Die Gewißheit des Philosophierens

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Rado Riha
D ie G ew ißheit des Philosophierens
Die Frage, die m ich im Folgenden interessieren wird, lautet: welchen
A nspruch au f Gewißheit kann ein philosophisches Denken stellen, das sich
auf nichts anderes als au f den Akt des Philosophierens selbst, m it anderen
W orten, a u f d e n G e b ra u ch des e ig en en D enkverm ögens des P hiloso­
p h ie re n d e n stützt? A uf w elche Weise ist also Gewißheit m it einem Phi­
losophieren verbunden, das m an formell gesehen als selbstständiges Denken
bezeichnen könnte?
W enn ich h ie r vom »selbstständigen Denken« spreche, dan n über­
n e h m e ich e in e n D en k an satz, d e r vor m eh r als 200 J a h re n in Kants
w ohlbekannter Forderung zum Ausdruck gebracht wurde, im »Zeitalter der
A ufklärung« gelte es, »sich seiner eigenen V ernunft o h n e Leitung eines
än d e rn sicher u n d gut zu bedienen«1 . Die philosophischen Im plikationen
des selbstständigen D enkens h at Kant in der ersten Kritik im »Weltbegriff
d er Philosophie« auseinandergelegt. Meine Ausgangsfrage kann deshalb
auch so gestellt werden: was kann einen Philosophen, der heute nach der
Gewißheit seines eigenen Philosophierens fragt, der Kantsche Weltbegriff
der Philosophie lehren?
M it d e r A ntw ort a u f diese Frage befaßt sich d e r erste Teil dieses
Aufsatzes. Er soll vor allem versuchen, den im W eltbegriff der Philosophie
w irkenden spezifischen V erbindungsm odus von selbstständigem Philo­
s o p h ie re n u n d G ew iß h eit h e ra u s z u a rb e ite n u n d in e in e r D enkfigur
fe stz u m a c h e n , fü r die ich h ie r d en A usdruck » U n iversalisierung als
Subjektivierung« gebrauche. Die Aufgabe des zweiten Teils wird es dann sein,
d u rc h d e n V orschlag e in e r » reflek tieren d en « L ektüre des K antschen
m o ra lis c h e n G esetzes d ie D e n k fig u r d e r U n iv e rsa lisieru n g als Sub­
jektivierung etwas n ä h e r zu bestim m en. Gezeigt soll werden, daß in ihr drei
Instanzen zu einem unauflösbaren Knoten verbunden sind: ein Universelles,
das für N iem anden gilt, wenn es nicht für Alle gelten kann, ein Singuläres,
das dem Universellen im m er äußerlich bleibt, es aber gerade durch diese
seine irreduktible Äußerlichkeit ermöglicht, und ein Subjekt, das sich als die
1 I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, zit. nach: I. Kant, W erkausgabe,
hrsg. v W W eischedel, F ra n k fu rt/M a in 1974, Bd. XI, S. 53ff.
Filozofski vestnik, X IX (2/1998), pp. 155-177.
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in sich nichtige, aber u n ü b e rsc h re itb a re D istanz des U niversellen vom
Singulären behauptet.
*
Rufen wir uns zunächst kurz d en Kapitel A rchitektonik d e r rein e n
V ernunft aus d er T ranszendentalen M e th o d e n leh re d e r Kritik der reinen
Vernunft in Erinnerung, in dem Kant im R ahm en seiner B ehandlung des
Problem s d er systematischen E inheit d er V ernunfterkenntis auch auf zwei
Weisen des Philosophierens, den S chulbegriff d er P hilosophie u n d d en
W eltbegriff der Philosophie, zu sprechen kom m t. Diese zwei Daseinsweisen
d er Philosophie ergeben sich, sobald m an die V ernunfterkenntnis, wie Kant
dies tut, nicht nur objektiv, d.h. ihrem Inhalt nach, sondern auch »subjektiv«,
ihrer Erkenntnisquelle nach betrachtet. Ihrem U rsprung nach kann näm lich
eine V ernunfterkenntis entweder »rational« sein, »aus allgem einen Q uellen
d er Vernunft« entspringen. O der aber sie kann bloß »historisch« sein, u n d
in diesem Fall entspringt sie nicht »aus der eigenen V ernunft des Menschen«,
sondern bleibt »anderwärts«3 , z. B. d urch Erlebtes oder E rlerntes gegeben.
G erade für die Philosophie, die n eb en d er M athem atik den Bereich d er
reinen Vernunfterkenntnis repräsentiert, gilt es so, daß sie objektiv zwar eine
V ernunfterkenntnis darstellen kann, es aber subjektiv b erachtet nicht ist, da
jener, d er sich diese Erkenntnis angeignet hat, auch w enn diese A neignung
vollkommen gelungen ist, über das G elernte nie herauszukom m en im stande
ist u n d »nur so viel weiß und urteilt, als ihm gegeben war«4 . Er bleibt au f
d en Schulbegriff der Philosophie beschränkt, in n erh a lb dessen sich das
D enken dam it zufriedenstellt, die system atische E in h eit des Wissens zu
konstruieren, also »die logische V ollkom m enheit d er E rkenntnisse zum
Zwecke«5 zu haben.
Dem gegenüber stellt die M athem atik eine ununterscheidbar subjektiv­
objektive V ernunfterkenntnis dar, ihre V ernunftinhalte entstam m en im m er
auch schon der V ernunft selbst. M athem atische E rkenntnis ist n u r d a n n
erlernt, wenn sie durch die eigene V ernunft des Schülers angeignet, also »aus
Vernunft« nachkonstruiert worden ist. W enn n u n Kant sagt, daß m an u n te r
den Vernunftwissenschaften nu r M athematik, aber keine Philosophie lernen
könne, dann könnte m an hinzufügen, daß m an M athem atik eigentlich n u r
in d er Form des »M athem atisierens«, m it K ant g e sp ro c h e n , des »Kon2
3
4
5
KrV, B 859/A 831 ff.
KrV, B 864/A 836.
Ibid.
KrV, B 867/A 839.
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s tru ie re n s d e r B egriffe«, des G ebrauchs d e r V e rn u n ft an d e r re in e n
A n sc h a u u n g 1’ le rn e n k ö n n e . Die als »M athem atisieren« ex istieren d e
M athem atik fungiert insofern als M usterbeispiel je n e r Denkform, die ich
hier als selbstständiges D enken bezeichne und bei der die Vernunft aus d er
V ernunft heraus ü b e r V ernunftinhalte entscheidet. M athem atik ist dies­
bezüglich das selbstständige D enken in seiner u n b e d in g te n Form , das
bedingungslos selbstständige Denken: M athem atik gibt es nur, wenn »die
E rkenntnisquellen, aus d e n e n der L ehrer allein schöpfen kann, nirgend
anders als in d en w esentlichen u n d echten Prinzipien der V ernunft liegen,
und m ithin von dem L ehrlinge nirgend anders hergenom m en, noch etwa
gestritten w erden können...«.7
Im U nterschied dazu ist die Philosophie ein selbstständiges Denken,
das n u r b e d in g t als ein solches auftretten kann. Die B edingung für die
Selbstständigkeit des philosophischen Denkens ist dann gegeben, wenn der
P hilosophierende die Schule verläßt und zur Erkenntnis gelangt, daß man
keine P hilosophie, so n d e rn nur, wie Kant sagt, »philosophierend lern en
könne. Wir w erden sagen: die Bedingung für ein selbstständiges philoso­
phische D enken ist dann erfüllt, wenn die Philosophie ihre Vorgehensweise
gewissermaßen nach dem Vorbild jenes »Mathematisierens« konstruiert, als
das sich die M athem atik entpuppt. Aus der Schule führt eine philosophische
Einstellung heraus, die d er m athem atischen Erkenntnisproduktion insofern
a n a lo g ist, als ih re objek tiv e Seite u n tre n n b a r m it ih re r subjektiven
verbunden ist. Es ist dies eine als »Philosophieren« erlernte Philosophie, die
n ich t im schulgerechtem Wissen, sondern, m it Kant gesprochen, in der
A usübung des »Talents der Vernunft« besteht, bloß u n ter »Befolgung ihrer
allgem einer Prinzipien« selbstständig den V ernunftanspruch bestehender
philosophischen V ersuche zu prüfen und über seine Rechtmässigkeit zu
entscheiden9 .
Diese für die Selbstständigkeit des philosophischen Denkens verlangte
B edingung wird n u n vom W eltbegriff der Philosophie erfüllt. Ich glaube,
daß m an den W eltbegriff der Philosophie am bündigsten auf folgende Weise
b estim m en kann: es ist dies die a u f den B egriff g eb rach te, als Selbst­
ständigkeit gesetzte, d. h., die zur unbedingten Selbstständigkeit gelangte
Selbstständigkeit des Denkens. Mit anderen W orten, der W eltbegriff der
Philosophie bildet sich so heraus, daß der ersten Form des selbstständigen
p h ilo s o p h is c h e n D e n k e n s, dem P h ilo so p h ie re n , n o c h sein e e ig e n e
6 KrV, B 865/A 837.
7 Ibid..
8
Ibid.
9 KrV, B 86 7 /A 839.
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Rado Riha
S elbstständigkeit dazugesetzt wird. Es g e sc h ie h t dies in d e r F orm d e r
Erkenntnis, das Philosophieren, in dem die V ernunft aus V ernunft über die
V e rn u n ft e n tsc h e id e t, sei ein V o rg e h e n , daß a u c h der Vernunft wegen
geschehe. Wie Kant sagt: »In dieser Absicht ist Philosophie die W issenschaft
von d e r B eziehung aller E rk en n tn is a u f die w e sen tlich en Zwecke d e r
m enschlichen V ernunft (teleologia rationis h um anae), u n d d er Philosoph
ist nicht ein Vernunftkünstler, sondern d er Gesetzgeber d er m enschlichen
V ernunft«10. In n erh a lb des W eltbegriffs d e r P h ilosophie w ird sich d e r
Philosophierende letztendlich auch dessen bewußt, daß er eigentlich alle
anderen, den M athematiker einbeschloßen, n u r als Werkezuge benutzt, »um
die wesentlichen Zwecke der m enschlichen V ernunft zu befö rd ern « .11
Die Philosophie steht also einerseits u n te r der Bedingung, es subjektiv
b e tra ch te t, also d er E rk en n tn isq u elle n ach , d e r M ath em atik in d e re n
u n b e d in g te n Selbstständigkeit n a c h zu m a ch e n : sie ist n u r b e d in g t ein
unbedingt selbstständiges Denken. A ber diese B edingung, vom W eltbegriff
der Philosophie verwirklicht, fällt andererseits in die Philosophie selbst, es
h a n d e lt sich um e in e in n e rp h ilo s o p h is c h e B e d in g u n g : als b e d in g t
unbedingtes Denken verwandelt sich die Philosophie som it in ein D enken,
daß die B ed in g u n g des U n b e d in g te n selbst ist. Sie ist das u n b e d in g t
selbstständige D enken, erfaßt in dem , was es als solches m öglich m acht.
W enn sich also die dem Weltbegriffe gem äße Philosophie der unb ed in g ten
Selbstständigkeit der M athem atik überlegen zeigt, d an n deshalb, weil sie
im stande ist, der paradoxen F o rd eru n g nachzukom m en, als B edingung
dessen zu wirken, was unbedingt ist. In d e r Philosophie nach dem W elt­
begriff kom m t so zum Vorschein, daß es das U nbedingte (des selbstständigen
D enkens) als solches n u r d a n n gibt, w enn es d u rc h e in e zu sätzliche
B edingung su p p lem en tiert wird, d.h., w enn es d u rc h sich selbst in d er
Funktion einer absoluten Bedingung supplem entiert wird.
Dieser paradoxe Status der Philosophie bringt es m it sich, daß die Rolle
d er G esetzgebung d er m enschlichen V ernunft, die d er P hilosophie im
Rahmen ihres Weltbegriffs zufällt, bei weitem kein G rund für philosophische
Ü berheblichkeit ist. Die philosophische G esetzgebung gibt es näm lich Kant
nach nicht wirklich, d.h., sie ist in keiner empirisch bestehenden Philosophie
zu finden, sondern bildet n u r eine Idee d er V ernunft. In d er em pirischen
W irklichkeit des Philosophierens ist n u r eine A rt Stellvertretter dieser Idee,
d e r Ideal des Philosophen12 zu fin d e n . In ihm w ird d e r W eltbegriff d e r
Philosophie gleichsam personifiziert: wer die Schule verläßt, um innnerhalb
10 Ibid..
11 Ibid..
12 Ibid..
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Die Gewißheit des Philosophierens
des Weltbegriffs selbstständig zu philosophieren, wird also im m er schon von
e in e r im Ideal des P h ilo so p h en personifizierten Idee e in e r letzten Ge­
setzgebung d e r m enschlichen V ernunft geleitet. W ährend aber die Idee
einer letztinstanzlicher G esetzgebung der V ernunft »allenthalben in je d e r
M enschenvernunft«13 anzutreffen ist, kann niem and für sich in Anspruch
nehm en, der Philosoph zu sein: den Ideal des Pilosophen gibt es nirgendwo
un d »es wäre sehr ruhm redig, sich selbst einen Philosophen zu nennen, und
sich anzum aßen, dem U rbilde, das nu r in der Idee liegt, gleichgekom m en
zu sein«14. D er Platz des Ideals, der das selbstständige Philosophieren leite,
bleibt strukturnotw endig im m er leer.
Um die F unktion des Ideals des Philosophen für das selbstständige
Denken etwas n äh er zu erklären, können wir sie in zwei Punkten zusammen­
fassen. Erstens, d er Ideal des Philosophen repräsentiert, wie nicht schwer
zu ersehen ist, die unbedingte Voraussetzung je d e r Erkenntnis und jedes
D enkens. Er ist d e r Signifikant dessen, daß es in der m enschlichen Er­
fahrung nichts gibt, was sich nicht denken und sagen ließe, der Signifikant
dessen, daß im Prinzip Allem Bedeutung zukommt, auch wenn wir vielleicht
nicht im m er wissen, welche, daß Alles gesagt werden kann. Die Anwesenheit
dieses Ideal versichert uns also, daß es den Punkt eines (letzten) Sinns, den
Punkt der W ahrheit gibt, d er den Bereich des m enschlichen Denkens und
H andelns zu einem Sinn-G anzen m acht u n d unser Tun und Lassen vor
Sinnlosigkeit bewahrt. Selbstständig Denken bedeutet insofern im m er dem
M om ent der W ahrheit verbunden zu bleiben. Es gibt keine Selbstständigkeit
des Denkens ohne Vergewißerung eines möglichen Sinn-Ganzen, ohne daß
die V ernunft, aus sich heraus über sich selbst denkend, auch die Gewißheit
hätte, daß sie im m er auch schon der V ernunft wegen, d.h., dem »Ideal des
Philosophen« gem äß denke.
W enn uns aber das Ideal des Philosophen versichert, daß uns in unserer
d en k en d en B egegnung d er Welt, auch wenn wir nicht gleich schon Alles
wissen u n d v ersteh en , d e n n o c h im Prinzip nichts fehlt, daß also diese
Begegnung sinnvoll ist, dann setzt die Tatsache, daß es den Idealphilosophen
nicht wirklich gibt, daß er im Akt des Philosophierens au f im m er abwesend
ist, die G ew ißheit des Sinn-G anzen radikal in Frage. Die p rin zip ielle
U n m ö g lic h k e it, daß je m a n d dem Ideal des P h ilosophen e n tsp re c h e n
könnte, verw andelt diesen aus dem Signifikanten, daß Alles denkbar und
aussagbar ist, in sein G egenteil. Das Ideal des Philosophen fu n g iert in
W irklichkeit als Siginifikant des Mangels jenes Signifikanten, der verbürgen
würde, daß es im Bereich des Sinns keinen grundsätzlichen Mangel gibt. Es
13 Ibid..
14 KrV, B 867/A 839.
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Rado Riha
ist der Signifikant des Mangels jenes Signifikanten, d e r besagen w ürde, daß
es, was den Sinn anbetrifft, »keinen M angel gibt«. Weit davon e n tfe rn t als
Siginifikant dessen zu fungieren, daß sich Alles sagen läßt, daß es ein SinnG anzes, d ie D im m e n sio n d e r W a h rh e it g ib t, w irk t so das Id e a l d es
Philosophen vielm ehr als Signifikant d er U nm öglichkeit, Alles zu sagen. Es
ist der Signifikant dessen, daß es das Ganze des Sinnes eigentlich nicht geben
kann, daß die W ahrheit, der das selbstständige D enken seinem Wesen nach
verbunden ist, sich nicht sagen läßt. Das Ideal des Philosophen repräsentiert
die Leerstelle des auf im m er abwesenden (letzten) Sinnes, die Leerstelle d er
W ah rh eit, so daß d e rje n ig e , d e r d iesem Id e a l fo lg e n d s e lb s tstä n d ig
philosophiert, sein Denken auf den A bgrund dieser Leerstelle gründet.
Zweitens, der W eltbegriff d e r P h ilo so p h ie stellt d e n Prozeß eines
selbstständigen Denkens dar, aber dieser Prozeß läuft d en n o ch n ich t von
selbst. G enauer gesagt, selbstständig verläuft die A rbeit des D enkens nur,
wenn das D enken durch seine eigene N orm , d u rch das Ideal des selbst­
ständigen Denkens bzw. das Ideal der W ahrheit verdopellt wird. Selbstständig
denken bedeutet nicht einfach, daß das Subjekt verm ittelst seiner eigenen
V ernunft denkt. Es bedeutet vielmehr, daß das Subjekt sich für die N orm
des selbstständigen D enken, für die N orm der W ahrheit entschloßen hat,
daß es diese Norm als Norm gewählt h at u n d das es gleichzeitig dam it auch
sich selbst als selbstständig d en k en d es Subjekt gew ählt h a t.15 D am it es
innerhalb des Weltbegriffs der Philosophie selbstständig denken kann, m uß
das Subjekt die Wahl des selbstständigen Denkens (im m er schon) getroffen
haben, es muß sich (im m er schon) dem Ideal des Philosophen verbunden
fühlen. O der auch - es braucht nicht n u r selbstständig denken, sondern muß
auch noch begehren, Philosoph zu sein, alo selbstständig zu denken. Wie
erzwungen diese Wahl für das selbstständig d en k en d e Subjekt auch ist, wie
uneinholbar der Wahlakt für das Subjekt auch sein mag, er bleibt auf im m er
n o tw en d ig e V oraussetzung u n d reg u la tiv e Id e e des W eltbegriffs d e r
Philosophie. Das Philosophieren dem W eltbegriffe nach ist letztendlich
15 G erade in der Notw endigkeit d er A nnahm e des selbstständigen D enkens als N orm
besteht auch d er der U nterschied zwischen d e r M athem atik u n d d e r P hilosophie
Die M athem atik ist ein selbstständiges D enken, das sich nicht, um fu n k tio n ieren zu
k ö nnen, als ein solches noch auszuwählen braucht. Mit an d e ren W orten, sie wird
nicht d urch die A nnahm e ih rer eigenen S elbstständigkeitsnorm verdoppelt: sie ist
n ich ts als die in B ew egung gesetzte N o rm des M a th em atisieren s, e in e n ic h t
aufzuhaltende D enkm aschine. Was auch heißt, daß die M athem atik ih re eigene
Selbstständigkeit nicht als solche fassen kann: sie ist sozusagen ein selbstständiges
D enken ohne Freiheit des selbstständigen D enkens. Ich beziehe mich h ier a u f einen
G edankengang, d er von A. Badiou in Bezug a u f Platons V erhältnis zur M athem atik
ausgearbeitet wurde; cf. A. Badiou, Conditions, Pars, Seuil 1992, S. 157ff.
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Die Gewißheit des Philosophierens
nichts anderes als die Bewegung, in der das D enken, das dem Ideal des
Philosophen, d.h., der W ahrheit als Norm des selbstständigen Denkens folgt,
schließlich auf sich selbst zurückgewiesen wird, also die E rfahrung m acht,
daß es diese N orm nicht außerhalb des Philosophierens selbst gibt, daß sie
gerade als unnerreich b are N orm nu r in der absoluten Im m anenz des Aktes
des Philosophierens selbst begründet und konstruiert wird - daß sie also nu r
in d er Form dessen besteht, was von innen h er den Akt des Philosophierens
sprengt, in ihm selbst als sein im m anenter Uberschuß anwesend ist.
W enn ich o b e n davon g esp ro ch en habe, fü r d e n W eltbegriff d e r
Philosophie genüge es nicht, daß das Subjekt selbstständig denke, vielm ehr
m üsse das Subjekt auch noch begehren, Philosoph zu sein, selbstständig zu
denken, dann kann ich je tz t dazusetzen, daß dieses Begehren der Philoso­
phie kein empirisch-psychologisches M om ent darstellt. Es ist vielm ehr ein
für das selbstständige Philosophieren strukturnotwendiges M oment, es ist
ein konstitutiver Bestandteil seiner Selbstständigkeit. U nd zwar insofern, als
es jenes ist, was in d er Selbstständigkeit des philosophischen Denkaktes den
Platz für je n e n Ü berschuß frei hält, der von innen her die Im m anenz dieser
Selbstständigkeit sprengt. Dieses das selbstständige Philosophieren allererst
erm öglichende B egehren des selbstständigen Philosophierens erlaubt es uns
auch, das Problem der scheinbar widersprüchlichen Funktion des Ideals des
Philosophen zu lösen: einerseits wirkt dieses Ideal, wie wir gesehen haben,
als Signfikant dessen, daß sich im Prinzip Alles sagen läßt, daß unser Denken
d u rch das E n d m o m en t d er W ahrheit zu seiner Selbstständigkeit kom mt,
andererseits ist es das Signifikant dessen, daß es unmöglich ist, Alles zu sagen,
daß die W ahrheit, der das selbstständige Denken wesentlich verbunden ist,
sich n ich t sagen läßt, in sich leer ist. Die Tatsache, daß das Subjekt, um
selbstständig zu d e n k e n , n o c h b egehren m uß, Philosoph zu sein, d.h.,
selbstständig zu denken, besagt nun Folgendes: das selbstständige Denken
wird w eder davon geleitet, daß sich Alles sagen läßt, noch davon, daß sich
Alles unm öglich sagen läßt. Die Notwendigkeit eines zusätzlichen Begehrens
d er Philosophie bringt vielm ehr zum Ausdruck, daß es unm öglich ist, jenes
nicht zur Sprache zu bringen, was unm öglich zur Sprache gebracht werden
kann: die Gänze des Sinns, das M om ent der unm öglich auszusprechenden
W ahrheit. Das B egehren der Philosophie besagt, daß es unm öglich ist, nicht
A lles, also a u c h die u n m ö g lic h a u szu sp re ch e n d e W ah rh eit, die U n ­
m ög lich k eit von A llem , g e ra d e als solche, als U nm öglichkeit also, zur
Sprache zu bringen.
Der Prozeß des selbstständigen Philosophierens steiltauch den Konsti­
tutionsprozeß des selbstständig denkenden Subjekts dar. Dieses konstituiert
sich so, daß es sich m it d er N orm des selbstständigen Denkens, m it dem
161
Rado Riha
»Ideal des Philosophen« bzw. dem M om ent d e r W ah rh eit identifiziert.
Selbstständig P hilosophieren b e d e u te t in d e r D im ension d e r W ahrheit
p h ilo so p h ieren , wobei W ahrheit je n e s ist, verm ittels dessen das selbst­
ständige Subjekt zu seinem Sein kom m t. Da es sich aber um eine N orm
handelt, die ohne je d e n positiven Inhalts, in sich absolut leer ist, stellt die
Identifizierung m it dieser Norm, die Identifizierung m it der Leerstelle des
auf im m er abw esenden (letzten) Sinns ein en subjektiven K onstitutions­
prozeß dar, der eine radikale D esubjektivierung des selbstständig Philoso­
phierenden nach sich zieht. Selbstständig D enken bed eu tet für ihn, sich als
ein Subjekt zu konstituieren, das sich in Wirklichkeit m it nichts identifizieren
kann u n d dem es insofern a n je d e m festen, objektivierbaren Sein m angelt.
Das Subjekt des selbstständigen D enkens bildet sich so heraus, daß es die
Leerstelle des auf im m er abwesenden (letzten) Sinnes auf sich nim m t, sie
sozusagen an sich selbst erfährt: das selbstständig d e n k e n d e Subjekt ist
im m er nu r als inexistentes Subjekt da, diese Inexistenz bildet sozusagen sein
ganzes Dasein.
Mit dem Problem der daseienden Inexistenz, des substanzlosen Daseins
des selbstständigen Subjekts ist n u n au ch die Frage nach d e r Rolle ge­
bunden, die im selbstständigen Philosophieren d e r Begriff d er Welt spielt.
Um auf diese Frage im Rahm en d er K antschen Philosophie zu antw orten,
m üßen wir davon ausgehen, daß die Welt, a u f die sich die P hilosophie
bezieht, zu den dynam ischen k o sm ologischen Id e e n zählt. D u rch die
dynamische Synthesis der Erscheinungen wird die Welt als N atur vorgestellt,
sie wird also »als ein dynamisches Ganzes betrachtet«, bei dem m an nicht
»auf die Aggregation im Raume o d er in d er Zeit, um sie als eine Größe zur
Stande zu bringen, sondern auf die E inheit im Dasein d er E rscheinungen
siehet«16. Bei der Welt als N atur zählt also nicht, wie beim m athem atischen
Weltbegriff, die Größe der unbedingten Totalität d er E rscheinungen, was
hier zählt, ist vielm ehr deren Dasein. Dieses vom dynam ischen W eltbegriff
artikulierte Dasein der Welt als N atur ist n u n auch je n e s M om ent, das für
das selbstständige P h ilosophieren von w esentlicher B e d e u tu n g ist. Ich
m öchte h ie r nicht au f eine im m an en te Analyse des D aseinsbegriffs im
R ahm en d e r dynam ischen kosm oligischen Id ee e in g e h e n ,17 s o n d e rn
begnüge mich damit, seine B edeutung folgenderm aßen zu bestim m en: die
von der Welt als N atur ins Spiel gebrachte D aseinseinheit der Totalität der
Erscheinungen fungiert als eine im D enken für das D enken selbst erbrachte
16 KrV, B446-7/A418-19.
17 Für eine solche m üßte h ie r auch Bezug a u f Kants U n te rsc h e id u n g d e r m a th e ­
m atischen und dynam ischen G rundsätze des rein en V erstandes g en o m m en w erden,
cf. KrV, B 200/A 161ff.
162
Die Geiuißheit des Philosophierens
G arantie dafür, daß das D enken, wenn es die phänom enale Welt behandelt,
es nicht n u r m it sich selbst zu tun hat, sondern auf etwas dem Denken radikal
H eterogenes, Ä ußeres bezogen ist. Das Dasein der Welt als dynam ischen
G anzen vertritt das M om ent einer radikalen Äußerlichkeit des Denkens, das
in sein er irreduziblen Ä ußerlichkeit aus dem Inneren des Denkens selbst
e n tsp rin g t. F ür d e n M odus des selbstständigen Philosophierens ist das
D asein d e r W elt als M om ent e in e r in n ere n Ä ußerlichkeit des D enkens
deshalb wesentlich, weil n u r in diesem M om ent das inexistente, inhalts- und
b e stim m u n g slo se S u b jek t des selb ststän d ig en D enken zu einem ihm
e n ts p re c h e n d e n , weil sein em W esen nach n ich to b jek tiv ierb aren Sein
kom m en kann. Die Entscheidung für den Weltbegriff der Philosophie ist die
E ntscheidung dafür, daß für die Existenz des selbstständigen Subjekts die
A rtikulation des M om ents d er inneren Äußerlichkeit, o d er auch, des Mo­
m ents eines unm öglichen Realen wesentlich ist. Insofern ließe sich auch
sagen, das Dasein d er Welt verkörpere je n e Unm öglichkeit, für die es gilt,
daß es für das Subjekt unm öglich ist, sie nicht als solche, als Unm öglichkeit
also, zur Sprache zu bringen. Im Dasein, das vom Begriff der Welt artikuliert
wird, findet sich je n e r Ü berschuss verkörpert, der für die Im m anenz des
selbstständigen D enkens konstituiv ist.
*
N ach dieser k n ap p en u n d gewiß m angelhaften A ndeutung der Rolle,
die der Begriff der Welt für das selbstständige Philosophieren spielt, m öchte
ich n u n versu ch en , m ich dem von Kant gestellten P roblem des selbst­
stä n d ig e n D en k en s ü b e r e in e n Umweg h e r zu n ä h e rn . Ich w erde im
F o lg en d en d e n W eltbegriff d e r Philosophie im R ahm en der Logik der
A lienation u n d d e r S eparation zu in terp retieren versuchen, zweier m it­
ein a n d e r verb u n d en en O perationen, vermittelst deren Jacques Lacan den
Konstitutionsprozeß des Subjekts in dessen konstitutivem Verhältnis mit dem
A nderen zu erklären versucht18. Die Alienation ist der Prozeß, in dem das
Subjekt, da es im m er n u r außerhalb seiner selbst, im Feld des A nderen, des
Symbolischen, des Sinns, zu sich selbst kom m en kann, sich als Mangel-anSein erährt, die Separation wiederum ist der Prozeß, in dem sich das Subjekt
der V orherrschaft des A nderen so zu entziehen sucht, daß es seinen Mangelan-Sein als seine eigentliche Seinsbestim m nung ins Spiel bringt. Beide
O perationen w erden dabei von Lacan als Resultat einer erzwungenen Wahl
18 Ich bieziehe m ich h ie r au f das Sem inar SeminairXI, Les quatre conceptsfondementaux de
la psychanalse, hrsg. v. J.-A-Miller, Seuil, Paris 1973, sowie auf das Sem inar Logique du
fantasme (unautorisiertes Typoskript)
163
Rado Riha
zwischen »Sein o d e r D enken« d a rg e stellt, d u rc h die sich das S u b jek t
konstituiert. Erzwungen ist diese Wahl insofern, als das Subjekt, wenn es nicht
»richtig« wählt, darauf verurteilt ist, nicht nur eines der Glieder der Alternative
zu verlieren, sondern beide, dam it aber auch sich selbst. Lacan artikuliert die
Alienation einmal (im Seminar XI) als Resultat der erzw ungenen Wahl, bei
d e r das S ubjekt, sich fü r das D e n k e n bzw. d ie D im en sio n des Sinns
entscheidend, seines Seins verlustig geht. Das andere Mal (Sem inar Logique
dufantasme) wird die erzwungene Wahl und die mit ihr verbundene Alienation
von Lacan als Prozeß beschrieben, in dem sich das Subjekt, das D enken
aufopfernd, für sein Sein entscheidet. Es gilt n u n zu zeigen, erstens, daß das
Philosophieren im Rahmen des Weltbegriffs der Logik der erzwungenen Wahl
»Sein o d e r D enken« entspricht, u n d zweitens, daß sich das Subjekt des
selbstständigen Denkens erst als Antwort auf seine anfängliche Wahl des Seins
a u f K osten des D enkens k o n stitu ie re n k an n . Ich w erde zu n ä ch st d e n
Weltbegriff der Philosophie als Resultat der Wahl des Denkens darstellen, und
ihn dann, um die Rolle des Begriffs der Welt anzudeuten, im zweiten Schritt
vom Gesichtspunkt der Wahl des Seins betrachten.
B eginnen wir also dam it, daß je m a n d sich en tsch eid et, die Schule
hinter sich zu lassen, um »aus allgem einen Q uellen der V ernunft«,19 also
selbstständig zu denken. Für den P hilo so p h iren d en stellt sich also seine
Ausgangssituation als Wahl zwischen seinem alltäglichen Schuldasein u n d
dem Versuch eines selbsständigen Denkens dar, kurz, als Wahl zwischen Sein
und D enken bzw. Sinn. Diese Wahl ist erzw ungen, d e n n es versteht sich ja
von selbst, daß sich das philosophierende Subjekt n u r so als selbstständiger
Denker herausbilden kann, daß er sich für das D enken entscheidet, also die
Arbeit des Denkens und die ihm verbundene Dim ension des Sinns auswählt.
Mit a n d e re n W orten, n u r weil d er P h ilo so p h ie re n d e sich schon für das
selbstständige Denken entschieden hat, kann er sich dann noch vor die Wahl
gestellt sehen. Wir können uns diese Ausgangsposition folgenderm aßen,
d.h., als U nion zweier M engen veraunschaulichen:
Zu d ie se r Skizze sei n o c h
angem erkt, daß durch seine Wahl
d er P hilosophierende n ich t n u r
das Sein verliert, das sich n ach
vollbrachter Wahl als leere M en­
ge ein er unm öglichen Wahl h er­
a u s ste llt, in d e r das S ein d es
Subjekts seinen Platz findet. Auch
19 KrV, B 865/A 837.
164
Die Gewißheit des Philosophierens
das ausgewählte D enken (bzw. der ausgewählte Sinn) ist durch einen Verlust
gezeichnet, auch es hat einen Teil verloren, den Teil des Un-Sinns, der in
die Intersektion beid er M engen fällt und den hier etwa der uneinholbare
Augenblick d e r im m er schon realiserten Wahl darstellt. Um die durch die
erzw ungene W ahl erschaffene Situation besser zu verstehen, k önnen wir sie
uns auch auf eine an d ere Weise durch eine zweite Skizze vorstellen:
Worum geht es in dieser Ski­
zze? G ehen wir davon aus, daß
das philosophierende Subjekt, S,
seine Wahl so vollzieht, daß es
einen ersten Signifikanten Sj eine philosophische Aussage, ein
Axiom , eine These - auswählt.
Diesem S, vertraut es seine d en ­
kende Existenz an, es identifiziert
sich m it ihm als ein au to n o m D enkender. Bei diesem Sj h an d elt es sich
einerseits um ein Sinn-Fragm ent, andererseits präsentiert er den Philo­
so p h ie re n d e n selbst. E r p rä se n tie rt ihn als selbstständiges Subjekt, als
jem a n d en also, d er n u r dem reinen, selbstständigen Denken verpflichtet ist,
oder auch, als jem an d en , der n u r »der W ahrheit und nichts als der W ahrheit
um w illen« d e n k t. Es ist dieses M om ent d e r W ahrheit, das sich im Siginifikanten Sj niederschlägt. Dieser Signifikant behauptet keineswegs, das
Sinn-Fragm ent, das er rep räsen tiert, sei die W ahrheit selbst. D urch den
Signifikanten Sj wird n u r festgesetzt, daß es W ahrheit gibt, un zwar hier, in
diesem Sinn-Fragm ent da. U nd nur soweit es W ahrheit gibt, gibt es auch den
Philosophierenden als selbständig denkendes Subjekt. Das Subjekt, S, ist hier
in seinem selbstständigen Dasein unm ittelbar und u n tre n n b a r m it dem
Signfikanten Sj verschm olzen.
Es ist n u n so, daß die Wahl des ersten Siginifikanten, die Wahl des sich
in einem Sinn-Fragm ent äu ß ernden Denkens zwar unum gehbar ist, daß es
o h n e diese Wahl kein selbstständig denkendes Subjekt gibt. Das Problem
dieses ersten Signifikanten liegt aber darin, daß das Subjekt sich m it ihm
n ic h t b e g n ü g e n k ann. W ollte sich d er P h ilo so p h ieren d e n u r m it dem
Signifikanten Sj zufriedengeben, dann würde dieser, dem versteinerten
S chrei e in e r S tatue gleich, das m it ihm verschm olzene Subjekt seines
lebendigen Seins berauben. Das selbstständig denkende Subjekt ist, um sich
als ein solches b e h au p ten zu können, im m er darauf angewiesen, sich und
vor allem allen an d e re n klarzum achen, was es eigentlich m it dem Sj habe
sagen w ollen. Es m uß nachw eisen, w oher es seine W ahrheit, m it K ant
165
Rado Riha
gesprochen, »hergenom m en hat«20. Mit an d eren W orten, es kann sich nicht
mit der Behauptung begnügen, daß es im Sinn-Fragment um W ahrheit gehe,
es muß auch imstande sein, den W ahrheitsanspruch des Sinns zu begründen.
Dies k a n n es ab er n u r so tun, daß es w e ite rd en k t, also e in e n zw eiten
Siginikanten S2wählt, jen e n , der den Sinn d er W ahrheit des ersten erklären
wird. Erst durch den zweiten Signifikanten S2 kann sich d er Siginifikant Sj
als Sinn-Fragm ent geltend m achen.
W enn ab er e in e rseits e rst d u rc h das S ig n ifik a n te n p a a r Sj-S^ d ie
H offnung auftaucht, die W ahrheit könne in ihrem Sinn bestim m t w erden
u n d das Subjekt zu seinem selbstständigen D asein kom m en, d a n n setzt
andererseits gerade das Signfikantenpaar dieser H offnung ein schnelles
Ende. Auch der Siginifikant S2 m uß näm lich in seinem W ahrheitsanpruch
durch eine dritten Signifikanten S4 rechtfertigt w erden, dessen Sinn m uß
wiederum durch einen vierten Signifikanten S4 geklärt w erden - anstatt die
W ahrheit zu bestim m en, sieht das S ubjekt sein D en k en in e in e u n a b ­
schließbare Siginfikantenkette eingefangen, in d er es dem fortw ährenden
G leiten des Sinns ausgesetzt ist. Das »nur um d e r W ahrheit willen« des
Siginifikanten St hat sich durch den S2 endgültig in den im m er a n d e re n
Signifikanten eines ständigen Prozesses der W ahrheitsfindung verw andelt,
in dem das denkenden Subjekt es nie m it der W ahrheit, sondern im m er n u r
m it Sinn-Fragm enten zu tun hat. U nd anstatt sich in seinem selbstständigen
Dasein festsetzen zu können, e rfäh rt das Subjekt dieses Dasein vielm ehr als
einen fortw ährenden Mangel-an-Sein.
Ich fasse zusam m en: die erste E rfa h ru n g m it dem S ch ritt aus d e r
S chule in die W elt ist fü r d en P h ilo s o p h ie re n d e n , d e r b e g e h rte , ein
s e lb s tstä n d ig denkendes Subjekt, ein Philosoph dem W eltbegriff nach zu
w erden, m ehr als enttäuschend. Er wird sich wahr, daß seine Auswahl des
D enkens ih n in eine Lage versetzt hat, die keineswegs seinem B egehren
entspricht: wenn er nicht in einem ersten Siginifikanten Sj versteinern will,
sieht er sich darauf verurteilt, im fortw ährnden siginifikanten G leiten des
Sinns sowohl das »umwillen« seines Denkens, das Sj d er W ahrheit, als auch
sein selbstständiges Sein auf im m er zu verlieren. Das D enken hat ihn einem
Entfrem dungsprozeß ausgesetzt, d er unabschließbaren Signifikantenkette
Sj-S2, in d e r er sowohl d er W ahrheit als seines selbstständigen D aseins
verlustig geht. Es geht um eine Situation, die wir d u rch folgende Skizze
form alisieren können:
20 KrV, B 864/A 836.
166
Die Gewißheit des Philosophierens
Einerseits haben wir es hier m it
ein em Subjekt, 3. zu tu n , das u n ­
bestim m t bleibt, andererseits m it der
S ignifikantenkette Sj-S2, einem be­
s tä n d ig e n G le ite n des S inns, die
Intersektion beider M engen ist vom
doppelten Verlust von Sein und Wahr­
heit, hier m it dem Buchstaben klein
a formalisiert, zusammengesetzt.
Der Philosophierende, der trotz aller enttäuschenden Erfahrung noch
im m er an der erzw ungenen Wahl des Weges des selbstständigen Denkens
festhält, sich also no ch im m er in seinem selbstständigen, der W ahrheit
v erb undenen Dasein k en n en lern en will, kann sich mit einer solchen Lage
n a tü rlic h n ic h t z u frie d e n ste lle n . Er m uß die a n fän g lich e A lienation
ü b e rw in d e n , u n d das beste M ittel dazu scheint zu sein, sich von dem
loszutrennen, was sie erm öglicht: von der Siginifikantenkette, von (immer)
A nderem des Sinns. D er sich als Antwort auf die Alienation verstehenden
S e p a ra tio n sp ro ze ß b e s te h t d a rin , daß d er P h ilo so p h ie re n d e die zwei
w esentlichen E rfahrungen ins Spiel zu bringen versucht, die er glaubt im
b isherigen Versuch des selbstständigen D enkens gem acht zu haben. Es
h a n d e lt sich, erstens, um die Erkenntnis des Philosophierenden, daß das
»umwillen« seines D enkens, die Wahrheit, die in der Signifikantenkette auf
im m er unauffindbar u n d unaussagbar bleibt, ihrem Wesen nach leer ist. Und
zweitens, um seine Erkenntnis, daß er als selbstständig D enkender m it einem
konstituiven M angel-an-Sein geschlagen ist. Im Separationsprozeß werden
diese zwei E rfah ru n g en zu e in e r einzigen zusam m engebunden: d e r an­
gehende Philosophe versucht sich so als autonom es Subjekt herauszubilden,
daß e r a n fä n g t, die L e e rstelle d er W ah rh eit als seinen eig e n e n Platz
anzuerkennen: n u r solange er sich bem üht, selbstständig zu denken, gibt
es ja diese Leerstelle der W ahrheit. Er unternim m t es also, die Leerstelle der
au f im m er abw esenden W ahrheit Sinnes auf sich zu nehm en und in ihr sein
Eigenstes zu sehen: sein Eigenstes insofern, als er in dieser Leerstelle sein
Selbst, sich selbst in seinem Mangel-an-Sein ortet. So kom m t es dazu, daß
er seinen Mangel-an-Sein als das anbietet, was selbst nie mangelt, was imm er
da ist. D er selbstständig Philosophierende, der nun dieser Mangel-an-Sein
ist, wird so zu einem in Sinn unauflösbaren Sein. Es gelingt ihm also, sich
vom A nderen des Sinns zu trennen, indem er die Figur von etwas annim m t,
167
Rado Riha
das von d er Signifikantenkette zwar artikuliert, in ihr aber nie artikulierbar
ist, in sich selbst u neinholbar sinn-los bleibt21 .
Wie gelungen diese T re n n u n g vom A n d e re n des Sinns a b e r au ch
erscheinen mag, sie erm öglicht es dem Philosophierendem d ennoch nicht,
sich in seinem selbstständigen Subjekt-Sein zu erfassen. Letztendlich fungiert
sie nämlich als O peration, durch die der A ndere erretet, vor seinem eigenen
M angel in S ic h erh e it g e b ra c h t w ird: in d e m n ä m lic h das S u b jek t die
L eerstelle der W ahrheit au f sich nim m t, d .h ., sich an die Stelle d e r im
Bereich des Sinns im m er ausstehenden W ahrheit setzt, gibt es gleichzeitig
auch vor, jen e s zu sein, was dem A n d eren des Sinns fehlt. M it a n d e re n
W orten, durch das sinnlose Sein, m it dem es sich identifiziert, verdeckt das
Subjekt gleichzeitig den Mangel im A nderen u n d verhilft ihm so zu seinem
uneingeschränkten Status.
Auch in diesem ersten Versuch, sich dem B odenlosen des Weltbegriffs
der Philosophie, des selbstständigen Denkens zu entziehen, kom m t also der
Philosophiernde weder zur Gewißheit ü b er die W ahrheit, d er sein D enken
v e rb u n d e n ist, n o c h zur G ew iß h eit ü b e r sich se lb st als S u b je k t des
selbstständigen Denkens. Was bleibt ihm also noch übrig, wenn er, allen
Enttäuschungen zum Trotz, in seinem B egehren, Philosoph zu sein, noch
im m er n ic h t nachgelaßen hat, also dem Axiom, in seinem D enken d er
W a h rh e it u n d n ich ts a n d e re m als d e r W a h rh e it n a c h z u h ä n g e n , tre u
geblieben ist? Was kann das Subjekt, das aus der Schule trat, um selbstständig
zu denken, noch tun, um sich dem Entzug seines Seins zu entziehen u n d
sich zu subjektivieren, in seinem au tonom en Sein zu setzen?
N ehm en wir einfach an, daß sich d e r P h ilo so p h ie re n d e zu ein em
N eubeginn entschließt und auf seine anfängliche Wahl des D enkens auf
Kosten des Seins erst einm al vergißt. Er zieh t es vor, diesm al m it etwas
Gewißen anzufangen. Gewiß ist er sich a b e r dessen, daß er selbst, ganz
einfach, d a ist, existiert, auch w enn e r in d ieser se in e r E xistenz n ic h t
besonders stark im selbstständigen D enken zu sein schient. U nd um gekehrt,
daß er da, wo er selbstständig zu d enken versucht, gerade nicht ist, nie zu
seinem Sein g e la n g e n k an n . D iese S itu a tio n k a n n fo lg e n d e rm a ß e n
form alisiert werden:
21 Etwa die Figur seiner Endlichkeit: das Bild von sich selbst als je m an d e m , der, im m er
von den em pirischen, räum lich-zeitlichen V erhältnissen sein er Existenz beschränkt,
obwohl nie vollkom m en durch sie bedingt, dieser se in er E n d lich k eit wegen nie
im stande ist, das Ganze des Sinns, den Sinn in seiner ganzen Konsistenz zu begreifen.
168
Die Gewißheit des Philosophierens
D er P h ilo so p h ieren d e ist also
w ied er vor die W ahl »Sein o d e r
Denken« gestellt, die aber die Form
»entweder ich denke nicht (aber ich
bin ), o d e r ich bin n ic h t (ab er ich
denke) «, »dort, wo ich denke, da bin
ich nicht, u n d d o rt, wo ich bin, da
denke ich nicht« angenom m en hat.
U nd d e r P h ilo so p h ie re n d e ist auf­
g ru n d se in e r bisherigen E rfah ru n g en m it dem selbstständigen D enken
überzeugt, daß e r diesm al n u r das »Ich denke nicht, ich bin«, sein Ich-Sein
o h n e D enken w ählen kann.
T ief in seinem Ich-Sein ist aber, wie gesagt, unser Philosophierende
dabei im m er noch d er Idee, im Rahm en des Weltbegriffs der Philosophie
selbstständig zu denken, treu geblieben. Sein Ich-Sein h at sich nicht ganz
fü r die A usw irkungen des a u ß e rh a lb des Seins v ersto ß en en D enkens
verschloßen. Deshalb ist er auch bereit, zuzugeben, daß die Position des »Ich
denke nicht«, in d e r sein Ich-Sein verankert ist, wie gewiß sie auch sein mag,
dennoch nicht etwas in sich Abgerundetes und Abgeschloßenes, kein in sich
abgeschlossenes Ganzes ist. U nd daß som it auch sein Ich-Sein nicht den
A nspruch aufstellen kann, das ganze Sein zu sein. Das w achgebliebene
B egehren, Philosoph zu sein, bewirkt also, daß auch bei der zweiten Wahl,
bei d e r sich d e r P hilo so p h ieren d e für das Sein auf Kosten des Denkens
entschieden hat, seinlch-Sein von einem Mangel-an-Sein befallen ist. Was
die Position seines Ich-Seins wieder ungewiß und unkonsistent macht, ist
genau die Idee »Ich bin Philosoph«, »Ich bin der W ahrheit verbunden«, der
u n s e r a n g e h e n d e P h ilo so p h tre u geb lieb en ist. U n d d u rc h seine Er­
fahrungen b eleh rt gibt er je tz t in vorhinein zu, daß dieses Ich im »Ich bin
Philosoph« eig e n tlic h n ic h t e r selbst, n ic h t sein Ich ist, daß es sich in
W irklichkeit um ein »Nicht-Ich« handele.
U m die A nw esenheit dieses m erkw ürdigen »Nicht-Ichs« in seinem
B egehren, Philosoph zu sein, zu erklären, kann sich der Philosophierende
d a ra n e rin n e rn , wie e r d e n Weg des selbstständigen P h ilo so p h ieren s
b e tre tte n hat. Er k a n n sich die ü b e rra sch e n d e B egegnung m it einem
philosophischen Ansatz, m it ein er philosophischen Aussage in E rinnerung
rufen, die ihn ergriffen u n d auf den Weg der philosophischen W ahrheit
gebracht haben. Ihretwegen war sein »Ich bin Philosoph« anfangs nur in der
Form ein er »spontanen« Identifikation mit einer bestim m ten Philosophie
m öglich, etwa als Aussage: »Ich bin Phänom enologe, Kritischer Theoritiker,
169
Rado Riha
L acanianer, M arxist usw.«. Diese an fän g lich e, das »Ich bin Philosoph«
tra g e n d e Id e n tifik a tio n k a n n a u c h als e in e philosophisch-dogmatische
Identifikation b e z e ic h n e n w erd en . D o g m a tisc h in o sfe rn , als sie d em
Philosophierndem gänzlich frem d bleibt, nicht zu ihm selbst gehört. Das
»Ich bin entschlossener Phänom enologe, Kritischer Theoritiker, Lacanianer,
Marxist«, kurz, »Ich bin ein X« lautet in seiner vollentwickelten Form so :
»Ich bin ein X, auch wenn ich dam it nicht viel anzufangen weiß, auch wenn
ich selbst in diesem X verschwinde, m ich in ihm nicht erk en n en kann«. Das
»Ich bin Philosoph, ein X« ist som it im m er d er O rt eines »Nicht-Ichs«.
G enau dieser notw endige p h ilo so p h isc h -d o g m a tisc h e r C h a ra k te r
seiner anfänglichen Identifikation hat n u n d en P hilosophierenden auch
dazu gezwungen, seine ursprüngliche Wahl des D enkens aufzugeben und
sich für die Wahl des Seins auf Kosten des D enkens zu entschließen. Es ist
näm lich so, daß durch die philosophisch-dogm atische Identifikation d er
Philosophierende zwar zu einem m inim alen philosophischen Sein gelangt,
daß aber dieses Sein ein nur erborgtes, streng genom m en, ein falsches Sein
ist. Es handelt sich um genau jenes Sein, das die Anfangsposition der zweiten
Wahl bildet. So stellt es sich heraus, daß der Versuch des Phlosophierenden,
sein nicht-ganzes Ich-Sein durch sein fortdauerndes B egehren, Philosoph
zu sein, zu vervollkommern, genau so viel besagt wie die voll entwickelte
Form der philosophische-dogm atischen Identifikation, u n d zwar: Ich bin
dort, wo ich nicht denke, Bestandteil m eines Ich-Seins ist auch etwas, was
ich mir nicht zuschreiben kann, ein Nicht-Ich, wir kön n en auch sagen, au f
Freud zurückgreifend, ein Es, ein Id, das ich m ir nie aneignen kann u n d
m ir auf im m er frem d bleibt. Die beschriebene Lage kann m it folgender
Skizze dargestellt werden:
Durch seine E rkenntnise gestärkt, daß ihn
sein selbstständiges Philosophiern sozusagen von
selbst zu sein er zweiten Wahl g e fü h rt hat, e n t­
schließt sich der Philosophierende jetzt, m it dem
selbstständigen D enken im R ahm en d e r W elt­
philosophie fortzufahren. Dabei verfährt er so,
daß er den In h alt seines Philosophierns einem
zweifachen P ruüfu n g sv erfah ren u n terw irft. Er
prüft, erstens, den W ahrheitsanspruch d e r Aus­
sagen je n e r Philosophie, die ihn auf den Weg des selbstständigen D enkens
gebracht hat. U nd er prüft, zweitens, seine eigene G edanken, je n e G edan­
ken, für die er voraussetzen m uß, daß sie der philosophisch-dogm atischen
Identifikation notwendigerweise schon enthalten waren. W ären sie näm lich
170
Die Geiuißheit des Philosophierens
nicht darin enthalten, dann würde es sich nicht um eine philosophische, d.h.,
vom selbstständigen D enken geprägte dogmatische Identifikation handeln.
Das philosophiernde Subjekt prüft also seine Voraussetzung, daß in seiner
a n fä n g lic h e n p h ilo so p h isch -d o g m atisch en Id en tifik atio n auch w ahre
G edanken, wahre philosophische Ideen impliziert waren, m ehr noch, daß es
gerade diese G edanken waren, die ihn dazu brachten, in einer bestimm ten
Philosophie sich selbst als Philosophen zu erkennen. Diese Prüfung stellt es
so an, daß es versucht, in einer konsistenten, kohärenten und prinzipeil für
Alle verstän d lich en Weise alle theoretischen K onsequenzen aus sein er
ursprünglichen dogm atischen Identifikation zu entwickeln.
Mit dieser kritischen Prüfung schreitet der Philosophierende von der
erzw ungenen Wahl, d e r Position eines »Ich denke nicht, ich bin«, über zur
ausgeschloßenen Wahl des »Ich bin nicht, ich denke«. Diese ausgeschloßene
Wahl kann durch eine letzte Skizze dargestellt werden:
Das »Ich bin nicht, ich denke«, wird hiervon
je n e n w ahren G edanken vertreten, für die der
P h ilo so p h iern d e voraussetzt, daß sie, obwohl
oh n e sein Wissen, in seiner anfänglichen philosophisch-dogmatischen Identifikation anwesend
sind. M an kann sie d eshalb auch einfach als
unbew ußte Gedanken bezeichnen. U nd das »Ich
b in n ich t« , das d e n P h ilo s o p h ie re n d e n m it
seinen Gedanken verbindet, bedeutet hier: »Ich
b in nicht«, weil diese G ed anken, obw ohl sie
m eine sind, neue G edanken sind. U nd neu können die G edanken n u r als
wahre G edanken sein, als G edanken also, die d er W ahrheit verbunden sind,
jen e m also, was radikal m it der O rdnung der M einung, der O rdnung des
schon Gewußten unterbricht. Die im »Ich bin nicht, ich denke« implizierten
G edanken sind gleichzeitig auch neu im Verhältnis zur Philosophie, m it der
sich d er Philosophierende anfänglich identifizierte. In dieser Philosophie
sind die unbew ußten G edanken als ihre Leerstellen, als Leerstellen ihrer
W ahrheit anwesend, insofern die W ahrheitjeder Philosophie das ist, was sich
nie ganz aussprechen läßt. Die N euheit der Gedanken spricht davon, daß
der Philosophierende seine ursprügliche philosophische Einstellung in ihrer
W ahrheit begreifen will, in dem also, was im sich darbietenden Sinn nie in
Gänze anw esend ist, was in ihm im m er m angelt - für diesen Mangel steht
in d er obigen Skizze das Symbol -cp, das innerhalb der Lacanschen Theorie
die Kastration bezeichnet. Kurz, wenn der Schulbegriff der Philosophie dem
zu in terpretierendem Text folgt, dann folgt der Weltbegriff der Philosophie
171
Rado Riha
den L eerstellen im Text, den Stellen, an d e n e n d e r A utor das zu sagen
scheint, was er nicht hat sagen wollen.
Die im »Ich bin nicht, ich denke« im plizierten w ahren G edanken, die
ohne Wissen des Subjekts in seiner anfänglichen Position anw esend sind,
können nicht expliziert werden, ohne dam it einen Prozeß der Subjektivierung
nach sich zu ziehen. Bei diesem Subjektivierungsprozeß geht es darum , daß
das »Nicht-Ich« (das Es, das Id), das wir in der erzw ungenen Wahl des »Ich
denke nicht, ich bin« angetroffen haben, in die ausgeschloßene Wahl des »Ich
bin nicht, ich denke« übergeleitet wird. Dabei wird die negative Form des »Ich
bin nicht« in die positive Form eines »Ich bin Es« um gew andelt, die besagt:
im selbstständigen Denken bin ich genau dieses Nicht-Ich, dieses Es. Ich bin,
wenn ich selbsstständig denke, dieses Nicht-Ich, dieses Es, weil es im D enken
streng genom m en gerade darum geht, einen G edanken, den ich nicht weiß,
für den ich aber dennoch annehm e, daß e r w ahr ist, in seinem A nspruch
au f W ahrheit au f eine konsistente, k o h e rä n te u n d an Alle ü b e rtrag b a re
Weise zu entwickeln u nd zu prüfen.
Die Subjektivation des selbstständig D enkenden ist also ein Prozeß in
dem die Identität des denkenden Subjekts sozusagen sinnentleert wird, sich
zu einem inhalts-und bedeutungsloses Nicht-Ich bzw. Es, zu einem Sinn ohne
B edeutung umwandelt. In diesem M om ent eines Sinns o h n e B edeutung
kom m t das d enkende Subjekt zu seinem selbstständigen Dasein. Seine
selbstständige Existenz hängt näm lich in Gänze von seinem V erm ögen ab,
das, was es im Nicht-Ich, im Es d e r philosophische-dogm atischen Id e n ­
tifikation, oh n e es zu wissen, als w ahr vorausgesetzt hat, je tz t in se in e r
W ah rhaftigkeit so h e ra u sz u a rb e ite n , das es von A llen n u r d u rc h die
A nw endung ihrer eigenen V ernunft nachvollziehbar ist. Das »Ich bin Es«,
das den abgründigen G rund seines D enkens bildet, ist also ein Singuläres,
das unm ittelbar unversalisierbar ist. Der Prozeß der Subjektivierung verläuft
zwar in der Form der subjektiven Destitution, er ist aber nichtsdestow eniger
gleichzeitig auch ein Prozeß der Universalisierung. Diese U niversalisierung
ist w eder durch Konsensus noch durch Intersubjektivität m otiviert. Was sie
in Gang bringt, ist vielm ehr die irreduzible Singularität je n e s »Ich bin Es«,
je n e s Sinns o h n e B ed eu tu n g , d e r d e n a b g ü n d ig e n G ru n d des selb st­
ständigen Denkens bildet.
*
Ich m öchte abschließend vermittels ein er reflektierenden Lektüre d er
Kritik derpraktischen Vernunft die Anwesenheit der Figur der Universalisierung
als Subjektivierung in der zweiten Kritik nachweisen. Ich gehe dabei vom
172
Die Gewißheit des Philosophierens
Problem des Subjekts des Moralgesetzes aus, eines Subjekts, desen G rund­
m erkm al darin liegt, daß es in sich selbst gespalten ist.
A uf rein deskriptiver E bene können wir die Spaltung des Subjekts auf
seine zwei »B estandteile« zu rü ck leiten . Es ist einerseits ein endliches
V e rn u n ftw e se n , das d u rc h all das b e d in g t ist, was dem R eg ister des
Pathologischen an gehört, d er das Subjekt als ein Wesen der Bedürfnisse
bestim m t. A ndereseits ist es ein reines, nu r durch das m oralische Gesetz
bestim m te u n d dem Reich des Intellegibilen angehörende Vernunftwesen.
Als moralisches Subjekt konstutiert es sich dabei gerade durch die Loslösung,
A btrennung von seinem pathologischen Sein. Solcherart beschrieben ist die
Spaltung des Subjekts natürlich noch nicht begriffen. Es ist n u n möglich,
diese Spaltung auf zwei grundverschieden Weisen zu begreiffen.
M an kann, erstens, davon ausgehen, daß das pathologische Sein, das
einer fortw ährenden Zurückweisung seitens des Subjekts ausgesetzt ist, etwas
bloß G egebenes ist, ein e A rt Rohstoff, in dem das Individuum seinen
V ernunftw illen gelten d m ach t und sich auf diese Weise subjektiviert. Ein
solches Verständnis führt uns zur nichtkantianischen, letztendlich religiösen
G estalt e in e s S ubjektes, daß nie rein ist, so n d e rn sich in ein em fo rt­
w ä h re n d em R e in ig u n g sp ro zeß befindet. Es fü h rt also die Figur eines
Subjektes ein, das alles, was ihm im em pirischen Leben teuer ist, auf dem
Altar des A nderen, des Gesetzes, einer unerreichbaren und unaussprech­
barer T ranszendenz aufopfert.
Man kann aber auch, zweitens, davon ausgehen, daß das pathologische
Sein innerhalb des K antschen philosophischen Ansatzes nicht n u r auf der
Ebene des endlichen Individuum s eine Rolle spielt, sondern auch auf für
die E bene des reinen m oralischen Subjektes wesentlich ist. Die Spaltung des
S ubjektes läß t sich also h ie r n ic h t m eh r als einfache V ern ein u n g d er
em pirisch pathologischen Partikularität des Subjekts verstehen. Ein Frag­
m ent des »Pathologischen« verharrt vielmehr inm itten des reinen Subjektes
selbst. Mit anderen W orten, die Spaltung ist für das Subjekt selbst konstitutiv.
Das gespaltene Subjekt ist nicht einfach auf das pathologische und das reine
Subjekt gespalten, es ist vielm ehr auf das pathologische u n d gespaltene
Subjekt selbst gespalten. Das reine Subjekt selbst ist nichts anderes als die
Spaltung des Subjektes selbst. Deshalb muß es im m er etwas »PathologischP a rtik u lä re s « g e b e n , das d e r m o ra lisc h e n G este des S ubjekts, sich
unabhängig vom Pathologischen zu bestim m ern, widersteht. Es geht hier
sozusagen um einen prinzipiellen W iderstand, d.h., um einen W iderstand,
der au f dem Prinzip des gespaltenen Seins des Subjekts selbst gründet. Der
G rund dafür, daß im Bereich des Moralischen imm er etwas »Pathologisches«
ü b rig b le ib t o d e r üb ersch ü ssig ist, liegt also n ich t etwa darin , daß d er
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Rado Riha
u n e n d lic h e Reichtum des P artikulären sich dem Z ugriff des e n d lic h en
Subjekts e n tz ieh t. Das v e rh a rre n d e n »P ath o lo g isch e« ist n ic h t je n e s
P a th o lo g isch e , daß vom m o ra lis c h e n A kt des S u b je k ts fo rtw ä h re n d
au sg esch lo ssen w ird. Das » P a th o lo g isch e « v e r h a r r t h ie r, weil es als
V oraussetzung u n d P rodukt des K onstitutionsp rinzips des g esp alten en
Subjekts selbst fungiert. Es der u n e rre ic h b a re U b e rsc h u ß /U b e rre st d er
O peration, durch die das Subjekt, indem es im M edium des Universellen
je d e seiner m öglichen partikulären B estim m ungen auflöst, gleichzeitig
b estätig t, daß das U niverselle d e r V e rn u n ft zu s e in e r re a le n E xistenz
g e k o m m e n ist. Das » P a th o lo g isch e « v e r h a r r t als re a le P rä se n z d e r
subjektiven Spaltung, d.h., d er A nw esenheit des U niversellen des m o­
ralischen Gesetzes in der em pirischen Welt.
W ir h a b e n es also h ie r m it e in e r g leic h ze itig e n K o n stitu tio n des
Universellen u n d des Subjekts zu tun. Bei Kant wird diese Gleichzeitigkeit
durch das Konzept des autonom en Subjekts ausgedrückt. Das Subjekt ist
autonom insofern es sich ein Gesetz gibt, das u n m itte lb ar auch fü r Alle
anderen gilt. Ich kann mich hier nicht m it den Kritiken dieses Konzeptes
befassen, die das g e setzg eb en d e S u b je k t e n tw e d e r als Illu sio n e in e s
selbstidentischen Subjekts verstehen, o d er es als eine Idee ansehen, die das
Subjekt dem A nderem , dem tra n sz en d e n ten Gesetz üb eran tw o rtet. Ich
m öchte aber hervorheben, daß Kants sich selbst das Gesetz gebende Subjekt
nicht etwas schon Gegebenes ist, daß es nicht schon vor d er O peration der
Selbstgesetzgebung da ist. Das Subjekt d e r praktischen V ernunft ist m einer
M einung nach nichts anderes als das Verm ögen des Vernunftwesens, sich
als Subjekt m it dem M om ent e in e r irre d u k tib le n S ingularität, m it dem
M om ent einer unprädizierbaren G leichheit zusam m enzusetzen, die in dem
A ugenblick zur Erscheinung kom m t, in dem das Vernunftwesen in die Di­
m ension des Universellen eintritt, d.h., sich durch das W egdenken seiner
empirisch-partikulären Bestim mungen als Subjekt herauszubilden sucht. In
dieser unprädizierbaren Gleichheit kom m t gleichzeitig auch das Universelle
d er V ernunft zu seiner realen Existenz.
Ich gehe bei m einem Verständnis des Subjektautonom ie davon aus, daß
d er Begriff des selbstgesetzgebenden Subjekts eng m it einem a n d e re m
B egriff d er K antschen M oralphilosophie, dem B egriff des Faktum s des
moralischen Gesetzes, verbunden ist. Das »nichtempirische Faktum«, in dem
sich die praktische V ernunft m anifestiert, ist dabei m einer M einung nach
w eder als Gabe des A n d eren , e in e r u n e rre ic h b a re n T ra n sz e n d e n z zu
verstehen, noch als Zeichen eines unerklärbaren Vorherrschaft des Gesetzes,
d er das Subjekt n u r so entsprechen kann, daß es a u f die F o rd eru n g des
Gesetzes auf eine im m er unangem eßene Weise antwortet. Die Faktizität des
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Die Gewißheit des Philosophierens
m oralischen Gestzes ist nicht das Merkmal einer urspünglichen Rezeptivität
u n d Passivität des m oralischen Subjektes. M einer M einung nach soll uns
d ieser K onzept eines nichtfaktischen Faktums bloß d a ra u f aufm erksam
m achen, daß das m oralische Subjekt keine G egebenheit ist, daß es sich
v ielm e h r als S u b jek t im m er e rst h e ra u sb ild e t, n u r in d e r Form e in e r
fortw ährenden Subjektivierung existiert. U nd es bildet sich so heraus, daß
es das Faktum des m oralischen Gesetzes als O rt seines Selbst anerkennt.
Deswegen k ö n n en wir nicht bei der Feststellung stehen zu bleiben, für
das Subjekt spiele das Bewußtsein des m oralischen Gestzes die Rolle eines
Faktums, eines unerklärlichen »Es ist so«. Beim m oralischen Subjekt ist das
Bewußtsein des m oralischen Gestzes gleichzeitig im m er auch schon das
Bewußtsein vom Faktum, das Bewußtsein vom moralischen Gesetz als Faktum.
Erts m it diesem »Bewußtsein von« wird das Faktum des moralischen Gesetzes
erst wirklich zum Faktum. Das Subjekt subjektiviert sich also so, daß es sich
mit dem Faktum der Vernunft zusammensetzt, mit etwas, was der notwendige
K o n stitu e n s d e r V e rn u n ft in ih re r u n iv ersellen D im ension d arstellt,
gleichzeitig aber nie objektiviert, in das Universum des Sinnes einbeschloßen
w erden kann. Das Subjekt subjektiviert sich vermittels eines Moments, das
ihm absolut h etero g en ist. Dieses M om ent ist nicht etwas, was sich in einer
fortw ährenden U nerklärbarkeit im m er wieder dem begrifflichen Zugriff
entziehen würde, es ist vielm ehr imm er in einer daseinenden Abgründigkeit
aw esend. Die U n e rk lä rb a rk e it g rü n d e t n ich t in der U nterw erfung des
Subjekts u n te r das Gesetz - diese Unterw erfung ist vielm ehr im m er etwas,
was durchaus erklärbar ist, wobei sich das Subjekt entw eder als Geisel des
A nderen oder als selbstransparenten Gesetzgeber verstehen kann. Ganz im
G egenteil, die U nterw erfung u n ter das Gesetz ist nu r insofern berechtigt,
als das Universelle des m oralischen Gesetzes, diese letzte Bedingung des
m oralischen H andlung, in seiner Unerklärbarkeit, Faktizität verharrt.
Das Subjekt kann sich als Subjekt n u r so lange behaupten, als es fähig
ist, m it d ieser U n e rk lä rb a rk e it zu h a n d h a b en . Diese H an d h a b u n g der
U n erk lärb ark eit im pliziert, daß sich das m oralische Subjekt am O rt der
D estitution seines identischen Selbst konstituiert. Das unbedingte Gesetz,
das von ihm ein angemessenes, moralisches Handeln verlangt, ist ein Wissen,
in dem sich das Subjekt nicht erkennen kann. Das Subjekt konsistituiert sich
zwar so, daß es diese unsubjektivierte Wissen auf sich nim m t, aber diese
Subjektivierung ist gleichzeitig imm er schon eine subjektive Destitution, eine
Desubjektivierung.
W ir sin d d e n n o c h b e re c h tig t, diese subjektive D e stitu tio n auch
weiterhin als Subjektivierung zu bezeichnen, wenn wir davon ausgehen, daß
die Subjektivierung eine m inim ale Distanz des Subjekts jen em M om ent
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Rado Riha
gegenüber beinhaltet, von dem es destituiert wird. Das Dasein des Subjekts
fällt mit seinem Vermögen zusammen, eine nichtige Distanz dem gegenüber
aufrechtzuerhalten, von dem es destituiert wird. Diese Distanz ist deshalb
n ich tig , weil das S ubjekt seinem W esen n a c h n ic h ts a n d e re s als ein
fo rtw ä h ren d e r D estitu tio n sp ro zeß se in e r v e rsc h ie d e n e n p a rtik u lä re n
Identitäten ist. Gleichzeitig muß aber auch ein leeres Interval zwischen dem
Subjekt u n d dem, wovon es desubjektiviert wird, erhalten bleiben. Es m uß
erhalten bleiben, wenn das Subjekt sein H andeln als unbedingtes, absolut
g ru n d lo s H a n d e ln d e n k e n u n d v e rw irk lic h e n will - als »Sinn o h n e
Bedeutung«, wie ich hier Kants F o rderung nach ein er Maxime übersetzte,
die gleichzeitig auch als universelles Gesetz gelten könnte.
Diese unbedingte Verwirklichung der praktischen V ernunft ist ein er
einzigen B edingung unterw orfen. Die B edingung des U n b edingten liegt
darin, daß das Subjekt als punktuelle, fragm entäre Stütze d er beständigen
V erifizierungseiner anfänglichen Ä ußerung, seine subjektive Maxime gelte
für ihn nicht, wenn sie nicht gleichzeitig auch für Alle a n d eren gelte. Das
Subjekt ist autonom deshalb, weil es für sein H andeln keine andere Gewähr,
keine andere Gewißheit verlangt als sein eigenes V erm ögen, die M axime,
die sein H andeln leitet, zu universalisieren. Wir dürfen also nicht übersehen,
daß das Universelle des m oralischen Gesetzes nicht als etwas Ansichseiendes
besteht. Das Universelle des praktischen Gesetzes besteht nicht unabhängig
von der Universalisierung der Maxime. U nd bei dieser U niversalisierung
geht es nicht um eine Anw endung des A llgem einen au f das B esondere im
Sinne eines: »für jedes X gilt Y«. Das Universelle des m oralischen Gesetzes
ist bei Kant im m er ein konstruiertes, nie ein angew andtes Universelle.
Worin besteht aber diese K onstruktion des Universellen? Ich m eine,
daß sie als Ä ußerungsakt des Subjektes verstanden w erden m uß, durch den
das Subjekt festsetzt, daß etwas »der Fall des universellen Gesetzes« sei.
Dieser »Fall des Universellen« kann so m anches sein, eine Ä ußerung, eine
Ereignis, ein Vorhaben, wesentlich ist, daß es in d e r O rd n u n g des sinnlich
Bedingten, in einer em pirischen Situation also, als eine paradoxe, je d e r
Partikularität entledigte Partikularität, als etwas Singuläres wirkt. Dam it aber
der »Fall des Universellen« als eine solche Singularität wirken kann, sind zwei
Bedingungen erfordert. Erstens, die Existenz des »Falles« h ä n g t von der
Existenz eines Subjeks ab, das sich selb st das G esetz gibt, d .h ., eines
Subjektes, das sich durch seine Ä ußerung konstituiert, daß es einen »Fall des
Universellen« gebe. U nd zweitens, die Existenz des »Falles« m uß etwas sein,
was im Prinzip an Alle adressiert ist u n d an Alle übertragbar ist.
Autonom ist also ein Subjekt, das die m ateriellen Auswirkungen seiner
»Reinheit«, d.h., seiner konstitutiven Spaltung au f sich genom m en hat. Es
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Die Gewißheit des Philosophierens
h a n d e lt sich um ein Subjekt, daß das Faktum des m oralischen Gesetzes auf
sich genom m en h a t - das bedeutet, die Existenz des Universellen in Form
eines S in g u lären , eines u n e rk lä rb a re n u n d u n b e d in g te n »Falles«. Die
U n b edingtheit u n d U nerklärbarkeit des »Falls des Universellen« und die
A u to n o m ie des S ubjektes b e d in g e n sich w echselseitig. D er »Fall des
Universellen« ist u n e rk lä rb a r u n d unbdingt, insofern er n u r in der sub­
jektiven D eklaration b eg rü n d et ist, einer Deklaration, die selbst n u r in der
D eklarationsäußerung begründet ist. Und das Subjekt ist autonom , insofern
es sich als Verm ögen konstituiert, auf eine konsistente u n d koheränte Weise
den singulären »Fall des Universellen« als etwas zu verifizieren, was sich an
Alle w endet, was universel gilt.
U nd nur in diesem subjektiven Vermögen, eine irreduktible Singularität,
etwas also, was in n erh a lb d er em pirischen O rd n u n g des Sinns für diese
O rd n u n g ihr Unm ögliches ist, als das nachzuweisen und zu verifizieren, was
an Alle übertragbar ist, kann m einer M einung nach heute die Gewißheit des
Subjekts g rü n d e n . In so fe rn ließe sich sagen, daß aus dem K antschen
W eltbegriff d e r P hilosophie die L ehre gezogen w erden kann, daß sich
Gewißheit h eu te als Prinzip d er Hoffnung anbietet.
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