Ernährung in der Krise - Verein für hessische Geschichte und

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Ernährung in der Krise
Anmerkungen zur Ersatzmittelbewirtschaftung in Marburg
während des Kriegsjahres 1916
von Thomas Schindler
„Die Nachricht, nach welcher die
deutsche Regierung aus Soldatenleichen Fett herstellen lasse,
1
sei nicht unglaubwürdig.“
Noch unmittelbar vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs existierte keine Strategie zur
Versorgung der deutschen Zivilbevölkerung mit Nahrungsmitteln. Aus diesem Grund
destabilisierte das alliierte Handelsembargo, die zeitgenössisch so genannte ‚Hungerblockade’, das Deutsche Reich in doppelter Weise. Zum einen blieben dringend benötigte Importe aus, andererseits fehlte aber auch ein durchdachtes Krisenmanagement,
um dem Importstop begegnen zu können.2 Schon bald setzte ein Mangel an Konsumgütern und insbesondere ein Mangel an Nahrungsmitteln ein.3 Um der Verknappung entgegenzuwirken, wurden bis dato nicht genutzte Ressourcen als Äquivalente herkömmlicher Nahrungsmittel mobilisiert.4 Mittelfristig sollte die vollständige Autarkie gegenüber allen Nahrungsmittelimporten erreicht und damit die Auswirkungen der alliierten
Handelsbeschränkungen neutralisiert werden.5
Das einleitende Zitat eines englischen Lords zur Fettersatzmittelgewinnung in
Deutschland während des Ersten Weltkriegs verweist – wenn auch auf besonders geschmacklose Weise – auf die, von Außen betrachtet, kuriosen wie scheinbar aussichtslosen Versuche, eine auf Autarkie fußende Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung
zu bewerkstelligen.
––––––––––
1
2
3
4
5
Zitat aus Gottlob EGELHAAF: Historisch-politische Jahresübersicht für 1917, Stuttgart 1918, S. 7.
Hans FREIHERR VON LIEBIG: Die Politik Bethmann Hollwegs, München 1919, S. 258.
Die alliierten Gegner verhängten eine Handelsblockade über den unmittelbaren Machtbereich des
Deutschen Reichs und die umliegenden Staaten konnten nur noch bedingt Waren in das Reich
absetzen. Vgl.: Clemens VON DELBRÜCK: Die wirtschaftliche Mobilmachung in Deutschland
1914, hg. von Joachim VON DELBRÜCK, München 1924, S. 64. Auch: Wolfgang KRUSE: Gesellschaftspolitische Systementwicklung, in: Wolfgang KRUSE (Hg.): Eine Welt von Feinden. Der
große Krieg 1914-1918, Frankfurt am Main 1997, S. 73 f.
Dieter KRÜGER: Kriegssozialismus. Die Auseinandersetzung der Nationalökonomen mit der
Kriegswirtschaft 1914-1918, in: Wolfgang MICHALKA (Hg.): Der Erste Weltkrieg. Wirkung
Wahrnehmung Analyse, Weyarn 1997, S. 509. Auch: Eva STILLE, Margret TRÄNKLE: Völlerei
und Hunger, in: Michael ANDRITZKY (Red.): Oikos. Von der Feuerstelle zur Mikrowelle. Haushalt und Wohnen im Wandel, Gießen 1992, S. 266-284, hier S. 282.
Vgl. Carl VON THUSZKA: Der Konsument in der Kriegswirtschaft, in: Kriegswirtschaftliche Zeitungen Band 5, Tübingen 1916. Auch: Martin H. GEYER: Teuerungsprotest und Teuerungsunruhen 1914-1923. Selbsthilfegesellschaft und Geldentwertung, in: Manfred GAILUS, Heinrich
VOLKMANN (Hg.): Der Kampf um das tägliche Brot. Nahrungsmangel, Versorgungspolitik und
Protest 1770-1990, Opladen 1994, S. 319 f.
Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte (ZHG) Band 111 (2006), S. 219-236.
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Thomas Schindler
Lebensmittelversorgung während des Kriegs
Zwanzig Prozent der vor 1914 im Deutschen Reich verzehrten Lebensmittel wurden
importiert.6 Diese Einfuhren brachen fast zeitgleich mit dem Kriegsbeginn weg, was
die Reichsführung zunächst aber nicht beunruhigte, da man angesichts der Feuerkraft
der modernen Waffen ohnehin einen äußert verlustreichen und deshalb kurzen Krieg
erwartete.7 Nicht zuletzt diese scheinbare Gewissheit ließ umfangreiche Bevorratungsaktionen oder präventive gesetzgeberische Maßnahmen zur Nahrungsmittelrationierung
zunächst überflüssig erscheinen. Erst drei Tage nach der Kriegserklärung Deutschlands
an Russland erhielt der Bundesrat durch das so genannte Ermächtigungsgesetz vom 4.
August 1914 einige Vollmachten hinsichtlich von Preiskontrollen, Möglichkeiten der
Nahrungsmittelrationierung und der Steuerung der landwirtschaftlichen Produktion, er
machte davon aber nur zögernd und wenn, dann unsystematisch Gebrauch.8 Nachdem
die militärischen Prognosen hinsichtlich eines kurzen Kriegs spätestens 1915 hinfällig
geworden waren, entstand unter dem Druck der schon unmittelbar bevorstehenden
Versorgungskatastrophe nach und nach die monopolistisch organisierte Zwangsbewirtschaftung fast aller gängigen Nahrungsmittel.9 Reichweit wurden hastig 25 Trusts,
reichseigne Kriegsgesellschaften, gegründet, die der Kriegsrohstoffabteilung der
Reichsregierung unterstanden und jeweils monopolistisch alle strategischen Rohstoffe
erfassen, verarbeiten und zuteilen sollten.10 Dazu gehörten auch fast alle Nahrungsmittelressourcen, in besonderem Maße aber Getreide, Kartoffeln, Fleisch und Fett. Diese
Grundnahrungsmittel waren bald nur noch kontingentiert über Bezugskarten erhältlich.11 Im Jahr 1916 entstand zusätzlich hierzu das dem Reichskanzler zugeordnete
Kriegsernährungsamt, welches das oben genannte System bündeln und zentral steuern
helfen sollte.12 Diese Zentralisierung gelang jedoch nur bedingt, da der föderalistisch
agierende Bundesrat seine originären Regelungskompetenzen des Lebensmittelsektors
beibehielt. Es entstand vielmehr ein zusätzlicher Verwaltungsakteur, der eine effiziente
––––––––––
6
Vgl. F. LUSENSKY: Kriegswirtschaft, in: Königlich-Preußísches Landesgewerbeamt (Hg.): Staatsbürgerliche Belehrungen in der Kriegszeit, Band 2, Berlin 1916, S. 96-166.
7 Bernd ULRICH, Ulrich ZIEMANN: Das soldatische Kriegserlebnis, in: Wolfgang KRUSE (Hg.):
Eine Welt von Feinden. Der Große Krieg 1914-1918, Frankfurt am Main 1997, S. 134 f.
8 Gerald D. FELDMANN: Kriegswirtschaft und Zwangswirtschaft: die Diskreditierung des »Sozialismus« in Deutschland während des Ersten Weltkriegs, in: Wolfgang MICHALKA (Hg.): Der Erste Weltkrieg. Wirkung Wahrnehmung Analyse. Weyarn 1997, S. 461. Zu den kriegsrechtlichen
Kompetenzen des Bundesrats vgl.: Eduard HEILFRON: Krieg und Recht, in: KöniglichPreußisches Landesgewerbeamt (Hg.): Staatsbürgerliche Belehrungen in der Kriegszeit. Berlin
1915, S. 210-240, hier: S. 222-224.
9 Rüdiger VOM BRUCH, Björn HOFMEISTER: Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung. Band
8. Kaiserreich und Erster Weltkrieg 1871-1918. Stuttgart 1989, S. 411.
10 Niall FERGUSON: Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999,
S. 256.
11 REICHARDT: Das Gemüse in der Kriegswirtschaft, in: Beiträge zur Kriegswirtschaft, Berlin 1918,
S. 5 f.
12 Vgl. LUSENSKY: Kriegswirtschaft (wie Anm. 6), S. 166.
Ernährung in der Krise
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Nahrungsmittelbewirtschaftung erschwerte.13 Als unmittelbare Exekutivorgane dienten
jeweils die kommunalen Kreisbehörden, also die Landratsämter und die Kommunen
selbst.14
Der Mangel an herkömmlichen Lebensmitteln entstand aber hauptsächlich wegen
des Wegfalls der Importe, aber auch wegen dem Rückgang der Produktionsmenge und
-qualität und der Zurückhaltung von Nahrungsmitteln durch die agrarischen Produzenten.15 Adäquate Alternativprodukte, die so genannten Ersatzmittel, sollten den Mangel
kompensieren helfen. In Marburg hat der Mangel an allen erdenklichen Lebensmitteln
seit dem Frühjahr 1916 zu einer intensiven Ersatzmittelbewirtschaftung geführt.
Ersatzmittelgewinnung
Der Versorgungsnotstand im Deutschen Reich setzte schon ab 1915 ein und äußerte
sich vor allem im Wegfall tierischer Produkte, die es durch pflanzliche zu ersetzen
galt.16 Ab 1916 wurde die Bewirtschaftung von Nahrungsmittelersatzstoffen intensiv
betrieben, denn größere Teile der Ernten waren durch schlechte Wetterlagen auf den
Feldern verfault oder im früh einsetzenden Winter 1916 erfroren.17 Im darauf folgenden ‚Steckrübenwinter’ 1916/1917 brach die öffentliche Versorgung zeitweise ganz
zusammen.18 In großbürgerlichen Kreisen konnten knappe Lebensmittel zwar oft noch
teuer auf dem Schwarzmarkt erworben werden, frisches Gemüse musste aber teilweise
selbst erzeugt werden: „Da war die Sache mit der Tomate. [...] Tomaten! Man stelle
sich das vor! Wo es jetzt nicht einmal mehr Kohlrüben gab! Das Geheimnis des Erfolges der Frau Justizrat war Dünger. [...] Eines Tages sagte die Frau Justizrat zu mir:
Hören Sie, Kind. Sie sollten neben der Pflanze ein Loch graben und Ihren Mann und
vielleicht noch ein paar seiner Freunde bitten, dort – Sie verstehen schon, nicht?“19
Arbeiterinnen und Arbeiter sowie Angestellte hatten hingegen gewöhnlich kaum die
Kraft, die Zeit oder das Geschick im Umgang mit Pflanzen und der Zucht von Tieren,
––––––––––
13 Anne ROERKOHL: Hungerblockade und Heimatfront. Die kommunale Lebensmittelversorgung in
Westfalen während des Ersten Weltkriegs (Studien zur Geschichte des Alltags 10), Stuttgart
1991, S. 192. Auch: Christina SCHWARZ: Die Landfrauenbewegung in Deutschland (Studien zur
Volkskultur in Rheinland-Pfalz 9), Mainz 1990, S. 212-216.
14 Vgl. LUSENSKY: Kriegswirtschaft (wie Anm. 6), S. 166. Darüber hinaus schlossen sich auch
Städte zu Einkaufsgemeinschaften zusammen, die wiederum in Konkurrenz zu den Landes- und
Reichseinrichtungen Nahrungsmittel zu beschaffen versuchten.
15 Ebd, S. 105. Auch Theodor SCHUCHART: Krieg, Gewerbe und Handel, in: Königlich-Preußisches
Landesgewerbeamt (Hg.): Staatsbürgerliche Belehrungen in der Kriegszeit. Berlin 1915, S. 101144, hier: S. 127-132.
16 Traudel WEBER-REICH: „Um die Lage der hiesigen Nothleidenden Classe zu verbessern“. Der
Frauenverein zu Göttingen von 1840 bis 1956. Göttingen 1993, S. 56 f. Auch: ZentralEinkaufsgesellschaft (Hg.): Kriegskost. Kleine Beiträge zur Volksernährung, o. O., o. J., auch:
Caroline HERRMANNSDÖRFER (Hg.): Haus und Herd in schwerer Zeit. Ein Wegweiser zum
Durchhalten in Küche und Haushalt, München 1917, S. 130-131.
17 Roger CHICKERING: Imperial Germany and the Great War, 1914-1918, Cambridge 1998, S. 140 f.
18 GEYER: Teuerungsprotest (wie Anm. 5), S. 320.
19 Vicki BAUM: Es war alles ganz anders. Köln 1987, S. 308 f.
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Thomas Schindler
sie hatten oft die denkbar kärgsten Essensrationen auszuhalten20: „Briefträgerinnen in
Uniform, die Mütze auf dem zurückgestrammten Haar, stiegen viele Treppen, klingelten an vielen Türen, ungeachtet monatlicher Schwächungen, unzureichender Ernährung
durch Kartoffelbrot, Gerstenkaffee, schlechtes Schmalz, zu dünne Milch.“21
Als Lebensmittelersatz kam grundsätzlich alles essbare, teilweise aber bisher tabuisierte, in Frage: „Eines Tages sah ich ein klapperdürres Pferd auf der Straße tot umstürzen. Im Nu, als hätte man darauf gelauert, stürmten die Frauen, mit langen Küchenmessern bewaffnet, aus den umliegenden Häusern auf den Kadaver.“22
Sicher lassen sich die geschilderten Begebenheiten nicht unmittelbar auf die Nahrungsmittelgewinnung und -versorgung der Marburger Wohnbevölkerung übertragen,
sie deuten aber an wie prekär die Lebensmittelersorgung der Zivilbevölkerung in
Deutschland gewesen ist und welche Maßnahmen die Menschen bereit waren zu ergreifen um an Nahrung zu gelangen.
Zur alternativen Fettgewinnung
Die ‚Fettgewinnung aus Maikäfern’ während des Ersten Weltkriegs spielte in Deutschland als Teil eines weitreichenden Systems der Ersatzmittelbewirtschaftung wohl
höchstens eine untergeordnete Rolle.23 Doch war das Deutsche Reich 1914 darauf angewiesen Öle und Fette, bzw. deren Grundstoffe, in großem Maße aus den eigenen
Kolonien oder vom Weltmarkt beziehen zu können.24 Diese Einfuhren unterblieben mit
dem Beginn des Kriegs fast vollständig.25 Es galt neue Fettquellen zu erschließen, vorhandene auszubauen oder Fett durch andere Nährmittel zu ersetzen.26 Die ausreichende
Versorgung der Bevölkerung mit Fett hing „von der Spanne zwischen dem Höchstmaß
der erreichbaren Eigenerzeugung einerseits und dem durch Einschränkung erreichbaren
äußersten, aber noch erträglichen Mindestmaß des Verbrauchers andererseits ab.“27
––––––––––
20 Ute FREVERT: Frauen-Geschichte. Zwischen bürgerlicher Verbesserung und neuer Weiblichkeit.
Frankfurt/M. 1986, S. 149.
21 Arnold ZWEIG: Die junge Frau von 1914. Frankfurt/M. 1973, S. 173.
22 Asta NIELSEN: Die schweigende Muse. Berlin 1977, S. 276.
23 Marie-Elisabeth LÜDERS: Das unbekannte Heer. Frauen kämpften für Deutschland 1914-1918.
Berlin 1936, S. 75. Vgl. allgemein: KRUSE: Gesellschaftspolitische Systementwicklung (wie
Anm. 3), S. 72 f.
24 Kurt RIEBEL: Die Versorgung Deutschlands mit tierischen und pflanzlichen Oelen und Fetten.
Ein Vergleich mit der Vorkriegszeit. Mannheim 1926, S. 34.
25 Ebd.
26 Vgl. Hans KRÜGER, Gustav TENIUS: Die Massenspeisungen, in: Beiträge zur Kriegswirtschaft.
Berlin 1917, S. 17, auch: BRIEFS u. a.: Die Hauswirtschaft im Kriege, in: Beiträge zur Kriegswirtschaft 25, Berlin 1917, S. 53; auch: M. EWALD: Die pflanzlichen und tierischen Oele und
Fette, ausschließlich der Molkereiprodukte, in Frieden und Krieg, in: Beiträge zur Kriegswirtschaft 33, Berlin 1918, S. 8 f.
27 EWALD: Die pflanzlichen und tierischen Oele (wie Anm. 26), S. 9.
Ernährung in der Krise
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Erste schriftliche Belege zur ersatzweisen Fettgewinnung in Marburg finden sich für
das Frühjahr 1916.28
Pflanzliche Fette
Der Marburger Bürger Ferdinand Metzger schlug dem Magistrat der Stadt am 15. 3.
1916 in einem Schreiben die Gründung einer genossenschaftlichen Zentralstelle für den
Anbau und die Verwertung von Sonnenblumen in Marburg vor.29 Laut Metzger seien
Sonnenblumen nicht pflegeintensiv, noch bräuchten sie besonders fruchtbaren Boden.
Neben der Ölgewinnung zu Speisezwecken30 könnten die Stängel zu Gespinstfasern
verarbeitet werden, Pressrückstände ergäben eiweißreiches Kraftfutter und das Mark
der Stängel sei ebenfalls noch verwendbar. Diese optimistische Einschätzung teilten
auch örtliche Vertreter der Ersatzmittelwirtschaft, schien die Sonnenblume doch vielseitig verwertbar und lediglich geringe Investitionen zu bedürfen.31 Am 31.3.1916
berichtete die Oberhessische Presse: „Der Anbau von Sonnenblumen verdient in diesem Jahre der Jugend in Stadt und Land aufs wärmste empfohlen zu werden. Es wird
gar nicht schwer sein, die Jugend dafür zu gewinnen, dass sie, wo immer nur ein sonniges Plätzchen zur Verfügung steht, dort Sonnenblumen anpflanzt. Selbstverständlich
übernehmen die Lehrer die Verpflichtung, die Kerne zweckentsprechend an ihre Schulkinder zu verteilen und diesen bei Anbau, Pflege und Ernte mit Rat und Tat zur Seite
zu stehen. Das Beste an solcher Arbeit ist aber, dass die Jugend durch sie das Gefühl
selbstlosen Gebens und Helfens und treuer Pflichterfüllung kennen lernt und
hineinwächst in die rechte Staatsgesinnung.“32 Es wird anhand dieses Berichts deutlich,
was von den Schülern und Lehrern ‚selbstverständlich’ erwartet wurde und erwartet
werden musste, nämlich die Teilnahme an einem Projekt zur Erschließung einer alternativen Fettquelle. – Noch war die Teilnahme an solchen Projekten offenbar keine
unbedingte Notwendigkeit. Ab 1917 änderte sich dies allerdings, denn von da an galt
die Mitarbeit von Schülern und Lehrern bei solchen und ähnlichen Anpflanzungsprojekten als zwingend.33 Da man annahm, dass die Sonnenblume äußerst anspruchslos
wäre, bepflanzte man ab 1916 in Marburg Bahndämme, leere Lagerplätze, Ödland und
––––––––––
28 Neben der Festlegung der für den Einzelnen auszugebenden Fettmenge wurde die Bevölkerung
in Bezugsberechtigte und Nichtbezugsberechtigte, etwa Nebenerwerbslandwirte, eingeteilt. Vgl.
StA MR, Bestand 180 Marburg, Nr. 647, Bundesbekanntmachung über Speisefette im Kreis
Marburg vom 20. Juli 1916, Verbrauch von Speisefett § 1-§ 5.
29 StA MR, Bestand 330 Marburg C, Nr. 776, Dok. 1.
30 Ebd.
31 Aus den Sonnenblumenkernen sollte Margarine und Speiseöl als Ersatz für Butter hergestellt
werden. Vgl.: StA MR, Bestand 180 Marburg, Nr. 647, Tabelle des Kommunal-Verbands Marburg zur Umfrage der Reichsstelle für Speisefette vom 28.8.1916. Im Jahr 1916 (bis November)
konnten als Ersatz für Butter im Wochendurchschnitt ersatzweise 90g Pflanzenspeisefett ausgegeben werden.
32 StA MR, Bestand 330 Marburg C, Nr.776, Dok. 2.
33 Dies schien sich spätestens ab dem Herbst 1917 allerdings zu ändern. In einem Anschreiben des
Königlichen Proviantamts an das Landratsamt Marburg bezüglich der Sammlung von Ackerquecken ist vermerkt, dass die Sammlung ausschließlich durch Schüler zu geschehen habe. Vgl.: StA
MR, Bestand 180 Marburg, Nr. 979.
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Thomas Schindler
Gärten flächendeckend mit ihnen.34 Der Ernteertrag der Sonnenblumen war allerdings
stets verheerend gering: Nach den Mitteilungen des Kriegsausschußes für pflanzliche
und tierische Öle und Fette in Berlin hat der Anbau von Sonnenblumen durch die Schulen im vergangenen Jahr trotz des regen Eifers, mit dem er betrieben worden ist, für
die Öl- und Fettgewinnung leider kein günstiges Ergebnis gehabt. Dies ist unter anderem hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass die Sonnenblumen meistens auf brachliegenden Geländen angebaut worden sind.35. Im Zeitraum von März bis Mai 1916
wurde neben dem Anbau von Sonnenblumen auch der von Mohn, der einen hohen
Ölanteil haben sollte, massiv betrieben.36 Dies hatte aber auch deshalb zu geschehen,
weil die gesetzlichen Bestimmungen zur ertragsbringenden Nutzung von leer stehenden
oder verwilderten Grundstücken im Laufe des Jahres immer wieder verschärft und
Verstöße rücksichtslos37 geahndet wurden.38
Im Dezember 1916 wurde in Marburg mit der Entkeimung, d. h. der Gewinnung
von Keimöl, von Getreide begonnen39: Bei der Durchführung der Entkeimung des Getreides in allen Mühlen des Deutschen Reichs würden erhebliche Mengen von Fett,
sowie auch wertvolle eiweißhaltige Nährmittel der Volksernährung zugeführt werden
können [...].40 Bei der Getreideentkeimung fielen zudem eiweißreiche Rückstände an,
die noch in der lokalen Ersatzeiproduktion Verwendung finden konnten.41 Für das zu
entkeimende Getreide aus dem Kreis Marburg war die gut daran verdienende Firma
„Fa. L. Strauß & Söhne Kirchhain/Cassel“ zuständig.42 Das Verfahren schien lohnenswerte Mengen an Öl zu erbracht zu haben. Jedenfalls stellte das Marburger Landratsamt aufgrund des Erfolgs der Kirchhainer und Kasseler Firma noch im Januar 1917
den Antrag, eine entsprechende kreiseigene Entkeimungsanlage in Betrieb nehmen zu
dürfen. Dies wurde aber vom „Kriegsausschuß für Oele und Fette“ mit der zu erwar––––––––––
34 Da Speiseöl aus dem Ausland nicht zu beschaffen war, sollte der Anbau von Sonnenblumen und
Mohn u. a. durch Bepflanzung der Bahndämme verstärkt werden. Vgl. ebd., Anschreiben des
Ministeriums des Innern an die Herren Oberpräsidenten und Regierungspräsidenten vom
23.4.1916.
35 StA MR, Bestand 330 Marburg C, Nr. 776, Schreiben des Ministers der geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten an die Königlichen Regierungen und das Königliche Provinzialschulkollegium vom 16.3.1917.
36 StA MR, Bestand 180 Marburg, Nr. A 962: Anschreiben des Kriegsausschuß für pflanzliche und
tierische Oele und Fette vom März 1916.
37 Ebd. Anschreiben des Kriegsausschusses für pflanzliche und tierische Oele und Fette an den
Herrn Königlichen Landrat des Landkreises Marburg i. H. vom 6.6.1916.
38 Alle freien Flächen mussten unter bestimmten Vorraussetzungen (Zugänglichkeit, Größe, keine
anderweitige Nutzung möglich) bepflanzt werden und Erträge aus diesen Anpflanzungen anteilig
an die staatlichen Sammelstellen abgeführt werden. Vgl.: Ebd., Nr. A 724, 19.6.1916.
39 Zur Erklärung des Verfahrens siehe: Eduard SENATOR: Weltkrieg und Brotversorgung. Berlin
1917.
40 StA MR, Bestand 180 Marburg, Nr. A 962, Schreiben des Kriegsausschuß für Oele und Fette,
Abteilung Getreideentkeimung vom 21.12.1916.
41 Ebd. Schreiben des Regierungs-Präsidenten Cassel an sämtliche Herren Landräte vom
28.10.1917.
42 Ebd.
Ernährung in der Krise
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tenden Unwirtschaftlichkeit abgelehnt.43 Ähnlich ertragreich wie die Entkeimung von
Getreide war, wenn auch in kleinerem Maßstab betrieben, offenbar die Gewinnung von
Öl aus Obstkernen44: „Bei der großen Knappheit an Speisefett muß alles geschehen, um
durch Ausnutzung heimischer Rohstoffe, welche im Frieden unbeachtet geblieben sind,
unsere Fettvorräte zu vermehren.“ Unter den für die Fettgewinnung in Betracht kommenden Rohstoffen dieser Art spielen Obstkerne eine bedeutende Rolle.45 Die Aussage
stützte sich auf die ca. vier Millionen Kilogramm Obstkerne, die 1916 im gesamten
Deutschen Reich angeblich gesammelt werden konnten.46 Aus diesen Kernen sollen
wiederum ca. 190.000 Kilogramm Öl zur Margarineerzeugung gepresst worden sein.47
Zur Sammlung 1916 wurden hauptsächlich Frauen-Vereine herangezogen, ab 1917
sollten Schulen und Hausfrauen durch Plakatwerbung zur Mithilfe animiert werden.48
Wie bei der Weiterverarbeitung der Getreidekeime wurden die Kerne nicht kreisintern
verarbeitet, sondern an einer Zentralstelle, nämlich bei der Firma „Otto Karl Boehme,
Cassel, Hohenzollernstr. 52“, die in der preußischen Provinz Hessen-Nassau für den
Regierungsbezirk Kassel zuständig war.49
Seit 1916 konnten in Marburg nicht mehr alle Bewohner ausreichend mit Fett versorgt werden, der den allgemeinen Mangel begleitende Hunger hatte die Stadt spätestens
in diesem Jahr erreicht: „Eilt sehr! Eine gleichmäßige Versorgung der Bevölkerung mit
Speisefetten ist bisher nicht möglich gewesen, da es an einer durchgreifenden Organisation, welche die knappen Vorräte ausgleichend verteilt, fehlt. So können nur 90 g Streichfett pro Person und Woche verteilt werden.“50 Zusätzlich erzeugtes pflanzliches Fett
wurde auch für die Lazarette im Stadtgebiet gebraucht: Infolge des allgemeinen Fettmangels sind wir zu unserem Bedauern nicht in der Lage, den Verwundeten im Lazarett Tabor und zu Wehrda die erforderlichen Mengen an Fett zukommen zu lassen.51 Der Mangel an pflanzlichen Fetten gestaltete sich derart dramatisch, dass die städtischen Marburger Waldarbeiter noch Ende 1916 damit beginnen mussten Fichtensamen zu sammeln
und zu reinigen und an den „Kriegsausschuß für Öle und Fette“ zu senden.52 Andere
Kommunen im näheren Marburger Umland standen in dieser Zeit gar vor der Aufgabe
––––––––––
43 Ebd. Schreiben des Kriegsausschuß für Oele und Fette an das Königliche Landratsamt Marburg
vom 2.2.1917.
44 Vgl.: Rudolph STRAß: Das Problem der künstlichen Herstellung von Nahrungsstoffen, in: Die
Gartenlaube, Nr. 19, 1917.
45 StA MR, Bestand Marburg, Nr. 720, Rundschreiben des Preußischen Staatskommissars für
Volksernährung an die Herren Regierungs-Präsidenten vom 18.5.1917.
46 Ebd.
47 Ebd.
48 Ebd. Rundschreiben des Preußischen Staatskommissars für Volksernährung an die Herren Regierungspräsidenten und die staatliche Verteilungsstelle Berlin vom 25.7.1917.
49 Ebd. Auflistung sämtlicher Zentral-Sammelstellen und Oelfabriken für die Annahme von
Obstkernen von 1917.
50 Ebd. Brief des Ministeriums des Innern an die Herren Oberpräsidenten vom 28.6.1916. Vgl.
Anmerkung 32.
51 Ebd. Schreiben des Diakonissen-Mutterhauses Hebron an das Königliche Landratsamt vom
27.3.1916.
52 StA MR, Bestand 330 Marburg C, Nr. 776, Brief des Ministeriums für Landwirtschaft, Domänen
und Forsten an sämtliche königlichen Regierungen vom 22.12.1916.
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Plünderungen zu verhindern oder zu ahnden, die Menschen suchten ihre Situation durch
illegales Beschaffen zu verbessern. Aus Biedenkopf etwa sind größere Plünderungsaktionen überliefert: Besonders „geringe Leute versuchen zumeist aus Not“ 53 illegal Fette zu
erwerben, so durch die Plünderung von Nussbäumen.54 Am 12.7.1916 folgte eine Anweisung seitens des Ministeriums für Landwirtschaft, Domänen und Forsten, aus der ersichtlich wird, dass auch in Zukunft mit einer Lösung des Fettproblems ohne die Erschließung
neuer Ressourcen nicht gerechnet werden konnte: „Der bestehende Mangel an Fetten und
Ölen macht es erforderlich, alle für eine nachhaltige Behebung desselben sich eignende
Quellen so vollkommen als möglich zu erschließen.“55
Abb. 1: Plakat, Farblithografie von Julius Gipkens, bei
Hollerbaum & Schmidt, Berlin um 1917, Blattgröße 87,5 x 57,5 cm, Privatbesitz
––––––––––
53 Ebd. Bericht der 11. Gendarmerie-Brigade Casseler Offizier-Distrikt an den Landrat in Biedenkopf vom 30.7.1916.
54 Ebd. Brief des Ministeriums des Innern an die Herren Regierungspräsidenten und Polizeipräsidenten vom 27.6.1916.
55 Ebd. Anschreiben des Ministeriums für Landwirtschaft, Domänen und Forsten an sämtliche
Königliche Regierungen vom 12.7.1916.
Ernährung in der Krise
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Abb. 2: Plakat, Farblithografie von Julius Gipkens, bei
Hollerbaum & Schmidt, Berlin um 1916, Blattgröße 69,5 x 47,0 cm, Privatbesitz
Exkurs: Missmanagement schürt den Mangel. Ein Beispiel von 1916
Versorgungsengpässe in der Zivilbevölkerung Marburgs traten nicht nur wegen des
tatsächlichen Fehlens von Nahrungsmittel auf, sondern auch wegen Verwaltungsfehlern seitens der zuständigen Kommunalbehörden. Im September 1916 konnte die Stadt
Marburg von der „Einkaufsstelle für den Regierungsbezirk Cassel“ kein Speiseöl beziehen, weil seitens des Landratsamts Marburg keine leeren Fässer zur Befüllung mit
der entsprechenden Anfrage nach Kassel geschickt wurden.56 Bis zum 16.9.1916 sandte
––––––––––
56 Ebd. Brief der Einkaufsstelle für den Regierungsbezirk Cassel an das Königliche Landratsamt
Marburg vom 6.9.1916.
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das Landratsamt Marburg die Fässer zwar nach Kassel und deren Ankunft wurde dort
auch tatsächlich quittiert.57 Doch erhielt das Landratsamt bereits am 23.9. eine Mitteilung von der Einkaufsstelle, dass mittlerweile kein Speiseöl mehr verfügbar sei.58 Zu
solchen ‚Pannen’ kamen vielfach noch Betrügereien von Ersatzmittelherstellern aufgrund fehlender Kontrollinstanzen59: Der Herr Minister des Innern warnt in Nr. 15 des
Ministerialblatts für Medizinal- Angelegenheiten von 12. d. Mts. – Seite 129 – unter
dem 4. d. Mts. vor Erzeugnissen, die neuerdings als Salatöl – Ersatz öffentlich angekündigt und angepriesen werden. Ihre Untersuchung hat ergeben, dass es sich dabei im
Wesentlichen um Wasser handelt, welches durch Zusatz von Pflanzenschleim ölähnlich
dickflüssig gemacht und gefärbt wurde. Diese Stoffe können Salatöl nicht ersetzen und
dürfen nicht als ‘Salatöl – Ersatz’ feilgeboten werden.60
Tierische Fette
Im Krieg änderte sich der generelle Verzehr von Fleischprodukten dahingehend, dass
im Gegensatz zur Vorkriegszeit fettes Fleisch von der Bevölkerung bevorzugt verlangt
wurde. Damit sollte anderweitig fehlendes tierisches Fett, etwa Milchfett, ersetzt werden. Erste Hinweise zur Ausgabe von Ersatzmitteln für herkömmliche tierische Fettträger finden sich in der Vorlage eines Zeitungsinserats des Magistrats der Stadt Marburg.61 Darin wurde der Verzehr von Klippfisch als billiger, aber in jeder Hinsicht
gleichwertiger Ersatz für Fleisch beworben. Mit dem Inserat sollten hauptsächlich so
genannte „Minderbemittelte“ angesprochen werden. Klippfischfleischmasse bestand
allerdings aus zwei Dritteln Fischbestandteilen und einem Drittel Fleischbestandteilen,
faktisch aus Resten und Abfällen, deren propagierter Nährwert euphemistisch eher als
theoretisch denn tatsächlich einzuschätzen ist. Demnach war die Abgabe von Klippfischfleisch anstatt fetten Fleisches an bedürftige Marburger nicht unbedingt ein Anzeichen dafür, dass deren Fettmangel gemindert worden wäre oder werden sollte.62 Es
existieren auch archivalische Hinweise, die eine direkte Benachteiligung von „minderbemittelten“ Bevölkerungskreisen beim Verkauf von fetthaltigen Produkten, beispielsweise Quark oder Butter, nahe legen. 63
Die angespannte Situation in den Marburger Kliniken im Hinblick auf die Versorgung mit pflanzlichen Fetten habe ich schon im vorherigen Absatz erwähnt. Da die
ersatzweise Abgabe von pflanzlichen Fetten tierisches Fett ersetzen sollte, ist davon
––––––––––
57 Ebd. Nr. A 962, Brief der Einkaufsstelle für den Regierungsbezirk Cassel an das Königliche
Landratsamt Marburg mit der Eingangsbestätigung der Fässer vom 16.9.1916.
58 Ebd., Brief der Einkaufsstelle für den Regierungsbezirk Cassel an den Kreis Marburg-KornhausVerwaltung vom 23.9.1916.
59 Vgl.: ROERKOHL: Hungerblockade und Heimatfront (wie Anm. 13), S. 210 f.
60 StA MR, Bestand 180 Marburg, Nr. A 962, Schreiben des Regierungs-Präsidenten in Cassel an
die Polizeipräsidenten vom 26.4.1916.
61 StA MR, Bestand 330 Marburg C, Nr. 803, Vorlage einer Anzeige des Magistrats vom 5.8.1915.
62 Vgl.: August ERTHELLER, Robert PLOH: Das Sammelwesen in der Kriegswirtschaft, in: Beiträge
zur Kriegswirtschaft 65, Berlin 1919, S. 2 f.
63 StA MR, Bestand 330 Marburg C, Nr. 1153, Protokoll des Erscheinens des Stadtverordneten
Stumpf vor dem Kriegswirtschaftlichen Ausschuß vom 24.7.1917.
Ernährung in der Krise
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auszugehen, dass in den Kliniken und Lazaretten auch ein Mangel an tierischem Fett
bestanden haben muss.64
Um in den Besitz von fettem Fleisch abseits der staatlichen und städtischen Kanäle
zu gelangen, versuchten viele darin unerfahrene Marburger selbst die Zucht von verzehrbaren Tieren, die fettes Fleisch produzieren konnten. In erster Linie dürften dies
aus Platzgründen Kaninchen, aber auch Hühner, Schweine, Tauben und Ziegen gewesen sein. So findet sich in den Akten des Marburger Staatsarchivs der Bauplan einer
Kaninchenzuchtanlage an der Lahnböschung im Bereich des Biegenviertels zur Förderung der Zucht.65 Noch 1916 reagierten die Reichsbehörden auf ertragreiche Initiativen
wie diese, indem unter anderem der Handel mit Kaninchenfleisch verboten wurde;
lediglich der Eigenverbrauch war gestattet.66 Die Zuchterfolge in der ‚Haustierhaltung’
reichten allerdings bei weitem nicht aus, um die bestehende ‚Fettlücke’ zu schließen.
1917 wurde deshalb auch in Marburg damit begonnen in Abfällen und Abwässern
gründlich nach möglichen Fettquellen zu suchen.67 Diese Aktivitäten scheinen jedoch
nicht sonderlich ergiebig verlaufen zu sein, denn die Knochensammlung in Marburg
zur Fettgewinnung ist nicht möglich, da erfahrungsgemäß Knochen sowieso schon so
ausgiebig wie nur möglich verbraucht werden.68 Zu diesen Problemen gesellte sich
noch behördliches Unvermögen beim Einkauf und der Lagerung von fetthaltigen Produkten tierischen Ursprungs. Im Keller der ehemaligen Oberrealschule wurden große
Mengen an Fleischbüchsen als dauerhafte Ware69 so unsachgemäß eingelagert, dass
alle Konserven rasch verdarben.70 Ein anderer Versuch, bisher nicht genutzte Fettressourcen zu mobilisieren, stellte die Absicht aus Spül- und Abwässern verzehrbares Fett
zu gewinnen dar: Zum Zwecke der Behebung der herrschenden Fettknappheit ist der
Kriegsausschuß dazu übergegangen, die Fettrückgewinnung aus Spülwässern in großem Umfange in ganz Deutschland zu organisieren. Aus den Spülwässern werden Olein, Glycerin und Stearin [...] hergestellt.71 Jedenfalls schrieb der Marburger Magistrat
an den Landrat am 5.12.1917 wegen des mangelnden Erfolgs des Einsatzes der „Fettfänger“: In Marburg befinden sich 30 Fettfänger. Nach Angaben der Besitzer soll die
Menge des aufgefangenen Fettes sehr gering sein und nur aus einer fettigen, stinken––––––––––
64 StA MR, Bestand 330 Marburg C, Nr. 750, Protokoll einer Besprechung der wirtschaftlichen
Situation der Kliniken in Marburg bezüglich der Einführung von „Butter-Ersatzkarten“ vom
27.9.1916, auch: ebd., Beschluss des Kriegsfinanz-Ausschuß über die monatliche Prüfung der
Butterbücher vom 24.5.1917.
65 StA MR, Bestand 180 Marburg, Nr. A 962, Konstruktionsplan zum Bau einer Kaninchenzuchtanlage durch die 4. Ersatz-Kompanie des Ersatz-Bataillons Nr. II vom 8.7.1916.
66 Ebd. Rundschreiben des Ministeriums für Landwirtschaft, Domänen und Forsten an sämtliche
Herren Regierungs-Präsidenten vom 2.12.1916.
67 Ebd. Schreiben der Einkaufsstelle für den Regierungsbezirk Cassel an das Königliche Landratsamt in Marburg bezüglich der Sammlung von Heringsköpfen zur Fettgewinnung vom
13.2.1917.
68 Ebd. Schreiben des Magistrats an den Herrn Königlichen Landrat vom 17.3.1917.
69 Ebd. Protokoll der Magistratssitzung vom 3.8.1917.
70 Ebd.
71 StA MR, Bestand 180 Marburg, Nr. A 962, Schreiben des Kriegsausschusses für pflanzliche und
tierische Oele und Fette an die Herren Regierungspräsidenten des Regierungsbezirks Cassel vom
15.9.1917.
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Thomas Schindler
den Masse bestehen, welche von den Besitzern weggeworfen wird. Im Schlachthof soll
monatlich 6 Pfund Fett aufgefangen worden sein, welches mit dem Fett der Metzger an
die Fettstelle in Cassel abgegeben wird.72 1917 sollen allerdings ca. zwölftausend Apparate, so genannte „Fettfängen“73 oder „Fettfänger“74 reichsweit installiert gewesen
sein.
Die Rolle der Kartoffelknolle
Vor dem Krieg war die Kartoffel ein wenig geschätztes und zunehmend weniger verzehrtes Gemüse.75 Dagegen stieg die tägliche Verbrauchsmenge an Kartoffeln von 1914 bis
1918 mangels anderer Kalorienquellen in allen Bevölkerungsschichten stetig an, so bei
der Ersatzbrotherstellung76: „Kartoffeln wurden gleich zu Beginn des Krieges für die
Brotherstreckung [...] in Anspruch genommen.“77 Abgesehen von der Verwendung im
Rahmen der Brotstreckung wurde die Kartoffel ernährungstechnisch ab 1915 „Mädchen
für Alles“78: Eßt Kriegsbrot; es ist durch den Buchstaben K kenntlich. Es sättigt und
nährt ebenso gut wie anderes. Wenn alle es essen, brauchen wir nicht in Sorge zu sein,
ob wir immer Brot haben werden.79 So wenig zutreffend die inhaltliche Aussage dieses
Aufrufs war, so verweist er doch auf die Bedeutung des Brots als Grundnahrungsmittel,
dessen Bereitstellung auch psychologische Auswirkungen auf die Stimmung der Bevölkerung haben konnte.80 Vermutlich aus propagandistischen Gründen wurde darauf verzichtet, die tatsächliche Zusammensetzung des K-Brots öffentlich zu machen, denn das
Kriegsbrot verfügte entgegen der offiziellen Darstellung über einen erheblich geringeren
Nährwert als das reguläre Brot. Neben einem hohen Kartoffel- oder Kartoffelsurrogatanteil bestand das Kriegsbrot aus viel Wasser und kalorienarmen Getreideausdruschprodukten, also ein Sättigungsgefühl vortäuschenden Ballaststoffen.81 Das so genannte ‚K-Brot’
wurde in großem Umfang in Marburg spätestens ab der zweiten Jahreshälfte des Jahres
––––––––––
72 StA MR, Bestand 180 Marburg, Nr. A 962, Schreiben des Magistrats an den Herrn Königlichen
Landrat vom 5.12.1917.
73 Vgl.: RIEBEL: Die Versorgung Deutschlands (wie Anm. 24), S. 37.
74 Ebd.
75 Martha FRANCK: Die Kartoffel in der deutschen Volkswirtschaft, Berlin 1918, S. 249.
76 Ebd.
77 Willy WYGODZINSKI: Der Weltkrieg in seiner Auswirkung auf das deutsche Volk, Leipzig 1918,
S. 214.
78 FRANCK: Die Kartoffel (wie Anm. 75), S. 250, auch: StA MR, Bestand 330 Marburg C, Nr. 795,
Schreiben der Trockenkartoffel-Verwertungs-GmbH an den Magistrat, betreffs Versorgung mit
Kartoffelfabrikaten zur Brotbereitung vom 9.11.1915.
79 StA MR, Bestand 330 Marburg C, Nr. 758, Aufruf vom Juni 1915.
80 Vgl.: H. STABTHAGEN: Ersatzlebensmittel in der Kriegswirtschaft, in: Beiträge zur Kriegswirtschaft 56/57/58, Berlin 1918, S. 1 f.
81 Vgl.: StA MR, Bestand 330 Marburg C, Nr. 795, Schreiben der Trockenkartoffel-VerwertungsGmbH an den Magistrat bezüglich der Verfügbarkeit von Kartoffelfabrikaten vom 20.12.1915.
Auch: Ebd., Schreiben der Trockenkartoffel-Verwertungs-GmbH an den Magistrat vom
20.12.1915: Es liegt im dringenden Interesse unserer Volksernährung, nach Möglichkeit die frischen ungetrockneten Kartoffel zu einem Anteil von 10 % ins Brot zu Backen, da der Wasseranteil höher liegt. Ebd., Schreiben des Direktoriums der Reichsgetreidestelle an sämtliche Kommunalverbände vom 16.12.1916.
Ernährung in der Krise
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1915 hergestellt, was umfangreiche Kartoffelstärkemehllieferungen an die entsprechenden Backbetriebe belegen.82 Da große Mengen an Brotgetreide ersetzt werden mussten
und die Ernten 1915/1916/1917 reichsweit nicht gut ausfielen, verschärfte sich letztlich
auch die Versorgung mit Rohstoffen zur K-Brotherstellung wegen des hohen Bedarfs. So
war es schon Anfang 1916 in Marburg zeitweise nicht einmal mehr möglich K-Brot zu
backen, weil keine Kartoffeln oder Kartoffelbestandteile mehr beschafft werden konnten.83 Dieser Zustand war allerdings nicht kalkulierbar, da sich die Beschaffungssituation
von Tag zu Tag ändern konnte.84 Im Dezember 1916 verschärfte sich die Versorgung mit
K-Brot noch dahingehend, dass sowohl die Kartoffelernte, als auch die Weizenernte
unterdurchschnittlich ausfielen: Wegen des ungünstigen Ausfalls der diesjährigen Kartoffelernte ist die Reichsgetreidestelle nicht in der Lage, den Bedarfs-Kommunalverbänden
weiterhin Frischkartoffeln zur Brotstreckung zu überweisen. Aus demselben Grunde ist
die Trockenkartoffel-Verwertungsgesellschaft zu Berlin genötigt die bisher schon stark
eingeschränkte Lieferung von Trockenkartoffelerzeugnissen (Kartoffelmehl usw.) als
Brotstreckungsmittel an die Kommunalverbände vom 1.1.1917 ab ganz einzustellen.
Bisher hat die Reichsgetreidestelle als Ersatz für fehlende Frischkartoffeln oder Trockenkartoffelerzeugnisse den Kommunalverbänden zur Brotstreckung Weizenschrot zur Verfügung gestellt. Bei der gegenwärtigen Knappheit ihrer Bestände an Brotgetreide ist die
Geschäftsleitung der Reichsgetreidestelle aber auch nicht mehr imstande, weiterhin Weizenschrot als Streckungsmittel zu liefern. Im Einvernehmen mit dem Kriegsernährungsamt soll daher vom 1.1.1917 ab die Brotstreckung mit Gerstenmehl erfolgen.85 Schlechte
Ernten ließen demnach sogar die Ersatzmittel knapp werden und eine Konsequenz hieraus war, dass Ersatzmittel für die Ersatzmittel gesucht werden mussten. Obiges Schreiben
verweist zwar auf den Versuch, Gerstenmehl als Ersatz für die Kartoffelbestandteile im
Brot zu beschaffen. Da die Gerstevorräte aber ebenfalls schon längst nicht mehr frei verfügbar waren, schied diese Möglichkeit aus. Gerstelieferungen nach Marburg scheiterten
analog dazu bereits Ende 1916, weil sie nicht langfristig in die Beschaffungspläne eingearbeitet waren.86 So wechselhaft die Beschaffung von Brotgetreide und Brotgetreideersatzstoffen ab dem Jahr 1915 war, so unsicher blieb die Situation bis 1918. Bestellungen
konnten oft genug nicht oder nur teilweise bedient werden.87
Vegetabilische Ernährung
War die Ernährung der Bevölkerung vor dem Krieg zu einem großen Teil durch den
Verzehr von tierischen Produkten bestimmt, so wurde sie im Verlauf des Kriegs faktisch
––––––––––
82 Ebd. Rechnung des Ausschusses zur Regelung des Verbrauchs von Brotgetreide und Mehl zu
Marburg-Lahn über die Lieferung von 9.000 kg Kartoffelstärkemehl vom 23.9.1915.
83 Ebd. Schreiben der Trockenkartoffel-Verwertungs-GmbH an den Magistrat vom 21.1.1916.
84 Ebd. Notiz der Kriegskredit-Kommission vom 29.11.1916.
85 Ebd. Schreiben des Direktoriums der Reichsgetreidestelle an sämtliche Kommunal-Verbände
vom 16.12.1916.
86 Ebd. Schreiben der Einkaufsstelle für den Regierungsbezirk Cassel an den Magistrat vom
23.12.1916.
87 Vgl. ebd., Schreiben der Trockenkartoffel-Verwertungs-GmbH an den Magistrat vom 7.1.1918,
auch: ebd., Schreiben der Trockenkartoffel-Verwertungs-GmbH an den Magistrat vom
25.1.1918.
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Thomas Schindler
zu einer jahreszeitlich-vegetabilischen, die auch flexibel auf mangelnde Zuteilungen von
Lebensmitteln seitens der Behörden reagieren können musste.88 In der Mangelzeit des
Kriegs galt es deshalb zunächst, nicht vorhandene Kenntnisse in Bezug auf eine jahreszeitlich angepasste Küche zu vermitteln.89 Um die Ausnutzung aller nur erdenklichen
Ressourcen bei der Essenszubereitung zu erreichen, wurden Kurse zu den Themen Fettersparnis, Hülsenfrüchte als Nahrungsmittel, Einsatz der Kochkiste, ... usw. angeboten.90
Aber auch Lehrgärten, so auch im Frankfurter Palmgarten, in denen gezeigt wurde, welche Pflanzen wann und wie angebaut werden mussten, entstanden ab 1915-1916.91
Als besonders ergiebige Ressource wurden die häuslichen Küchenabfälle ausgemacht: „Wer die Kartoffel erst schält und dann kocht, vergeudet viel. Kocht darum die
Kartoffel in der Schale. Ihr spart dadurch Abfälle von Kartoffeln, Fleisch, Gemüse, die
ihr nicht verwerten könnt.“92 Im Rahmen der Volksbildung wurde auch zu außerschulischen Sammelaktionen im Spätsommer und Herbst, beispielsweise der nach Pilzen,
aufgerufen: Für die ausgiebige, nicht bloß auf wenige Arten beschränkte Verwendung
der Pilze für die Volksernährung ist es von wesentlicher Bedeutung, Sicherheit im
Unterscheiden der großen Zahl eßbarer Pilze von den giftigen möglichst weit zu
verbreiten.93 Wie schwierig die Ausbeutung einzelner Ersatzmittelressourcen durch die
Bevölkerung war, mag dieses Schreiben nur andeuten. – Einerseits war es wichtig Pilze
zu sammeln, andererseits hatten diejenigen, die die Sammlungen durchführen sollten,
meist nur unzureichende Kenntnisse über das zu sammelnde Gemüse.94 Die Nachfrage
nach Pilzen war 1916 trotzdem so groß, dass die Ernte 1917 bereits durch die Ausgabe
von „Beeren- und Pilzzetteln“95, also amtlichen Zulassungen zum Sammeln, kontingentiert werden musste.96 Neben den Gemüsen, die privat gesammelt und verwertet werden konnten, spielten die über Lebensmittelkarten erwerbbaren Ersatzmittel eine große
Rolle in der täglichen Ernährung: „Hinsichtlich der Verteilung derjenigen Waren, die
von der Stadt eingekauft und gegen Abgabe von Karten an den Verbraucher weitergegeben werden, es handelt sich zur Zeit um Gries, Graupen, Hülsenfrüchte, Teigwaren,
––––––––––
88 StA MR, Bestand 330 Marburg C, Nr. 750, Rundschreiben der ZEG an sämtliche Abnehmer vom
6.12.1915: „Vom 24. bis 31.12.1915 können keine Bestellungen wegen Arbeitüberlastung bearbeitet werden.“ Auch: Herrmann SCHUMACHER: Krieg und Volksernährung, in: KöniglichPreußisches Landesgewerbeamt (Hg.): Staatsbürgerliche Belehrungen in der Kriegszeit. Berlin
1915, S. 71-100, hier: S. 82-84.
89 StA MR, Bestand 330 Marburg C, Nr. 1072, Werbung für hauswirtschaftliche Kurse des Nationalen Frauendiensts in Marburg vom 15.5.-13.10.1915.
90 Ebd. Werbung des Nationalen Frauendiensts für Kriegskochkurse vom 21.1.1916.
91 Vgl.: Otto Ernst SUTTER: Vom Frankfurter Palmgarten zur Kriegszeit, in: Die Gartenlaube, Nr.
13, 1916.
92 StA MR, Bestand 330 Marburg C, Nr. 758, Aufruf vom Juni 1915.
93 Ebd. Schreiben des Ministers für geistliche und Unterrichtsangelegenheiten an die Königlichen
Regierungen, Provinzialschulkollegien und Herren Regierungspräsidenten vom 17.6.1916.
94 Vgl. Martha DE HAAS: Das Trocknen von Gemüse, Obst und Pilzen, in: Die Gartenlaube, Nr. 20,
1917.
95 StA MR, Bestand 330 Marburg C, Nr. 776, Schreiben des Ministeriums für Landwirtschaft,
Domänen und Forsten an sämtliche Herren Regierungspräsidenten vom 6.6.1917.
96 Ebd.
Ernährung in der Krise
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Marmelade, Zucker, Hafer und Hefefabrikate [...].“97 Auffällig an dieser Auflistung ist
das Fehlen bestimmter Lebensmittel. Sie verdeutlicht eindringlich den ab 1916 enger
werdenden Nahrungsmittelhorizont der Verbraucher. Weder frisches, noch eiweißoder fetthaltiges Gemüse oder Obst, noch Fleisch oder Fisch ist in der Aufzählung
erwähnt. Es handelt sich vielmehr um Basisbestandteile von Lebensmitteln, deren Konservierung leicht möglich war.98 Überhaupt war ein Hauptmerkmal des über Karten
Beziehbaren dessen mittelfristige Haltbarkeit, was eine Rationierung des Vorhandenen
im Privathaushalt einfacher zu machen versprach. Auch zahllose Kurse und Vorführungen von Dörrapparaten für Wurzeln, Möhren, Oberkohlraben, Wirsing, Spinat,
Zwetschen, Birnen, Äpfel, Pilze, Fallobst [...]99 sollten dafür sorgen, dass durch die
Haltbarmachung bedeutende Mengen an Nahrungsmitteln etwa Ernteausfälle oder die
per se kärgere Winterzeit überlebt werden konnte. Offenbar gelang es aber auch auf
dem Gemüsesektor nicht, die Versorgung der Bevölkerung mit Ersatzmitteln behördlicherseits befriedigend zu organisieren, denn bei der Verteilung von Brotaufstrichmitteln und Gemüsekonserven, woraus bekanntermaßen noch in der letzten Zeit erhebliche
Mengen in den Besitz von Einzelpersonen gelangen konnten, erscheint folgendes Vorgehen besonders empfehlenswert. Die zu unterzeichnende Erklärung würde zu lauten
haben: ‚Ich gebe hiermit die Versicherung ab, dass ich nicht im Besitz von mehr als ...
Pfund Brotaufstrichmitteln/ Marmelade/ Kunsthonig/Rübensaft bin’.100 Um auch nur
den geringsten Schwund an nutzbaren Pflanzen zu verhindern, musste mit der Zeit
sogar der Naturkundeunterricht angepasst werden101: „Wir erlauben uns die ergebenste
Bitte auszusprechen, in diesem Jahre möglichst davon abzusehen, dass die Schülerinnen und Schüler der Schulen zu dem Naturkundeunterricht Pflanzen mitbringen sollen.
Unsere Bitte geht aus dem Wunsch hervor, dass Wiesen und Äcker in jeder Beziehung
in diesem Jahr nicht betreten werden dürfen.“102 Bis 1918 wurden insgesamt 164 unterschiedliche Pflanzenarten, wildwachsende Kräuter und Sämereien wie Ackersenf oder
Schachtelhalm, Beeren-, Strauch- und Baumfrüchte wie beispielsweise Wildäpfel und
Waldpflanzen wie Pilze systematisch zu sammeln und zu verarbeiten versucht.103 Dabei wurde großer Wert auf die Möglichkeit der vollständigen Nutzung der Pflanzen
gelegt. Ein Beispiel hierfür stellt die Brennnessel dar. Ihre Blätter konnten als Viehfutter verwendet werden, wegen des Eiweißgehalts der Blätter aber auch als Frischgemüse
Salaten beigefügt werden, die Blätter als Tee ausgekocht werden und die Stiele waren
––––––––––
97 StA MR, Bestand 330 Marburg C, Nr. 750, Schreiben des Einkaufvereins der Kolonialwarenhändler GmbH an die Oberhessische Zeitung vom 23.12.1916.
98 StA MR, Bestand 330 Marburg C, Nr. 1153, Merkblatt über die Verwendung des Einmachzuckers im Haushalt (hg. vom Frauenbeirat des Kriegsernährungsamts) vom 28.5.1917.
99 StA MR, Bestand 180 Landratsamt Marburg 1821-1951, Nr. 720, Anschreiben des Königlichen
Landrats in Marburg durch Dr. Arthur Dieseldorff vom 28.4.1917.
100 StA MR, Bestand 330 Marburg C, Nr. 750, Schreiben vom Präsidenten des Kriegsernährungsamts an die Gemeindeverwaltungen vom 25.1.1917.
101 Vgl. BRIEFS u. a.: Die Hauswirtschaft (wie Anm. 26), S. 31.
102 StA MR, Bestand 330 Marburg C, Nr. 776, Brief des Bürgermeisters der Stadt Marburg an die
Herren Direktoren und Rektoren der hiesigen Schulen vom 7.6.1915.
103 StA MR, Bestand 330 Marburg C, Nr. 776, Blanko-Lieferungsvertrag von „Wildfrucht“, eingetragener Genossenschaft mbH Berlin vom 2.6.1918.
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Thomas Schindler
wichtige Fasergrundstoffe in der Bekleidungsindustrie.104 Anhand der Brennnesselsammlungen wird aber auch deutlich, wie schwierig sich die Versorgungslage des
Deutschen Reichs im Jahr 1918 mittlerweile gestaltete. Schulkinder hatten längst gezwungener Maßen die Nesselsammlungen zu erledigen: „Mit Handkarren und Blockwagen muß die Schuljugend unter Führung und Aufsicht der Lehrer ausziehen und
Nesseln einbringen, was der Wagen nur tragen und der Mensch nur schleppen kann.
Kriegspflicht ist es, dass jedes Schulkind bis Schluß der Ernte 1 Zentner trockener
Stengel eingebracht hat. Möglich ist diese Leistung durchaus! […] Feige und jämmerlich ist es, sich vor Brennesseln zu fürchten. Gewiß juckt es an Fingern und Beinen,
wenn man sich in die Nesseln setzt. Aber erinnert an den Soldaten im Schützengraben
und auf der Patrouille, am Geschütz und beim Sturmangriff, an den Flieger in der Luft
und an den U-Boots-Matrosen im Meer […] Also keine Ausrede!“105 Die erzwungene
Ersatzmittelbeschaffung durch Schüler wurde hier als patriotische Pflicht mit dem unmittelbaren Kampfeinsatz an der Front gleichgesetzt.106
Ersatzmittel für Genussmittel
Die Versorgung der Bevölkerung mit Ersatzstoffen für Genussmittel wie Kaffee, Tabak
und Tee war nicht weniger wichtig, als die mit Grundnahrungsmitteln. Denn die Regierung glaubte, dass von der Verfügbarkeit an Genussmitteln die Stimmung und Arbeitsmoral der Zivilbevölkerung in entscheidendem Maße abhängen würde. Deshalb
wurden Kaffee, Tee und Tabak in großem Umfang ebenfalls aus Ersatzmitteln, wie
Getreide oder Pflanzenfrüchten und -blättern, hergestellt. In Marburg wurde Malzkaffee schon unmittelbar nach dem Kriegsausbruch knapp, da die angeblich zu gering
angesetzten Höchstpreise, in der Realität eben oft Mindestpreise, durch den Magistrat
nicht die Kosten der Rohstoffe, überwiegend Gerste, der Herstellung und Anlieferung
deckten.107 Da sich Gerste zur günstigen Kaffeeherstellung in der Folgezeit nicht mehr
ohne weiteres beschaffen ließ, begannen groß angelegte Sammlungen von heimischen
Pflanzenblättern und Früchten, die sich zur Kaffee- und Teeherstellung eigneten: Mit
unserem und dem Einverständnis der Regierungs – Forstabteilung hier wird dieser
Tage der Magistrat in Cassel und zwar durch die ‘Hessische Schulzeitung’ unmittelbar
an die Schulleiter, Lehrer und Lehrerinnen des Bezirks die Aufforderung richten, dass
sie und unter ihrer Aufsicht Schulkinder, wo Gelegenheit ist, schleunigst junge Blätter
von Brombeeren, Erdbeeren, Heidel- (Blau-) Beeren, Himbeeren, wildwachsende Minzarten und Waldmeister (Maikraut), von dem letzten aber nur bis zur Blütezeit, getrennt
nach Arten sammeln, ebenso in geeigneter Weise trocken und getrocknet an die Ab––––––––––
104 Vgl.: StA MR, Bestand 180 Marburg, Nr. 977, Rundschreiben der Nessel-Anbau-GmbH vom
April 1918, auch ebd. Großes Merkblatt für das Einsammeln und Trocknen der Brennesseln der
Nessel-Verwertungs-GmbH vom April 1918.
105 Ebd. Vortrag zur Verfügung der Herren Vertrauensleute der Nessel-Anbau-GmbH vom April
1918.
106 Vgl.: Richard SCHMIDT: Die Grundlinien des deutschen Staatswesens. Leipzig 1919.
107 StA MR, Bestand 330 Marburg C, Nr. 761, Schreiben von Kaiser’s Kaffeegeschäft GmbH, Köln,
an den Magistrat der Stadt Marburg, auch ebd., Schreiben der Norddeutschen Chocoladenhaus
GmbH an den Magistrat der Stadt Marburg vom 5.10.1914.
Ernährung in der Krise
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nahmestelle ‚Fa. Schneider und Gottfried, Orleansstrasse 49 in Cassel’ oder in Marburg eine vom Magistrat bezeichnete Stelle frachtfrei senden möchten.108 Der Magistrat
scheint offenbar ein so großes Interesse an den Ersatzstoffen zur Kaffee- und Teeproduktion, dass er forderte, dass eine bevorzugt große Menge des gesammelten Blattwerks in Marburg verbleiben sollte, zumindest aber ein festes Kontingent an Ersatzkaffee und ebenso -tee nach Marburg gesandt werden musste.109 Aber auch andere Früchte, so der Weißdorn, wurden für bestimmte Zwecke der Volksernährung, der Kaffeeund Teeherstellung, nutzbar gemacht.110 Wichtig wurde die Sammlung von Weißdorn
im Jahr 1917 anscheinend wegen der schlechten Getreide-, besonders der Gerstenernte111: Die Früchte des Weißdorns sind bisher im allgemeinen nicht gesammelt und verwertet worden, sondern verkommen. Im dringenden öffentlichen Interesse liegt es, dass
sie in diesem Jahre in möglichst weitem Umfange für die Gesellschaft gesammelt und
zur Gewinnung von Kaffeeersatz nutzbar gemacht werden. Denn die Menge an Kaffeeersatzmitteln, die aus den Früchten des Weißdorns hergestellt wird, kommt in Anrechnung auf die aus Gerste und Brotgetreide herzustellende Menge an Kaffeeersatz [...]
Die Gesellschaft rechnet bei einem guten Ergebnis der Sammlung mit mindestens etwa
10000t Früchten.112 Seit 1917 bis zum Kriegsende blieb die Versorgung der Marburger
Einzelhändler (und damit auch der Endverbraucher) mit Genussmittelersatzstoffen zum
Weiterverkauf unzureichend, jedenfalls finden sich etliche Bitten von Händlern um
künftige Berücksichtigung bei den Kontingentierungen, durch die kommunalen Behörden.
Zusammenfassung und Übersicht
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs ernährten sich die Deutschen in immer stärkerem
Maß von tierischen Produkten, wie Wurst, Fleisch, Eiern oder Milch und hellen
Brotsorten. Die meisten Deutschen lebten in Städten, was bedeutete, dass sie keine
Selbstversorgung betreiben konnten, und sie erhielten ihre Nahrung gegen Bezahlung
auf dem freien Markt. Kurz vor Kriegsbeginn und in der Anfangsphase der Ersten
Weltkriegs änderte sich das Konsumverhalten dahingehend, dass so genannte ‚Hamsterkäufe’, also Einkäufe auf Vorrat, getätigt wurden. 1915 verschlechterte sich die Versorgungslage drastisch. Durch die Einführung der Bezugsscheine, die ‚Brotkarten’,
‚Fleischkarten’, ... etc., lenkte die Reichsregierung das Konsumverhalten in ein Rationierungsverhalten um. Gleichzeitig verstärkte sich die Propaganda des Nationalen
––––––––––
108 StA MR, Bestand 330 Marburg C, Nr. 776, Anweisung der Königlichen Kreisschulinspektion
Cassel an die Kriegsschulinspektoren des Regierungsbezirks Cassel vom 15.5.1916.
109 Ebd. Schreiben des Oberbürgermeisters von Marburg an die Königliche Regierung, Abt. für
Kirchen- und Schulwesen in Cassel vom 24.5.1916.
110 Ebd. Anweisung des Ministers des Innern an die Herren Regierungspräsidenten und den Herrn
Oberpräsidenten von Berlin in Potsdam vom 21.7.1916.
111 Ebd. Brief des Preußischen Staatskommissars für Volksernährung an die Herren Regierungspräsidenten vom 15.8.1917.
112 Ebd. Schreiben des Ministers der geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten an die Königliche
Regierung und das Provinzialschulkollegium vom 16.3.1917.
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Thomas Schindler
Frauendiensts und anderer Institutionen, die zum Nahrungsmittelsparen aufriefen. Um
die kargen über Bezugsscheine erhältlichen Rationen aufzubessern, entwickelten sich
viele Konsumenten zu Teilselbstversorgern. Kaninchenzüchtung und Ziegenhaltung,
Gemüsegärten, Wildkräuter- und Pilzsammlungen wurden sogar staatlicherseits gefördert. Die intensive Suche nach Essbarem führte auch zur Entwicklung von fast 10500
Ersatzlebensmitteln bis 1918.113 Staatliche Fehlplanungen in der Fleischressourcenbewirtschaftung und genereller Rinder- und Schweinefleischmangel führten dazu, dass
verpönte und gemiedene Fleischsorten begehrte Güter wurden. Es erfolgte tendenziell
ein Wechsel der Essgewohnheiten weg vom (ohnehin meist nichtvorhandenen) Fleisch
und anderen Tierprodukten hin zur vegetarischen Kost. Generell wurde aber nicht nur
die Quantität der verfügbaren Nahrung schlechter, sondern auch die Qualität verschlechterte sich gravierend. Ersatzmittel wurden den Lebensmitteln beigemischt um
Nahrungsmittel zu Strecken und damit eine quantitativ höhere Stückzahl oder Menge,
etwa an einzelnen K-Broten, zu erhalten. Seit 1917 traten in Deutschland erstmals
Hungerödeme (= Krankheiten bedingt durch Unterversorgung) auf. Es begann sich
abzuzeichnen, dass die Ernährung der Bevölkerung auf niedrigstem Niveau existenzgefährdend zu werden drohte.
––––––––––
113 LÜDERS: Das unbekannte Heer (wie Anm. 23), S. 75.
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