phie (2001), S. 76-80 Autor: Giuseppe Veltri Artikel Umfrage Frag

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In: Widerspruch Nr. 37 Jüdisches Denken – Jüdische Philosophie (2001), S. 76-80
Autor: Giuseppe Veltri
Artikel
Umfrage
Fragen zur jüdischen Philosophie
heute
I. Bis 1933 spielten jüdische Denker in der deutschen Philosophie eine große Rolle. Durch die Rückkehr von Emigranten erlebte diese Tradition nach
1945 nochmals eine kurze Renaissance. Dann brach sie ab. Heute gibt es
wieder Ansätze: etwa die Hochschule für jüdische Studien in Heidelberg
oder der Jüdische Verlag bei Suhrkamp.
1.
2.
3.
Sehen Sie Chancen, daß sich heute in Deutschland und Mitteleuropa wieder ein jüdisches Geistesleben etabliert?
Gibt es Ihrer Meinung nach aktuelle politische Tendenzen, aber
auch mentale Einstellungen, die dem im Wege stehen?
Worin sehen Sie den ‚Gewinn’ sowohl für Nicht-Juden als auch für
Juden?
II. In der Geschichte der Philosophie ist es üblich geworden, eine Rubrik
„jüdische Philosophie“ zu bilden, unter der Denker wie Philon, Maimonides,
Mendelssohn, Cohen und Buber zusammengefaßt werden. Dieser Rubrizierung entgegen steht allerdings die Auffassung, daß es im Grunde nur eine
Philosophie gibt, die solche Etikettierungen nicht erlaubt.
1.
Läßt sich Ihrer Meinung nach eine Denktradition identifizieren, die
in dem Spannungsfeld zwischen „Athen und Jerusalem“ philosophiert und über die religiöse Motivation hinaus auf säkulare Weise
argumentiert hat?
Umfrage
2.
Wenn ja, worin sehen Sie das Spezifische, das solches jüdisches
Philosophieren ausgezeichnet hat und auszeichnet?
III. Eine der Wurzeln jüdischen Denkens war die rabbinische Tradition, die
in Deutschland ihre Schwerpunkte in Berlin und Breslau hatte. Nach dem
neueren Antisemitismus in Europa, der im Holocaust gipfelte, hat auch bei
anderen jüdischen Denkern eine Rückbesinnung auf das Judentum stattgefunden.
1.
2.
Haben die Bemühungen, die aus der damit einhergehenden Auseinandersetzung mit den europäischen Denkmustern hervorgegangen sind, die Gegenwartsphilosophie Ihrer Meinung nach insgesamt befruchtet oder eher gelähmt?
Sehen Sie im jüdischen Philosophieren heute (neue) Konfliktlinien,
die zwischen Traditionsbezug (etwa dem rabbinischen) und modernem bzw. postmodernem Denken verlaufen? Und wenn ja,
welche?
Giuseppe Veltri
Fragen zur jüdischen Philosophie
heute
Ad I. Die Frage nach Chancen für ein jüdisches Geistesleben heute ist sehr
heikel, denn sie ist historisch wohl falsch gestellt. Ein jüdisches Geistesleben ist in Deutschland immer vorhanden gewesen – auch nach der Shoa.
Jüdische Intellektuelle haben sich ihre Spuren in der deutschen Geschichte
nicht tilgen lassen und auf einer deutsch-jüdischen Identität beharrt, auch
wenn diese Identität zwiespältig war, und sie in Deutschland nicht (mehr)
gelebt haben. Das Merkwürdige dabei ist, daß dieser Aspekt im deutschen
und europäischen Raum nicht wahrgenommen wurde, auch nach dem Holocaust nicht. Daß der „Widerspruch“ heute – und nicht vor 20 Jahren –
diese Frage stellt, bezeugt, daß die jüdische intellektuelle Präsenz wieder
wahrgenommen wird, auch wenn dies vor allem (daher auf eingeschränkte
Umfrage
Weise) aus der Perspektive der Shoa geschieht. – Leben wir vielleicht in einer Zeit der Antiquaren, die sich bemühen, das Gedächtnis als Ritual einer
klassifizierten Vergangenheit zu betrachten? So jedenfalls deute ich die sich
in letzter Zeit häufenden Bemühungen, jüdische Museen zu eröffnen und
jüdische Denkmäler zu errichten. Das aber ist ein historisch fragwürdiger
Ansatz, der die Stellung des Judentums in der europäischen Gesellschaft als
(abgeschlossenes?) Kapitel der allgemeinen Geschichte betrachtet. Die Frage bleibt heute wie damals: Ist dies als ein – schon immer christlicher –
Versuch zu deuten, das Judentum per naturam als Vorstadium des heutigen
Denkens zu betrachten, das man, mit Hegel’scher Kategorie, ‚aufhebt’?
Auch die gestellt Frage nach dem „Gewinn“ ist äußerst problematisch. So
redeten einige jüdische Intellektuelle im 17. und 18. Jahrhundert, um die
Stellung des Judentums innerhalb der christlichen Gesellschaft zu verbessern. Heute ist die Frage anders zu stellen: Brauchen wir eine Allgemeinheit,
die uns als Identität dient, oder nur einen gemeinsamen Nenner, damit wir überhaupt kommunizieren können? Die Wahrnehmung des Einzelnen ist das
Einzige, was uns beschäftigen soll und muß in einer Zeit, in der man von
globalem Denken spricht und das Einzelne in das unbestimmte und unbestimmbare Magma zu versinken droht.
Ad II. Das Kompositum „jüdische Philosophie“ verweist historisch gesehen
auf eine kulturelle Auseinandersetzung. Gleichzeitig wird damit die seit der
Antike diskutierte Frage nach der Genealogie des Wissens berührt. Der
Terminus „Philosophie“ ist ja weder hinsichtlich seines Inhalts noch nach
Objekt und Ziel eindeutig zu definieren, da diese je nach Epoche, geographischem Raum sowie soziologischer Gruppe variiert haben. Er läßt jedoch
immer eine Verbindung zu jener griechischen Weltanschauung erkennen,
aus der die „Philosophie“ entstand, und die – der noch heute herrschenden
communis opinio gemäß – der jüdischen Geisteswelt so völlig inkompatibel ist:
„Athen“ und „Jerusalem“ gelten als ein unvereinbares Gegensatzpaar. Derjenige, der sich auf eine Debatte über jüdische Philosophie einläßt, ähnelt
somit dem Seefahrer, der versucht, sein Schiff zwiscken Skylla und Charybdis hindurchzumanövrieren, in der Hoffnung, hier doch noch heil davonzukommen.
Der Begriff „jüdische Philosophie“ spiegelt auch die große Unbefangenheit
des Historikers wider, der die jüdische Literar- und Kulturgeschichte auch
nach philosophisch-historischen Kriterien zu klassifizieren versucht, ob-
Umfrage
wohl doch eine jüdische Philosophie einer contradictio in adiecto gleichkommt.
Verbietet nicht der Universalanspruch des philosophischen Denkens und
damit des menschlichen Wissens eine Segmentierung gemäß einem Teil der
menschlichen Gesellschaft und ihrer jeweiligen Kulturgeschichte?
Die Frage nach der Existenz und dem Wesen der „jüdischen“ Philosophie,
die zum erstenmal von Vertretern der deutschen Wissenschaft des Judentums aufgeworfen wurde, verweist unmißverständlich auf einen anderen,
damit jedoch unmittelbar verbundenen Aspekt: den des jüdischen Selbstverständnisses. Man kann dies noch schärfer formulieren: Je mehr der jüdische Zugang zur Philosophie hervorgehoben bzw. verneint wird und die
Thematisierung des Objektes in den Vordergrund der wissenschaftlichen
Diskussion tritt, desto radikaler stellt sich die Frage nach Bestand, Wesen
und Identität der jüdischen im Verhältnis zur allgemeinen Kultur. So verwundert es nicht, daß diese Frage vor allem in der Diaspora gestellt wird,
wo die Gefahr der Assimilation zumindest seit der Wissenschaft des Judentums beständig lauert und sich die eigene Identität in das undifferenzierte
Allgemeine aufzulösen („aufzuheben“, würde Eduard Gans in Hegel’scher
Terminologie sagen) droht.
Die Frage nach der Existenz der jüdischen Philosophie stellt im Grunde eine falsche und unlogische, jedoch paradoxe Denkweise dar, weil der Fachhistoriker und der Philosoph ihr Selbstbewußtsein bei der Bildung des Objektes über- bzw. unterschätzen. Eine jüdische Philosophie existiert nicht
als metaphysische Realität an und für sich, als Monade der Leibniz’schen
Ontologie, sondern entsteht in dem Moment, in dem ein Philosoph dies als
philosophisch möglich und existentiell angebracht erachtet. Eine Idee
braucht keine Materialisierung der Erkenntnis; sie verankert sich im Bewußtsein der Formen, die sich historisch herauskristallisiert haben. Ein Adjektiv vor „Philosophie“ deutet immer auf eine Einschränkung des Objektes und kennzeichnet damit eine Konkretisierung, die philosophischhistorisch begründet und soziologisch-kulturgeschichtlich analysiert werden
muß. Wenn die Philosophie, zumindest seit der Renaissance, um ihre Existenz und Rechtfertigung gegen die Errungenschaften und die Erfolge der
„Wissenschaften“ ankämpft, dann gilt dies vor allem für die jüdische Philosophie. Die Geistesgeschichte des Judentums wird apologetisch mit seiner
Philosophie identifiziert.
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Die jüdische Philosophie kann trotzdem nicht in den sogenannten „klassischen Kanon“ tel quel einbezogen werden, weil sie primär als jüdisch verstanden wird. Man darf also annehmen, daß sich die jüdischen Gelehrten in
dem Augenblick, da sie die Beschäftigung mit dem Judentum als wesentlichen Teil der Philosophie betrachten, von deren universellen Anspruch entfernen und vice versa, daß eine jüdische Philosophie nicht existieren darf
oder kann, wenn sie von dem universellen Anspruch absieht. Der universelle Anspruch, basierend auf der Prämisse des homo rationalis, ist das Wesen
des philosophischen Diskurses, ohne den eine Philosophie im klassischen
Sinne nicht möglich ist. Wer diesem Ansatz nicht zustimmt, geht von der
Definition der „Philosophie“ als Geistesprodukt aus, die jegliche Erscheinung des Denkens überhaupt mit berücksichtigt. Somit verliert der philosophische Diskurs an Konsistenz und Relevanz.
Die Debatte um die Definition der „jüdischen Philosophie“ verweist in ihrem historischen Verlauf auf eine grundlegendere Frage, nämlich die nach
der eigenen Identität, mithin auf die Definition des Judentums selbst, die auf
der philosophischen Ebene aus den Teilaspekten von Existenz und Berechtigung besteht. Die Suche nach der eigenen philosophischen Identität erscheint in diesem Lichte besehen als bewußtseinsbildender Faktor im Rahmen der internen kulturgeschichtlichen Standortbestimmung. Die jüdische
Philosophie wendet sich dabei konfliktbewußt gegen den universellen
Wahrheitsanspruch der – vor allem griechischen, dann europäischchristlichen – Philosophie. In dieser Hinsicht fungiert sie sowohl als Apologie ad extra bzw. ad intra als auch als Widerstand gegen die Verallgemeinerung des Einzelnen.
Ad III. Auch hier – wie immer im philosophischen Denken – gilt die scholastische Maxime „distingue frequenter“: was wird philosophisch unter der
sogenannten „rabbinischen Tradition“ verstanden? Die klassische Zeit der
Dispute zwischen den Schulen oder die klassische Zeit des Schul- und
Dogmenverständnis, die man in der christlichen Zeitrechnung „Mittelalter“
und „Frühneuzeit“ nennt? Nur der Bezug auf die zweite Periode kann zu
Konflikten führen; der auf die erste jedoch nicht. Die antike rabbinische
Schule ist durch eine Dialektik gekennzeichnet, die – stoisch und epikureisch in ihrem Ursprung – die Macht und/oder Un- und Ohnmacht des
Wortes und des Diskurses betont hat. Von Theorie war keine Rede, und
daher konnte dies keine Konflikte hervorrufen. Oder schärfer formuliert:
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der Konflikt war die Quintessenz ihres Diskurses und wurde daher als solcher nicht (immer) wahrgenommen.
Es ist wahr, daß jüdische Scholastik, und vor allem Maimonides, heute das
jüdisch-philosophische Denken dominiert. Aber nur augenscheinlich und
philosophischhistorisch. In der Tat gibt es keinen Denker – und auch Leibowitz ist keiner –, der als jüdischer Philosoph gelten kann. Fackenheim
und Lévinas sind deutlich als Denker nach dem Holocaust zu qualifizieren
und daher nicht als Philosophen des Judentums zu definieren. Sie betreiben
Erfahrungsphilosophie, die in den Kategorien der allgemeinen Philosophie
als kontingent gelten muß. Oder ist Philosophie doch nur Philosophie des
Erfahrenen?
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