Natürlich Sozial? Zur Frage nach den Grenzen des Sozialen in

Werbung
Natürlich Sozial?
Zur Frage nach den Grenzen des Sozialen in Sozialtheorie
und Human-Animal Studies
Hausarbeit zur Erlangung des
akademischen Grades
Bachelor of Arts in Soziologie
vorgelegt dem Fachbereich 02 – Sozialwissenschaften, Medien und Sport
der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
von
Tim Hollenhorst
aus Münster
2014
Erstgutachter: Torsten Cress M.A.
Zweitgutachter: Univ.-Prof. Herbert Kalthoff
Inhalt
1.
Einleitung: Tiere, Menschen, Natur und Gesellschaft ..................................................................... 4
2.
Tierische Geselligkeit in den Human-Animal Studies ...................................................................... 6
3.
Die Verortung der Natur ............................................................................................................... 13
4.
Den Kreis des Sozialen erweitern .................................................................................................. 23
5.
4.1
Donna Haraway: Feministische Wissenschaftskritik ............................................................. 23
4.2
Bruno Latour: Natur, Gesellschaft und Hybride .................................................................... 26
4.3
Theodore Schatzki: Die Zusammensetzung des Sozialen ...................................................... 28
Abschlussdiskussion: Systematische Exklusion oder exklusive Systematik? ................................ 31
Literaturverzeichnis ............................................................................................................................... 35
1. Einleitung: Tiere, Menschen, Natur und Gesellschaft
Die vier Wörter, welche die Überschrift dieses einleitenden Kapitels bilden, werden in der
vorliegenden Arbeit immer wieder an zentraler Stelle genannt. Dabei handelt es sich um Begriffe, die auf Gegenstände verweisen, die keiner klaren, endgültigen Definition unterliegen,
sondern immer wieder neu definiert oder erfunden werden. Zum Beispiel verweist die heutige
Nutzung des Wortes Mensch – zumindest in einigen Teilen der Erde – auf ein mit gleichen
Grundrechten ausgestattetes Lebewesen einer bestimmten Spezies. Eine solche, auf den ersten
Blick ideale Bestimmung würde die Zugehörigkeit zur Menschheit und die damit verbundenen Rechte allein anhand der Speziesgrenzen ausmachen, was den Ein- oder Ausschluss nach
Aussehen, Verhalten, elterlicher Abstammung o.ä. nicht möglich macht. Das Vorhandensein
eines menschlichen Genoms wäre hier das entscheidende Distinktionsmerkmal, um den Menschen als Lebewesen zu bestimmen, das unter allen Lebewesen einen besonderen Stellenwert
erhält und so mit besonderen Rechten ausgestattet wird. Dass ein solches Menschenbild keine
Allgemeingültigkeit beanstanden kann, zeigt unter anderem die Geschichte der Kolonialzeit
und der Sklaverei. Auch kann der Mensch als Ebenbild Gottes und Krone der Schöpfung gesehen werden oder als eine Art unter vielen, die aus einem über Milliarden Jahren andauernden Prozess der Evolution hervorgegangen ist und mit diesem Prozess möglicherweise auch
wieder verschwindet. Was mit diesem kurzen Exkurs klar werden soll ist, dass wenn in dieser
Arbeit vom Menschen die Rede ist nicht das Bezeichnete von Interesse ist, sondern die dem
Wort zugrunde liegenden Implikationen. In einer Reflexion über die Begrifflichkeiten
„Menschheit“, „Sozialität“ und „Gesellschaft“ innerhalb der Soziologie verwendet Jetzkowitz
(2010) folgende Formulierung: „Wer von ‚Menschheit‘ spricht, macht – so können wir feststellen – etwas anderes als eine Art zu bezeichnen. Wer von der Menschheit spricht, gibt einem Selbstverständnis Ausdruck“ (259). Wenn dagegen von Tieren1 die Sprache ist, wird auf
eine Abgrenzung zum Menschen verwiesen. Dass es aber genauso wenig „das Tier“, wie „den
Menschen“ an sich gibt, zeigt die Ambivalenz, mit der dieser Begriff gebraucht wird (Wiedenmann 1997) und die Heterogenität derer, die durch diesen Begriff bezeichnet werden. Dazu zählen Fische, Säugetiere, Insekten und Reptilien oder Haustiere, Nutztiere und Wildtiere
etc.
1
Die in Kapitel 2 vorgestellten Human-Animal Studies verwenden den Begriff der nicht-menschlichen Tiere, um
einer sprachlich verankerten radikalen Gegenüberstellung von Mensch und Tier vorzubeugen. (vgl. unter anderem DeMello 2012 und Chimaira Arbeitskreis 2011).
4
Ebenso kann in Bezug auf Gesellschaft nicht von einer eindeutig definierten Begrifflichkeit
gesprochen werden. Trotz der herausragenden Stellung, die dieser Begriff in der Soziologie
einnimmt, unter anderem zur Konstruktion eines Gegenstandes, der erforscht werden soll,
existiert keine Gesellschaft sui generis, auf die verwiesen wird. Diese Unklarheit kann der
Soziologie allerdings nicht als Unvermögen ausgelegt werden, ein begriffliches Instrumentarium zu entwickeln. Denn wie könnte es auch anders sein? Würde sich die soziologische Theoriearbeit um eine strikte Definition von dem bemühen, was sie als Gesellschaft bezeichnet,
würde sie sich konträr zu einer ihrer Grundannahmen verhalten. Immerhin war die Feststellung der Veränderlichkeit und Wandlungsfähigkeit, die jene „Emergenzkonstellation“ (Lindemann 2009) ausmacht, grundlegend zur Herausbildung der Soziologie als wissenschaftliche
Disziplin. Dementsprechend muss auch Gesellschaft als „historisches Phänomen“ (Jetzkowitz
2010: 264) betrachtet werden. Auch die Vorstellung von Natur ist historisch wandelbar. Zum
einen verweist dieser Begriff auf etwas dem Menschen ursprünglich angelegtes, sei es jener
von Thomas Hobbes beschriebene „Naturzustand“, welcher eine grundlegend durch Konkurrenz getriebene Verhaltensweise des Menschen betont oder die Romantisierung der Natur,
wie bei Jean Jacques Rousseau, aus der die genauso berühmte wie exotisierende Figur des
„edlen Wilden“ hervorging. Zum anderen verweist der Begriff auf einer Art Setting, in dem
Menschen sich bewegen und zwar eines, das „ursprünglich“ vermeintlich ohne das Zutun von
Menschen gewachsen ist. Wie sonst könnte ein Großstädter einen Wochenendausflug raus in
die „Natur“ unternehmen, wenn sich diese nicht von seinem gewöhnlichen Habitat unterscheiden würde? Dabei zeigt sich, dass Natur erst in Abgrenzung zu einem anderen Bereich
existieren bzw. gedacht werden kann. Würde man dieses „Andere“ nun als Kultur oder Gesellschaft bezeichnen, welche in den Sozial- und Kulturwissenschaften als Konzepte vor allem in Bezug auf ihre Wandlungsfähigkeit untersucht werden, wird deutlich, dass auch die
Vorstellung von Natur sich erstens mit der Zeit wandelt und zweitens, wie sich zeigen wird,
abhängig von den Lebensweisen der Menschen ist, die sie betrachten.
Jedoch ist es nicht das Ziel hier Überlegungen zur philosophischen Anthropologie anzustellen. Eine Diskussion über solche Begriffe kann und soll hier nicht abschließend geführt werden, sondern es soll lediglich verdeutlicht werden, dass diese Begriffe hier nicht als Werkzeuge verwendet werden, um der Beantwortung einer soziologischen Fragestellung nachzugehen,
sondern vielmehr den Gegenstand der Arbeit ausmachen. Zu betonen ist an dieser Stelle daher, dass versucht wird sie reflexiv anzuwenden. Es soll der Frage nachgegangen werden, wie
5
soziologische Konzepte, die diesen Begriffen zugrunde liegen, sie in Bezug zum zentralen
Gegenstand der Disziplin setzen – der Sozialität.
Dazu soll am Beispiel von der aufkommenden Disziplin der Human-Animal Studies, die im
folgenden Kapitel vorgestellt wird, der Frage nachgegangen werden, wo die Soziologie ihren
Gegenstand verortet. Beispiele für eine solche Verortung wären dabei Konzepte wie Gesellschaft, Natur, Mensch und Tier. Dabei wird davon ausgegangen, dass Sozialität nicht allen
bekannten Entitäten zugeschrieben wird, sondern die Bestimmung dessen, wer oder was als
sozial gilt und damit als Akteur innerhalb einer sozialen Beziehung begriffen wird, einer Begrenzung unterliegt. Eine solche Begrenzung findet sich insbesondere im Konzept eines Dualismus von Natur und Gesellschaft, in dem soziale Handlungen einzig im Bereich der Gesellschaft auszumachen sind. Im dritten Kapitel soll daher näher auf die theoretischen Implikationen dieser Trennung eingegangen werden und dabei einer kritischen Überprüfung unterzogen
werden. Dazu werden Arbeiten aus unterschiedlichen soziologischen und kulturanthropologischen Richtungen herangezogen, in denen der Dualismus von Natur und Gesellschaft thematisiert wird. Im Anschluss daran werden drei exemplarisch gewählte Theorien äußerst knapp
skizziert. Diese sollen ersten verdeutlichen, dass es Möglichkeiten gibt das Konzept einer von
der Natur getrennten Gesellschaft (beziehungsweise einer von der Gesellschaft getrennten
Natur) zu überwinden. Zweitens soll trotz der knappen Ausführungen angedeutet werden, wie
Ansätze aussehen können, die ohne die Annahme der Trennung von Natur und Gesellschaft
arbeiten. Dabei werden sozialtheoretische Positionen vertreten, die eine Ausweitung von Sozialität über die Menschen hinaus vorsehen und damit der Einbeziehung nicht-menschlicher
Akteure in die Soziologie den Weg bereiten. Zuletzt soll eine Diskussion der dadurch erarbeiteten Ergebnisse und Erkenntnisse durchgeführt werden.
2. Tierische Geselligkeit in den Human-Animal Studies
Forschung, die sich mit Tieren befasst war lange Zeit den Naturwissenschaften, insbesondere
der Biologie, der Medizin und den Verhaltenswissenschaften wie der Ethologie, vorbehalten.
Hinzu kommt eine beträchtliche Anzahl an philosophischen Texten, die sich erst seit jüngster
Zeit mit Tierethik befassen und davor über einen langen Zeitraum hinweg lediglich die hierarchische Überordnung der Menschen über das Tier begründet haben. Seit einigen Jahren gibt
es Bestrebungen die Beziehungen zwischen Menschen und Tieren nicht allein in ihren ethischen Dimensionen zu betrachten oder Tiere allein als Versuchsfläche für Experimente zu
6
objektivieren, sondern das Verhältnis von Menschen zu Tieren beispielsweise aus historischer, soziologischer oder kulturwissenschaftlicher Perspektive zu betrachteten (Chimaira
Arbeitskreis 2011). Die Human-Animal Studies (HAS) sind im deutschsprachigen Raum
kaum mehr als eine Randdisziplin, welche sich im universitären Umfeld noch um Etablierung
bemüht. Größere Anstrengungen das Feld in Deutschland voranzutreiben werden derzeit unter
anderem vom außerakademisch arbeitenden Chimaira Arbeitskreis in Berlin, von der Group
for Society and Animal Studies (GSA) an der Universität Hamburg und dem erst 2014 gegründeten Arbeitsbereich Tier-Mensch- Gesellschaft an der Universität Kassel, in dem ab
Oktober 2014 die erste Professur zur Geschichte der Mensch-Tier Beziehungen angesiedelt
sein wird, unternommen. Die Arbeiten des Chimaira Arbeitskreises sind stark interdisziplinär
ausgerichtet, während die GSA einen soziologischen Schwerpunkt setzt und der Arbeitsbereich in Kassel zwar interdisziplinär ausgerichtet ist, sich aber größtenteils aus Historikern
und Ethologen zusammensetzt. Für die Soziologie sind zudem Werke von Autoren nennenswert, die sich außerhalb dieser institutionalisierten Arbeitsbereiche mit den gesellschaftlichen
Aspekten der Beziehung von Menschen zu Tieren beschäftigen. Dazu gehören unter anderem
Birgit Mütherich (2000), die soziologische Klassiker unter dem Aspekt der Mensch-TierBeziehung untersucht oder Rainer E. Wiedenmann, der 2009 eine überarbeitete Fassung seiner 1997 erschienenen Habilitation herausbrachte, deren Ziel „die Entwicklung eines theoretischen Schemas [ist], durch das typische Konstellationen und Veränderungen in humanimalischen Sozialverhältnissen systematisch erfasst werden können“ (2009: 51). Hinzu kommen
noch einige weitere Werke und ein Anstieg von Einträgen innerhalb der „Sociological
Abstracts“ seit Anfang der neunziger Jahre, die sich explizit auf Tiere beziehen (Wiedenmann
2002: 10). Trotz des in jüngster Zeit zunehmenden Interesses, das sich auch durch die seit
2012 erscheinende Zeitschrift Tierstudien bemerkbar macht und sich an den Zeitpunkten der
Gründungen der oben genannten Arbeitskreise zeigt (GSA und der Chimära Arbeitskreis im
Jahr 2010 und der Arbeitsbereich Tier-Mensch-Gesellschaft im Jahr 2014), kann noch nicht
von einer festen Etablierung des Feldes in Deutschland gesprochen werden. Die Randstellung
der HAS und insbesondere der sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit der Tierthematik
im deutschsprachigen Raum, die sich auch an einem Mangel an Fachliteratur in den Bibliotheken der deutschen Universitäten ausmachen lässt, steht im Kontrast zu einer stärker sichtbaren Etablierung im anglophonen Raum. Kennzeichnend dafür ist das Vorhandensein der
Sektion ‚Animals and Society‘ der American Sociological Association, zu der sich kein ebenbürtiges Pendant in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie finden lässt. Verwiesen sei in
Hinblick auf die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit der Thematik zudem insbesondere
7
auf die bereits seit 1993 erscheinende Zeitschrift Society &Animals und das 2012 erschienene
Einführungswerk Animals and Society von Margo DeMello. Da der Schwerpunkt dieser Arbeit jedoch vielmehr die Frage nach dem Anliegen der Disziplin und nicht ihrer derzeitigen
Stellung ist, sollen die zusammengetragenen Informationen zunächst als Orientierung zur
Einordnung des Faches genügen.
Als multidisziplinäres und interdisziplinäres Feld (DeMello 2012: 7) ist es offensichtlich, dass
sich in den Human-Animal Studies kein einheitlicher Gegenstandbereich vorfinden lässt.
Nichtsdestotrotzt lohnt es sich einige kurze Definitionen vor Augen zu führen und im Hinblick auf die Frage nach den Möglichkeiten der gesellschaftlichen Berücksichtigung von Tieren zu untersuchen. Margo DeMello (2012: 7) führt die intensive Thematisierung der Beziehung von Tieren und Gesellschaft auf die Werke der Philosophen Tom Regan und Peter Singer zurück. Die HAS beschreibt sie als ”an interdisciplinary field that explores the spaces that
animals occupy in human social and cultural worlds and the interactions humans have with
them. Central to this field is an exploration of the ways in which animal lives intersect with
human societies” (2012: 4). Für empirische Arbeiten bedeutet dies, dass die Interaktionen
zwischen Menschen und Tieren in allen möglichen Situationen untersucht werden, sei es beispielsweise bei tiergestützter Therapie mit Pferden (Klontz et. al. 2007), beim Einsatz von
Tieren bei der Arbeit (Wilkeneit; Schulz 2013) oder bei der Kommunikation zwischen
Mensch und Tier am Beispiel von Pferden (Brandt 2004). Es zeigt sich, dass Tiere hier als
gesellschaftlich relevante Akteure und damit insbesondere als soziale Akteure in den Blick
genommen werden. In den Human-Animal Studies beschränkt sich der Bereich der Gesellschaft dementsprechend nicht auf menschliche Individuen oder Kollektive, sondern den Tieren wird ein Platz innerhalb der eigentlich menschlichen Sozialwelt zugesprochen. Dabei geht
die Analyse sowohl über eine Makroebene hinaus, in der anhand von Zahlen der Stellenwert
von Tieren innerhalb der Gesellschaft aufgezeigt wird, als auch über eine Analyse des Umgangs von Menschen mit Tieren in verschiedenen historischen Epochen oder Institutionen.
Wie Sandors und Arluke (1993) zeigen, war ein solcher Blick auf die Mensch-Tier Beziehungen, die in der Soziologie ohnehin nur selten thematisiert wurden, vorherrschend. Dabei wird
nicht erst von der Möglichkeit ausgegangen, dass es auch in der Interaktion zwischen einem
Mensch und einem Tier zwei Perspektiven geben kann – die des Menschen und die des Tieres. Wie in der Einleitung bereits kurz angedeutet, verweist der Begriff ‚Tier‘ auf nicht weiter
als ein Konzept, das sich historisch wandelt und das auch zwischen verschiedenen Völkern
8
nicht dieselbe Bedeutung zugesprochen bekommt2. Dazu merkt DeMello (2012: 55) an: ”what
we know of animals is just a story – a story that we have made up about animals and ourselves.” Um dieser Geschichte eine neue Richtung zu geben schlägt sie vor den Versuch zu
unternehmen, die Welt aus der Perspektive von Tieren zu betrachten. Damit würde die ‚emische Perspektive‘ der Sozialwissenschaften über die Speziesgrenzen hinweg ausgeweitet werden.
Um Die Beziehungen zwischen Mensch und Tier als gegenseitige kommunikative Handlungen in den Blick zu nehmen, bietet sich das Inventar der qualitativen Sozialforschung an. Insbesondere die ethnographische Methode ermöglicht das Erforschen einer nicht verbal artikulierten Kommunikation, indem Sprache und Wissen in ihren körperlichen Ausdrucksformen
gesucht werden. Dazu lohnt sich ein Blick auf Keri Brandts (2004) teilweise ethnographische
Forschung zur Kommunikation zwischen Mensch und Pferd. Da eine verbale Kommunikation
zwischen Mensch und Pferd nicht möglich ist, beginnt Brandt, ausgehend vom symbolischen
Interaktionismus, durch Beobachtungen und Interviews mit Reiterinnen nach einer verkörperten Form der Sprache zu suchen. Diese Form der Sprache wird von beiden Seiten erlernt, wobei ein gemeinsam geteiltes Vokabular entsteht, das im Laufe der Zeit ausgeweitet werden
kann. Auf diese Weise entsteht in der der Beziehung zwischen Mensch und Pferd ein intersubjektiv geteilter Sinn, der durch verkörperte Sprache hergestellt wird.
Dass eine solche Sichtweise auf die Beziehungen, die Menschen zu Tieren unterhalten, ein
Novum in der ‚abendländischen‘ Denkweise darstellt, zeigt der Chimaira Arbeitskreis (2011:
9-13), der den Beginn der Auseinandersetzung mit Tieren im ‚abendländischen Denken‘ bereits bei Aristoteles ansetzt. Dieser beschreibt den Menschen im Gegensatz zum Tier als Wesen, das über einen Logos verfügt und beginnt so mit der oben angesprochenen hierarchischen
Überordnung der Menschen über die Tiere. Diesem Urteil schließt sich Thomas Hobbes an
und verweist darüber hinaus auf den zentralen Stellenwert der Sprache, die sich bei Tieren nur
in Lauten äußert und die einer zwanghaften Natur folgen. René Descartes bemüht einen Vergleich zwischen Tieren und Maschinen und zieht den Geist, der den Menschen vorbethalten
ist, als zentrales Unterscheidungsmerkmal heran, der im Kontrast zum rein mechanistischen
Handeln von Tieren steht. Als weitere Beispiele für die Abwertung von Tieren zieht der
Chimaira Arbeitskreis Immanuel Kant und zuletzt Martin Heidegger heran, der Tiere im Gegensatz zum ‚weltbildenden‘ Menschen als ‚weltarm‘ bezeichnet. Es ist an dieser Stelle interessant zu bemerken, dass der Körper scheinbar nicht als primär relevantes Unterscheidungs2
Dazu auch im nächsten Kapitel Descola (2013).
9
merkmal herangezogen wurde, sondern „die Frage nach dem Logos in allen Epochen die zentrale Grenzlinie darstelle, durch die ‚der Mensch‘ von ‚dem Tier‘ abgegrenzt werden sollte“
(Chimaira 2011: 11). Sprache oder die Möglichkeit eine kommunikative Beziehung einzugehen, die über ein Schema von Befehl und Gehorsam und damit von Aktion und Reaktion hinausgeht, wäre unter solchen Prämissen nur schwer vorstellbar. Nichtsdestotrotz sagt diese
Abgrenzung noch wenig über die Möglichkeit aus, Tiere in sozialtheoretische Betrachtungen
miteinzubeziehen. Immerhin stellt sich die Herausforderung eines nicht rein menschlichen
Konzepts von Sozialität und Gesellschaft nicht nur bei Tieren, sondern auch in Fragen der
‚unbelebten‘ Umwelt und der Technik (dazu Latour 1996). Tiere, wenn auch meist durch ihre
defizitäre Ausstattung in Abgrenzung zum Menschen betrachtet, sind immerhin lebendige
Organismen. Und selbst wenn sie wie bei Descartes als Maschinen betrachtet werden, hieße
auch das nicht, dass sie keinen Platz innerhalb der sozialen Welt einnehmen können. Dementsprechend lautet das zentrale Argument mit dem die Verhältnisse von Menschen zu Tieren in
ihrer Gesellschaftlichkeit begründet werden sollen, nicht dass die strikte Begrenzung zwischen Mensch und Tier obsolet ist3. Diese Begrenzung wird zwar durch das Abrücken von
verbal artikulierter Sprache als zentrale und Kommunikationsform, wie am Beispiel von
Brandts oben genannter Studie auch in Frage gestellt. Die Notwendigkeit, die Mensch-TierBeziehungen als gesellschaftliches Verhältnis zu betrachten und zu verstehen, sehen die Vertreter der Human-Animal Studies jedoch in der beobachtbaren Allgegenwart jener Beziehungen.
Corwin R. Kruse (2002) verteidigt die soziologische Beschäftigung mit Tieren gegen die
Vorbehalte seiner Kollegen und verweist auf die Vielfalt an Situationen, in denen die menschliche und nichtmenschliche Welt miteinander verbunden sind. Dazu zählt er die Haustierhaltung, die Fleischkonsumtion, die aus tierischen Materialien hergestellte Kleidung, dem
Sprachgebrauch, in dem Namen von Tierarten metaphorisch genutzt werden und weitere Situationen. Die Aufgabe der HAS sieht er darin solche Verbindungen aufzuzeigen. Auch der
Chimaira Arbeitskreis (2011: 18) sieht in der Vielzahl der Interaktionen zwischen Menschen
und Tieren „die Notwendigkeit einer Integration von nichtmenschlichen Tieren und MenschTier-Verhältnissen in das Verständnis von Gesellschaft“. Das Anliegen der HAS sieht der
Arbeitskreis darin, „die kulturelle, soziale und gesellschaftliche Bedeutung nicht-
3
Charles Darwin stellte bereits vor 150 Jahre eine Theorie auf, die den Menschen nicht außerhalb des Tierreichs
stellte, sondern ihm eine Stellung innerhalb des selbigen zuwies, beziehungsweise ihn daraus hervorgehen ließ.
Die Grundzüge seiner Evolutionstheorie sind heute überwiegend in der scientific community anerkannt und
bildeten den Grundstein zur Etablierung der Biologie als akademische Disziplin.
10
menschlicher Tiere, ihre Beziehung zu Menschen sowie die Gesellschaftlichen Mensch-TierVerhältnisse“ (Chimaira 2011: 20), zu untersuchen. Auch Margo DeMellos (2012) Argumentation liest sich ähnlich. Sie stellt fest, dass Menschen von Tieren umgeben sind und gibt dabei etwa die gleichen Beispiele wie Kruse: Haustiere, Tiersendungen im Fernsehen, Konsum
tierischer Produkte, Bekleidung, Zoos, Sprachgebrauch und nicht zuletzt Protestbewegungen,
die sich gegen die gegenwärtige Behandlung von Tieren richten. In all diesen Phänomenen
und Praktiken sieht DeMello das eigentlich Unübersehbare – die Omnipräsenz von Tieren
innerhalb der eigentlich menschlichen Gesellschaft. Dabei geht sie aber noch weiter, sieht die
menschliche Interaktion mit Tieren als strukturierendes Element in der Gesellschaft an und
kritisiert die langfristige Ausblendung. Hierzu ein längeres Zitat:
“Much of society is structured through interactions with nonhuman animals or through interactions with
other humans about animals. Indeed, much human society is based upon the exploitation of animals to
serve human needs. Yet until recently, academia has largely ignored these types of interactions. This invisibility – in scholarly inquiry – was perhaps as great as the presence of animals in our daily lives. This
presence, however, becomes difficult to ignore when we consider the magnitude of animals representations, symbols, stories, and their actual physical presence in human society and cultures. Animals have
long served as objects of study – in biology, zoology, medical science, anthropology, and the like – but
were rarely considered to be more than that, and were even more rarely considered to be ‚subjects of a
life‘ rather than objects of study“ (DeMello 2012: 5-6).
Bedenkt man zum einen die von den Vertretern der Human-Animal Studies festgestellte Offensichtlichkeit, mit der sich die Beziehungen zwischen Menschen und Tieren auch unter gesellschaftlichen Aspekten betrachten lassen, kann die Frage aufgeworfen werden, wie etwas,
das permanent sichtbar ist, so lange unsichtbar bleiben konnte. Eine mögliche Antwort kann
darin gesucht werden, dass der Ausblendung eine gewisse Systematik zugrunde liegt.
Anschließend an ihr oben angeführtes Zitat stellt DeMello (2012) die These auf, dass eine
Betrachtung von Tieren, die über ihren Status als Ressource hinausgeht, ethische Fragen
aufwirft. ”When we grant that animals have subjectivity, including their own interests, wants,
and desires, it becomes more difficult to justify many of the practises that humans engage in
with animals, such as meat consumption or medical experimentation“ (2012: 6). DeMello gibt
dies als einen möglichen Grund an, geht der Frage im Anschluss aber nicht weiter nach. Die
Annahme, dass die Beziehungen, die Menschen mit Tieren unterhalten, allein aus ‚ethischer
Bequemlichkeit‘ ihrer gesellschaftlichen Relevanz abgesprochen wurden, erscheint nur teilweise plausibel. Insbesondere die industrielle Produktion von Fleisch und der damit zusammenhängende Konsum und die Durchführung von medizinischen Versuchen an Tieren, also
11
jene Bereiche die Margo DeMello anspricht und die den Umgang mit Tieren als ethisches
Problem virulent werden ließen, sind noch sehr junge Phänomene, während die objektivierende Sichtweise auf Tiere einer langen Tradition zugrunde liegt.
Im Folgenden soll ein Blick auf den Status von Tieren innerhalb der Soziologie und der Sozialtheorie geworfen werden. In Fragen nach dem Zusammenleben von Menschen und Tieren
wird der Soziologie immer wieder eine langfristige Abstinenz attestiert. Wiedenmann (2002:
9) beobachtet dementsprechend eine „Identifizierung von Soziologie und Humansoziologie“
und Pfau-Effinger und Buschka (2013: 9) befinden es als „erstaunlich, dass das Verhältnis der
Menschen zu den Tieren, die oft der Natur zugerechnet werden, in der neueren deutschen Soziologie kaum thematisiert wird.“ Neben der Aussparung der Thematik in der Soziologie, die
Mütherich (2000) ebenfalls erst in der „neueren deutschen Soziologie“, das heißt nach klassischen Wegbereitern wie Max Weber und Karl Marx aber auch der Frankfurter Schule, sieht,
ist die Zuordnung von Tieren zur Natur an dieser Stelle erwähnenswert.
In der vorliegenden Arbeit wird von der These ausgegangen, dass die Nichtberücksichtigung
von Mensch-Tier Beziehungen unter gesellschaftlichen Gesichtspunkten aus einer anthropozentrischen Konzeption des Gesellschaftsbegriffs hervorgeht. Wenn die Vertreter der HumanAnimal Studies die Notwendigkeit der Erforschung jener Beziehung in der Gegenwart von
Tieren innerhalb der Gesellschaft sehen, verweist dies auf einen tieferliegenden Wandel im
Verständnis von Sozialität, Gesellschaft und allem, was davon ausgeschlossen ist. Immerhin
ist die Kopräsenz von Tieren und Menschen auf der Erde nicht etwa eine Entdeckung des 21.
Jahrhunderts, sondern es gab keine Zeit in der sie sich nicht einen Lebensraum geteilt haben.
Die anthropozentrische Konzeption von Gesellschaft, so soll weiter argumentiert werden, geht
einher mit der strikten Trennung zwischen Natur und Gesellschaft als zwei eigenständige ontologische Bereiche. Dies würde erstens bedeuten, dass die oben angesprochene Systematik,
mit der die Ausblendung von Tieren, falls sie in dieser Form vorhanden ist, in eben jener
Trennung gesucht werden kann. Zweitens würde es bedeuten, dass die Objektivierung von
Tieren nicht als Folge einer ‚ethischen Bequemlichkeit‘, wie bei DeMello betrachtet wird,
sondern die ‚ethische Bequemlichkeit‘ vielmehr Folge einer speziellen Denktradition ist, die
alles nicht-menschliche außerhalb der Gesellschaft verortet und damit objektivierbar macht.
Damit wird an die Auffassung des Chimaira Arbeitskreises (2011: 19) angeschlossen, der die
Notwendigkeit einer Revision des traditionellen Gesellschaftsbegriffes und der Dekonstruktion der „Fixierung auf ‚den Menschen‘ als einziges soziales Wesen“ sieht, um Mensch-Tier–
Verhältnisse in ihrer Gesellschaftlichkeit zu verstehen.
12
Daher soll im folgenden Kapitel zunächst eine Rekonstruktion des Verhältnisses der Gesellschaft zur Natur innerhalb der Soziologie erfolgen, wobei eine kritische Betrachtung der exklusiven Zuweisung des Menschen in den Bereich der Gesellschaft angestrebt wird.
3. Die Verortung der Natur
Abhängig davon welche ‚theoretische Brille‘ man aufsetzt, kann die Soziologie sich unter
anderem mit sozialen Handlungen im Sinne Max Webers, sozialen Tatsachen im Sinne Émile
Durkheims, oder sozialen Systemen im Sinne Niklas Luhmanns beschäftigen. Nicht ohne
Grund geht den Handlungen, Tatsachen und Systemen das Wort sozial voraus, zwingt es doch
zur Explikation der Begriffe und schränkt damit den Gegenstandsbereich, dessen die Soziologie sich annimmt, ein. Wenn es soziale Handlungen etc. gibt, sollte davon ausgegangen werden, dass es auch solche Handlungen, Tatsachen und Systeme gibt, denen dieses Attribut
nicht zusteht, die dementsprechend nicht sozial sind.4 Die Beziehung zwischen Sozialem und
Außersozialem wird insbesondere in der Umweltsoziologie, der Wissenssoziologie und der
Anthropologie thematisiert. Hinzu kommen Bereiche, wie die Agrarsoziologie, die Körpersoziologie und die Stadtsoziologie. Im Folgenden sollen anhand einiger dieser Arbeiten die
Möglichkeiten zur Konzeptualisierung des Status von Sozialem und Außersozialem einerseits
und zu deren Beziehung zueinander aufgezeigt werden, um so aktuelle Problematiken zu vergegenwärtigen und zum prekären Status von Tieren innerhalb dieses Schemas hinzuarbeiten.
Wenn von der Annahme ausgegangen wird, dass es eine Abgrenzung dessen gibt, was im
Bereich des Sozialen liegt und was nicht, so ist es unvermeidbar von mindestens zwei ‚Orten‘5 auszugehen, die durch diese Grenze voneinander getrennt werden. Diese ‚Orte‘ werden
in der Regel als Natur und Gesellschaft bezeichnet und ihre Beziehung zueinander wird als
Dualismus beschrieben, das heißt eine Zuweisung der Bereiche des Sozialen und des nicht
Sozialen kann entweder in den einen oder in den anderen Bereich erfolgen, sie stehen als Gegensatz zueinander und schließen sich dementsprechend gegenseitig aus. Das Vorhandensein
4
Dass die These des Vorhandenseins einer außersozialen Realität keine Allgemeingültigkeit beanstanden kann,
zeigt das Vorhandensein konstruktivistischer Ansätze in denen von einer sozialen Konstruktion der Umwelt
ausgegangen wird. David Kaldewey (2011) geht davon aus, dass sich bislang zwei konträre Standpunkte entwickelt haben, die sich als „Realismus“ und „Konstruktivismus“ benennen lassen. Eine Debatte zwischen diesen
zwei Ansätzen ist nichts Geringeres als eine Grundsatzfrage der Soziologie und lässt sich hier nicht ansatzweise
klären. Bezüge zur Debatte ziehen sich der Thematik entsprechend allerdings durch die gesamte Arbeit und so
wird in ihrem Verlauf deutlich, warum hier zunächst die Annahme des Vorhandenseins einer außersozialen Realität, die sich in Opposition zur sozialen Realität befindet, als Ausgangspunkt gewählt wird.
5
Orte sollen hier in einem metaphorischen und nicht in einem geographischen Sinn gemeint sein.
13
einer solchen Abgrenzung innerhalb der modernen Gesellschaft, ist eine a priori Annahme,
die sich in vielen Arbeiten, die sich mit ebenjener Trennung beschäftigten, gemacht wird. Die
Ausprägungen der Abgrenzung werden zwar auf verschiedene Weisen konzeptualisiert, doch
sie bietet stets den Ausgangspunkt, ob für eine kritische Betrachtung oder einer Verteidigung
der Grenzziehung. In der Regel kommt Sozialität in der Gesellschaft vor, während alles Außersoziale im Bereich der Natur verortet wird. Woraus aber besteht das Soziale?
Ingo Schulz-Schaeffer (2006: 705) beobachtet in der soziologischen Theoriebildung, dass „die
Prozesse oder Operationen, die Soziales konstituieren, auf Aktivitäten des menschlichen Bewusstseins zurückgeführt [werden]“, für Thomas Luckmann (1980: 56) ist es „der gesunde
Menschenverstand“, der „keinen Zweifel daran zu[lässt], daß[!] soziale Wirklichkeit ausschließlich menschliche Belange umfaßt[!]“.6 Das Soziale wird demnach sowohl in der Alltagserfahrung der Menschen, als auch in der klassischen soziologischen Theorie mit dem
Menschlichen gleichgesetzt und damit in der Gesellschaft verortet, was diesen Ort, bedenkt
man die Beziehung in der Natur und Gesellschaft zueinander stehen, zu einer äußerst exklusiven Angelegenheit macht. Es ist unwahrscheinlich, dass die bloße Möglichkeit der Zuweisung
solch abstrakter Phänomene wie das Soziale und das Nicht-Soziale als Selbstzweck zur Legitimation solcher Grenzziehungen dient und damit bleibt die Frage offen, wozu die Grenzziehung überhaupt dient.
In Ulrich Becks Theorie reflexiver Modernisierung wird davon ausgegangen, dass soziale
Akteure durch die Natur-Gesellschaft-Grenze „unverzichtbare Orientierungsleistungen und
Handlungsentlastungen“ geboten bekommen, da sie es ermöglicht Zuständigkeitsbereiche
festzulegen (Viehöver et. al. 2004: 65). Christoph Lau (1999) geht von einer inneren und einer
äußeren Natur aus, die eigenen Gesetzmäßigkeiten obliegen und sich in Abgrenzung zur Gesellschaft befinden. Daraus folgt bereits ein erster Erklärungsansatz der Abgrenzung: Im Gegensatz zum Umgang in der Gesellschaft bedarf der Umgang mit der Natur keiner Begründung und er ist keiner moralischen Verantwortung unterworfen. Die Grenze ist daher „die
Voraussetzung einer entmoralisierten, nicht rechtfertigungsbedürftigen Ausbeutung von Natur“ (Lau 1999: 289). Hinzukommen weitere moderne Institutionen, für deren Funktionieren
diese Trennung von zentraler Bedeutung ist. Dazu zählt unter anderem die Rechtsprechung,
die nur dann funktionieren kann „wenn es möglich ist anthropogene Ursachen von natürlichen
Ursachen zu trennen“ und das Bildungswesen, das „auf einer impliziten naturalistischen Begabungstheorie [fußt]“ (Lau 1999: 289). Trotz der offensichtlichen funktionalen Vorteile der
6
So gesehen läge eine ungewöhnliche Nähe zwischen soziologischer Theorie und common sense.
14
Grenzen in der modernen Gesellschaft, wird ihre Existenzberechtigung sowohl aus analytischer Sicht in der Wissenschaft, als auch aus ethischer Sicht vor allem in sozialen Bewegungen, zunehmend in Frage gestellt. Wie wird diese Skepsis begründet?
Die strikte Trennung einer Gesellschaft, die allein menschlichen Individuen vorbehalten ist
und einer Natur, in der alle anderen Entitäten untergebracht sind, ist keine anthropologische
Konstante. Ethnologische und historische Arbeiten haben immer wieder die Kontingenz der
Beziehung von Gesellschaft und Natur aufzeigen können. Ausgehend von seiner eigenen
Feldforschung bei den Achuar im oberen Amazonasbecken zwischen Ecuador und Peru und
der Fülle an Arbeiten, die sich vor allem in der ethnologischen Forschung über Jahrzehnte
zusammengetragen haben, stellt Philippe Descola (2013) vier Kosmologien vor, in denen der
Naturalismus, so seine Bezeichnung für die Kosmologie der Moderne, nur eine Variante darstellt. Weitere Kosmologien benennt er als Totemismus, Analogismus und Animismus, in
denen die Grenzen zwischen dem Sozialem und Nicht-Sozialem völlig andere Verläufe annehmen können als im Naturalismus. Für Descola als Ethnologen bedeutet dies nicht, dass das
dualistische Denken im Naturalismus der Moderne die vorerst letzte Stufe einer menschlichen
Entwicklungsgeschichte ist. Jede Kosmologie ist eine Kosmologie im eigenen Recht und lässt
sich nicht hierarchisch über- oder unterordnen. Insbesondere eine knappe Vorstellung des
Animismus ist für die vorliegende Arbeit sinnvoll. Die Grundlage auf der die Trennung von
Menschen und Tieren basiert, ist hier allein die Körperlichkeit. Allerdings werden die verschiedenen Physiognomien zwischen Tieren, Pflanzen und Menschen nicht als unüberwindbare Unterscheidungen aufgefasst, sondern Pflanzen und Tiere tragen lediglich ein „Gewand aus
Federn, Fell, Schuppen oder Rinde“ (2013: 197). Das bedeutet kurz gesagt: Im Animismus
sind Menschen, Tiere und Pflanzen in ihrem Wesen gleich. Descola spricht im Kontrast zur
Physikalität, nach der eine Unterscheidung möglich ist, von einer Seele, die bei all den verschiedenen Lebensformen gleich ist. Tiere verfügen im Animismus über dieselben Kulturfähigkeiten wie Menschen. Dazu gehört der landwirtschaftliche Anbau von Pflanzen oder das
Zubereiten von Lebensmitteln. Nun könnte angenommen werden, dass sich diese Vorstellung
leicht durch Beobachtungen widerlegen lässt, doch die animistische Vorstellung gründet sich
auf der Annahme, dass es die Tiere selbst sind, die davon ausgehen, dass sie solche Tätigkeiten vollführen. Ein solch radikaler Kontrast zeigt überaus deutlich auf, dass die moderne Konzeption von Natur keine Allgemeingültigkeit beanspruchen kann, sondern als Produkt ihrer
Zeit und der damit verbundenen Vorstellungen zu betrachten ist.
15
Auch Thomas Luckmann (1980: 66f.) verweist auf die historische und kulturelle Kontingenz
bei der Grenzziehung der Sozialwelt. Für ihn kommt der Gleichsetzung von menschlichem
und Sozialem kein analytischer Status zu. Das bedeutet, er rückt von der in der soziologischen
Theorie im Allgemeinen und in der Phänomenologie Edmund Husserls im Speziellen, impliziten Annahme ab, dass das abstrakte Alter Ego (aus dessen Interaktion mit Ego erst Sozialität
entsteht) menschlich sein muss. Edmund Husserl sah die Gleichsetzung von Menschlichem
und Sozialem in den Strukturen der Lebenswelt verankert. Die Gesellschaft als eine rein
menschliche zu erfassen läge demnach, um es etwas salopp zu formulieren, in der Natur des
Menschen. Luckmann widerspricht dieser Annahme, indem er aufzeigt, dass Husserls Figur
des transzendentalen Egos im Gegensatz zum weltlichen Ego, „durch apperzeptive Sinnübertragung die Bedeutung ‚Leib‘ von vornherein jeder Gegenständlichkeit zusprechen“ muss
(1980: 63). Er kritisiert, dass Husserl dies scheinbar übersehen hat und stellt die Hypothese
auf, „daß[!] die Bedeutung von ‚menschlichem Wesen‘ eine Abänderung des ursprünglichen
Sinnes ‚Leib‘ darstellt“ (1980: 62). Wie kommt es aber dann zu einer Beschränkung der Sozialwelt? Luckmann nennt die apperzeptive Sinnübertragung eine „universale Projektion“
(1980: 66), die je nach Relevanzstrukturen eines Volkes verschiedenen Einschränkungen unterliegt. Dazu gehören die veränderliche Physiognomie, die Möglichkeit zur Bewegung und
die Möglichkeit gegenseitiger Kommunikation. In der Moderne wurde die universale Projektion so weit eingeschränkt, dass nur noch Menschen in der Sozialwelt übrigblieben.
Gesa Lindemann (2009) schließt sich Luckmanns Ausführungen an. Eine Sozialtheorie, die
von der Prämisse ausgeht, dass ein sozialer Akteur zugleich ein menschlicher sein muss,
reicht nur aus „solange die Frage nach den Grenzen des Sozialen nicht explizit aufgeworfen
wird“ (2009: 16). Auch sie betont die Kontingenz der Grenzziehungen, die den Bereich des
Sozialen bilden, was sie besonders am Beispiel mittelalterlicher Tierprozesse veranschaulicht.7 Von dort aus entwirft sie ein Konzept der reflexiven Anthropologie in der die Frage
nach dem Status des sozialen Akteurs, der in jeder Sozialtheorie einen zentralen Stellenwert
einnimmt (2009: 19-26), neu aufgeworfen wird. Die Soziologie bedient sich laut Lindemann
anthropologischer Vorannahmen, die auf die Fragen nach dem wer und was des Menschen
Antworten geben. Von diesen Prämissen gilt es sich, nach Lindemann, zu distanzieren, damit
7
Zur Thematik von Tieren als Rechtssubjekte vgl. Auch Michael Fischer (2007), der in den mittelalterlichen
Tierrechtsprozessen keine generelle Personifizierung von Tieren im Denken der Menschen erkennt. Eine Personifizierung fand laut Fischer nur situativ in den Prozessen statt, um die Kontrolle über eine hierarchische gottgegebene Ordnung zu erhalten. Tiere stehen in dieser Hierarchie unter Sklaven und freien Menschen. Tötet ein Tier
einen Menschen wird diese hierarchische Ordnung verletzt, was als problematisch galt. Zur Lösung wurde dem
Tier für den Gerichtsprozess der Status als Rechtssubjekt zugeschrieben.
16
sie zunächst einer Rekonstruktion zugänglich gemacht werden können. Die zentrale Stellung
des Menschen darf nicht als Vorannahme in die Theorie einfließen, sondern muss selbst zum
Gegenstand der Analyse werden. Während sich die zweiten Frage in der Soziologie nicht explizit beantworten lässt, da das „Wesen des Menschen nicht festgelegt [sei], sondern erst
durch die historisch-gesellschaftliche Praxis hervorgebracht werden [müsse]“ (Lindemann
1999: 166), fordert Lindemann auch eine Rekonstruktion der Frage nach dem wer des Menschen, welche ihr zu folge (mit Ausnahme von Thomas Luckmanns oben erwähnten Aufsatz),
noch nicht aufgeworfen wurde. Die Gleichsetzung lebendiger Menschen mit sozialen Personen wird durch Prozesse entschieden, die es zu analysieren gilt.
Dazu entwirft Lindemann ein Konzept gesellschaftlicher Grenzregime (2009: 103), welches
sie anhand der oben genannten Tierprozesse verdeutlicht. In den Konzepten der reflexiven
Anthropologie und der gesellschaftlichen Grenzregime zeigt sich eine deutliche Kritik an der
bisherigen Sozialtheorie, dazu nochmal Lindemann: „Der gegenwärtige Zustand des theoretisch-begrifflichen Instrumentariums ist nicht nur hoffnungslos eurozentrisch und deshalb mit
einer Analyse nicht-westlicher Gesellschaften überfordert, sondern er ist auch für eine Analyse des Grenzregimes moderner Gegenwartsgesellschaften kaum noch tauglich“ (2009: 60).
William Catton und Riley Dunlap (1978) bezeichnen die zentrale Stellung, die der Mensch in
der Sozialtheorie einnimmt als “Human Exemptionalism Paradigm“8 (HEP). Auch sie kritisieren, dass die soziologische Theoriearbeit nur den Anschein von Vielfältigkeit mache, ihr genauer betrachtet jedoch eine anthropozentristische Perspektive zugrunde liege. Diese Perspektive führe zu einer Ausblendung der Umwelt, zur Erklärung gesellschaftlicher Phänomene, die
sich die Soziologie, aufgrund zunehmender Problematiken mit denen sich die Gesellschaft
aufgrund von Umweltbedingungen konfrontiert sieht, nicht mehr leisten kann.9 Als Lösung
fordern sie einen Paradigmenwechsel hin zu einem “New Environmental Paradigm“ (NEP), in
dem die überholten Annahmen auf die sich das HEP gründet10, einer Revision unterzogen
werden. Die Autoren gehen dabei nicht bereits dazu über die Grenzen des Sozialen direkt zu
hinterfragen. Ihnen ist daran gelegen Mensch und Umwelt in ihrer Wechselwirkung zu betrachten, die Umwelt sozusagen in die Variable miteinzubeziehen mit der soziale Phänomene
erklärt werden sollen. Als Beispiel ziehen sie schließlich Arbeiten aus der Umweltsoziologie
8
Parallelen zu Thomas Kuhns (1973) Begriff des Paradigmas in der Wissenschaft sind hier kein Zufall.
Sechs Jahre bevor ihr Artikel erschien, brachte der Club of Rome das Buch „Die Grenzen des Wachstums“
heraus, das sie als Bericht zur Lage der Menschheit untertitelten und in dem sie versuchten die Konsequenzen,
die der Umgang mit der Umwelt in der Moderne nach sich zog, aufzuzeigen (Vgl. Meadows et. al. 1972).
10
Dazu zählten sie neben der Einzigartigkeit des Menschen auch die Möglichkeit zu unbegrenzten Fortschritt
(Catton; Dunlap 1978: 42-43).
9
17
zur sozialen Schichtung heran. Wird von der Annahme des NEP ausgegangen, dass ökonomisches Wachstum und sozialer Fortschritt zwangsläufigen Begrenzungen unterliegen, kann
eine Stagnation des Wachstums, verursacht zum Beispiel durch eine Ölkrise, zu Konflikten
innerhalb von gesellschaftlichen ‚Klassen‘ führen. Catton und Dunlap gehen davon aus, dass
‚Klassenkonflikte‘ durch stetiges Wachstum abgeschwächt werden, jedoch nur weil der absolute Anteil an zu verteilenden Ressourcen steigt, nicht weil es eine relativ gesehen gleichmäßigere Aufteilung der Ressourcen gibt, falls nun umweltbedingt insgesamt weniger Ressourcen zur Verfügung stehen, machen sich Klassenunterschiede wieder deutlicher bemerkbar.
Die Umwelt kann demnach direkten Einfluss auf die Sozialstruktur nehmen.
Bis hier lassen sich bereits einige Gründe für die Skepsis an der strikten Begrenzung des Sozialen erkennen. (1) Durch die exklusive Zuschreibung von Sozialität auf den Menschen wird
dieser in eine zentrale Stellung gerückt, die in mancherlei Hinsicht fraglich erscheint. Sollte
die Sozialtheorie dem Menschen diese Stellung weiterhin zugestehen müsste sie sich den
Vorwurf des Eurozentrismus gefallen lassen, da es wie Lindemann ausdrückt „als ein Spezifikum der modernen Gesellschaft betrachtet werden [muss], dass nur lebende Menschen soziale
Personen sein können“ (2009: 16). (2) Die Kontingenz der Grenzziehungen kann sowohl ethnologisch als auch historisch belegt werden. (3) Darüber hinaus verlöre die Sozialtheorie an
Erklärungskraft, da jegliche nicht-menschlichen Aktivitäten nicht in ihren Bereich fallen und
damit konsequent ausgeblendet würden. (4) Zuletzt sind es eine Fülle an gegenwärtigen Ereignissen, technischen Innovationen und wissenschaftlichen Entdeckungen, die die Grenzziehung fragil werden lassen. Umweltereignisse wurden bereits kurz angesprochen, die anderen
beiden Faktoren werden noch zur Sprache kommen. Zunächst soll aber die Frage interessieren
womit die systematische Ausblendung der Natur, also des Nicht-menschlichen innerhalb der
Soziologie begründet wird. Wurden all die Zweifel in der Gründungsphase der Soziologie
übersehen?
Nach Lemke (2009), Gill (1998) und weiteren Autoren (Viehöver et. al. 2004; Rosenbaum
1998) geschah die strikte Abgrenzung der Soziologie zu den Naturwissenschaften zunächst
aus Legitimationsgründen. Damit sich die Soziologie als eigenständige Disziplin etablieren
konnte, musste sie einen eingegrenzten Gegenstandbereich definieren. Dies gelang durch „die
Abgrenzung gegen klimatische, geografische und biologische Erklärungen sozialer Phänomene“ (Lemke 2009: 248). Das bedeutet zum einen, dass es einen strategischen Sinn (Rosenbaum 1998: 251) hinter der Abgrenzung gab und zum anderen, dass diese Abgrenzung keineswegs auf Dauer gestellt sein muss. Es ist nötig sich noch einmal zu vergegenwärtigen, dass
18
die Abgrenzung von Natur und Gesellschaft nichts weiter als „soziale Konventionen“ (Viehöver et. al. 2004: 66) sind. Es mag zum Zweck der wissenschaftlichen Arbeitsteilung sinnvoll
erscheinen diese Gebiete abzugrenzen, doch was genau in den Bereich der Natur und was in
den Bereich der Gesellschaft fällt, unterliegt keiner endgültigen Definition. Dazu ist das Feld
der wissenschaftlichen Disziplinen sowohl auf Seiten der Natur- als auch auf Seiten der Sozialwissenschaften zu heterogen (vgl. Rosenbaum 1998: 254f.).
Der Gegenstand der Sozialwissenschaften (und auch der Naturwissenschaften) ist demnach
nicht in der Disziplin verankert. Deutlich wird dieser Sachverhalt unter anderem in der Entwicklung soziologischer Theorien, deren Gegenstände immer vom theoretischen Rahmen
abhängig sind. Hirschauer (2006) zeigt dies exemplarisch am Wissensbegriff, der innerhalb
der Praxistheorie anders verortet wird (über, im und am Körper) (2006: 974), als in Handlungs- oder Kommunikationstheorien. „Wenn der ‚Geist‘ Thema der Biologie und der Körper
Thema der Soziologie werden, dann geht es nicht um die Verwischung von Grenzen zwischen
zwei epistemischen Kulturen“, schlussfolgert er seine Ausführung zu einer Verkörperung des
Wissensbegriffs, „sondern nur darum, dass diese nicht mehr so primitiv durch die Wahl oder
Meidung von Gegenständen gezogen werden“ (2006: 983).
Eine Ausblendung nicht-menschlicher Aktivitäten kann nicht im Selbstverständnis der Disziplin begründet liegen. Weder bezeichnen Gesellschaft und Natur zwei Sphären mit eigenen
Gesetzmäßigkeiten, noch können Zuweisungen zu diesen Sphären als universell gültig getroffen werden. Falls es in der Gründungszeit der Soziologie zu einer solchen Ausbeldung kam 11,
lässt sich diese eher mit den damaligen Relevanzsetzungen erklären, als mit einer allgemeingültigen Gegenstandsbegrenzung der Disziplin. Wenn es nun zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit der Natur innerhalb der Soziologie kommt, wovon nicht zuletzt der thematische Schwerpunkte des Kongresses der DGS aus dem Jahr 2006 (Die Natur der Gesellschaft),
zeugt, muss die Frage angeschlossen werden, wodurch die Natur an einer solchen Relevanz
gewonnen hat.
Lemke (2009) sieht den Beginn der Auseinandersetzung mit der Natur in den 1970er Jahren
und durch Ereignisse wie Katastrophen in Sveso, Harrisburg und Bhopal, Befreiungskämpfen
von Frauen und Homosexuellen sowie Durchbrüchen in Gentechnologien. Viehöver et. al
(2004: 66) sehen den Beginn bereits in den sechziger Jahren und führen hauptsächlich gesellschaftliche Konflikte als Grund für das Aufkommen der Naturabgrenzungen an. Technische
11
Für eine ausführliche Auseinandersetzung und Kritik dieser Annahme siehe Matthias Groß (2001), der bei
Klassikern wie Marx, Weber und Durkheim bereits Ansätze zum Einbezug der Natur in die Soziologie sieht.
19
Eingriffe in die Natur, Gen- und Reproduktionsforschung, die Folgen von Landwirtschaft
und Viehzucht und in der medizinischen Transplantation12, so ihre These, lassen die Grenzen
problematisch werden. Aktuell kann noch eine zunehmende Infragestellung der Mensch-TierDifferenz verzeichnet werden. Diese stützt sich zum einen auf ethologische Forschungen13
und manifestiert sich oft in Form von Tierschutz- und Tierrechtsbewegungen. Zum anderen
beruht sie auf Entwicklungen in der Gentechnik, wobei Tieren menschliche Gene zum Beispiel zur Erforschung von Krankheiten hinzugefügt werden (bpb 2012). Die soziologische
Beschäftigung mit der Natur und ihrem Verhältnis zur Gesellschaft kann demnach als Reaktion auf gesellschaftliche Entwicklungen gesehen werden. Die konkrete Abgrenzung wurde
darüber hinaus erst durch ihre Problematisierung sichtbar.
Nachdem nun das Konzept der Abgrenzung, auf das sich Arbeiten zu ebendieser stützen,
skizziert wurde, die Kritik an dieser Abgrenzung aufgezeigt und die Gründe sowohl für ihre
vermeintliche Ausblendung, als auch ihrer Entdeckung dargestellt wurden, soll nun dazu
übergegangen werden die bisherigen Konzeptualisierungen zu dieser Thematik knapp wiederzugeben.
Dabei lassen sich laut Lau (1999) zwei Formen von Ansätzen ausmachen: Die einen bezeichnet er als naturalistisch, die anderen als soziozentrisch. Nach seiner Auffassung thematisieren
die naturalistischen Ansätze einen systemischen Zusammenhang und die Wechselwirkungen
zwischen Natur und Gesellschaft, wobei der Natur ein ontologischer Status zukommt, der
dem Bereich der Naturwissenschaften obliegt. Die Soziologie befasst sich demnach mit der
Anpassung der Gesellschaft an ihre ‚natürliche‘ Umwelt. In soziozentrischen Ansätzen wird
die Natur als rein soziales Konstrukt betrachtet. Der Naturbegriff wird auf kulturelle und sozialstrukturelle Eigenschaften zurückgeführt und besitzt damit keinen ontologischen Status,
sondern wird allein in seiner Kontingenz wahrgenommen. Beide Formen werden vom Autor
kritisiert. Die naturalistischen Ansätze, die Natur als Gegenstandbereich definieren, der sich
der Gesellschaft gegenüberstellt, übersehen, dass jegliche Beschreibungen der Natur und dessen Zustand sich aus gesellschaftlichen Vorstellungen zusammensetzen. Der soziozentrische
Ansatz hingegen kann an der Praxis scheitern (1999: 294). Insbesondere im Zusammenhang
mit Katastrophen zeigt sich, dass es Bereiche gibt, über die die Gesellschaft nicht verfügt. An
12
Man bedenke zum Beispiel auch die Xenotransplantation.
Whiten et. Al. (1999) konnten im Vergleich voneinander unabhängiger ethologischer Studien bei Schimpansen
in verschiedenen Regionen Südamerikas verschiedene Verhaltensmuster feststellen und zu kulturellen Schemata
ausbauen, was die Kulturfähigkeit als menschliches Distinktionsmerkmal zur Abgrenzung von der Tierwelt
brüchig erscheinen lässt.
13
20
dieser Stelle wird die Grenze zwischen Natur und Gesellschaft erfahrbar. Natur ist dementsprechend weder ein reines Konstrukt noch ein hartes Faktum.
Auch Lemke (2009) beobachtet diese beiden praktischen und theoretischen Stränge, die sich
einer Auseinandersetzung mit der Frage vom Verhältnis von Natur und Gesellschaft stellen.
Die Definition dieser Konzepte deckt sich weitgehend mit der von Lau, jedoch schlägt er in
seiner Kritik einen anderen Weg ein. Als naturalistisch bezeichnet Lemke Konzepte, in denen
die Gesellschaft durch ihre Umwelt geformt wird. Dabei wird von einer Wechselwirkung von
Natur und Gesellschaft ausgegangen, was bedeutet, dass die „Natur“ zur Erklärung der gesellschaftlichen Zustände herangezogen wird. Als Beispiel für einen solchen Ansatz sei an das
oben beschriebene “New Environmental Paradigm“ von Catton und Dunlap (1978) gedacht.
Im Gegensatz dazu wird in soziozentrischen Ansätzen das Vorhandensein einer eigenständigen Natur bestritten. Natur wird hier als eine rein gesellschaftliche Konstruktionsleistung begriffen, wodurch sie jegliche Eigenständigkeit einbüßt. Als Beispiel für einen solchen Ansatz
nennt Lemke unter anderem die oben bereits kurz angeschnittene Theorie reflexiver Modernisierung von Ulrich Beck. Beide Ansätze hält Lemke für irreführend, da beide an einem Determinismus – entweder naturalistischer oder sozialer Art, festhalten. Im ersten Ansatz liegt
der Fokus auf der Anpassung der Menschen an einer unveränderlichen Umwelt, im zweiten
Ansatz wird die Natur als rein gesellschaftliches Konstrukt begriffen.
Der Autor sieht zwei Probleme, die beide Ansätze gemein haben. In beiden wird von der
Vorannahme ausgegangen, dass die Soziologie sich allein mit Menschen befasst, beziehungsweise nur Menschen einen Akteursstatus zuweist – Tiere oder Pflanzen zum Beispiel
finden keinen Platz in der Analyse, obwohl, wie auch Lemke argumentiert, ethnologische und
historische Forschung zeigt, dass sie in vielen Gesellschaften einen Platz als Akteur einnehmen. Das zweite Problem sieht er darin, dass sowohl der Naturalismus als auch der Soziozentrismus an einem sehr eng gefassten Naturbegriff festhalten. Zum einen wird zur Natur nur das
gezählt, was vom Menschen unberührt bleibt und zum anderen wird Natur als reines Ergebnis
sozialer Praktiken begriffen. Entweder die Natur determiniert menschliches Handeln oder sie
wird durch menschliches Handeln geformt. In beiden Annahmen würde sie in einem rein passiven Status verweilen.
Ein weiteres Konzept, beziehungsweise der Ansatz eines Konzeptes, lässt sich bei Jonathan
Murdoch (2001) finden. Dieser nimmt ebenfalls eine Trennung zwischen Natur und Gesellschaft als Ausgangspunkt, allerdings geht er dabei weder von einer rein konträren Gegenüberstellung der beiden Bereiche aus, wie im naturalistischen Ansatz, noch negiert er die Eigen21
ständigkeit einer Natur, indem er sie als reines Konstrukt betrachtet, wie im Soziozentrismus.
Murdoch sieht in Natur und Gesellschaft zwei extreme Pole, die sich auf zwei Seiten eines
Kontinuums befinden. Dieses Konzept birgt den Vorteil, dass nicht jedes Phänomen entweder
auf der Natur- oder der Gesellschaftsseite verortet werden muss, sondern dass Zwischenräume
vorhanden sind. Nicht alles kann entweder als rein sozial oder als rein natürlich betrachtet
werden. Genau aus dieser Erkenntnis entstammte die Kritik am dualistischen Konzept. Allerdings wird Murdoch in dieser Thematik noch wenig konkret: wie eine solche Zuweisung zwischen rein sozialen und rein natürlichen Situationen aussehen kann, bleibt offen.
Folgt man insbesondere der Kritik von Lemke, zeigt sich, dass die Frage nach den Grenzen
des Sozialen in vielen Arbeiten, die sich einschlägig mit dem Dualismus von Natur und Gesellschaft befassen, nur marginal oder gar nicht thematisiert wird. Die Natur wird entweder
der Gesellschaft gegenüber gestellt, wobei die Annahme über die Gleichsetzung von Sozialem
und Menschlichem bestehen bleibt, oder der Natur wird ihre außergesellschaftliche Realität
abgesprochen, sie wird so durch (menschliche) Kommunikation und Wahrnehmung konstruiert. Soziozentrismus und Naturalismus gehen von zwei verschiedenen erkenntnistheoretischen Positionen aus, dem Konstruktivismus beziehungsweise dem Realismus, die immer
wieder in Grundsatzdebatten neu verhandelt werden und die je nach Forschungsfeld mehr
oder weniger Zustimmung oder Ablehnung erfahren. Darüber hinaus ist eine Zuwendung zum
oder Abwendung vom Realismus oder Konstruktivismus durch episodische Neigungen in der
Forschungslandschaft abhängig. Kaldewey (2011: 278) bemerkt dazu, dass „die Faszination
für den Konstruktivismus“ seit den 1990er Jahren „deutliche Ermüdungserscheinungen zeitigte“ und dass „es viele Anzeichen dafür [gibt], dass der Realismus wieder näher an den Zeitgeist gerückt ist.“ Ein Abschluss in dieser Debatte ist nicht zu erkennen. Um den Problematiken zu begegnen, die der Naturalismus und der Soziozentrismus aufwerfen, das heißt den
Konzeptionen einer rein menschlichen Gesellschaft oder einer menschlich konstruierten Natur
zu entgehen, um auch nicht-menschliche Akteure in die Sozialtheorie zu integrieren, sollte
nicht bei den Konzepten selbst angefangen werden, sondern auf den erkenntnistheoretischen
Prämissen, auf denen sie basieren. Wie können Ansätze aussehen, die einen Weg abseits dieser beiden Positionen einschlagen? Im Folgenden sollen drei Ansätze vorgestellt werden, die
zum einen Kritik am Dualismus von Natur und Gesellschaft üben und zum anderen den Versuch unternehmen, nicht-menschliche Entitäten als Akteure mit in ihre sozialtheoretischen
Überlegungen einzubeziehen.
22
4. Den Kreis des Sozialen erweitern
Die Thematik des Natur-Gesellschaft-Dualismus betrifft nicht allein die Soziologie. Autoren,
die diese Thematik zu ihrem Gegenstand machen, kommen sowohl aus den Sozial- den Kultur- als auch aus den Naturwissenschaften. Nachdem im vorangegangenen Kapitel weitgehend
auf soziologische Konzepte des Dualismus eingegangen wurde, sollen im Folgenden Konzepte vorgestellt werden, die keiner explizit soziologischen Tradition entspringen.
Namentlich handelt es sich dabei um die US-amerikanische Biologin und Wissenschaftstheoretikern Donna Jeanne Haraway, den französischen Wissenschaftstheoretiker- und Philosophen Bruno Latour, und den US-amerikanischen Sozialtheoretiker- und Philosophen Theodore Schatzki. Alle eint, dass sie für ihre erste Bearbeitung des Feldes Textgattungen wählen, die
wissenschaftliche Reflexion mit einer politischen Polemik verbinden können. Sowohl Haraway, Schatzki als auch Latour wählen die Form eines Essays. Die Arbeiten der Autoren beinhalten eine radikale Infragestellung langfristig etablierter Denkmuster. Das Essay gewährt
Raum für eine freie Schreibweise, die weniger den Restriktionen des streng wissenschaftlichen Schreibens unterworfen sind und so Provokationen beinhalten können, die der Leserin
eine Beschäftigung mit der Thematik förmlich aufzwingt. Doch es gibt auch Nachteile. So
finden sich in Latours und Haraways Arbeiten eine Reihe an Neologismen, die kaum expliziert werden und eine präzise Verwendung beschwerlich machen. Darüber hinaus ist insbesondere Haraways Schreibstil von Metaphern und Verweisen auf Science Fiction Literatur
durchzogen, was die Lektüre ihrer Texte zu keinem leserfreundlichen Unterfangen macht. Die
Ausführungen sollen keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sondern lediglich aufzeigen, dass erstens, der Dualismus von Natur und Gesellschaft in der Sozialtheorie nicht unhinterfragt bleibt und dass zweitens Konzepte ausgearbeitet werden, die eine Überwindung des
Dualismus anstreben. Dabei lassen sich sowohl weitere Kritikpunkte am Dualismus ausmachen, als auch Ansätze erkennen, die eine Integration nicht-menschlicher Akteure in den Bereich des Sozialen konkretisieren.
4.1 Donna Haraway: Feministische Wissenschaftskritik
Die erste vorgestellte Arbeit stammt aus der Feder der US-amerikanischen Biologin, Wissenschaftshistorikerin und Wissenschaftstheoretikerin Donna Jeanne Haraway. In ihrem Œuvre,
das sowohl Texte zur Epistemologie, zur Biowissenschaft, als auch zur feministischen Wissenschaftskritik umfasst, ist die Konzeption von Natur sowohl im wissenschaftlichen, als auch
23
im kulturellen Kontext ein durchgängiges Thema. Konkret finden sich in ihrem Manifest für
Cyborgs (1995a) und in ihrem Text Situiertes Wissen (1995b) Problematisierungen und Konzepte, die ausgehend von feministischer Kritik an androzentristischen Naturkonzeptionen, den
Dualismus von Natur und Kultur hinterfragen und so die Frage nach dem Akteursstatus nichtmenschlicher Entitäten relevant werden lassen.
Haraways Text Situiertes Wissen (1995b) beginnt mit einer Kritik zweier sich gegenüberstehenden Pole der Erkenntnistheorie, die als Ergebnis einer feministischen Wissenschaftskritik
gesehen werden können. Es geht ihr um die Frage, wie Wissen gewonnen wird. Klassischerweise geschieht dies vor allem in den Naturwissenschaften durch ein erkennendes Subjekt
und ein Objekt, das Gegenstand der Erkenntnis ist. Diese Annahme stellt Haraway in ihrem
Text auf den Prüfstand. Zum Verständnis von Haraways Arbeit sind zwei Voranmerkungen
angebracht. (1) Ihre Kritik speist sich nicht allein aus der Frage danach auf welche Weise
Wissen gewonnen wird, also an epistemologischen Kriterien, sondern Haraway sieht das
Kernanliegen des Feminismus in ethischen und politischen Fragen. „Feministen“ so Haraway,
„setzen sich für das Projekt einer Nachfolgewissenschaft ein, das eine adäquatere, reichere und bessere
Darstellung einer Welt, in der ein gutes Leben möglich sein soll, anbietet, und das ein kritisch-reflexives
Verhältnis zu unseren eignen wie auch zu fremden Herrschaftspraktiken und dem für jede Position konstitutiven, unterschiedlichen Maß an Privilegiertheit und Unterdrückung ermöglicht. In traditionellen philosophischen Kategorien formuliert, heißt das, daß[!] es möglicherweise stärker um Ethik und Politik geht
als um Epistemologie.“
(Haraway 1995b S. 78)
Politik und Wissenschaft sind für Haraway demnach keine voneinander getrennten Bereiche,
sondern stehen in einer Wechselwirkungen. Warum aber ist das so? (2) Für Haraway existieren in den Sozial- und Biowissenschaften keine Fakten außerhalb einer Theorie, die diesen
Fakten einen interpretativen Rahmen bietet. Eine Theorie wiederum kann nicht unabhängig
von Werten des Theoretikers und, die in einem ‚kulturellen Rahmen‘ eingebettet sind, gebildet werden und Werte sind immer mit Geschichten beladen, was Haraway zu dem Schluss
führt, dass Fakten immer Geschichten benötigen, um Bedeutung zu erlangen (Haraway 1986:
79). Zum Verständnis von Haraways weiterer Argumentation ist diese kurze Voranmerkung
fundamental. Ihre Kritik an den beiden Polen, die sie als „radikalen Konstruktivismus“ auf der
einen und „feministisch-kritischen Empirismus“ (Haraway 1995b: 80) auf der anderen Seite
bezeichnet, geht nicht allein daraus hervor, dass sie eine nach wissenschaftlichen Maßstäben
bessere Darstellung der Welt ermöglichen oder eben nicht. Folgte sie dem radikal sozialkonstruktivistischen Programm, würde ihrem emanzipatorischen Anliegen der Nährboden entzogen: „Wenn es ohnehin nur Texte sind“, fragt Haraway, „warum sollten sie die Jungs dann
24
nicht zurückhaben.“ (Haraway 1995b: 77) Folgte sie dem empiristischen Programm, würde
ihr zu viel kritisches Potenzial verloren gehen. Beide Pole gehen aus einer Kritik am Ideal
einer vollständig objektiven Wissenschaft hervor und versuchen den Terminus ‚Objektivität‘
neu zu fassen. Haraway lehnt beide Konzepte ab und sucht nach einem Weg zwischen Skylla
und Charybdis, also (zu) naivem Konstruktivismus auf der einen und (zu) unkritischen Empirismus auf der anderen Seite.
Das Ziel einer objektiven Wissenschaft im klassischen Sinne kann nur durch das Ausblenden
des Subjekts gewährleistet werden, welches den Erkenntnisprozess vollzieht. Haraway spricht
in diesem Sinne von „ideologischen Lehren“ einer „entkörperten wissenschaftlichen Objektivität“ (Haraway 1995b: 74). Sie stellt daher die Frage, wie es möglich ist eine Perspektive
einzunehmen, die ohne einen eigenen Standort zu besitzen in der Lage ist alles zu sehen. Haraways Antwort ist denkbar einfach: Eine solche Perspektive existiert nicht und falls sie existiert, dann als „göttlicher Trick“, wozu sie sowohl relativistische Positionen zählt, als auch
den totalisierenden Anspruch wissenschaftlicher Objektivität (Haraway 1995b: 84). Haraway
nimmt diese Form der Objektivität nun als Ausgangspunkt für ihre Kritik. Eine Position einzunehmen, die es scheinbar erlaubt von nirgendwo zu sehen und zu sprechen lehnt sie aus
ethischer Hinsicht als verantwortungslos und aus epistemischer Hinsicht als unmöglich, ja
irrational ab. Sie verwirft das gesamte Ideal der westlichen Wissenschaft, das für sich beansprucht unparteilich, universell und frei von Politik zu sein. Als Kontrast zu diesem Ideal
schlägt sie eine radikale Verortung jeglicher Perspektiven vor. Das bedeutet eine eigene Positionierung, Multiperspektivität, Partialität und Parteilichkeit. Dabei verwirft sie die Idee von
Objektivität nicht, sondern geht davon aus, dass Objektivität durch eine solche Verortung
überhaupt erst ermöglicht wird. Jede Perspektive ist vermittelt und so niemals umfassend. Das
gilt für den Blick durch ein Mikroskop, genauso wie der Blick durch die Kamera eines Satelliten im Weltraum oder auch den Blick durch das menschliche Auge. Diese Einsicht ist allerdings nicht neu. Dass soziale Kategorien, wie zum Beispiel Geschlecht oder Ethnizität die
Sichtweise eines Menschen beeinflussen können, wurde schon vor Haraway bedacht. Haraway geht jedoch weiter. In der westlichen Wissenschaftstradition, wird Wissen durch den
Blick eines erkennenden Subjekts auf ein zu erkennendes Objekt gewonnen, wobei das Subjekt, in der Regel ein Mensch, der einzige Akteur ist, dem in dieser Konstellation Handlungsfähigkeit zugesprochen wird. Das Objekt, üblicherweise zur Natur gehörig, verweilt dabei in
einem passiv Status, es ist „nur noch Materie für die befruchtende Kraft und die Tat des Erkennenden“ (Haraway 1995b: 92). In Haraways Konzept des situierten Wissens aber ist auch
25
das Wissensobjekt Akteur und Wissen wird erst im Interaktionsprozess aller im Herstellungsprozess von eben jenem Beteiligten, gewonnen. Natur ist in dieser Perspektive keine der Gesellschaft entgegengesetzte Ressource die beliebig angeeignet werden kann. Sie ist aktives
Subjekt und besitzt Handlungsfähigkeit, wenn es um die Herstellung von Wissen geht.
Durch ihr Konzept des Situierten Wissens, unterminiert Haraway den Dualismus von Natur
und Gesellschaft, einerseits, um eine objektivere und damit bessere Darstellung der Welt zu
ermöglichen, anderseits um einer feministischen Wissenschaft den Weg zu bereiten, in der
Naturaneignung und Naturbeherrschung keine stehenden Topoi mehr sind. Für die MenschTier-Beziehungen bedeutet situiertes Wissen das Unterlassen einer reinen Objektivierung von
Tieren. Folgt man Haraway besteht keine Notwendigkeit in einer vollständigen Überwindung
des Dualismus von Natur und Gesellschaft, vielmehr ist es die Konzeption dieses Dualismus,
die Haraway zu ihrer Polemik verleitet. Die Beziehung zwischen den beiden Bereichen lässt
sich nicht auf die simple Aneignung der einen Seite durch die andere Seite reduzieren. Vielmehr besteht ein beständiger Austausch zwischen beiden Seiten. Auf Bruno Latours (1995:
42) Frage „Wer spricht also, die Natur oder die Menschen“, könnte eine mögliche Antwort
lauten: Beide sprechen.
4.2 Bruno Latour: Natur, Gesellschaft und Hybride
Bruno Latour gehört zu den bekanntesten Vertretern der Science Studies. Als Ethnograph
führten ihn seine Feldaufenthalte nicht, wie oft in der Ethnologie in die ‚Peripheriegebiete‘
rund um den Globus, sondern in hochtechnisierte Labors. Die daraus entstandenen Überlegungen sind mittlerweile zu einer Theorie ausgearbeitet, die bis heute kontrovers diskutiert
wird. Womöglich auch deshalb, weil sie einen Paradigmenwechsel in der Sozialtheorie beanstandet. Die Actor-Network Theory ist mit der Kritik an einem Begriff verbunden, um den
sich Disziplinen, wie die Soziologie herum gebildet haben: Die Gesellschaft. An ihre Stelle
tritt ein Netzwerk aus Akteuren und Aktanten, die um diesen Status zu erhalten nicht unbedingt menschlich sein müssen. Es können auch Dinge, Tiere und Pflanzen sein. Hier sollen
die Überlegungen Latours angeführt werden, die ihn zu diesem bis dahin radikalen Kurswechsel verleitet haben. 1991 erschien sein Essay Nous n`avons jamais été modernes, 1995 wurde
es unter dem Titel Wir sind nie modern gewesen ins Deutsche übersetzt. Die Grundzüge seiner darin vorgestellten Thesen, sollen hier knapp wiedergegeben werden.
26
Latour (1995) versucht sich in seinem Essay an einer Anthropologie der ‚Moderne‘, die wie er
behauptet nie stattgefunden hat. Konstitutiv für die vermeintliche Moderne ist eine „große
Trennung“ (20) und zwar jene von Natur und Kultur, die sich bei genauem Hinsehen nicht
vorfinden lässt. Modern sein würde bedeuten zwischen Menschlichen und Nichtmenschlichen trennen zu können. Es gäbe demnach den Bereich der Gesellschaft, der durch
die Politik repräsentiert wird und den Bereich der Natur, der durch die Wissenschaft repräsentiert wird. Allerdings lässt sich eine solche Trennung nicht bestätigen. Politik beschäftigt sich
ständig mit Dingen, seien es Umweltkatastrophen, Artensterben oder Emissionswerte. Gleichzeitig ist die Wissenschaft keine Zone, die frei von Politik ist. Als Beispiele nennt er unter
anderem das Ozonloch, das „zu sozial und zu narrativ [ist], um wirklich Natur zu sein“ (1995:
14). Durch eine ständige Praxis, die Latour als Reinigung bezeichnet, kann die Trennung jedoch weiterhin aufrechterhalten werden. Durch Reinigungsarbeit werden zwei „ontologische
Zonen“ (1995: 19) geschaffen, in denen jegliche Phänomene verortet werden können. Diese
Zonen werden im Essay wahlweise als Natur und Kultur oder Natur und Gesellschaft bezeichnet. Latour hält die Zuweisung in immer mehr Fällen für nicht möglich. In diesen Fällen
spricht Latour von Hybriden. Sie werden zwar durch die Reinigungsarbeit auf einer Seite des
Dualismus verortet, jedoch ist diese Zuweisung ist bei genauerem Hinsehen unzulässig, da
neben der Reinigungsarbeit eine zweite Praxis stattfindet. Diese bezeichnet Latour als Übersetzung. Durch Übersetzungsarbeit werden Hybride, also „Mischwesen zwischen Natur und
Kultur“ (19), geschaffen, welche zu denken sich „die Modernen“ selbst verbieten. Dieses
Verbot führt zu einer immer weiteren Ausbreitung der Hybride, die immer wieder Reinigungsarbeit nach sich zieht.
Nach Latour gibt es also nicht einfach die reine Gesellschaft oder die reine Kultur auf der
einen Seite, in der sich das Menschliche befindet und die Natur auf der anderen Seite, in der
sich das Nicht-menschliche befindet. Es bestehen Verbindungen aus Netzen. Latour spricht
hier von einem „gordischen Knoten“ (1995: 9), der zerschlagen wird. Die Welt besteht aus
einem Netzwerk, das nicht nur Menschliches, sondern auch Nicht-menschliches miteinander
verbindet. Gesellschaft und Dinge sind dabei miteinander verwoben, wobei es sich um mehr
als eine bloße Koexistenz handelt. Dementsprechend wären beispielsweise Rohstoffe wie Öl
oder Gas innerhalb dieses Netzwerks verankert. Sie ermöglichen Handlungen und sind für den
aktuellen Zustand der Gesellschaft konstitutiv. Würden sie aus dem Netzwerk herausfallen,
wäre die Gesellschaft nicht mehr dieselbe. Was daraus folgt ist eine Auflösung des hier so oft
beschriebenen Dualismus, die eine Einbindung aller Entitäten in die Sozialtheorie verspricht.
27
So besteht kein Bedarf mehr Tiere und auch ‚Dinge‘ innerhalb oder außerhalb der Gesellschaft zu verorten, ihnen Sozialität zu oder abzusprechen. Dieses Schema ist in Latours Überlegungen obsolet, ja sogar jene große Angriffsfläche, auf die sein Essay abzielt.
4.3 Theodore Schatzki: Die Zusammensetzung des Sozialen
Theodore Schatzki wählt einen praxistheoretischen Ansatz, um Materialität in sozialtheoretische Überlegungen zu integrieren, sie also als Teil der Gesellschaft zu behandeln. Sein essayistischer Aufsatz Materiality and Social Life (2010) enthält keine so provokativen Hypothesen
und Vergleiche wie die Schriften Latours und Haraways.
Schatzki stellt darin den Entwurf einer „sozialen Ontologie“ (123) vor mit der soziale Phänomene nicht etwa über Handlungen oder Kommunikation erklärt werden, sondern in dem das
Zusammenspiel materieller Arrangements und Praktiken eine zentrale Rolle spielt. Mit einer
bestimmten Ontologie zu arbeiten, bedeutet Dinge mit einem darin zugrunde liegenden Verständnis zu betrachten. In diesem Fall geht es um die Betrachtung sozialer Phänomene. Diese
werden hier als Teile eines Geflechts (nexuses) aus Praktiken und materiellen Anordnungen
betrachtet. Um Schatzkis Ansatz zu verstehen, wird nicht um einige Begriffsdefinitionen herumzukommen sein.
Als Praktiken bezeichnet Theodore Schatzki organisierte menschliche Aktivitäten, die bestimmten Verständnissen und Regeln unterliegen. Als Beispiele nennt er unter anderem die
Praxis des Kochens, des Handwerks oder der Partnersuche (Dating). Praktiken unterliegen
keinen Regelmäßigkeiten, sondern sie bilden einen Bereich unterschiedlicher Aktivitäten, die
durch ihren Bezug zum gemeinsamen Gegenstand miteinander verbunden sind. Materielle
Anordnungen (arrangements) sind miteinander verbundene materielle Entitäten zu denen
Menschen, Artefakte, Organismen und Dinge aus der Natur zählen (129).
Nachdem bislang meist von Natur oder Umwelt in Abgrenzung zur Gesellschaft die Rede
war, wählt Schatzki den Begriff der Materialität. Eine Grenzlinie, wie die zwischen Natur und
Gesellschaft, sieht er zwischen Materialität und Gesellschaft. Sie erfüllt auch den Zweck als
Demarkationslinie, um das Soziale einzugrenzen. Durch seine Ontologie versucht er die Auflösung dieser Linie zu ermöglichen (124). Was meint Schatzki mit Materialität? Materialität
soll möglichst weit gefasst werden, dazu bietet er zwei Deutungen an, aus denen er drei Aspekte ableitet. Erstens von Materialität in einem physikalischen Verständnis, als Materie und
als Zusammensetzung des Gewebes sozialer Phänomene: “the materiality of social life is its
stuff“ (125). Zweitens in einem biophysikalischen Verständnis, welches nah an dem Konzept
28
von Natur oder Umwelt liegt. Zum biophysikalischen Verständnis gehören dementsprechend
nicht nur ‚Dinge‘, sondern auch lebendige Organismen. Das würde bedeuten, dass auch Menschen Teil der Materialität des sozialen Lebens sind.
Physikalität, Materie und Natur sind in Schatzkis Augen nicht zureichend von der Soziologie
berücksichtigt worden. Er sieht die Gründe für die auch von ihm kritisierte Ausblendung in
der Abgrenzung von Gesellschaft einerseits und Natur anderseits (127). Die Ontologie mit der
er arbeitet soll dies nun ändern. Dabei lässt Schatzki nicht unerwähnt, dass es bereits Bestrebungen gibt Materialität in die Sozialtheorie einzubeziehen. Dazu zählt er zum einen interaktionistische Ansätze, die zwar von einem Zusammenspiel zwischen Natur und Gesellschaft
ausgehen, diese Bereiche also nicht als völlig voneinander losgelöst betrachten, das Vorhandensein dieser zwei Bereiche als voneinander getrennt jedoch weiterhin voraussetzen. Das
bedeutet, dass es kausale Zusammenhänge zwischen Natur und Gesellschaft geben kann, also
Naturphänomene auf die Gesellschaft oder gesellschaftliche Phänomene auf die Natur einwirken können. Eine Zuweisung von Phänomenen als sozial oder als natürlich aber wird dabei
aber weiterhin getätigt. Zum anderen nennt Schatzki Theorien, die von einem Zusammenhang
zwischen materiellen Dingen und menschlicher Aktivität ausgehen. Als Beispiel dafür nennt
er unter anderem die unter Mitarbeit von Bruno Latour erarbeitete Actor-Network Theory.
Dabei folgt Theodore Schatzki der Annahme eines netzwerkartigen Zusammenhangs zwischen Menschen und Nicht-Menschen, in der er eine Parallele zu den von ihm eingeführten
materiellen Arrangements sieht. Praktiken, die im Zusammenhang mit den materiellen Arrangements zur Analyse sozialer Phänomene herangezogen werden, finden in der Actor-Network
Theory hingegen keinen Platz. Damit erweitert Schatzki das grundlegende Konzept der ActorNetwork Theory um den Begriff der Praxis.
Als sozial betrachtet Schatzki alles was zum Zusammenhang menschlichen Lebens gehört
(128). Dies beschränkt sich aber nicht auf den Bereich der zwischenmenschlichen Interaktion,
denn Soziales ist immer in Anordnungen von Materialität und Praktiken eingebunden. Dementsprechend erhält Materialität in jeder von Schatzki angesprochenen Form eine Berücksichtigung in seiner Theorie.
Schatzki verdeutlicht seine Idee am Beispiel von Pferdefarmen in seiner Heimatregion. Eine
solche bezeichnet er als “an elaborate nexus of practices and arrangements“ (131). Dabei stellt
das Haus eine materielle Anordnung aus unter anderem Menschen, Haustieren, Möbeln und
Wänden dar. Weitere Anordnungen sind die Scheune, oder die Weidefläche, die jeweils be-
29
stimmte Arrangements für bestimmte Praktiken bieten. In jedem Arrangement werden Praktiken ausgeführt – im Haus zum Beispiel Praktiken wie das Kochen oder die Kindererziehung.
Materialität und Sozialität sind eng miteinander verbunden. Schatzki macht drei Formen dieser Verbindung aus: (1) Die Anordnungen in denen soziale Phänomene eingebunden sind,
bestehen aus materiellen Entitäten. Dazu gehören zwar auch Menschen, aber auch Tiere, Gegenstände und weitere Dinge. (2) Die physische und chemische Zusammensetzung der Entitäten aus denen die Anordnungen bestehen, beeinflussen, die Möglichkeiten, wie mit ihnen umgegangen wird. Beispiele sind der Verwendungszweck (Wasser wird in der Regel zu anderen
Zwecken verwendet als Eisen), der Ort an dem sich die Entitäten befinden und die Dauer in
der die Anordnungen bestehen (als Beispiel nennt Schatzki ein Haus und einen Felsen als
materielle Anordnungen). (3) Als dritte Form spricht Schatzki von biologischen und physikalischen Flüssen (flows), die durch die Anordnungen fließen. Dazu zählt er sowohl Organismen und Gene, als auch „matter energy“ (137), welcher er nicht genauer definiert.
Folgt man den Ausführungen Theodore Schatzkis, lässt sich ein sehr inklusives Konzept von
sozialem Leben und Gesellschaft14, vorfinden. Durch dieses erhält jedwede chemische Zusammensetzung, ob menschlich, nicht-menschlich, lebendig oder nicht-lebendig einen Ort in
der Analyse sozialer Phänomene.
14
Die Begriffe soziales Leben und Gesellschaft verwendet Schatzki stellenweise synoym.
30
5. Abschlussdiskussion: Systematische Exklusion oder exklusive Systematik?
Welchen Platz also können Tiere und auch andere nicht-menschliche Entitäten in der Sozialtheorie einnehmen und welche Rolle können sie insbesondere für die Soziologie spielen? Das
Aufkommen der Human-Animal Studies, die sich als Disziplin den gesellschaftlichen Verhältnissen der Mensch-Tier Beziehung widmet, ist das jüngste Beispiel dafür, dass diese Fragen an Relevanz zunehmen. Wie sich zeigt bezieht das Feld seine Legitimation zum einen aus
der Beobachtung, dass Tiere ständig im Leben der Menschen vorkommen und zum anderen
aus der Annahme, dass diese ständige Anwesenheit von Tieren als gesellschaftliche und soziale Beziehung zu verstehen ist. Dabei werden Tiere als soziale Akteure ernst genommen
und die Interaktion zwischen Mensch und Tier wird als kommunikativer Akt behandelt
(Sandors und Arluke 1993 und Brandt 2004).
Allerdings lässt sich eine solche Herangehensweise nur schwer mit einem Konzept von Gesellschaft in Einklang bringen, das Menschsein als Bedingung von Sozialität versteht. Ein
solches Konzept, das mit einer Trennung von sozialer Gesellschaft und außersozialer Natur
einhergeht, besitzt keine universale Gültigkeit und ist in seiner, in diesem Aufsatz immer wieder betonten, Kontingenz zu betrachten. Dadurch gerät eine Grenzziehung, die eine klare
Verortung zwischen einer sozialen und einer außersozialen Welt zulässt, zunehmend in die
Kritik. Auch und besonders in der Umweltsoziologie wird der Dualismus von Natur und Gesellschaft zunehmend in Frage gestellt. Hinzu kommen anthropologische und wissenschaftstheoretische Ansätze, die sich der Annahme eines exklusiv den Menschen vorbehaltenen Status als sozialer Akteur entziehen.
Der Versuch einer Überwindung des Natur-Gesellschaft-Dualismus, beziehungsweise der
Auflösung einer Trennung zwischen einem Bereich des Sozialen und einem davon ausgenommen Bereich, kann erstens auf gesellschaftliche Entwicklungen, die eine Zuweisung von
Phänomenen in den einen oder anderen Bereich nicht mehr zulassen, zurückgeführt werden.
Man bedenke das von Latour angesprochene Ozonloch oder Entwicklungen im Bereich der
Gentechnik. Zweitens ist der Versuch oft an politische oder ethische Implikationen geknüpft.
Haraway sieht die Trennung als rein patriarchalische Perspektive, durch die, die außerhalb der
Gesellschaft stehende Natur als Ressource zur Verfügung steht. Damit macht sie sich vor allem für feministische Standpunkte stark. Auch ökologische Standpunkte profitieren von einem Überdenken des Dualismus. Erinnert sei nochmal an Christoph Laus oben zitierter
(1999) These, dass die Trennung von Natur und Gesellschaft eine entmoralisierte Ausbeutung
31
der Natur ermöglicht. Eine ethische Dimension ist auch in den Arbeiten der Human-Animal
Studies vorhanden. DeMello (2012: 7) zieht dementsprechend einen Vergleich zur Frauenforschung und den African-American Studies, die im Zusammenhang mit dem Feminismus und
der Bürgerrechtsbewegung entstanden sind. Im Gegensatz zum sich parallel entwickelnden
Zweig der Critical Animal Studies sehen die Human-Animal Studies ihr Hauptanliegen jedoch nicht darin zur ‚Tierbefreiung‘ beizutragen. Daher soll zu der Frage nach den ethischen
Dimensionen, die mit den Forschungen der Disziplin aufkommen auch hier bei dieser kurzen
Anmerkung bleiben. Drittens kommt der Einbeziehung von Natur ein analytischer Status zu.
Wie besonders bei Lindemann und Descola deutlich wurde, bedeutet die Gesellschaft als eine
rein menschliche zu konzeptualisieren, eine höchst eurozentrische Perspektive einzunehmen.
An diesem Punkt setzt speziell die Kritik der Human-Animal Studies an, in der davon ausgegangen wird, dass die Ausblendung von Tieren innerhalb soziologischer Theoriearbeit und
empirischer Forschung im Widerspruch zur beobachtbaren Gegenwart von Tieren innerhalb
der menschlichen Lebenswelt steht.
In der vorliegenden Ausführung konnte und sollte keine Chronologie eines Wandels der Konzepte von Natur, Gesellschaft, Mensch und Tier innerhalb der Soziologie und Sozialtheorie
aufgestellt werden, auch konnte die Möglichkeit diese Konzepte im Hinblick auf ihren Stellenwert in der sozialen Welt nicht in all ihren Facetten beleuchtet werden. Nichtsdestotrotz,
lässt sich ein ernsthaftes Bedürfnis feststellen, diese Konzepte zu überdenken, um zunächst
der Sozialtheorie und anschließend der soziologischen Forschung neue Spielräume zu eröffnen. Das Beispiel der Human-Animal Studies zeigt die Vorteile eines Überdenkens der Konzepte von Natur und Gesellschaft auf. Werden diese nicht mehr als Dualismus und damit als
zwei voneinander getrennte Bereiche betrachtet, besteht die Möglichkeit der Einbeziehung
von Akteuren in die Sozialtheorie, die bis dato weitgehend unberücksichtigt geblieben sind.
Theodor Geiger sprach zwar bereits 1931 vom Tier als geselliges Subjekt und bejahte die
Frage nach der Möglichkeit einer sozialen Beziehung zwischen Mensch und Tier eindeutig:
„Die Frage nach der Möglichkeit sozialer Beziehungen zwischen Tier und Mensch ist also grundsätzlich
dahin zu beantworten: soziale Beziehungen zwischen Tier und Mensch sind generell möglich; die praktische Voraussetzung für ihr Wirksamwerden ist, daß[!] die Partner einander gegenseitig als Du evident
seien[!].“ (Geiger 1931: 301)
Doch auch fast ein halbes Jahrhundert später beanstandete zum Beispiel Clifton D. Bryant
(1979), dass eine soziologische Beschäftigung mit Tieren auch in ihrer Rolle als Interaktionspartner ausblieb. Ganz im Gegensatz zu Disziplin, wie der Ethnologie, den Geschichtswissen32
schaften der Wirtschaftswissenschaft, oder der Psychologie, blieben Tiere in der Soziologie
unberücksichtigt:
“Sociologists, on the other hand, have often been myopic in their observations of human behaviour, cultural patterns, and social relationships, and unfortunately have not taken into account the permeating social influence of animals in our larger cultural fabric, and our more idiosyncratic individual modes of interaction and relationships, in their analysis of social life. With very few exceptions, the sociological literature is silent on this topic.” (Bryant 1979: 400)
Wie die kurze Vorstellung der Human-Animal Studies gezeigt hat, erfährt die Frage nach den
gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnissen erst seit jüngster Zeit größere Aufmerksamkeit,
wobei die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit der Thematik noch in ihren Anfängen
steckt. Trotzdem sind die Human-Animal Studies, die im englischsprachigen Raum bereits
stärker etabliert sind als in Deutschland, ein klares Indiz dafür, dass auch die Soziologie ihren
Fokus auf den Menschen und die damit verbundene anthropozentrische Perspektive auf jenen
als einzig relevanten sozialen Akteur, fallen lässt. Dabei wird auch deutlich, dass es Bestrebungen gibt einen Weg jenseits soziozentrischer oder naturalistischer Ansätzen zur Vermittlung zwischen außersozialer Natur auf der einen und sozialer Gesellschaft auf der anderen
Seite, einzuschlagen.
Um dem Dualismus von Natur und Gesellschaft zu entgehen und dabei sowohl soziozentrischen als auch naturalistischen Konzepten mit ihren Schwachstellen zu entgehen, werden und
wurden bereits Ansätze entwickelt. Drei dieser Ansätze wurden sehr knapp skizziert, wobei
sich gezeigt hat, dass dies in Form von wissenschaftskritischen Positionen, wie bei Donna
Haraway, sozialtheoretischen Ausarbeitungen, wie bei Bruno Latour oder durch die Arbeit
mit einer sozialen Ontologie, wie bei Theodore Schatzki, erfolgen können. Jeder dieser Ansätze besitzt die Möglichkeit den Begriff des sozialen Akteurs zu erweitern und zwar über
eine oft implizite Annahme hinaus, die Menschlichkeit zur Bedingung von eben jenem Status
erhebt. Haraway ist dahingehend bestrebt eine Überwindung der starren Gegenüberstellung
eines menschlichen erkennenden Subjekts und eines zu erkennend Objekts zu erarbeiten. In
Latours Überlegungen verbindet sich Menschliches und Nicht-menschliches permanent zu
Netzwerken, welche jedoch durch ‚Reinigungsarbeit‘ immer wieder zerteilt werden. Dinge,
Tiere und Naturphänomene sind dabei in den Netzwerken integriert und werde damit in Latours Sozialtheorie einbezogen. Auch Theodore Schatzki gelingt es durch seinen praxistheoretischen Zugang und der Ausformulierung seiner sozialen Ontologie, soziale Phänomene als
Teil materieller Anordnungen und Praktiken zu sehen, in denen ebenso menschliche wie
nicht-menschliche Entitäten vorkommen.
33
Dabei kann aber nicht übersehen werden, dass die Frage nach den Mensch-Tier Beziehungen
in den vorgestellten Ansätzen keine gesonderte Betrachtung findet und der Mensch speziell
bei Latour und auch bei Schatzki nach wie vor eine besondere Stellung einnimmt. Lediglich
Donna Haraway ist der Frage nach dem Zusammenleben zwischen Mensch und Tier weiter
nachgegangen, was sie in ihrem Werk When species meet aus dem Jahr 2008 ausführt. Entscheidend für eine Berücksichtigung von Tieren und weiteren nicht-menschlichen Entitäten in
sozialtheoretischen und damit auch soziologischen Überlegungen ist in den drei vorgestellten
Arbeiten die Aufhebung der in Kapitel drei skizzierten Konzepte von Natur und Gesellschaft.
Sollte der langen und weitverbreiteten Ausblendung all dessen, was als nicht-menschlich betrachtet wird eine wie in Kapitel zwei kurz angedeutete Systematik zu Grund liegen, ist die
dualistische Konzeption von Natur und Gesellschaft ein erster und fruchtbarer Ansatzpunkt in
der sie gesucht werden kann. Es ist kein Zufall, dass Konzepte, wie jene von Bruno Latour
oder Theodore Schatzki sich von einer Denkweise in vorliegenden oder sich bildenden Strukturen und Systemen lösen und ihren Fokus auf die Verstrickungen und Vernetzungen in die
das soziale Leben eingebunden ist legen.
Nicht-menschlicher Akteure als Teil des sozialen Lebens zu berücksichtigen hat Folgen für
methodische Herangehensweisen in den Sozialwissenschaften: Wird die Abgrenzung des
Menschen zum Tier betrachtet, durch die der Mensch seine Sonderstellung nicht nur im Allgemein Verständnis, sondern auch in der Soziologie erhält, lassen sich dabei bestimmte Fähigkeiten, wie sinnstiftende verbale Sprache oder spezielle mentale Fähigkeiten ausmachen.
Solche Fähigkeiten aber können auch nicht innerhalb der Welt der Menschen verallgemeinert
werden und lassen Sprache, die zum Beispiel über ein verkörpertes Vokabular ausgedrückt
wird, unberücksichtigt.
Phillipe Descola konstatiert bereits den Beginn eines Umdenkens. Dazu ein abschließendes
Zitat:
„Zum Glück ist die Situation im Begriff, sich zu verändern, und es ist heute schwierig , so zu tun, als befänden sich die Nichtmenschen nicht überall mitten im sozialen Leben, ob sie nun die Form eines Affen
annehmen, mit dem man im Labor kommuniziert, der Seele einer Yamswurzel, die den, der sie anbaut im
Traum aufsucht, eines elektronischen Gegners, der bei beim Schachspiel geschlagen werden muß, oder
eines Ochsen, der bei einer zeremoniellen Opferung als Vertreter einer Person behandelt wird. Ziehen
wir die Konsequenzen daraus: die Analyse der Interaktion zwischen den Bewohnern der Welt kann sich
nicht mehr auf den alleinigen Sektor der Institutionen beschränken, die das Leben der Menschen beherrschen, als wäre alles, was man außerhalb ihrer dekretierte, lediglich ein anomisches Konglomerat von
Gegenständen, die auf Bedeutung und Verwendbarkeit warten.“ (Descola 2011: 17)
34
Literaturverzeichnis
BRANDT, KERI 2004: A Language of Their Own: An Interactionist Approach to Human-Horse
Communication, in: Society and Animals 12 (4), S. 299-316.
BRYANT, CLIFTON D. 1979: The Zoological Connection: Animal-Related Human Behavior, in
Social Forces 58 (2), S. 399-421.
BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG (bpb) 2012: Tiere und Mensch-Tier-Mischwesen
in der Forschung [Elektronische Ressource] http://www.bpb.de/apuz/75824/tiere-undmensch-tier-mischwesen-in-der-forschung?p=all (17.08.2014).
CATTON, WILLIAM R.; DUNLAP, RILEY E. 1978: Environmental Sociology: A new Paradigm,
in: The American Sociologist 13, S. 41-49.
CHIMAIRA ARBEITSKREIS 2011: Eine Einführung in Gesellschaftliche Mensch-TierVerhätltnisse und Human-Animal Studies, in: Chimaira Arbeitskreis für Human-Animal
Studies (Hg.): Human-Animal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-TierVerhältnissen, Bielefeld: transcript, S. 7-42.
DEMELLO, MARGO 2012: Animals and society: an introduction to human-animal studies, New
York: Columbia University Press.
DESCOLA, PHILIPPE 2013: Jenseits von Natur und Kultur, Berlin: Suhrkamp.
FISCHER, MICHAEL 2007: Tiere als Rechtssubjekte: Vom Tierprozess zum Tierschutzgesetzt,
in: Susann Witt-Stahl (Hg.): Das steinerne Herz der Unendlichkeit erweichen. Beiträge zu
einer kritischen Theorie für die Befreiung der Tiere, Aschaffenburg: Alibri Verlag, S. 142163.
GEIGER, THEODOR 1931: Das Tier als geselliges Subjekt, in Forschungen zur Völkerpsychologie und Soziologie 10 (1), S. 283-307.
GILL, BERNHARD 1998: Paradoxe Natur. Zur Vieldeutigkeit der Unterscheidung von Natur
und Gesellschaft, in: Brand, Karl-Werner/ Hildebrandt, Eckart (Hg.): Soziologie und Natur. Theoretische Perspektiven, Opladen: Leske+Budrich, S. 223-247.
GROß, MATTHIAS 2001: Die Natur der Gesellschaft. Eine Geschichte der Umweltsoziologie,
Weinheim/Müchen: Juventa.
HARAWAY, DONNA 1986: Primatology Is Politics by Other Means, in Bleier, Ruth (Hrsg.)
(1986): Feminist Approaches To Science, New York, Oxford, Toronto, Sydney, Frankfurt:
Pergamon Press, S. 77- 119.
HARAWAY, DONNA 1995a: Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften, in dies 1995a.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Hg. C. Hammer und I. Stieß, Frankfurt/New York: Campus Verlag S. 33-72.
35
HARAWAY, DONNA 1995b: Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das
Privileg einer partialen Perspektive, in dies 1995b: Die Neuerfindung der Natur. Primaten,
Cyborgs und Frauen. Hg. C. Hammer und I. Stieß, Frankfurt/New York: Campus Verlag
S. 73-97.
HARAWAY, DONNA 2008: When species meet, London Minneapolis: University of Minnesota
Press.
HIRSCHAUER, STEFAN 2006: Körper macht Wissen – Für eine Somatisierung des Wissensbegriffs, in: Rehberg, Karl-Siegbert (Hg.): Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des
33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006, Frankfurt/New
York: Campus Verlag, S.974 – 984.
JETZKOWITZ, JENS 2010: „Menschheit“, „Sozialität“ und „Gesellschaft“ als Dimensionen der
Soziologie. Anregungen aus der Nachhaltigkeitsforschung, in Albert, Gert; Greshoff, Rainer; Schützeichel, Rainer (Hg.): Dimensionen und Konzeptionen von Sozialität, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 257-268.
KALDEWEY, DAVID 2011: Das Realitätsproblem der Sozialwissenschaften: Anmerkungen zur
Beobachtung des Außersozialen, in: Soziale Systeme 17 (2), S. 277-307.
KLONTZ, BRADLEY T.; BIVENS, ALEX; LEINART; DEB; KLONTZ, TED 2007: The Effectiveness
of Equine-Assisted Experiential Therapy: Results of an Open Clinical Trial, in: Society
and Animals 15 (3), S. 257-267.
KRUSE, CORWIN R. 2002: Social Animals: Animal Studies and Sociology, in: Society & Animals 10 (4), S. 375-379.
KUHN, THOMAS 1973: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt: Suhrkamp.
LATOUR, BRUNO 1995: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin: Akademie Verlag.
LATOUR, BRUNO 1996 [1993]: Kleine Soziologie alltäglicher Gegenstände, in: Ders.: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaft, Berlin: Akademie Verlag, S. 37-52.
LAU, CHRISTOPH 1999: Vergesellschaftung oder Naturalisierung – Grenzkonflikte zwischen
Natur und Gesellschaft, in: Honegger, Claudia, Hradil, Stefan, Traxler, Franz (Hg.): Grenzenlose Gesellschaft? Verhandlungen des 29. Kongress der Deutschen Gesellschaft für
Soziologie, des 16. Kongresses der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie, des 11.
Kongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Freiburg i. Br. 1998, Opladen: Leseke+Budrich, S. 288-304.
LEMKE, THOMAS 2007: Die Natur in der Soziologie. Versuch einer Positionsbestimmung, in:
Leviathan 35, S. 248-255.
36
LINDEMANN, GESA 1999: Doppelte Kontingenz und reflexive Anthropologie, in: Zeitschrift
für Soziologie 28/3, S. 165-181.
LINDEMANN, GESA 2009: Das Soziale von seinen Grenzen her denken, Weilerswist: Velbrück
Wissenschaft.
LUCKMANN, THOMAS 1980 [1970]: Über die Grenzen der Sozialwelt, in: Lebenswelt und Gesellschaft. Grundstrukturen und geschichtliche Wandlungen, Paderborn u.a.: Ferdinand
Schöningh, S. 56-92.
MEADOWS, DENNIS; MEADOWS, DONELLA; ZAHN, ERICH; MILLING, PETER 1972: Die Grenzen
des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart: Deutsche
Verlags-Anstalt.
MURDOCH, JONATHAN 2001: Ecologising Sociology: Actor-Network Theory, Co-construction
and the Problem of Human Exemptionalism, in: Sociology 35, S. 111-133.
MÜTHERICH, BIRGIT 2000: Die Problematik der Mensch-Tier-Beziehung in der Soziologie:
Weber, Marx und die Frankfurter Schule, Münster: LIT.
PFAU-EFFINGER, BIRGIT; BUSCHKA, SONJA 2013: Einleitung: Ambivalenzen in der sozialen
Konstruktion der Beziehung von Gesellschaft und Tieren, in: Pfau-Effinger, Birgit;
Buschka, Sonja (Hg.): Gesellschaft und Tiere. Soziologische Analysen zu einem ambivalenten Verhältnis [Elektronische Ressource], Wiesbaden: Springer VS, S. 9-19. DOI:
http://dx.doi.org/10.1007/978-3-531-93266-8
ROSENBAUM, WOLF 1998: Soziologie der Sachverhältnisse als konzeptionelle Grundlage für
die Umweltsoziologie, in: Brand, Karl-Werner/ Hildebrandt, Eckart (Hg.): Soziologie und
Natur. Theoretische Perspektiven, Opladen: Leske+Budrich, S. 249-287.
Sandors, Clinton R.; Arluke, Arnold 1993: If Lions Could Speak. Investigating the AnimalHuman Relationship and the Prespective of Nonhuman Others, in: Sociological Quarterly
34 (3), S. 377-390.
SCHATZKI, THEODORE 2010: Materiality and Social Life, in: Nature and Culture 5 (2), S. 123149.
SCHULZ-SCHAEFFER, INGO 2006: Technik als sozialer Akteur und als soziale Institution. Sozialität von Technik statt Postsozialität, in: Rehberg, Karl-Siegbert (Hg.): Die Natur der
Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006, Frankfurt/New York: Campus Verlag, S. 705-719.
VIEHÖVER, WILLY; GUGUTZER, ROBERT; KELLER, REINER; LAU, CHRISTOPH 2004: Vergesellschaftung der Natur – Naturalisierung der Gesellschaft, in: Beck, Ulrich; Lau, Christoph
(Hg.): Entgrenzung und Entscheidung: Was ist neu an der Theorie reflexiver Modernisierung?, Frankfurt: Suhrkamp, S. 65-94.
WHITEN A. U.A 1999: Cultures in chimpanzees, in: Nature 399, S. 682-685.
37
WIEDENMANN, RAINER E. 1997: Tierbilder im Prozeß gesellschaftlicher Differenzierung.
Überlegungen zu Struktur und Wandel soziokultureller Ambivalenzkonstruktion, in: Luthe, Heinz Otto; Wiedenmann, Rainder E. (Hg.): Ambivalenz. Studien zum kulturtheoretischen und empirischen Gehalt einer Kategorie der Erschließung des Unbestimmten, Opladen: Leske + Budrich, S. 185-219.
WIEDENMANN, RAINER E. 2002: Die Tiere der Gesellschaft, Konstanz: UKV Verlagsgesellschaft.
WIEDENMANN, RAINER E. 2009: Tiere, Moral und Gesellschaft: Elemente und Ebenen humanimalischer Sozialität, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
WILKENEIT, KATJA; SCHULZ, BÄRBEL 2013: Der Hund in der Erwerbsarbeit der Dienstleistungsgesellschaft. Eine Untersuchung der Merkmale und Bedingungen qualifizierter Tätigkeiten von Tieren am Beispiel von Hunden, in: Pfau-Effinger, Birgit; Buschka, Sonja
(Hg.): Gesellschaft und Tiere. Soziologische Analysen zu einem ambivalenten Verhältnis
[Elektronische Ressource], Wiesbaden: Springer VS, S. 123-164. DOI:
http://dx.doi.org/10.1007/978-3-531-93266-8
38
Herunterladen