Kontroversen um eine Sozialarbeitswissenschaft

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© rundbrief gilde soziale arbeit – GiSA (2/1994)
S. 2 - 16
(Die in eckige Klammern gesetzen Seitenzahlen verweisen der Zitierfähigkeit halber auf die
Seitenzahlen der Printversion)
[2]] ROLAND MERTEN
„SOZIALARBEIT ZWISCHEN PROFESSION UND DISZIPLIN“
Kontroversen um eine Sozialarbeitswissenschaft
Einleitung
„Sozialarbeitswissenschaft“: Unter diesem Kürzel läuft zur Zeit eine Debatte in der
akademischen Sozialarbeit, die wie kaum eine andere die Aufmerksamkeit der Fachöffentlichkeit auf sich gezogen hat. Ausgelöst wurde die Auseinandersetzung durch ein Buch,
das vor nunmehr genau zwei Jahren erschienen ist. Dieser Band, es handelt sich um die
Monographie Ernst Engelkes „Soziale Arbeit als Wissenschaft. Eine Orientierung“, ist
ausdrücklich vom Autor als ein Buch bezeichnet worden, das sich in erster Linie an
Studierende der Sozialen Arbeit richtet. Um so irritierender ist die Aufmerksamkeit, die das
Buch auf sich gezogen hat. Inzwischen hat sich in kürzester Zeit eine publizistische Flut
neuerer Veröffentlichungen zum Themenbereich „Sozialarbeitswissenschaft“ über den wissenschaftlichen Buch- und Zeitschriftenmarkt ergossen, die eine eigene Dynamik entwickelt
hat. Wie ist nun diese Aufmerksamkeit und geringe Distanz, wie ist die teilweise mit großer
Aufgeregtheit geführte Debatte um „Sozialarbeitswissenschaft“ zu erklären, wo liegen die
neuralgischen Punkte, die offensichtlich berührt sind und die die Fachöffentlichkeit in solchermaßen irritierende Schwingungen versetzt haben? Diesen und ähnlichen Fragen versucht
der Lehrstuhl für Sozialarbeit der Université de Fribourg (Schweiz) während des Wintersemesters 1994/95 in einer breiter angelegten Vortragsreihe nachzugehen1.
DIMENSIONEN DER AUSEINANDERSETZUNG
Die Debatte um „Sozialarbeitswissenschaft“ speist sich aus einer doppelten Quelle: Einerseits
sind mit ihr wissenschaftstheoretische Fragen aufgeworfen, andererseits können die
professionspolitischen Momente der Auseinandersetzung nicht übersehen werden.
„Professionspolitisch“ heißt, daß Soziale Arbeit in der Bundesrepublik eine gespaltene
Existenz fristet, nämlich an Universitäten und Fachhochschulen zugleich institutionalisiert zu
sein. Professionspolitisch reklamieren inzwischen mehrere Vertreter eine Art
Alleinvertretungsanspruch der Sozialarbeit für die Fachhochschulen, nebst den ansonsten und
bisher ausschließlich den Universitäten vorbehaltenen Rechten, z.B. der Promotion (vgl.
1
Zum Aufbau der Vortragsreihe sowie zum Verzeichnis der referierenden FachwissenschaftlerInnen vgl. die
redaktionellen Anmerkungen am Ende dieses Beitrags. Die Ergebnisse der Vortragsreihe werden ausführlich
im Reader „Sozialarbeitswissenschaft - Kontroversen und Perspektiven“ dokumentiert werden, der im Herbst 1995 bei Luchterhand erscheinen wird.
Engelke 1993, 15f.), der Forschung, usw. (vgl. Kietzel/Tillmann 1993, 22). Diese Zuspitzung
erklärt zumindest zum Teil die Aufgeregtheit der Debatte um Sozialarbeitswissenschaft. Diese
Diskussionslinie ist allerdings eine doppelt unfruchtbare. Zunächst werden Konträrstellungen
und damit verbundene Verdächtigungen heraufbeschworen, die die kommunikative
Anschlußfähigkeit und das gegenseite Verständnis eben [3]] nicht befördern. Ferner wird aber
auch der Blick auf eine Auseinandersetzung versperrt, die zwar angesprochen, allerdings
polemisch blockiert zu sein scheint, nämlich die vertikale Differenzierungsfrage innerhalb des
wissenschaftlichen und professionellen Feldes, die Heinz-Elmar Tenorth wie folgt pointiert:
„Die Verteilung pädagogischer Arbeit auf unterschiedliche Aufgabenfelder, die Plazierung in
unterschiedlichen Ausbildungsinstitutionen und die in der Hierarchie des Wissenschaftssystems an unterschiedlichen Stellen plazierte Art der Wissenserzeugung kann aber durchaus
als problemangemessene Konstruktion verstanden werden“ (Tenorth 1994, 27).
Ob diese Konstruktion also wirklich problemangemessen ist, diese Frage ist sowohl
wissenschaftlich als auch professionell mindestens diskussionswürdig; über sie kann, über sie
muß - mit guten Gründen und Argumenten - gestritten werden. Bedarf es, so läßt sich die
Frage paraphrasieren, zur Lösung bzw. zur Bearbeitung eines sozialen Problems wirklich
immer eines wissenschaftlich ausgbildeten Professionellen, z.B. eines Sozialarbeiters (FH),
bzw. eines Dipl.-Pädagogen?
Aber dieser unter professionskritischen Gesichtspunkten notwendige Debattenstrang wird
polemisch verkürzt geführt als Legtimationsdebatte gegenüber der jeweils anderen Ausbildungsinstitution innerhalb des tertiären Bildungssystems. Anstelle einer gegenstandsanalytischen Betrachtung unterschiedlicher Ausbildungsinstitutionen und -ansprüche,
die die jeweiligen Besonderheiten sowohl beachtet als auch kritisch reflektiert, ergeht man
sich in der Betrachtung „Universitäten - Fachhochschulen“ im Polemik: „Wie das eben
zwischen der Beletage und dem Souterrain im Haus der Gelehrsamkeit so ist. Aber unten ist
man näher an der Straße, wo man von Berufs wegen mit den Leuten zu tun hat. Weiter oben
ist der Ausblick besser; der nutzt aber wenig, wenn sich die universitäre Sozialpädagogik vor
allem um ihr Selbstverständnis innerhalb des Zirkels kümmern muß, den die Erziehungswissenschaft, genauer: die Pädagogenfakultät, um sie geschlagen hat. Außerhalb ihres Bannes
sind wir freier, die Sozialarbeitswissenschaft zu entfalten“ (Wendt 1994b, 19). Es wird also
deutlich: metaphorisch formulierte Polemik, die anstelle klarer Analysen die Diskussion beherrscht; Ab- und Ausgrenzung anstelle von Auseinandersetzung.
PROFILIERUNGSPROBLEME
Aber hiermit ist ferner die Einfallschneise für Sozialstaatskritiker und Skeptiker gegenüber
einem ,wachsenden Expertokratismus‘ geboten, was eine sachliche Debatte eher weiter
hintertreibt.
Die durchaus diskussionswürdige aufgabenkritische Reflexion professionell bereitgestellter sozialer Dienstleistungen wird leider allzu leicht als strategische
Sozialstaatsabbaudebatte bzw. als ideologische Polemik gegen einen vermeintlichen ,Sozialen
Wildwuchs‘ (Kohl) instrumentalisiert. Während also die Debatte um eine autonome
Sozialarbeitswissenschaft auf der makrosozialen Ebene der sozialstaatlichen Bereitstellung
personenbezogener sozialer Dienstleistungen eine wichtige aufgabenkritische Reflexion zu
initiieren imstande wäre, läuft sie Gefahr, [4]] Beifall von der falschen Seite zu erhalten und
politisch instrumentalisiert zu werden.
DISZIPLIN UND PROFESSION
Um so dringlicher stellt sich erneut die Frage, nach der erheblichen Resonanz, der die
Diskussion sich erfreuen kann. Jenseits aller institionellen und professionspolitischen
Positionierungsversuche scheint mit ihr eine sensible Stelle getroffen zu sein, die auf den
Aspekt der disziplinären und/oder professionellen Identität unmittelbar abzielt. Genau diese
Identitätsfrage nötigt im terminologischen Umgang zur größten Sorgfalt, die man im
bisherigen Debattenverlauf eher vermissen wird. Zunächst muß eine gleichermaßen
trennscharfe wie analytisch präzise Unterscheidung zwischen Profession und Disziplin
getroffen werden, damit nicht Ebenenverwechslungen zu unfruchtbaren Diskussionen, die zu
keinerlei inhaltlicher Weiterentwicklung führen, stattfinden können.
Mit dieser Unterscheidung wird aber zugleich auf eine mögliche Doppelung des
Identitätsproblems hingewiesen, nämlich eben auf der professionellen und der disziplinären
Ebene. Erst dann, wenn die beiden Ebenen auseinander gehalten werden, können Lösungsvorschläge zu einer konstruktiven Wendung in diesem schwierigen und zugleich
hochsensiblen Gelände führen.
Zur Bestimmung des Verhältnisses von Profession und Disziplin greife ich auf eine
Definition Rudolf Stichwehs zurück. Disziplin ist einerseits das „in lehrbare Form gebrachte
Wissen“ (Stichweh 1984, 7), andererseits ein „Sozialsystem, d.h. [die] Kommunikationsgemeinschaft von Spezialisten, die auf die gemeinsame disziplin-konstituierende
Problemstellung verpflichtet sind“ (ebd., 50). Professionen sind demgegenüber kein ,Wissenssystem‘, sondern ein Handlungssystem; ihr „Verhältnis zum Wissen definiert sich als eine
Anwendung von Wissen unter Handlungszwang“ (Stichweh 1992, 39f.). Disziplinen, so läßt
sich also systemtheoretisch reformulieren, heben auf innersystemische Kommunikation ab
und ihr Referenzpunkt ist das Kriterium „Wahrheit/Richtigkeit“2, während Professionen auf
Kommunikationen im Verhältnis der System-Umwelt-Differenz abstellen und sich am
Referenzkriterium „Wirksamkeit“ orientieren. Es handelt sich hierbei um eine konstitutive
2
Vgl. zur Unterscheidung von Wahrheit und Richtigkeit und ihrer Zuordnung zu theoretischen und
praktischen Diskursen: Habermas 1981, I, 38 ff.; zur Übersicht Fig. 2, ebd., 45. Soziale Arbeit als
zielorientierte Handlungspraxis verweist dabei immer auf die Frage der Legitimation ihres Tuns, auf die
Begründungsmöglichkeit und -notwendigkeit ihrer Ziele, insbesondere bei ihrer advokatorischen Setzung
(vgl. Brumlik 1992). Der Nachweis der Berechtigung von Zielen und ihrer Legitimation erfolgt dabei in
praktischen Diskursen, also in „Form der Argumentation, in der Ansprüche auf normative Richtigkeit zum
Thema gemacht werden“ (Habermas 1981, I, 39).
Differenz, die erkenntnistheoretisch nicht hintergehbar ist (vgl. hierzu bereits Kant 1781,
132ff.).
Dieser Umstand kann kritisch betrachtet oder aber auch im Versuch der polemischen
Gebärde (wie bei Wendt 1994a, 25ff.; Wendt 1994b, 19) und der unfruchtbaren
Konträrstellung „Universität vs. Fachhochschule“ überspielt werden; dabei wird jedoch
immer nur der Mangel an Kenntnis der theoretischen Problematik deutlich, die letztlich
unbegriffen bleibt. Dies deutlich bezeichnet zu haben, ist das [5]] Verdienst Heinz-Elmar
Tenorths. „Profession und Disziplin haben ... nur selten die Differenz der Handlungskontexte
und Wissensysteme als die Besonderheit ihres Faches begriffen. Dabei legt die Beobachterposition doch relativ rasch nahe, daß die Besonderheit der Aufgabe dort zu suchen ist, wo
kontiunierlich die Schwierigkeiten der Arbeit beschworen werden, daß also die Klage ein
Indiz für das strukturelle Problem pädagogischer Arbeit darstellt“ (Tenorth 1994, 27). In der
notwendigen Erweiterung dieser Position läßt sich festhalten, daß das treffend als strukturell
bezeichnete Problem nicht auf pädagogische Arbeit allein beschränkt ist, nicht nur für jegliche
Form personenbezogener Dienstleistungen zutrifft, sondern für alle handlungsorientierten
Wissenschaften gleichermaßen gilt. Jede Wissenschaft, die auch gleichzeitig auf eine
Handlungspraxis mit von ihr qualifizierten Professionellen verweist, ist mit diesen
Schwierigkeiten und Herausforderungen eines ihrer Handlungspraxis angemessenen und
gemäßen Wissenstransfers konfrontiert.
Um so überraschender ist es dann, wenn neuerlich die Forderung nach einer vollständigen
Übereinstimmung bzw. Identität von Disziplin und Profession gefordert wird. Nicht nur, daß
mit dieser Forderung die trügerische Hoffnung verbunden ist, den aufgezeigten
konstitutionellen Hiatus zwischen Disziplin und Profession schließen zu können, sondern
dieses Unterfangen ist auch von der irrigen Vorstellung getragen, das als für die Debatte zentral angesprochene Identitätsproblem über eine einheitliche disziplinäre Selbstverständigung
gleichsam unumwunden für beide Bereiche (Disziplin und Profession) lösen zu können. „Eine
weitere Form der Integration muß zur vollständigen Kongruenz, d.h. Deckungsgleichheit von
Beruf/Profession und Disziplin führen; die wissenschaftliche Disziplin ist dabei die Basis für
die Identität der Profession, der sie Qualifikationen, Handlungswissen, Methodik und
Didaktik und andere Kompetenzen sowie wissenschaftliches Grundwissen vermittelt“
(Pfaffenberger 1992, 234). Die Forderung nach Kongruenz von Disziplin und Profession
ignoriert dabei die konstitutive Differenz zwischen den beiden Handlungsformen.
Wenn denn in der Sozialen Arbeit von einer Kolonialisierungsdebatte (vgl. Müller/Gehrmann 1994) die Rede sein kann, dann ist sie mit genau solchen Vorstellungen aufs
engste verbunden: Professionelles Handeln wäre durch eine Art lineares 1:1-Anwendungsverhältnis gekennzeichnet. Professionelle Entscheidungsfreiheit, professionelle
Handlungskompetenz und die ethische Verantwortbarkeit professionellen Handelns wären
damit ein für allemal erledigt. Das unausgesprochene Handlungsverständnis eines solchen
Diskussionsvorschlages heißt: Mehr Wissen = mehr Lösungen!
Und man wird an dieser Stelle - nicht aber in der Grundargumentation - Müller/Gehrmann
beipflichten können: „Das Gebot der Stunde heißt - endlich auch in der deutschen Sozialarbeit: gleichberechtigte Zusammenarbeit der Sozialen Arbeit als Profession und Disziplin,
nicht ihre Unterordnung“ (Müller/Gehrmann 1994, 26). Zusammenarbeit setzt dabei die
jeweilige relative Eigenständigkeit der beiden Handlungssysteme ,Profession‘ und ,Disziplin‘
voraus.
So sympathisch diese Vorstellung auch ist, als so wenig tragfähig erweist sie sich. Schon
der Blick auf die langanhaltende Methodendiskussion in der Sozial[[6]]arbeit und die damit
verbundenen Hoffnungen auf eine Professionalisierung Sozialer Arbeit haben sich als kaum
realisierbar erwiesen. Der disziplinäre und professionelle Zusammenhalt der im Bereich
Sozialer Arbeit Tätigen ist offensichtlich hierüber nicht zu gewährleisten. Sozialarbeiterische
Methoden verbürgen gerade nicht die disziplinäre und professionelle Identität, ja mehr noch:
es wäre angesichts der in den letzten Jahren niederliegenden Methodendiskussion in der Sozialarbeit schlecht um Profession und Disziplin bestellt, wären Methoden der identitäre Kern
Sozialer Arbeit.
ABGRENZUNGSDISKURS
In der Debatte um eine Sozialarbeitswissenschaft wird auf eine Unterscheidung abgehoben,
die sich als terminologische in der akademischen Sozialarbeit findet, deren Triftigkeit als
kategoriale Differenzierung mindestens angezweifelt werden kann. Es handelt sich um die
Unterscheidung von Sozialarbeit und Sozialpädagogik; diese Trennung wird hier auch als
,Differenztheorem‘ bezeichnet. Gemäß der getrennten Terminologie wird geschlossen, daß es
sich hier auch um zwei (völlig) unterschiedliche gesellschaftliche Praxisfelder, Handlungsformen, Professionen und Disziplinen handelt. Vor dem Hintergrund eines derart entfalteten Differenztheorems wird dann die Diskussion um Sozialarbeitswissenschaft in die Konträrstellung
„Autonomie“ vs. „Heteronomie“, d.h. diziplinären Selbständigkeit vs. Orientierung an einer
(wie auch immer zu bezeichnenden) Leitdisziplin, gebracht. ,Sozialarbeit(swissenschaft)‘
steht dabei als Synonym für Selbständigkeit, ,Sozialpädagogik‘ signalisiert demgegenüber
disziplinäre Abhängigkeit.
Bevor die Stichhaltigkeit dieser Unterscheidung von Sozialpädagogik und Sozialarbeit
untersucht wird, bedarf es eines wissenschaftssoziologischen Exkurses, der die mit einer
solchen Differenzierung wenngleich unausgesprochenen, so doch latent verbundenen
(wissenschaftlichen) Machtkämpfe und Positionierungsversuche ans Tageslicht fördert.
Exkurs: Terminologische Auseinandersetzungen sind im wissenschaftlichen Feld in aller
Regel mehr als bloße Wortklaubereien. Termini verweisen auf Klassifikations- und damit
Ordnungssysteme innerhalb einer Disziplin. Immer geht es dabei auch um die ,legitime‘ Sicht
der sozialen Welt im allgemeinen, aber auch und besonders der ,legitimen‘ Sicht des
jeweiligen sozialen Feldes, hier einer wissenschaftlichen Disziplin. Klassifikationen sind
folglich immer auch Instrumente im Kampf um die symbolische Macht innerhalb eines Fel-
des. Denn: „Jedes Feld stellt den Schauplatz dar eines mehr oder minder offen deklarierten
Kampfes um die Definition der legitimen Geltungsprinzipien des Feldes“ (Bourdieu 1985,
27f.). Neben dem die Wissenschaften sicherlich tragenden Interesse um Erkenntnisgewinn
darf also nicht übersehen werden, daß es jedoch auch und zugleich um mehr geht. Insofern
wird man Bourdieu wohl beipflichten müssen, „daß sich keine Wissenschaft von den
Klassifikations- und Ordnungssystemen erstellen läßt - losgelöst von der wissenschaftlichen
Analyse des Kampfes um Klassifizierungen und unter Ignorierung der Stellung, den jeder der
Beteiligten in diesem Kampf um die Macht des Wissens, um die Macht durch Wissen, um das
Monopol auf legitime [7]] symbolische Gewalt innehat“ (Bourdieu 1985, 27). Das deutlichste
Zeichen, an dem das Ansinnen einer symbolischen Besetzung eines Feldes, hier einer
Wissenschaft, sich ablesen läßt, ist der Versuch einer neuen Terminologie bzw. einer neuen
Semantik. Semantiken verweisen dabei auf einen höherstufigen, relativ situationsunabhänig
verfügbaren Sinn (vgl. Luhmann 1980, 19). Semantiken schließen ferner Assoziationsketten
und evozieren gleichsam unreflektiert einen bestimmten Sinngehalt, der kommunikativ
unproblematisch - weil unreflektiert verständlich - anschlußfähig ist; einschränkend wird man
allerdings sagen müssen: unproblematisch anschlußfähig innerhalb eines bestimmten Paradigmas. Nunmehr stellt sich für die Debatte um Sozialarbeitswissenschaft die Frage nach der
Notwendigkeit eines derart hohen theoretischen Abstraktionsgrades, nach der Notwendigkeit
sprachphilosophischer und wissenschaftstheoretischer Grundsatzdebatten. Und obgleich
dieser Theorieaufwand zunächst überzogen erscheint, wird er nunmehr nochmals
wissenssoziologisch rückgebunden, denn die Semantiken spielen „für die Konstitution ,kollektiver Akteure‘, also vor allem für Soziale Bewegungen, Parteien und Verbände, eine Rolle.
Denn in dem Maße, in dem ,Semantiken‘ nicht nur gleichsam ,neutrale‘ Schemata der
Deutung und Ordnung einer vielschichtigen sozialen Wirklichkeit bereitstellen, sondern oft
ziemlich dezidierte Vorstellungen einer gesellschaftlichen ,Großgruppenstruktur‘ ... enthalten,
treffen sie zugleich auch Annahmen und Vermutungen über Zugehörigkeiten und Mitgliedschaften. Und genau diese Zuschreibung von - aktuellen und/oder potentiellen - Zugehörigkeiten macht ihre Bedeutung für kollektive Akteure aus, da es für deren Bestand und Identität
als Kollektive und für ihre ,Macht‘ als Organisationen ja zentral ist, hinreichend präzise
Kriterien der Mitgliedschaft angeben oder wenigstens den Umfang der möglichen
Anhängerschaft - und der ,Gegner‘ - möglichst genau eingrenzen zu können“ (Berger 1989,
49f.). (Exkursende)
Nunmehr stellt sich also zunächst um so dringlicher die Frage, gegen wen sich das ,Projekt
Sozialarbeitswissenschaft‘ richtet. Dazu ist es zunächst notwendig, die Meinungsführerschaft
innerhalb des Feldes Sozialarbeit/Sozialpädagogik bzw. Soziale Arbeit auszumachen. Am
deutlichsten läßt sich eine solche ,Vormachtstellung‘ durch einen doppelten Kontrast
veranschaulichen, indem nämlich einerseits nach dem Gegenpart von seiten der SozialarbeitswissenschaftlerInnen gefragt wird, sowie die dazu konträre Position aufgerufen wird. In
diesem Zusammenhang ist es als ein glücklicher Zufall zu werten, daß im Bereich Soziale
Arbeit bzw. Sozialarbeit/Sozialpädagogik die paradigmatisch orientierte Diskussion sich in
regelmäßigen Abständen zu wiederholen scheint, so daß ,Roß und Reiter‘ immer auch mitbenannt werden. Diese Situation hat sich 1987 ebenso zugetragen, wie sie sich im Jahre 1994
wiederholt, diesmal allerdings mit dem genau entgegengesetzten Interesse. Wie die
Kontrastierung der beiden folgenden Passagen zeigt, sind sich die Autoren zwar nicht in der
Einschätzung, wohl aber in der Frage der Meinungsführerschaft innerhalb des Feldes der
wissenschaftlichen Sozialarbeit/ Sozialpädagogik einig; sie bestätigen somit gegenseitig ohne eine entsprechende Intention - die soziale Strukturiertheit dieses Feldes. [8]]
„Tonangebend in der [sozialpädagogischen]
Theoriediskussion sind zweifellos die Beiträge in der „neuen praxis“, (...) ferner das aus
dem personellen Umkreis der „neuen praxis“
initiierte und wesentlich von ihm getragene
„Handbuch zur Sozialarbeit/Sozialpädagogik“
(...) sowie die von der „Kommission Sozialpädagogik“ der Deutschen Gesellschaft für
Erziehungswissenschaft veranstalteten Tagungen mit den daraus entstandenen Sammelbänden.
Bei aller Vielfältigkeit im einzelnen
spiegelt der Hauptstrom der sozialpädagogischen Theoriediskussion eine recht
eindeutige Orientierung an „Ansätzen und
Ergebnissen anderer Sozial- und Verhaltenswissenschaften, der Sozialpolitik bis zur
Sozialisationstheorie, der Lerntheorie und
„Die Anlehnung der Sozialpädagogik an die
Erziehungswissenschaft als Leitwissenschaft prägt hierzulande fast die gesamte
universitäre Lehre und Forschung zum
Gegenstandsbereich der Sozialen Arbeit. In
die gleiche Richtung tendieren die Zeitschrift „Neue Praxis“ und die „Kommission
,Sozialpädagogik‘“ der „Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft“. Nahezu
alle Autoren dieser Richtung sind ausgewiesene Erziehungswissenschaftler und
betreiben die Theorie der Sozialarbeit/Sozialpädagogik entsprechend diesem Verständnis.“ (Mühlum 1994, 42)
dem Interaktionismus (...)“ (Fatke/ Hornstein
1987, 589)
Der Vollständigkeit halber muß die an die Analyse sich jeweils anschließende Forderung
benannt werden, um die Schärfe der Differenzbestimmung deutlich werden zu lassen.
Während Reinhard Fatke und Walter Hornstein dezidiert für die Re-Pädagogisierung der von
ihnen dann auch bewußt so genannten Sozialpädagogik einfordern, erhebt Albert Mühlum die
hierzu konträre Forderung einer bestimmten Ent-Pädagogisierung der von ihm dann ebenso
bewußt bezeichneten Sozialarbeit. Unterstellt man nun nicht, daß sich innerhalb der letzten
sieben Jahre, die die beiden Zitationen trennen, die „Neue Praxis“ und die „Kommission
Sozialpädagogik“ der „Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft“ von einem
vollständigen Paradigmawechsel heimgesucht worden sind - und die empirischen Daten
würden einen solchen Wechsel weder in den Inhalten noch in den Personen bestätigen -, dann
wird damit zumindest teilweise klar, gegen wen sich der neuerliche Versuch einer Re-Strukturierung des Feldes der wissenschaftlichen Sozialarbeit/Sozialpädagogik richtet.
Wie auch immer die Position inhaltlich bestimmt wird, gegen die die jeweiligen
Abgrenzungsversuche laufen, auffällig gemeinsam ist all diesen Strategien, daß sie immer
einen (relativ neuen) Begriff zur identitären Selbstbestimmung in Anspruch nehmen, der zu
einer Unterscheidung führt zwischen denjenigen, die dazugehören und denjenigen, die nicht
dazugehören. Zu einer solchen In-Out-Markierung [9]] wird neuerlich auch der Begriff
„Sozialarbeitswissenschaft“3 herangezogen. „Generell scheint dabei auch zu gelten, daß eine
Semantik umso erfolgreicher Wirklichkeitsdeutungen regulieren und zur Bildung kollektiver
Merkmale beitragen kann, je stabiler die Merkmale sind, die sie zum Ausgangspunkt ihrer
Typisierungen und Ordnungsschemata macht“ (Berger 1989, 51). Allerdings muß hier
festgehalten werden, daß die Stabilität, von der Berger hier spricht, keine quasi ontologische
ist, die dem ,Gegenstand‘ selbst zukäme, sondern eine soziale Stabilität darstellt. Dies wird
besonders dann deutlich, wenn man das kategoriale Unterscheidungskriterium in der Debatte
um Sozialarbeitswissenschaft betrachtet.
SOZIALARBEITSWISSENSCHAFT: AUTONOMIE VS. FREMDBESTIMMUNG
Nun wurde schon mehrfach darauf hingewiesen, daß mit der Debatte um Sozialarbeitswissenschaft ein dezidierter Autonomieanspruch für diese (neue) Disziplin erhoben wird,
der alle Fremdbestimmungsversuche durch andere Wissenschaften, seien sie nun als Unter-,
Nachbar-, Fremd- oder Zuliefer-Disziplinen etikettiert, zurückweist.
„Eigenständigkeit bedeutet, eine eigene Domäne in Praxis und Wissenschaft abzustecken
(allein oder mit anderen) und Abgrenzungen zu den Claims benachbarter Disziplinen“ (Müller/Gehrmann 1994, 29). Autonomie einer Sozialarbeitswissenschaft hieße unter einer solchen
Bestimmung dann nur noch professions- und wissenschaftspolitische Interessendurchsetzung.
Demgegenüber geht Staub-Bernasconi ungleich differenzierter vor, wenn sie die Autonomiebestrebungen primär in einen systematischen Erkenntniszusammenhang bringt: „Soziale
Arbeit gewinnt ihre Eigenständigkeit als Disziplin nicht nur durch Abschottung gegenüber
anderen Wissenschaften, sondern durch die klare Konzeptualisierung ihres Problembereiches“
(Staub-Bernasconi 1994, 85). Allerdings lassen sich auch gegen diese Einschätzung nicht
unerhebliche Einwände geltend machen, weil sie von der Vorstellung geleitet sind, daß eine
gute inhaltliche, d.h. professionelle Arbeit und eine solide theoretische Basis der Sozialen
Arbeit die ihr bis dato nicht hinreichend zuerkannte gesellschaftliche und wissenschaftliche
Geltung verschaffen würden. Demgegenüber argumentiert Hans Pfaffenberger eher
wissenschaftspolitisch, denn für ihn ist die Konstitution einer disziplinären und pro3
Der Begriff „Sozialarbeitswissenschaft“ ist nun nicht gerade als neu zu bezeichnen. Ein letzte größeren
Aufmerksamkei hat er Mitte/Ende der 70er Jahre auf sich gezogen, ohne daß er sich hätte innerhalb der
wissenschaftlichen Sozialarbeit/Sozialpädagogik hätte durchsetzen können (vgl. Rössner 1977; Lukas 1979).
fessionellen Identität „auch ein politischer Prozeß, der sich in Selbstklärung und Reflexion
und deren Durchsetzung durch Fach- und Berufsvertreter im politischen Prozeß vollzieht“
(Pfaffenberger 1992, 234). Wenn denn tatsächlich, wie dies in der Debatte um
Sozialarbeitswissenschaft behauptet wird, Sozialarbeit keine eigenständige Disziplin sei, dann
läßt sich zunächst aus professionspolitischen Gründen auf eine falsche Konträrstellung
hinweisen, die die gesamte Auseinandersetzung durchzieht: Nicht in erster Linie wäre zu
monieren, daß die Sozialpädagogik das (vermeintlich) eigene Feld (nämlich die Sozialarbeit)
okkupiert, sondern zunächst müßten die politischen Bedingungsvariablen auf ihre
Hinderungsgründe hin un[[10]]tersucht werden; anstelle eines Streites innerhalb des
Wissenschaftssystems (Begrenzung auf die Binnenperspektive) bedürfte es einer
Auseinandersetzung zwischen (Sozialarbeits-)Wissenschaft und (Wissenschafts-)Politik
(Erweiterung auf die Außenperspektive). Einen solchen Debattenstrang wird man allerdings
bisher vermissen.
SOZIALARBEIT VS. SOZIALPÄDAGOGIK
Allerdings ist, wie bereits anhand der Textpassage von Albert Mühlum (1994, 42) gezeigt, in
der neueren Debatte eher die (Sozial-)Pädagogik als gemeinsamer Gegner ausgemacht (vgl.
exemplarisch die Auseinandersetzung zwischen Konrad [1993] und Wendt [1993]). Ob denn
die gescholtene Sozialpädagogik etwas ganz anderes mache als die Sozialarbeit, wird dabei
als gemeinsam geteilte Selbstverständlichkeit unterstellt; einen empirischen Beleg für diese
These sucht man vergeblich. Jenseits dieser Schwachstelle bietet die Abgrenzung gegen die
Sozialpädagogik im Anschluß an die Bedeutung von Semantiken den professionspolitischen
Vorteil der Formierung eigener Interessen in einer doppelten Abgrenzung. Einerseits wird
eine Konfliktlinie seitens der Vertreter der Fachhochschulen gegen die Universitäten und die
dort vertretenen Inhalte aufgemacht. Dies gelingt deshalb so eindrucksvoll, weil die institutionelle Differenz ein klares Abgrenzungskriterium bietet und über Zuschreibungsprozesse bzgl.
der an den Universitäten vertreteten Sozialpädagogik eine inhaltliche Unterscheidung
(scheinbar) nahegelegt wird. „Soziale Arbeit als Wissenschaft konnte sich bis heute nicht an
den deutschen Universitäten etablieren“ (Engelke 1992, 80). Andererseits erfolgt auch eine
Separierung innerhalb der Fachhochschulen entlang dem Kriterium Sozialarbeit Sozialpädagogik, wobei letzterer bestimmte inhaltliche Ausrichtungen unterstellt werden, die
sie in die Nähe der universitären Leitdisziplin Erziehungswissenschaft rückt.
Entsprechend diesen Kriterien werden dann auch Zuordnungen und Ausgrenzungen
formuliert, die sich sowohl auf die jeweilige Eigengruppe als auch auf Inhalte und deren
legitime Vertretung beziehen.
Zunächst zur Frage der Zugehörigkeitsformulierung: „Ich nenne - unter Ausklammerung
derjenigen, die im Pädagogenhaus Quartier beziehen, - Hans Pfaffenberger (...), Helmut
Lukas (...), Peter Lüssi (...), Ernst Engelke (...)“ (Wendt 1994, 19)4. Auch wenn man bei
Wendt noch ein gewisses fachliches Zugeständnis an die VertreterInnen, die im
,Pädagogenhaus Quartier bezogen haben‘, herauslesen kann, sind andere Vertreter einer
eigenständigen Sozialarbeitswissenschaft in ihren Formulierungen ungleich deutlicher. Sie
stellen offen „die Frage, ob Angehörige von Fremddisziplinen überhaupt eine Ahnung von
dem entwickeln, was Soziale Arbeit ausmacht, ob sie sich auch nur ein Fünkchen mit dieser
noch nicht [11]] so angesehenen Profession identifizieren“ (Müller/Gehrmann 1994, 26;
ähnlich Engelke 1992 und 1993).
Auffällig an dieser Grundargumentation ist, daß sie auf einen Begriff von Pädagogik bzw.
Erziehungswissenschaft rekurriert, der nicht ausformuliert wird und dem folglich jeder und je
nach eigenem Geschmack und Bedürfnis einen bestimmten Sinn unterstellen kann. Es ist klar,
daß man dann zur Vorstellung von „dem pädagogischen Denkmuster“ gelangen kann, das sich
im Bereich der Sozialen Arbeit „überwiegend in face-to-face Situationen zwischen
SozialarbeiterInnen und KlientInnen“ (Müller/Gehrmann 1994, 27) realisiert. Die
Behauptung, daß dann ein solches Geschehen den Gegenstand der wissenschaftlichen
Sozialpädagogik ausmache, gestattet eher Aussagen über den erziehungswissenschaftlichen
Kenntnisstand allgemein und der universitären Sozialpädagogik im Besonderen der Verfasser
solcher Thesen, als daß er irgendetwas mit der empirischen Realität des Faches zu tun hat. Allerdings ließe sich gegen diesen Hinweis einwenden, daß er sich selbst lediglich in
(polemischen) Behauptungen ergeht, ohne daß hierfür das behauptete statistische Datenmaterial vorgelegt würde.
Diesem Einwand soll mittels der empirischen Wissenschaftsforschung begegnet werden.
Die Behauptung, ,fachfremde‘ HochschullehrerInnen hätten kein Verständnis für die Soziale
Arbeit und ihre professionelle Ausrichtung bleibe im wesentlichen an die Herkunftsdisziplin
gebunden, gilt es in diesem Zusammenhang exemplarisch zu untersuchen. „Diese
KollegInnen rezipieren weitgehend kritiklos alles, was aus der Sicht der Herkunftsdisziplin
publiziert wird ...“ (Müller/Gehrmann 1994, 26). So gut sich eine solche Argumentation in die
Positionierungsversuche der Sozialarbeitswissenschaft einfügt, sie ist empirisch nicht haltbar.
Denn mit der Berufung von HochschullehrerInnen scheint sich für sie eine weitgehende
Lösung vom Herkunftsfach zu vollziehen, wie die Analyse der an die Herkunftsdisziplin
gebundenen Kommunikationsströme belegt (vgl. Roeder 1990). „Wenn die disziplinäre
Bindung erhalten bleibt, ist sie nahezu ausschließlich rezeptiver Natur“ (Baumert/Roeder
1994, 39). Nun beziehen sich diese Aussagen auf die Erziehungswissenschaft, so daß man die
hier angeführten Untersuchungsergebnisse geradezu als Beleg für Thesen der SozialarbeitswissenschaftsvertreterInnen lesen könnte, Soziale Arbeit (zumindest im universitären
4
Kritisch bleibt hier gegen Wendts Differenzierungsvorschlag anzumerken, daß die Hälfte der von ihm
erwähnten ,Sozialarbeitswissenschaftler‘ im ,Pädagogenhaus‘ tätig waren oder sind, nämlich Hans
Pfaffenberger und Helmut Lukas. Gerade die von Wendt gelobte Arbeit Lukas‘
„Sozialpädagogik/Sozialarbeitswissenschaft“ ist als erziehungswissenschaftliche Dissertation an der Freien
Universität Berlin entstanden.
Bereich) werde von der Erziehungswissenschaft dominiert. Doch auch diese Behauptung läßt
sich nicht halten, insbesondere dann nicht, wenn man einerseits den Wandel der
Erziehungswissenschaft von einer geistes- zu einer sozialwissenschaftlichen Disziplin
genauer betrachtet, und wenn man andererseits den Strukturwandel innerhalb der
Erziehungswissenschaft selbst, d.h. die Relation von Teil- und Leitdisziplin betrachtet.
Angesichts dieser Fragen kommt bspw. Macke (1994) zum Ergebnis, daß für den von ihm untersuchten Zeitraum von 1952 bis 1990 ganz eindeutig eine Versozialwissenschaftlichung der
Pädagogik zu einer Erziehungswissenschaft stattgefunden hat, und daß die (ehemaligen)
Teildisziplinen sich aus dem Verhältnis einer vertikalen Unterordnung gelöst und in ein
Verhältnis horizontaler (gleichberechtigter) Kooperation entwickelt haben. „Der Wandel der
Erziehungswissenschaft von einer ursprünglich auf das Allgemeine ausgerichteten Disziplin
zu einer Disziplin, die sich in ein Spektrum hochgradig spezialisierter Teildiszipli[[12]]nen
aufgelöst hat, erweckt insgesamt den Eindruck, als ob mit diesem Wandlungsprozeß eine
Auflösung der Allgemeinen Erziehungswissenschaft bzw. eine Abwanderung des Allgemeinen
in die spezialisierten Teildisziplinen verbunden ist“ (Macke 1994, 65). Auch Krüger kommt
aus einer anderen Perspektive zu einem identischen Ergebnis (vgl. Krüger 1994, 121). Ja er
führt sogar aus, daß es längst die Teildisziplinen sind (sofern sie die Themen nicht selbst
bearbeiten), die der Allgemeinen Erziehungswissenschaft Themen vorgeben - und nicht mehr
umgekehrt (z.B. zuletzt die Kommunitarismusdebatte). Und mehr noch: bei einer sprachanalytischen Auswertung der Qualifikationsarbeiten innerhalb der Sozialpädagogik zeigt sich,
daß die als Deskriptoren verwendeten Begriffe ,Sozial‘, ,Arbeit‘ und ,Jugend‘ eindeutig
dominieren (vgl. Macke 1994, 63). Diese Begriffe stehen inhaltlich dann doch wohl allemal die unsinnige Differenz einmal als unstrittig vorausgesetzt - für eine Sozialarbeit und nicht für
eine Sozialpädagogik. Wer allerdings den Jugendbegriff als Beleg für eine Pädagogisierung
bzw. Dominanz der Pädagogik glaubt heranziehen zu können, der zeigt nicht nur in bezug auf
Jugendfragen, sondern auch in bezug auf den Erziehungsbegriff eine solide Unkenntnis.
Eher am Rande muß noch die Stichhaltigkeit der Differenz von Sozialarbeit und
Sozialpädagogik geprüft werden, denn diese Differenz ist für die Debatte um Sozialarbeitswissenschaft geradezu konstitutiv, wenngleich sie nur behauptet, nicht aber belegt wird.
Konzediert man, daß es tatsächlich unterschiedliche historische Quellen sind, aus denen die
beiden Stränge sich speisen, so muß doch - jenseits aller Historisierung - eine
gegenwartsanalytische Verhältnisbestimmung eher Zweifel an der Trennung aufkommen
lassen. Weder trägt das Berufsfeld die vorgetragen Unterscheidung, d.h. daß hier sich weder
eine Aufgabentrennung noch eine eindeutige Trennung in der Beschäftigtenstruktur finden
läßt. So führt Ernst Engelke (1992, 87) als Beispiel für ein Feld der Sozialpädagogik die
Jugendhilfe an, in dem auch Forschungsaktivitäten zu verzeichnen seien. Folglich müßten bei
der Triftigkeit der Unterscheidung ,Sozialarbeit vs. Sozialpädagogik‘ z.B. in Jugendämtern
vermehrt SozialpädagogInnen vorzufinden sein. Die Ergebnisse einer empirischen Gesamterhebung u.a. der Beschäftigten und ihres Qualifikationsprofils in Nordrhein-Westfalen
sprechen jedoch eine andere Sprache: „Als dominanter Typus der im Jugendamt Beschäftigten
können ,fachhochschulqualifizierte SozialarbeiterInnen‘ (75.5 %) benannt werden, SozialpädagogInnen (9 %) und Diplom-PädagogInnen (0.5 %) finden dagegen nur in einem geringen
Ausmaß Eingang in diesen Arbeitsbereich“ (Otto 1991, 56). Dieses Ergebnis wird man wohl
nur als Falsifikation des Differenztheorem interpretieren können. Aber auch auf der Ebene der
Ausbildungsinstitutionen ist die Unterscheidung nicht haltbar. So bildet z.B. die Fachhochschule Kiel, die dezidiert von einer Konvergenzvorstellung von Sozialarbeit und
Sozialpädagogik ausgeht, nur „SozialpädagogInnen“ aus, die gleichwohl in allen Arbeitsfeldern Sozialer Arbeit tätig sind. Alles in allem läßt sich schon in einem kursorischen Blick
auf das (wissenschaftliche und professionelle) Feld Sozialer Arbeit nicht mehr begründet von
zwei entgegengesetzten Professionen/Disziplinen ausgehen.
[13]] ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK
Es sollte in einem ersten Aufriß der neu entfachten Debatte um Sozialarbeitswissenschaft
gezeigt werden, daß es sich im wesentlichen nicht um eine wissenschaftstheoretisch
motivierte Auseinandersetzung seitens der VertreterInnen einer (neuen?) autonomen Disziplin
handelt. Auch wenn die VertreterInnen mit diesem Anspruch auftreten, setzten sich
offensichtlich hinter ihrer vorgetragenen Intention Interessen durch, die es zu bezeichnen gilt.
Wenn weiter oben mit Bourdieu darauf hingewiesen wurde, daß sich innerhalb eines Feldes
mehr oder minder offene Kämpfe um die Durchsetzung der als ,legitim‘ geltenden Ordnungsund Gliederungsprinzipien dieses Feldes abspielen, so läßt sich anhand der entfachten
Auseinandersetzung um eine Sozialarbeitswissenschaft diese Aussage bestens bestätigen. Nun
sind die angesprochenen Kampflinien und -beteiligten nicht eben neu, allenfalls die Variation
des traktierten Gegenstandes. Aber genau dieser Umstand nötigt zu einer reflexiven Frage,
warum gerade dieses Thema innerhalb der gesamten akademischen Sozialarbeit/Sozialpädagogik eine solche Resonanz finden konnte? Es liegt die Vermutung nahe, daß jenseits
aller professionspolitischen Dominanzbestrebungen ein neuralgischer Punkt berührt worden
ist, der einer weiteren Bearbeitung harrt: gemeint ist die Frage der professionellen und evtl.
der disziplinären Identität. D.h. es geht zentral um eine Auseinandersetzung, was Sozialarbeit/Sozialpädagogik ist und was sie leistet, was sie von anderen, sie benachbart umgebenden
Disziplinen und Professionen unterscheidet. Dies zu beantworten liegen allerdings respektable
Arbeiten vor (z.B. Olk 1986), und gerade neuerlich ist von Dirk Baecker (1994) der
überzeugende Versuch unternommen worden, Soziale Arbeit als eigenständiges
gesellschaftliches Teilsystem auszuweisen, das über Hilfe als zentrale Funktion ausdifferenziert ist. Auf diese Arbeiten kann hier nur verwiesen werden, ohne die Argumentation nachzuzeichnen. Es bleibt also festzuhalten, daß es überzeugende Ansätze der disziplinären und
professionellen Selbstbestimmung Sozialer Arbeit gibt. Auf deren systematische
Ausarbeitung wird es durchaus auch im Rahmen einer Debatte um Sozialarbeitswissenschaft
ankommen. Dieses Ziel wird mit der Vortragsreihe „Sozialarbeit zwischen Profession und
Disziplin - Perspektiven einer Sozialarbeitswissenschaft“ verfolgt; ihr Gegenstand ist die
wissenschaftstheoretische Bearbeitung des Problems und Versuche seiner konstruktiven
Lösung.
LITERATUR
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Soziologie, 23. Jg., S. 93-110
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Bourdieu, P., 1985: Sozialer Raum und „Klassen“. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen,
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Brumlik, M., 1992: Advokatorische Ethik, Zur Legitimation pädagogischer Eingriffe.
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Engelke, E., 1992: Soziale Arbeit als Wissenschaft. Eine Orientierung, Freiburg (Brsg.)
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Beginn einer neuen Epoche, Weinheim/München
Krüger, H.-H., 1994: Allgemeine Pädagogik auf dem Rückzug? Notizen zur disziplinären
Neuvermessung der Erziehungswissenschaft, In: Krüger/Rauschenbach (Hg.), aaO., S. 115130
Lukas, H., 1979: Sozialpädagogik/Sozialarbeitswissenschaft. Entwicklungsstand und
Perspektive einer eigenständigen Wissenschaftsdisziplin für das Handlungsfeld
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Lüders, C., 1989: Der wissenschaftlich ausgebildete Praktiker. Entstehung und Auswirkung
des Theorie-Praxis-Konzeptes des Diplomstudienganges Sozialpädagogik, Weinheim
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Macke, G., 1994: Disziplinärer Wandel. Erziehungswissenschaft auf dem Wege zur
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Für die Befreiung der Sozialarbeit von Fremdbestimmung und Bevormundung, In:
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Anmerkungen zu einem umstrittenen Thema
Der hier abgedruckte Beitrag von Roland Merten verweist auf die in der Sozialen Arbeit in
letzter Zeit unter dem label „Sozialarbeitswissenschaft“ wieder intensiver geführte Diskussion
über den Status der Sozialen Arbeit im Reigen der „etablierten“ Wissenschaften und
insbesondere
des
Verhältnisses
von
Sozialarbeit,
Sozialpädagogik
und
Erziehungswissenschaft. Als ReferentInnen der vom Lehrstuhl für Sozialarbeit der Unversität
Fribourg (Schweiz) veranstalteten Vortragsreihe sind (in der zeitlichen Reihenfolgen ihrer
Vorträge) genannt: Hans Thiersch (Tübingen), Herbert Effinger (Dresden), Ernst Engelke
(Würzburg), Reinhard Fatke (Zürich), Hans-Uwe Otto (Bielefeld), Werner Obrecht (Zürich),
Ulrich Oevermann (Frankfurt), Maria-Eleonora Karsten (Lüneburg) und Peter Sommerfeld
(Fribourg/Freiburg). Die Ergebnisse dieser Vortragsreihe werden im Herbst unter dem Titel
„Sozialarbeitswissenschaft. Kontroversen und Perspektiven“ bei Luchterhand erscheinen. Im
Rezensionsteil des rundbrief gilde soziale arbeit wird sich die Aktualität dieses Themas auch
weiterhin widerspiegeln. Hier werden die neuesten einschlägigen Veröffentlichungen
vorgestellt werden.
Die Idee, unter dem Terminus „Sozialarbeitswissenschaft“ eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin der Sozialen Arbeit zu begründen, ist einige Jahrzehnte alt. Trotzdem
läßt die in den letzten Jahren im Rahmen verschiedener Tagungen und publizistisch
intensivierte Diskussion um eine Sozialarbeitswissenschaft sowie ihre explizite Ausweisung
in Lehre und Forschung an deutschen Hochschulen die Erwartung aufkommen, daß sie eines
Tages im professionellen und wissenschaftlichen Betrieb so selbstverständlich akzeptiert sein
könnte, wie dies z.B. bereits für die „Rechtswissenschaft“, die „Wirtschaftswissenschaft“ oder
auch die „Erziehungswissenschaft“ der Fall ist.
Für die „Gilde Soziale Arbeit“ ist die Diskussion um Divergenz oder Konvergenz von
Sozialarbeit (Fürsorge) und (Sozial-)Pädagogik aufgrund ihrer eigenen Geschichte von
erheblichem Interesse. Sie ist in den 20er Jahren mit pädagogischen Intentionen angetreten
um die damalige Jugendfürsorge zu reformieren - der Name ist insofern Programm. Auch
wenn die Gilde Soziale Arbeit nicht [16]] als einzige fachliche Organisation für eine
Konvergenz von (Sozial-)Pädagogik und Sozialarbeit (Fürsorge) steht, sie repräsentiert das
Konvergenz-Theorem aufgrund ihrer Geschichte in besonderer Weise.
Wenn sich als ein Ergebnis der neuerlichen Diskussion um eine Sozalarbeitswissenschaft
die Konvergenz von Sozialpädagogik und Sozialarbeit zur Sozialen Arbeit professionell und
disziplinär als sinnvollste Perspektive herauskristallisieren sollte, schieben sich m.E. zwei
disziplinäre Entscheidungsprobleme in den Vordergrund: Zum einen wäre auf längere Sicht
eine Herausdifferenzierung und Verselbständigung der universitären Sozialpädagogik aus der
Erziehungswissenschaft
und
in
der
Folge
die
Etablierung
eigenständiger
„sozialarbeitswissenschaftlicher“ Fakultäten eine logische Konsequenz. Aber auch bisher
nach Sozialarbeit und Sozialpädagogik differenzierte Fachbereiche an Fachhochschulen
stünden vor Entscheidungskonflikten vergleichbaren Schwierigkeitsgrades.
Derzeit muß jedoch noch als offen gelten, ob es sich bei dieser Diskussion eher um eine der
zahlreichen wirkungslos vorübergehenden Diskurs-Konjunkturen handelt oder ob die verschiedenen, an diesem Diskurs beteiligten Gruppierungen willens und in der Lage sind,
„Sozialarbeitswissenschaft“ konzeptionell zu füllen und vor allen Dingen auch institutionell
zu verankern.
Auf aktuelle Beiträge zu diesem Thema von Wendt, Maier, Salustowicz, Erath, Heitkamp,
Hey und Schlenker in den Blättern der Wohlfahrtspflege (Heft 1+2, 1995) und an den von
Wolf Rainer Wendt 1994 bei Lambertus herausgegebenen Sammelband „Sozial und
wissenschaftlich arbeiten“ sei an dieser Stelle kurz hingewiesen. (Georg Hey)
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