Neurodidaktik Staatliches Studienseminar für das Lehramt an

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Staatliches Studienseminar für das Lehramt an Grundschulen  Simmern
Neurodidaktik
Definition NEURODIDAKTIK
Verbindung/Schnittstelle zwischen Neurobiologie und Schule
Hirnforscher helfen Pädagogen bei der Entwicklung neuer Lernstrategien
 sie fordern mehr Einfluss der Hirnforschung auf die Pädagogik und das Umsetzen von
Erkenntnissen in Lehr- und Lernkonzepte
1.
Wie funktioniert Lernen im Gehirn? (vgl. Spitzer 2007, Roth 2001))
falsch: Lernen ist ein passiver Prozess!  Nürnberger Trichter – Inhalt gelangt irgendwie in den Kopf
richtig: Lernen ist ein aktiver Prozess des lernenden Subjekts, der als Handlung aufgefasst werden
muss, die die ganze Person in Anspruch nimmt. Bei diesem aktiven Prozess spielen sich Veränderungen im Gehirn des Lernenden ab
o Signalübertragung zwischen Nervenzellen (vgl. Spitzer 2003, 41-44)
Nervenzellen sind spezialisiert auf die Speicherung und Verarbeitung von Informationen. Sinneszellen
der Sinnesorgane nehmen Reize auf und wandeln sie in Impulse (Aktionspotenziale) um. Eine Nervenzelle erhält nun diese Impulse über zum Gehirn ziehende Nervenfasern und Synapsen. Im
Zellkörper werden diese Impulse gesammelt, verrechnet und modifiziert. Die Synapsen können die
jeweiligen Impulse mittels Enzyme und Botenstoffe zu sehr spezifischen Signalen verändern. Dadurch
bestimmt die Synapse letztlich, welche Impulse durchgelassen werden und welche nicht. Wenn diese
Signalübertragung auf Dauer chemisch-molekular verändert wird (Synapsenmodifikation), spricht man
von GEDÄCHTNIS. Diese Gedächtnisbildung ist ein aktiver Prozess. Der wiederholte Abruf von Gedächtnisinhalten führt zu stärkerer Aktivierung der Nervenbahnen. Diese verdicken sich daraufhin und
bilden CELL ASSEMBLYS.
o Neuronale Netze (vgl. Roth 2001, 214)
Nervenzellen im Gehirn kann man sich als Informationseinheiten vorstellen, die entweder aktiv sind
(1) oder nicht (0).
Neuronen sind durch ausgedehnte Netzwerke miteinander verbunden. Jedes einzelne Neuron steht
mit vielen anderen Neuronen in Verbindung, die alle gleichzeitig Impulse erhalten, wenn das eine
Neuron feuert. Man nennt dies Parallelverarbeitung. In komplexen Mustern sind die Neuronen aktiv
bzw. sie ruhen. Durch die Parallelverarbeitung erfolgt das Erkennen von Sachverhalten sehr schnell,
gleichgültig, wie viele Neuronen beteiligt sind.
Die Entwicklung des Gehirns besteht in den Veränderungen dieser Vernetzung. Beim Lernen wird das
bereits vorhandene Netzwerk aktiviert und es bilden sich zunächst flüchtige Strukturen. (Arbeitsgedächtnis) Je häufiger eine Verbindung benutzt wird, desto dicker werden die Verbindungsfasern,
was einen Zuwachs an Übertragungsschnelligkeit, Synapsenstärke und Stabilität bedeutet. Häufig
genutzte Verbindungsfasern überzieht das Gehirn im Laufe der Zeit mit Myelinfasern um eine
ungestörte Signalübertragung zu gewährleisten. Diese schützende Faserhülle führt zu einer weiteren
Stabilisierung von Gedächtnisinhalten, aber auch zu ihrer weitgehenden Unveränderbarkeit. Das
erklärt, weshalb in der Kindheit Gelerntes so besonders gut und sicher erinnert werden kann. Die
Umbauprozesse in der Kindheit sind massiv und sie werden effektiv gespeichert. Später erworbene
Nervenbahnen sind weniger gut myelinisiert. Die Gedächtnisinhalte, die durch sie repräsentiert werden, können daher leichter verändert und auch leichter vergessen werden. Allerdings erfolgt der Umbau im Erwachsenengehirn sehr viel langsamer. Er führt zu einer Ausdifferenzierung der in der
Kindheit gelegten Grundlagen.
o Karten im Gehirn (vgl. Spitzer 2003, 102ff)
Das Gehirn bildet seine Regeln selbst. Die Repräsentationen von Sachverhalten sind im Gehirn
kartenförmig angeordnet. Die Vernetzung der Neuronen erfolgt nach den Prinzipien der Häufigkeit und
der Ähnlichkeit.
Prinzip der Ähnlichkeit:
Wird ein Input weitergegeben, erreicht er nicht nur ein Neuron, sondern auch die in der Umgebung.
Sie alle reagieren auf ähnliche Signale. (Center-surround-Prinzip)
Prinzip der Häufigkeit:
z.B. im Sprachzentrum, wenn die Repräsentationen gegensätzlicher Wörter (Zucker=süß, Zitrone =
sauer) plötzlich nahe beieinander auftauchen
Die Gegensatzbildung ist ein häufiges Mittel, um Adjektive voneinander abzugrenzen.
Je häufiger eine Repräsentation aufgerufen wird, desto ausgedehnter ist das Areal, das es im Gehirn
einnimmt.  So wächst das Areal für die Hände und für Töne, wenn jemand das Gitarrespielen
erlernt.
Fazit: Einmal geknüpfte Verbindungen entwickeln sich schrittweise zu Mustern und Strukturen.
(vgl. Maturana 2001, 18f., Singer 2002, 72, 80, 92)
2.
Das Gedächtnis
Brand und Markowitsch beschreiben den Weg eines Inhaltes von der Außenwelt in das Langzeitgedächtnis in Kurzform so:
Entscheidung über die Bedeutsamkeit eines Reizes im Ultrakurzzeitgedächtnis.
Bedeutsame Reize landen im Kurzzeitgedächtnis und werden dort zunächst für wenige Minuten eingespeichert.
Werden Einspeicherungshilfen zu den bedeutsamen Reizen gegeben, werden diese Gedächtnisinhalte im Kurzzeitgedächtnis konsolidiert,
Und bei großer Wichtigkeit, speziellem Interesse oder häufiger Wiederholung im Langzeitgedächtnis abgelagert.
Man sieht:
Gedächtnisbildung geschieht nicht automatisch. Sie ist vielmehr ein aktiver Prozess!
Werden Gedächtnisinhalte wieder abgerufen, führt dies grundsätzlich zu einer erneuten und durch die
Umstände modifizierten Einspeicherung. Man nennt diesen Vorgang Rekonsolidierung.
Beim Abruf unterscheidet man mit absteigendem Anforderungsniveau
den „Freien Abruf“ (ohne Hilfen),
den Abruf mit Hinweisreizen (verbal oder visuell) und den
Abruf durch Rekognition (Wiedererkennen).
Brand und Markowitsch betonen die hierarchische und gleichzeitig modulare Struktur des Gedächtnisses.
Die modulare Struktur bedingt es, dass ganz besonders die Inhalte gut behalten werden, die viele
Gedächtnismodule auf unterschiedlichen Stufen ansprechen, z. B. durch Lernen auf verschiedenen
Eingangskanälen, durch die Aktivierung des Vorwissens und durch die motivierende Gestaltung der
Lernsituation und der Lernumgebung.
3.
Formen des Lernens (vgl. Spitzer 2007)
Deklaratives und prozedurales Lernen
Auf deklarativem Weg erwerben wir Wissen. Dafür benutzen wir in der Regel die Sprache.
Das prozedurale Lernen erfolgt handelnd (gehen, schwimmen...).
Deklaratives Wissen führt nicht zu prozeduralem Wissen.  Wer ein Buch über das Reiten gelesen
hat, kann es noch lange nicht. Wohl aber hilft die Überführung prozeduralen Wissens in deklaratives
zu einem besseren Verstehen dessen was man tut.  Wer bereits reiten kann, der kann seine
Fähigkeit durch deklaratives Wissen verbessern.
Explizites und implizites Lernen
Expl. L. erfolgt bewusst und fordert beim Belehrten Lerntätigkeit (oft mühsam durch ablehnende
Haltung und fehlende Einsicht, dadurch geringe Nachhaltigkeit).
Ausbildung von Karten im Gehirn erfolgt in der Regel durch impl. L. Der Lernende beschäftigt sich mit
einer Sache, das Gehirn bildet die entsprechenden Regelhaftigkeiten selbsttätig.
Das Gehirn lernt zwar immer, aber nur das, was es für sinnvoll hält. Das können auch ganz andere
Dinge sein als die, welche vielleicht gleichzeitig explizit gelernt werden sollen.
 Wenn also Kinder schlecht vorbereitete L. erleben, lernt das Gehirn keine Inhalte, sondern dass
das, was der L. zu bieten hat, uninteressant und unwichtig ist.
Lernen im Schlaf
Erkenntnis: Das Wechselspiel von Tiefschlaf und Traumschlaf dient der Festigung von Lerninhalten
des vorausgegangenen Tages. Aus dem flüchtigen Speicher des Hippokampus (kurz- und mittelfristiges Gedächtnis) werden wiederholt Signalsequenzen an den Kortex (Großhirn) gegeben, die dort
zum Synapsenwachstum und zur Veränderung von Synapsenstärken führen. Spitzer spricht hierbei
von einer „Offline-Verarbeitung“ neu gelernter Inhalte. So ist Schlafhygiene ein wichtiger Faktor für
nachhaltiges Lernen.
4.
Gedächtnisarten (nach Brand und Markowitsch 2006, 60ff)
„Wissensgedächtnis“  deklaratives, bewusstes Gedächtnis („WAS“)
a) Das episodische Gedächtnis:
Höchste Gedächtnisstufe, Speicherung der Autobiographie,
klarer Raum- Zeit- und Situationsbezug, starke emotionale Bewertung; Ergebnisse von
persönlicher Bedeutung hinterlassen Spuren
b) Das semantische Gedächtnis:
Fakten des allgemeinen Weltgeschehens, Schulwissen (Bedeutung des Begriffs „symmetrisch“, berühmtes italienisches, schiefes Bauwerk)
„Verhaltensgedächtnis“  prozedurales, unbewusstes Gedächtnis („WIE“)
c) Das perzeptuelle Gedächtnis:
Vertrautheits- oder Bekanntheitsgefühl bei Personen, Objekten, Tönen. Präsemantisch
d) Priming:
Bessere Wiedererkennungsleistung von zuvor unbewusst Wahrgenommenem
e) Das prozedurale oder Fertigkeitsgedächtnis:
Motorische und kognitive Fähigkeiten/Fertigkeiten und Routinehandlungen (schwimmen,
Zähne putzen etc.)
5.
Vier grundlegende Einflussfaktoren des Lernens (Spitzer) (Spitzer 2007)
5.1. EMOTIONEN
Sind nicht beschreibbar und nicht zählbar
Sie haben eine Stärke (viel-wenig) und eine Valenz (gut-schlecht)
Haben kognitiven, qualitativ-gefühlsmäßigen, körperlichen Aspekt: (Ausdrucks-)Bewegungen, Effekte
des unwillkürlichen Nervensystems (Zucken)
FAZIT:
Akute emotionale Erregung kann dazu führen, dass wir bestimmte Dinge besser behalten
Was den Menschen umtreibt, sind nicht Fakten, sondern Gefühle!
BEZUG ZUM UNTERRICHT:
E. bestimmen, ob wir einen Lerngegenstand als so bedeutsam erkennen, dass wir uns damit lernend
beschäftigen.
Was wir lernen, verbinden wir mit der Situation, in der wir es gelernt haben und speziell mit den E. in
dieser Situation.
Angst verhindert, dass gelernt wird, sie blockiert kreatives und problemlösendes Denken, Verknüpfungen finden nicht statt, wenn gelernt wird, dann nur einzelne Fakten.
Extreme Angst und damit verbundene Erlebnisse können nicht vergessen werden!
Auch Stress ist ungünstig für das Lernen und Behalten.
KONSEQUENZ:
 Lernförderliches Unterrichtsklima
- angstfreie Lernatmosphäre  Angst und Schrecken nicht nutzen, um Kindern Lerninhalte ein zu
bläuen
- wertschätzender und respektvoller Umgang  Positive Grundstimmung herstellen, Lernen sollte mit
positiven Emotionen arbeiten
- Unterstützung der Sch. untereinander fördern durch kooperatives Lernen
- Fehler als Chance sehen
- Trennung von Lern- und Leistungsüberprüfungen  kein Notendruck
 Schülerorientierung/Unterstützung
- Stärkung des Selbstvertrauens
- Sch.mitwirkung im U.
- positive Einstellung zum Lernen fördern
5.2. AUFMERKSAMKEIT
Existiert auf 2 Ebenen:
- allg. Wachheit (Vigilanz)
- zusätzlich selektive Aufmerksamkeit/Aktivierung von Gehirntätigkeiten (willentliche Ausrichtung der
Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Inhalt)  wir nehmen die Welt um uns herum wahr und filtern
das für uns Wesentliche aus den vielen Stimuli heraus.
 dazu bedarf es der Motivation und emotionaler Zuwendung zum Lernstoff
FAZIT:
 Ausmaß des Behaltens von dargebotenem Material ist abhängig davon, wie sehr wir uns diesem
Material zuwenden
 je aufmerksamer ein Mensch ist, desto besser wird er bestimmte Inhalte behalten!
BEZUG ZUM UNTERRICHT:
Grundschüler haben eine Aufmerksamkeitsspanne von ca. 20 Minuten. Lange frontale Phasen überfordern sie. So wird die Aufmerksamkeit nicht immer auf den Lerngegenstand gerichtet. Aufmerksame
Sch. nehmen mehr Inhalte auf und speichern sie ab.
KONSEQUENZ:
 Lernen durch eigenes Tun
- L. ist ein aktiver Prozess, nicht Nürnberger Trichter
- durch eigenes Tun eigene Regeln aufstellen
- durch eigenes Tun wird der Inhalt bedeutsamer, dadurch steigt die Aufmerksamkeit
 Lernen mit allen Sinnen
- je mehr Sinne, desto mehr Gehirnareale, desto größere Vernetzung der Inhalte
5.3. MOTIVATION
Grundsätzlich gilt: Motivation ist vorhanden, es gilt sie zu erhalten!
Primäre Motivation: Interesse am Lerngegenstand
Wichtig: Beziehung zw. L. und Sch.
Unser Gehirn berechnet, was als Nächstes passieren könnte. Tritt etwas ein, das besser als erwartet
ist, kommt es zu einem körpereigenen Belohnungseffekt (Dopamin-Ausschüttung). Das ausschlaggebende Ereignis wird weiterverarbeitet und mit höherer Wahrscheinlichkeit gespeichert.
FAZIT:
Gelernt wird immer dann, wenn positive Erfahrungen gemacht werden.
Positive Erfahrungen sind nur in positiven Sozialkontakten möglich.
Menschliches Lernen vollzieht sich immer schon in der Gemeinschaft.
Gemeinschaftliches Handeln ist vermutlich der bedeutsamste Verstärker.
Was hat Wirkung auf das Belohnungssystem des Gehirns?
- Musik - Nettes Wort -Freundlicher Blick
BEZUG ZUM UNTERRICHT:
Lob ist für jeden Schüler wichtig.
Nicht übertrieben loben, sondern zeitnah, spezifisch und nachvollziehbar
L. muss sich für sein Fach begeistern und mit Freude unterrichten (Funke)
Bedeutung der Lehrerpersönlichkeit: ein vom Fach begeisterter L., der gelegentlich lobt und auch mal
einen netten Blick für die Sch. übrig hat, bringt deren Belohnungssystem auf Trab
KONSEQUENZ:
 problemlösendes Lernen: Unerwartetes weckt Motivation und Interesse, Bezug zur Lebenswelt der
Kinder, Sch. erkennen Sinn und Bedeutung des Inhalts
 Erhöhen der Lernfreude:
- durch Ermöglichen von Erfolgen
- durch Lob
- durch Begeisterung des L. für sein Fach
- durch Fehlerfreundlichkeit
5.4. VORWISSEN
Matthäus-Effekt (Mt 13, 12):„Wer hat, dem wird gegeben, wer nicht hat, dem wird genommen werden.“
BEZUG ZUM UNTERRICHT: Wichtigster Faktor für Lernerfolg!
KONSEQUENZ:
 Klarheit/Strukturierung
- Anknüpfen an bereits Gelerntes, um Wissen zu vernetzen und zu erweitern (spiralförmiges
Lernen)
Lerninhalte strukturiert darbieten, damit Sch. altes mit neuem Wissen vernetzen können
(Transparenz)
- Skelett vor Detail
- Verknüpfung mit der Realität (Ankerpunkte)
 Lernen im eigenen Tempo
- Umgang mit Heterogenität/Diff.
- Unterschiedl. Voraussetzungen der Sch. erfordern offene Lernformen und unterstützendes
Material
- Flexibilität und Diagnosekompetenz des L.
- L. als Berater
-
Quelle folgende Abb.: http://ais.badische-zeitung.de/piece/01/03/58/Ob/16996363.jpg
Lernen durch
eigenes Tun
Lernen mit
allen Sinnen
Aufmerksamkeit
Lernförderliches
Unterrichtsklima
Emotionen
Motivation
Vorwissen
Schülerorientierung
Unterstützung
ÜBEN
Klarheit,
Strukturierung
Lernen im
eigenen Tempo
Problemlösendes
Lernen
Lernspaß
6.
Konsequenzen für den Unterricht
6.1 13 Regeln der Lernforschung (nach Vester 2001)
1)
2)
3)
4)
5)
6)
7)
8)
9)
10)
11)
12)
13)
Lernziele kennen
sinnvolles Curriculum
Neugierde kompensiert „Fremdeln“
Neues alt verpacken
Skelett vor Detail
Interferenz vermeiden
Erklärung vor Begriff
Zusätzliche Assoziationen
Lernspaß
Viele Eingangskanäle
Verknüpfung mit der Realität
Wdh. neuer Informationen
dichte Verknüpfung
6.2 Gehirngerechtes Üben
Definition Üben (nach Bönsch 1993)
„... die Fähigkeit des Menschen durch Wiederholung (...) eine Fertigkeit zum einen heranzubilden und
zum anderen dann zu verfeinern, in ihrem Volumen zu vergrößern und in ihrem Ablauf zu
beschleunigen.“
Ziel ist die Automatisierung des zuvor Gelernten (=Festigung), die Qualitätssteigerung (=Vertiefung)
und der Transfer (=Anwendung in neuen Wissens- und Könnensbereichen).
6.2.1 Funktionen des Übens
1 Entlastungsfunktion
Üben kann entlasten, indem Abläufe routiniert, mechanisch oder automatisch vollzogen werden
können und nicht immer erneut durch Nachdenken reaktiviert werden müssen. (Vorsicht vor unkritischer Anwendung von Routinen!)
2 Teilhabefunktion
Durch das Üben der Kulturtechniken wird eine selbstbestimmte Teilhabe an Welt möglich.
3 Selbstsicherheitsfunktion
führt zur Steigerung des Selbstwertgefühls und des Selbstvertrauens,
soll Erfolge ermöglichen und erfahrbar machen,
strebt Selbstkontrolle an,
kann individuelle Lernfortschritte aufzeigen und damit die Möglichkeiten einer angemessenen
Förderung.
4 Erziehungsfunktion
Üben soll ...
auch bei Misserfolgserlebnissen Lernfreude erhalten,
den Durchhaltewillen und die Ausdauer sowie den Leistungswillen und die
Konzentrationsfähigkeit wecken und bestärken,
das selbstständige und selbsttätige Lernen ermöglichen,
eine selbstkritische Haltung anbahnen.
6.2.2 Voraussetzungen für gelingendes Üben
Auf Schülerseite
Üben führt zur Beherrschung von Lern- und Übungsstrategien:
o Elaborationsstrategien helfen ihnen bei der Anreicherung und Ausarbeitung neu erworbenen Wissens
-durch eine Metapher oder eine bildhafte Vorstellung eines Sachverhaltes
-durch die Wiedergabe eines Sachverhaltes mit eigenen Worten
-durch Anknüpfen an Bekanntes (vernetztes Lernen)
o Reduktions- und Organisationsstrategien helfen, den Lernstoff zusammenzufassen und
Unwichtiges von Wichtigem zu trennen. Dabei werden Zusammenhänge erkannt und
verstanden, Oberbegriffe und Kategorien können gefunden werden
-durch Aufteilen der Lernmenge in kleine Dosen
-durch Finden von zentralen Aussagen/Schlüsselbegriffen
-durch die Anfertigung einer MindMap
o Kontrollstrategien helfen zu überprüfen, ob man auf „dem richtigen Weg“ ist
-durch Kontrollfragen
-durch das eigene Finden und Korrigieren von Fehlern
-durch das Überdenken und ggf. Korrigieren der Lernplanung
(H. Meyer 2010, 108)
Auf Lehrerseite
Lehrer sollten die Übungsgesetze beachten:
1 Frequenzgesetz/Thorndike ► je häufiger/öfter, desto besser
2 Modifizierungsgesetz ► Üben in neuer Gestalt wirkt Automatismen entgegen:
Variantenreiches, ganzheitliches, lerntypengerechtes, aktives, anwendungsbezogenes Üben, z.
B. in unterschiedlichen Sozial- und Spielformen
3 Reinhaltungsgesetz ► Kontrollpflicht zur Vermeidung von Fehlern, nicht zur Bewertung!
Lehrer-, Partner-, Selbstkontrolle, Einsatz von Nachschlagetechniken, Fehler als Chance
betrachten lernen
4 Verteilungsgesetz (Jost) ►betrifft die Dauer, Anzahl, Pausen, Lernplateaus
Erste Wiederholung sehr früh ansetzen, retroaktive und proaktive Hemmung vermeiden
(ähnliche Inhalte zeitlich getrennt anbieten und üben lassen), Lernplateaus berücksichtigen
und ggf. das Modifizierungs- und Bereitschaftsgesetz beachten.
5 Bereitschaftsgesetz ► auf Motivierung achten, Sinnhaftigkeit deutlich machen angenehmes und
angstfreies Lernklima, Einsicht in die Sinnhaftigkeit der Übung wecken, emotionale Beteiligung
ermöglichen
6 Erfolgsgesetz► Übungserfolg muss ermöglicht werden
Heterogenität berücksichtigen, Individualisierung und Differenzierung
7 Begabungsgesetz ► auch begabte Lerner müssen zu gründlichem und beständigem Üben
angehalten werden. (Quantität versus Qualität?)
8 ontogenetisches Übungsgesetz ►Übungsfähigkeit nimmt
im Laufe des Alters zu, Übungsfestigkeit dagegen nimmt ab.
(vgl. Bönsch 1993, 34-37)
6.2.3
11 Übungsprinzipien (nach Bönsch)
Während die Übungsgesetze die Bedingungen für gutes Üben beschreiben, sind die folgenden
Übungsprinzipien eine Möglichkeit für die Übungsgestaltung.
1. Die richtige Ansetzung der ersten Übungswiederholung
Die erste Übungswiederholung muss sehr früh angesetzt werden, weil das Vergessen in der ersten
Zeit am stärksten ist.
2. Die Vermeidung retroaktiver Hemmungen
Retroaktive und proaktive Hemmungen müssen vermieden werden, d.h. nach einer intensiven Lernund Übungsperiode sollte am besten eine Pause folgen, auf jeden Fall nichts, was der Lern- und
Übungsperiode ähnelt (Ähnlichkeitshemmung).
3. Die Bevorzugung aktiver Übungsformen
Es empfiehlt sich aktive Übungsformen zu bevorzugen und die Schüler zu Selbsttätigkeit beim Üben
zu führen.
4. Die Bevorzugung „ganzheitlichen“ Übens
Bei einer Übung sollte möglichst der gesamte Übungsstoff erfasst werden. Sollte dies nicht möglich
sein, muss zunächst das Ganze überschaut werden und kann anschließend in Teilganze aufgegliedert
werden.
5. Die Bevorzugung sozialer Übungsformen
Soziale Übungsformen gestalten das Üben zusätzlich abwechslungsreicher.
6. Die Strukturierung des zu Übenden
Das zu Übende wird in größere verstehbare und vor allem aktuelle Zusammenhänge eingefügt. Dem
Übungsbesitz muss eine Struktur gegeben werden.
7. Die „negative Praxis“
Beim Üben Fehler vermeiden. Hat sich ein Fehler doch eingeschlichen, muss dieser bewusst als
Fehler wahrgenommen werden, um ihn wieder loszuwerden.
8. Die emotionale Verankerung
Emotional erlebtes prägt sich besser ein, als das nur intellektuell aufgenommene. Deshalb sollten bei
einer Übung immer eine positives Lernklima und eine freudige Atmosphäre vorherrschen.
9. Die anregende Überprüfung des Geübten
Die Selbstkontrolle ist eine wichtige Übungshilfe und dient als Motivationsverstärker.
10. Die schöpferische Pause und das Lernplateau
Die schöpferische Pause ist eine besondere Übungshilfe. Lernplateaus, in denen trotz Üben kein
Fortschritt festzustellen ist, sind ebenfalls Pausen, jedoch in einer größeren Dimension. Sie müssen
eingeplant und gewährt werden.
11. Das Leben selbst
Alltagssituationen herstellen und reale Situationen als Übungsfeld benutzen.
(vgl. Bönsch 1993, 38-41)
7.
12 Prinzipien des Lernens (nach Caine und Caine 1994)
(vgl. auch Arnold, M. in Herrmann, U.2006)
1. Das Gehirn ist ein lebendes System, es ist eine dynamische Einheit. Körper und Geist sind eine
Einheit.
2. Das Gehirn ist auf Sozialverhalten hin ausgerichtet, wodurch die enge Verbindung zwischen
sozialer Interaktion und Lernen begründet wird.
3. Die Suche nach Bedeutung ist angeboren, d.h. das Gehirn versucht, Neues mit bereits Bekanntem
zu verbinden.
4. Die Suche nach Bedeutung geschieht durch Vergleichen von Eigenschaften des Wahrgenommenen, Identifizierung und Extrahierung von Ähnlichkeiten und Unterschieden, Kategorisierung,
Prozesse, die schließlich in mentale Modelle münden. Diese Vorgehensweise entspricht der netzwerkbasierten Arbeitsweise des Gehirns.
5. Emotionen spielen bei dieser Musterbildung eine entscheidende Rolle. Denken und Emotionen
sind untrennbar miteinander verknüpft.
6. Jedes Gehirn nimmt simultan eine Gesamtheit und deren Einzelteile wahr. Es zerlegt eine wahrgenommene Gesamtheit in Einzelteile und kann aus wahrgenommenen Einzelteilen eine Gesamtheit formen.
7. Zum Lernen gehören die gerichtete Aufmerksamkeit sowie die peripheren Wahrnehmungen.
Periphere Wahrnehmungen sind z.B. Hintergrundgeräusche wie Musik oder das Lachen der
Mitschüler, Gestaltung der Lernumgebung etc.
8. Am Lernvorgang sind stets bewusste und unbewusste Prozesse beteiligt.
9. Jeder Mensch besitzt verschiedene Arten, Gedächtnisinhalte zu ordnen, das deklarative (Fakten),
semantische (Bedeutungen), prozedurale (Fertigkeiten) und emotionale (Gefühle) Gedächtnis.
Diese Gedächtnisformen müssen in die Planung des Lehrkonzepts, des Lehrplans und in die
Durchführung des Lernprozesses integriert werden.
10. Lernprozesse verändern sich im Verlauf der Entwicklung.
11. Komplexe Lernprozesse werden durch Herausforderungen gefördert, jedoch durch übermäßige
Angst und Bedrohung verhindert, da dies Gefühle der Hilflosigkeit oder Erschöpfung erzeugt. Dies
führt wieder zu dem Punkt, dass high challenge (Herausforderung, deren optimaler Grad jedoch
sehr individuell ist) für Kinder überaus wichtig ist und bestärkt die These, dass Kinder öfter unterals überfordert werden.
12. Jedes Gehirn ist einzigartig und besitzt daher unterschiedliche Talente und Intelligenzarten. Eine
Kindergruppe oder Schulklasse verfügt somit über einen unglaublich reichen Schatz an Talenten,
den es optimal zu nutzen gilt.
8.
7 Bausteine moderner Didaktik (Mechsner)
Schlussfolgernd aus den Erkenntnissen der Hirnforschung formuliert Franz Mechsner im Heft 11/Nov.
2004, Artikel: „Die Lust am Wissen“, S. 167 ff, folgende didaktische Grundsätze:
Entdeckendes Lernen
Fehlerfreundlichkeit
Lernen im eigenen Tempo
Lernen lernen
Verbale Zeugnisse
Authentische begeisterte Lehrer
Selbstverantwortung und demokratische Strukturen
1 Entdeckendes Lernen
„Entdeckendes Lernen bedeutet, dass Schüler sich selbstständiges Fragen und Denken angewöhnen,
dass sie Verantwortung für ihre Lernprozesse übernehmen und sich als erfolgreiche, manchmal gar
als kreative Forscher erleben. Als Folge sind die Wissensnetze, die sie knüpfen, solider und dauerhafter.“ (S.173)
2 Fehlerfreundlichkeit
„Wir können nicht lernen, wenn wir keine Fehler machen dürfen. In den meisten Fehlern steckt eine
geistige Leistung, oft eine wichtige Stufe auf dem Weg zu einer richtigen oder gar originellen Lösung.
(S. 178)
3 Lernen im eigenen Tempo
„... das Lernen im Standardtakt zerstört Neugier und Tatendrang, unterfordert einen Teil der Schüler
und überfordert den anderen, stets die Differenz und die Konkurrenz betonend. Offene und kooperative Unterrichtsformen ermöglichen es, dass Kinder ihrem Lernstand entsprechend arbeiten. ( S. 180)
4 Lernen lernen
„Moderne Schule lehrt aber auch, Ergebnisse allein und im Team zu erarbeiten und zu präsentieren.
... dabei überzeugend, fair und konstruktiv zu argumentieren.“ (S. 182)
5 Verbale Zeugnisse
„Reformer setzen auf Wortzeugnisse. (...) Berichte haben den pädagogischen Vorteil, Leistungen weit
differenz8erter beschreiben und Hinweise geben zu können, wie sich Defizite ausgleichen lassen. Den
Vorwurf, Wortzeugnisse seien im Unter-schied zu Noten leistungshemmend, haben Bildungsforscher
mittlerweile in mehreren Studien widerlegt.“ (S. 185)
6 Authentische, begeisterte Lehrer
Kinder brauchen den Lehrer als Bezugsperson, der ihnen zeigt, dass er sich für sie interessiert und
sich über ihren Lernfortschritt freut. Gleichzeitig sollte die Lehrperson ihre Unterrichtsthemen
begeistert und begeisternd anbieten.
7 Selbstverantwortung und demokratische Strukturen
Die Arbeit in Gruppen, gegenseitiges Lehren und die Möglichkeit der Mitgestaltung der Lernprozesse
fördern in hohem Maße die Konsolidierung und Vernetzung des Gelernten.
9.
Bezug zum ORS
 Motivierung
- Interesse wecken
- Anknüpfen an Interesse der Sch.
- Bedeutung / Sinn der Lerninhalte
 Klarheit und Strukturierung
- Vorwissen und Erfahrungshorizonte der Sch.
- Lernerleichterung durch strukturierende Hinweise
 Umgang mit Heterogenität, Differenzierung
- differenzierte Unterrichtsgestaltung und Lernangebote
- differenzierte Lernangebote und Inhalte
 Schülerorientierung / Unterstützung
- Selbstwirksamkeit / Selbstvertrauen
- Schülermitwirkung im Unterricht
 Aktivierung
- selbstständiges Lernen
Quellen:
- Bönsch, M. (1993): Üben und Wiederholen im Unterricht. München: Veritas.
- Brand, M. / H. J. Markowitsch: Lernen und Gedächtnis aus neurowissenschaftlicher
Perspektive. In: U. Herrmann (2006): Neurodidaktik. Weinheim und Basel: Beltz,
S. 60ff.
- Herrmann, Ulrich (Hrsg.) (2006): Neurodidaktik. Grundlagen und
Vorschläge für gehirngerechtes Lehren und Lernen. Weinheim und Basel: Beltz
- Maturana, H.R. (2001): Was ist erkennen? Die Welt entsteht im Auge des
Betrachters. München: Veritas.
- Meyer, H. (2010): Was ist guter Unterricht? Berlin: Cornelsen.
- Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur Rheinland-Pfalz (2008):
Orientierungsrahmen Schulqualität Rheinland-Pfalz.
- Roth, G. (2001): Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten
steuert. Frankfurt: Suhrkamp.
- Singer, W. (2002): Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung.
Frankfurt: Suhrkamp.
- Spitzer, M. (2003, 2007): Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens.
Heidelberg und Berlin: Spektrum.
- Vester, F.(2001): Denken, Lernen, Vergessen. München: dtv.
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