiniert“.
1980-1982: Sie nimmt an den Sommerkursen für Neue Musik in Darmstadt teil. Dort lernt sie Brian
Ferneyhough kennen und setzt 1981-82 ihr Studium bei ihm und Klaus Huber in Freiburg fort.
1982: Zum ersten Mal nimmt sie an Kursen für Computermusik am IRCAM in Paris teil. Seit dieser
Zeit ist der Computer ein grundlegendes Element ihrer Kompositionstechnik. Außer am IRCAMStudio arbeitet sie u.a. auch im Experimentalstudio des Finnischen Rundfunks, im Studio EMS in
Stockholm und im Studio des Südwestrundfunks in Freiburg /Br.
Seit 1982: lebt sie als freie Künstlerin in Paris. Sie interessiert sich für die französische
Spektralmusik. Tristan Murail und Gérard Grisey gehören zu den Vertretern, die auch Spuren in
ihrem Oeuvre hinterlassen. Die Spannung zwischen Klang und Geräuschen fasziniert sie.
1983: Diplom für Komposition an der Sibelius-Akademie.
Saariaho studiert Komposition bei Paavo Heininen an der Sibelius Akademie in Helsinki und der
Musikhochschule Freiburg bei Brian Ferneyhough und Klaus Huber sowie am Institut für
Elektronische Musik IRCAM in Paris.
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1984: Heirat mit Jean-Baptiste Barrière. Sie komponiert „Verblendungen“ - ein Wechselspiel
zwischen Orchester und Tonband.
1986: Kranichsteiner Musikpreis der Darmstädter Ferienkurse
1988: Mit ihrem radiophonischen Werk „Stillleben“ gewinnt sie den Prix Italia.
1989: Ars Electronica Preis für „Stillleben“ und „Io“. Sie komponiert „Du Cristal“
1990: „...á la Fumée“ unter Verwendung von Live-Elektronik
1995: Gidon Kremer spielt ihr Violinkonzert bei den BBC Proms.
1996: Der Zyklus Chateau de l'ame mit der Sopranistin Dawn Upshaw wird bei den Salzburger
Festspielen aufgeführt.
15. August 2000: Uraufführung ihrer Oper „L'amour du loin“. Danach übernehmen das
Stadttheater Bern und die Santa Fé Opera das Werk.
2002: Zum 50. Geburtstag werden ihre Werke zahlreich aufgeführt.
7. November 2002: UA von „Cinq Reflets“ für Sopran, Bariton und Orchester bei dem Komponisten
Festival im Stockholmer Konserthuset. Daneben steht auch ihr frühes Orchesterstück „Du Cristal“
auf dem Programm.
9. November 2002: UA „Tag des Jahres“ in Helsinki. Auftraggeber ist der Tapiola Chamber Choir.
Das Werk ist für a capella-Chor und Elektronik geschrieben und basiert auf Gedichten von Friedrich
Hölderlin.
2003: Im Januar wird ihre Orchesterkomposition „Orion“ mit dem Cleveland Orchestra uter Franz
Welser-Möst uraufgeführt. Für die Sopranistin Karita Mattila schreibt sie den Lieder-Zyklus „Quatre
instants“, der am Pariser Théatre du Chatelet am 2. April uraufgeführt wird. Auch hier schreibt
Amin Maalouf, der schon das Libretto von „L'Amour du Loin“ und den Text zu den „Cinq Reflets“
geschrieben hatte, den Text.
16. September 2004: Esa-Pekka Salonen leitet die finnische Erstaufführung von „L'Amour du Loin“
in Helsinki. Auch „Orion“ wird erstmals in Finnland aufgeführt.
2005: Im März deutsche Erstaufführung am Theater Freiburg mit Musik von Kaija Saariaho („Die
Grammatik der Träume“) in der Installation und Präsentation von ihrem Ehemann, Jean Baptiste
Barrière.
2006: Uraufführung der Oper „Adriana Mater“ an der Opéra Bastille in Paris.
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2007: Im Februar wird in Boston „Notes of Light“ uraufgeführt. Im Juli folgte die englische
Erstaufführung von „La Passion de Simone“ im Londoner Barbican Centre. Im August wird es in
Stockholm und Helsinki gezeigt. Später übernimmt es noch das Los Angeles Philharmonic
Orchestra.
2009: Als Geschenk für Esa-Pekka Salonen entsteht „Lumière et Pesanteur“ nach dem Oratorium
„La Passion de Simone“
2010: Uraufführung ihrer dritten Oper „Émilie“ an der Opéra de Lyon unter Leitung von Kazushi
Ono und in der Regie von Francois Girard. Das Libretto schrieb wieder Amin Maalouf.
2012: Zum 60. Geburtstag der Komponistin gibt es am 14. Oktober ein Festkonzert des Finnish
Radio Symphony Orchestra in Helsinki.
2013: Kaija Saariaho erhält den Polarpriset, einen schwedischen Musikpreis, der alljährlich an
einen klassischen und einen Popularmusik-Künstler (2013 Youssou N‘Dour) vergeben wird.
2016: Weltweit wird die Inszenierung von „L‘Amour de loin“ aus der Metropolitan Opera New York
in Kinos übertragen. Premiere ihrer Oper „Only the sound remains“ in Amsterdam.
b) Daten zum Werk
Kaija Saariaho: Lumière et Pesanteur (2009)
Uraufführung:
22. August 2009 beim Helsinki Festival mit dem Philharmonia Orchestra unter Leitung des
Dirigenten Esa-Pekka Salonen.
Widmung: Kaija Saariaho widmet dieses Stück dem finnischen Dirigenten Esa-Pekka Salonen.
Besetzung
Piccoloflöte, 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, Fagott, Kontrafagott, 4 Hörner, 2 Trompeten, 2
Posaunen, Tuba, Pauken, Schlagzeug (3 Spieler), Harfe, Celesta, Streicher
Verlag: Chester Musik (http://saariaho.org/works/lumiere-et-pesanteur/)
Dauer: ca. 6 Minuten
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V. Material
Mögliche Fragestellungen:
1. Jeder hat im Leben Begegnungen, die beeindrucken und nachhaltig die Sicht auf das Leben
verändern können. Erzählt von euren Erfahrungen – gibt es eine Persönlichkeit, einen Schriftsteller
oder einen Musiker, der euch beeinflusst hat. Gibt es Vorbilder?
Wie haben diese Begegnungen und Erfahrungen euer Leben verändert. Was ist anders. Wie ändert
sich der Blick? Was ist das Faszinierende an ihm oder ihr?
2. Diskutiert wie ihr den Weg zur Komposition beurteilt. Wie entsteht aus einer Idee, einer
literarischen Begegnung in der Kindheit zur Komposition. Wie ist das zu beurteilen? Inwieweit
kann es hilfreich sein, über den Hintergrund zur Entstehung des Stückes informiert zu sein?
a) Kaija Saariaho im Gespräch
Um einen Eindruck von der Komponistin Kaija Saariaho zu bekommen, ist es hilfreich, sie selbst
über ihre Musik sprechen zu hören. Hier ein paar Interviewausschnitte, aus Gesprächen, die
Anlässlich ihrer Residenz in der New Yorker Carnegie Hall entstanden:
1. Inspirationsquellen
„Vokalmusik ist mein Tagebuch“ - so Kaija Saariaho in einem Interview. Wie sie Textvorlagen und
Ideen auswählt und wie diese für ihre Kompositionen bedeutsam werden erklärt sie hier:
https://www.youtube.com/watch?v=P5KRYlhlypk
2. Natur und Musik
Über die Natur als Inspirationsquelle für ihre Musik erklärt Saariaho: Wind, Blumen können Ideen
liefern um musikalisches Material zu formen:
https://www.youtube.com/watch?v=pP6BYRjHxgw
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3. Komponieren mit und ohne Computer
Was für uns heute so normal wie Essen und Trinken, so neu und beeindruckend war das
Komponieren mit der Hilfe eines Computers für Kaija Saariaho. Darüber erzählt sie:
https://www.youtube.com/watch?v=nKlcC4YrrY0
https://www.youtube.com/watch?v=pP6BYRjHxgw
b) Simone Weil
1. Wer war Simone Weil?
(Simone Weil 1921 im Alter von 12 Jahren)
Geboren wurde Simone Weil am 9. Februar 1909 in Paris als Kind einer jüdischen Arztfamilie. Sie
ist äußert begabt, stellt sich aber selbst in den Schatten ihres älteren Bruders, der als
Mathematikgenie gilt. Sie studiert an den besten Schulen Frankreichs und besteht ihr
Philosophieexamen an der École normale supérieure mit besonderer Auszeichnung, zu einer Zeit
als es nur wenigen Frauen vergönnt war, überhaupt zu studieren. Schon als Kind liest sie lieber
anspruchsvolle klassische Literatur und knobelt mit ihrem Bruder André an mathematischen
Aufgaben, während andere Kinder spielten. Religion spielte zunächst keine Rolle in ihrem Leben.
Ihre Eltern hatten den jüdischen Glauben vollständig abgestreift. Erst mit 11 Jahren wurde ihr
überhaupt bewusst, dass sie Jüdin war. Nach ihrem Studium veröffentlichte sie in der
Kulturzeitschrift
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„Libres
propos“
erste
kleiner
Artikel.
Ihre
pazifistische
Orientierung
(Weltanschauung, die jeden Krieg als Mittel der Auseinandersetzung ablehnt und den Verzicht auf
Rüstung und militärische Ausbildung fordert) und ihre linkspolitische Haltung, brachten ihr den
Beinahmen „Vierge rouge“ („Rote Jungfrau“) ein. Neben ihrer ersten Stelle als Lehrerin in einer
französischen Kleinstadt engagierte sie sich bereits für die Gewerkschaft und trat für die Rechte
der Arbeiter ein. Ihrem Arbeitgeber – dem örtlichen Gymnasium – waren ihre Aktivitäten bald zu
radikal. Ihre Abmahnung kommentierte sie ganz provokant folgendermaßen: „Herr Inspektor, ich
habe die Amtsenthebung stets als die normale Krönung meiner beruflichen Laufbahn betrachtet.“
Ihre politischen Verbindungen sind bald so weitreichend, dass sie sich 1933 mit Leo Trotzki und
seinen Anhängern trifft. Sie bekam damit Gelegenheit, einen der ehemals ranghöchsten
kommunistischen Führer Sowjetrusslands kennenzulernen. Doch für Trotzki waren ihre Ansichten
zu sehr auf die Würdigung des Einzelnen und der persönlichen Freiheit des Individuums
konzentriert. Simone Weil wollte sich für die Verbesserung der Lebensumstände benachteiligter
Bevölkerungsgruppen einsetzen. Das, was sie bei Trotzki sah, schien ihr zu sehr ein Machtspiel, in
dem die Arbeiterschaft nur ein Mittel im Kampf um eine Parteidiktatur war. Der Einzelnen als Teil
eines Kollektivs als politisches Konzept, war nicht das, was ihr vorschwebte. Sie wollte für eine
freiheitliche Gesellschaft eintreten, in der der Einzelne seine Persönlichkeit entwickeln kann. In
ihrem letzten Werk „Die Entwurzelung“, das sie in ihren letzten Lebensmonaten im Londoner Exil
schrieb, fordert sie eine neue „Verwurzelung“, zu der die entwurzelten Menschen ihrer Zeit (durch
Weltkonflikte, Krieg und soziale Missstände) geführt werden müsste. Damit meinte sie die Stiftung
von Lebenssinn durch die Erkenntnis der ewigen Wahrheiten, des Schönen und des Guten. Diese
Erkenntnisse brachten sie auch näher zum Christentum und zu mystischen Gottesbegegnungen.
Vom Schuldienst befreit, arbeitet sie in Fabriken, um die Lebensumstände der Industriearbeiter
selbst kennenzulernen. Das brachte sie an den Rand der körperlichen und seelischen Erschöpfung.
In Portugal erholte sie sich in einem kleinen Fischerdorf und stieß dort zufällig auf einen
Prozessionszug der Fischersfrauen zum Patronatsfest der Dorfkirche. In dieser katholischen
Tradition und in den schwermütigen Gesängen erkannt sie eine Sehnsucht nach Mitmenschlichkeit,
die sich zutiefst bewegte. In Bourges in Frankreich entdeckte sie in der Kathedrale die Schönheit
des gregorianischen Chorals und besuchte häufig die katholische Messe. Dieses unmittelbare
Erleben im Gegensatz zu dem theoretischen Denken und Schreiben, scheint das zu sein, was Kaija
Saariaho so fasziniert hat. Simone Weil blieb ihr Leben lang politisch aktiv. Sie half Flüchtlingen, die
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sich vor den Verfolgungen des NS-Regimes in Frankreich gerettet hatten und nahm 1936 am
spanischen Bürgerkrieg teil, um für die Arbeiterpartei zu kämpfen. Doch die Gräueltaten an
unbeteiligten Zivilisten und Geistlichen schreckte sie ab. Ein weiteres mystisches Schlüsselerlebnis
fand in Italien statt. In der kleinen ärmlichen Kapelle von Franziskus von Assisi war so überwältigt,
dass sie sich nach eigener Aussage das erste Mal in ihrem Leben gezwungen fühlte, sich „auf die
Knie zu werfen“. Viele Erkenntnisse, die sie aus eigener spiritueller Erfahrung gefunden hat,
befinden sich in ihren christlich mystischen theologischen Aussagen. Immer wieder betonte sie,
sich aufmerksam auf Gott hin zu öffnen, jedoch sollte die „Gottesliebe die irdische Liebe nicht zum
Verlöschen bringen.“ Der Blick sollte sich auf die Schönheit der Welt richten und das Geistige, in
der sich Gott zeigt. 1942 flüchtet Simone Weil mit ihrer Familie aufgrund ihrer jüdischen Herkunft
über Algerien und Marokko in die USA. Nach wenigen Monaten ging sie zurück nach Europa, um
sich in London den französischen Exilkräften anzuschließen. Getrieben von ihrem kompromisslosen
Denken und Handeln und einer Rücksichtslosigkeit sich selbst gegenüber, erkrankte sie. Extrem
erschöpft und ausgezehrt wurde sie 1943 ins Krankenhaus eingeliefert, wo eine Tuberkulose
diagnostiziert wurde. Trotz der Erkrankung wollte sei nicht mehr essen, als das, was den Rationen
entsprach, die ihren Landsleuten in Frankreich über Lebensmittelkarten zugeteilt wurde.
Dickköpfig bestand sie auf ihre Haltung, auch wenn genug Lebensmittel zur Verfügung standen. Am
24. August 1943 verstarb sie im Alter von 34 Jahren.
2. „La pesanteur et la grâce“ (Schwerkraft und Gnade)
Das Werk „La pesanteur et la grâce“, das Kaija Saariaho so fasziniert hat, ist eine nach dem Tod
Simone Weils erschienene Zusammenstellung von Aphorismen (kurz formulierte Gedanken, die
eine Erfahrung, eine Erkenntnis oder eine Lebensweisheit enthält). Im Mai 1942 hatte Simone Weil
ihrem Freund, dem Philosophen Gustave Thibon vor ihrer Reise in die USA in Marseille eine
Aktentasche mit einer Sammlung von Schriften und Papieren übergeben. Vier Jahre nach ihrem
Tod veröffentlichte Thibon das Werk. Neben Saariaho waren auch andere Persönlichkeiten von
Simone Weil fasziniert. So schreibt der Schriftsteller Heinrich Böll: „Die Autorin liegt mir auf der
Seele wie eine Prophetin; es ist der Literat in mir, der Scheu vor ihr hat; es ist der potentielle Christ
in mir, der sie bewundert, der in mir verborgene Sozialist, der in ihr eine zweite Rosa Luxemburg
ahnt; der ihr durch seinen Ausdruck mehr Ausdruck verleihen möchte. Ich möchte über sie
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schreiben, ihrer Stimme Stimme geben, aber ich weiß: ich schaffe es nicht, ich bin ihr nicht
gewachsen, intellektuell nicht, moralisch nicht, religiös nicht. Was sie geschrieben hat, ist weit
mehr als ‚Literatur‘, wie sie gelebt hat, weit mehr als ‚Existenz‘. Ich habe Angst vor ihrer Strenge,
ihrer sphärischen Intelligenz und Sensibilität, Angst vor den Konsequenzen, die sie mir auferlegen
würde, wenn ich ihr wirklich nahekäme. In diesem Sinne ist sie nicht ‚Literatur als Gepäck‘, aber
eine Last auf meiner Seele. Ihr Name: Simone Weil.“
3. Zitate und Aphorismen
Gott hat seine Schöpfung aus Liebe, um der Liebe willen erschaffen. (Zeugnis19)
Die Forderung nach dem absoluten Guten, die im innersten Herzen wohnt, und die, wenn auch
virtuelle Macht, Aufmerksamkeit und Liebe über die Welt hinaus zu richten und von dorther Gutes
zu empfangen, bilden zusammen ein Band, das ausnahmslos jeden Menschen mit der anderen
Wirklichkeit verknüpft. ... Nichts berechtigt uns je, von irgendeinem Menschen zu glauben, dass
diese Verknüpfung in ihm nicht vorhanden sei. (Zeugnis75; 77)
Die Sünde ist keine Entfernung. Sie ist eine falsche Blickrichtung. (Zeugnis20)
Wenn ein Mensch sich von Gott abkehrt, liefert er sich der Schwerkraft aus. Er glaubt dann noch zu
wollen und zu wählen, aber er ist nur noch eine Sache, ein fallender Stein. (Zeugnis23)
Das Unglück ohne das Kreuz ist Hölle, und Gott hat nicht die Hölle auf Erden eingerichtet
(Zeugnis46)
Woran liegt es, dass, sobald ein Mensch merken lässt, dass er eines anderen mehr oder weniger
bedarf, dieser letztere sich entfernt? Schwerkraft. (Schwerkraft und Gnade 9)
Die Liebe zu Gott ist rein, wenn Freude und Leid die gleiche Dankbarkeit einflößen. (Schwerkraft
und Gnade 89)
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An die Existenz anderer menschlicher Wesen als solcher zu glauben, ist Liebe. (Schwerkraft und
Gnade 90)
Die Liebe bedarf der Wirklichkeit. Was gibt es Grässlicheres, als eines Tages zu merken, dass man
durch eine körperliche Erscheinung hindurch ein eingebildetes Wesen liebt? ... Das ist die Strafe für
das Verbrechen, die Liebe mit Einbildung genährt zu haben. (Schwerkraft und Gnade 92)
Der falsche Gott verwandelt das Leiden in Gewaltsamkeit. Der wahre Gott verwandelt die
Gewaltsamkeit in Leiden. (Schwerkraft und Gnade 104)
Quellen
Beyer, Dorothee. Simone Weil. Philosophin, Gewerkschafterin, Mystikerin. Grünewald: Mainz
1994.
Weil, Simone. Zeugnis für das Gute. Spiritualität einer Philosophin. Hg. von Friedhelm Kemp.
Benziger: Zürich 1998.
Weil, Simone. Schwerkraft und Gnade. Kösel: München 1981.
4. Die aktuelle Bedeutung von Simone Weil
„Simone Weil hat sich gegen die traditionelle Frauenrolle entschieden und auf Ehe und Familie
verzichtet. Dieser Entschluss hat vielfache Gründe; der Wunsch nach einer politisch-sozial
engagierten Lebensführung, kann nur als einer der für diese Entscheidung maßgeblichen Faktoren
angesehen werden. Dieser Beweggrund kann jedoch in seiner aktuellen Bedeutung nur deutlich
werden, wenn man die Situation der französischen Frau in den zwanziger Jahren bedenkt. Diese
unterschied sich in bedeutsamer Weise von der Lage der Frau heute. Die verheiratete Frau musste
ihrem Mann gehorsam sein; erst 1938 und 1942 wird die Gehorsamspflicht abgeschafft. 1945
bekommt die französische Frau endlich das Stimmrecht. Die ledige Frau war frei, kann sich aber
wegen des Mangels an sozialer Anerkennung nicht verwirklichen. Eine Tochter wurde von ihren
Eltern im Hinblick auf die Ehe erzogen und erhielt eine schlechtere Ausbildung als ein männliches
Kind. Folglich sah auch die Frau selbst in der Ehe eine Möglichkeit, ihren Unterhalt zu sichern und
möglicherweise in eine höhere gesellschaftliche Schicht aufzusteigen. Dies galt nicht nur für das
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bürgerliche Mädchen, sondern auch für die Arbeiterin, für die die Arbeit nur eine Pflicht war, von
der sie sich durch Verheiratung gerne befreite. (…) Simone Weil ist ganz anders aufgewachsen als
die durchschnittliche französische Frau. Sie erhält eine genauso gute Ausbildung wie ihr Bruder,
und ihre Mutter fördert bei ihr die männlichen Tugenden. So hat sie es leichter, die herkömmliche
Frauenrolle zu verweigern. (…) Simone Weil bekommt aber auch die Grenzen zu spüren, die die
Gesellschaft der Frau setzt: Schon in ihrer Kindheit wird ihre Schönheit gelobt, nicht aber ihre
Intelligenz, das Genie ihres Bruders überschattet in gewisser Weise ihre Jugend, und von Bouglé,
dem stellvertretenden Direktor der École Normale, wird sie wegen ihres sozialen Engagements
bezeichnenderweise spöttisch „Rote Jungfrau“ genannt. Die gesellschaftlichen Bedingungen
veranlassen sie, auf ihre Weiblichkeit zu verzichten und nicht nur ein „männliches“ Leben zu
führen, sondern sich auch männlich zu kleiden. (…)
In anderer Hinsicht jedoch verwirklicht sie eine Synthese von Männlichkeit und Weiblichkeit, und
darin liegt auch ihre Bedeutung für den modernen Menschen. Simone verwirklicht in allen
Lebensabschnitte eine Einheit von Ratio und Gefühl. Ihre hohe Intelligenz und ihr philosophischliterarisches Genie erlauben es ihr, brillante philosophisch-soziale Studien sowie später eine
philosophische Mystik zu entwerfen, gleichzeitig aber ist sie zum tiefen Mitgefühl mit dem
leidenden Menschen fähig – und dies in allgemeiner wie in besonderer Hinsicht, wie ihre Fürsorge
für den Häftling Antonio zeigt. Gleichwohl gelingt diese Einheit nicht völlig. Simone selbst ist in
ihrer späten Mystik der Überzeugung, dass die Vernunft der Intuition untergeordnet werden muss,
kann diese Ansicht aber nicht leben und stirbt letztlich auch an dem Verlangen ihres Verstandes
nach Wahrheit, nach der Einsicht in die Vereinbarkeit des Glaubens an den guten Gott und des
Leidens in der Welt.
Auszug aus: „Die aktuelle Bedeutung Simone Weils als Frau“ in: Dorothee Seelhöfer: Simone Weil.
Philosophin – Gewerkschafterin – Mystikerin, Topos Verlag, Kevelaer 2009, S. 158f.
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