Obwohl es sie schon in antiker Zeit gegeben haben wird

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Obwohl es sie schon in antiker Zeit gegeben haben wird, stammt die
erste zweifelsfreie Erwähnung der Grippe aus dem Europa des
Jahres 1387. Bis 1492 blieben Pandemien auf den Kontinent ihres
Entstehens begrenzt, so dass die erste wirkliche Grippe-Pandemie im
16. Jahrhundert eintrat, im 18./19. Jahrhundert ereigneten sich bis
zu zehn weitere. Meist begannen sie in Russland oder Mittelasien und
reisten dann zu Land oder per Schiff bis in die entferntesten
Weltgegenden. Die Pandemie von 1833 war besonders schlimm. In
manchen europäischen Städten war die halbe Bevölkerung betroffen,
und sie tötete Zehtausende. Eine Massenpanik blieb aus, weil die
Grippe vor allem Alte und Kranke umbrachte.
Diese Wirkungsweise ist für die Grippe typisch. Obwohl sie
statistisch zu den tödlichsten Krankheiten zählt, ist sie von allen
Seuchen am wenigsten gefürchtet. Sie beginnt mit einem kurzen
Fieberanfall, mit Gliederschmerzen und Erschöpfung, dann folgt eine
Genesungsphase, die von Müdigkeit und Niedergeschlagenheit
gekennzeichnet ist. Die Sterblichkeit, meist durch nachfolgende
Lungenentzündung, beträgt etwa 0,01 Prozent. Weil die Grippe aber
so viele Menschen befällt, ist die Zahl der Todesopfer dennoch oft
gewaltig, und weil der Tod gewöhnlich aus einer Folgekomplikation
der Grippe resultiert, wird die Zahl der Opfer an der Übersteigung
der durchschnittlichen Sterberate abgelesen. In den USA geht die
Zahl selbst in den grippearmen Jahren in die Zehntausende. Die
Grippe ist die einzige Infektionskrankheit, die noch immer in der
Liste der zehn häufigsten Todesursachen rangiert.
Die Oberflächenproteine des Grippevirus machen häufig geringfügige
genetische Veränderungen durch, gelegentlich fallen die
Veränderungen auch gravierender aus. Einige Forscher gehen davon
aus, dass diese stärkeren Veränderungen einem Zyklus von etwa
sechzig Jahren folgen, andere halten dagegen, dass hier der Zufall
regiert. Doch diese Veränderungen führen dazu, dass das Virus vom
menschlichen Immunsystem nicht mehr erkannt wird, also faktisch
auf eine unberührte Bevölkerung trifft. Das war offenbar 1833 und
1889 der Fall, als neue Varianten des Grippevirus aus Russland oder
Asien kamen, Die zweite der beiden Pandemien griff bereits mit der
Geschwindigkeit der Eisenbahnen und Dampfschiffe um sich und
forderte allein in Europa 250.000 Todesopfer. Trotzdem war sie
1918 fast völlig in Vergessenheit geraten, als die sogenannte
Spanische Grippe ausbrach (die wahrscheinlich wieder aus dem Osten
kam). Diese Pandemie war eine der schlimmsten Katastrophen der
Menschheitsgeschichte, und noch heute gibt sie den Virologen Rätsel
auf. Dabei handelt es sich keineswegs nur um akademische Fragen.
Wenn ein solches Virus wiederkommt – und viele Fachleute rechnen
damit -, sind wir kaum besser dagegen geschützt, als es die
Bevölkerung von 1918 war.
Schon bei ihrer ersten Welle im Frühjahr 1918 verhielt sich diese
Grippe anders, als man es gewöhnt war. Statt die Alten und die
Kranken zu treffen, tötete sie vorzugsweise gesunde, junge Männer
und schwangere Frauen. In den Kasernen und Militärlagern fielen die
Soldaten in Fieberdelirien, viele von ihnen starben an
Lungenentzündung. Manche Ärzte glaubten, es handele sich um eine
neue Seuche, und es ging das Gerücht um, die Deutschen hätten mit
der biologischen Kriegführung begonnen. Doch es war nur die Grippe
– heimtückischer, als man sie je zuvor erlebt hatte, und oft begleitet
von Sekundärinfektionen. Mit der zweiten Welle, die im August
folgte, wurde das Virus auf Truppentransportern und
Versorgungsschiffen in alle Welt verbreitet. Überall, sei es in
Südafrika, Sibirien oder Samoa, schlug sie besonders in den Armeen
und unter der jüngeren Bevölkerung zu.
In vielen amerikanischen Städten erkrankte die Hälfte der
Bewohner. Polizei und Feuerwehren versagten; Theater, Schulen,
Büchereien, Kirchen und Spielhallen wurden geschlossen. In
Philadelphia, einer der am schwersten getroffenen Städte, starben
in der zweiten Oktoberwoche 2600 Personen an Grippe und
Lungenentzündung, in der Woche darauf waren es 4500. Die Stadt
New York verlor in einer Woche 9000 Menschen an die Grippe. Ärzte
und Krankenschwestern, die sich während der Pandemie für die
Kranken aufopferten, starben in großer Zahl. Die Einberufungen zum
Militär wurden unterbrochen, Truppentransporter stillgelegt. Es kam
zu Szenen, wie man sie nur von den mittelalterlichen Seuchen kannte:
überfüllte Hospitäler und Leichenhallen, Massengräber und Häuser,
in denen Tote neben Kranken und Sterbenden lagen.
Jeder Versuch, sich vor einer Infektion zu schützen, misslang. Die
Menschen trugen Mullbinden vor dem Gesicht, in manchen Städten
war das sogar vorgeschrieben. Die Wasserspender in den Büros
wurden stündlich mit Lötlampen desinfiziert, Telefone mit Alkohol
abgewischt, das Händeschütteln war verpönt. Man frönte dem
Aberglauben, besann sich auf alte Haumittel, verbrannte Holz, um
den Rauch zu inhalieren, schwefelte die Kleider, ließ sich Zähne
ziehen und Mandeln entfernen. Besseres hatten die Ärzte nicht
vorzuschlagen. Viele glaubten, die Grippe würde von Bakterien
verursacht, die noch heute Haemophilus influenzae heißen. In
Philadelphia und Boston wurde ein angeblicher Impfstoff gegen die
Grippe verteilt. Die Ärzte und die Behörden wussten zwar, dass er
nutzlos war, glaubten aber, sie müssten etwas unternehmen, um den
Menschen neuen Mut zu geben und Panik zu vermeiden. Der
Impfstoff schien dennoch zu helfen, denn die Grippe verschwand
darauf genauso schnell, wie sie gekommen war.
Die Zahl der Grippeopfer belief sich auf 550.000, das waren zehnmal
soviel Tote, wie der Erste Weltkrieg den USA gefordert hatte. Da
nicht alle Todesfälle erfasst wurden, lässt sich die wirkliche Zahl auf
etwa 650.000 schätzen. Man kann nur vage Vermutungen darüber
anstellen, wie viele Menschen in schlimmer heimgesuchten Ländern
wie etwa Indien sterben mussten. Die Gesamtzahl der Grippetoten
von 1918 wird gemeinhin mit 20 Millionen angegeben, doch es können
durchaus 30 oder gar 40 Millionen gewesen sein. Der Erste
Weltkrieg forderte in vier Jahren 15 Millionen Opfer; die Grippe
tötete vielleicht doppelt so viele in sechs Monaten. Selbst die
Beulenpest blieb weit hinter solchen Auswirkungen zurück.
Angesichts dieser Zahlen ist es erstaunlich, dass es kaum zu
Massenpanik kam und dass die große Grippe-Katastrophe nicht im
Gedächtnis der Bevölkerung haften blieb. Auch historische
Darstellungen sind rar. Ein Bericht von Alfred Crosby heißt
zutreffend „Amerikas vergessene Pandemie“. Und ein einziges
literarisches Werk von Bedeutung, Katherine Anne Porters Erzählung
„Bleiches Pferd, bleicher Reiter“, beschreibt anschaulich die soziale
und die persönliche Erfahrung der Grippe-Katastrophe. Heute wissen
die Amerikaner mehr über die Pest als über das größte
Massensterben in der Zeit ihrer Großeltern.
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