Sprache und Verständnis Die Sprache des Menschen ist ein wunderbares Phänomen, das viel mehr als eine einfache Laut zu Laut Kommunikation zulässt. So umfasst die Sprache allgemein die Kommunikation zwischen einzelnen Individuen. Wahrscheinlich entstand sie beim Menschen genau einmal vor rund 60 000 Jahren. Leider ist es sehr schwierig festzustellen, wann die ersten Menschen zu einer umfangreichen stark modulierten Sprache mit abstrakten Begrifflichkeiten fähig waren. Deshalb schwanken die Zeitangaben sehr stark (von 100 000 bis 40 000 Jahren). Zur Erforschung gibt es verschiedene Zugänge. So interessiert man sich für die Kommunikation zwischen Tieren. Diese Tiermodelle lieferten interessante Einblicke in die Kommunikation zwischen Individuen. Das einfachste Modell ist die Prägung von Singvögel. Bei diesen Vögeln wird die Paarungsbereitschaft, das Brunftverhalten usw. durch spezielle Gesänge den anderen Tieren mitgeteilt. Die Gesänge werden nicht vererbt, sondern während einer speziellen Prägungsphase, in der das Muttertier dem Jungtier den Gesang vorsingt, kann das Jungtier den Gesang lernen. Das gelernte Muster kann im späteren Leben nicht mehr verändert oder angepasst werden. Interessanterweise können sich über ein paar Generationen neue Dialekte bilden. Die Reproduktion, bzw. das Lernen verläuft nicht perfekt. Es kommt zu kleinen Fehlern, die wiederum an die nächste Generation weitergegeben werden, aber nur dann wenn der Gesang erfolgreich war. Hier hat der Gesang eine einfache Aufgabe: es soll der innere Zustand des Tieres an andere Tiere vermittelt werden. Nur dadurch kommt es zum Beispiel zur Paarung. Das Signal selber ist sehr spezifisch, es tritt sicher nicht per Zufall in der Natur auf. Allerdings kann dieses Signal auch nicht verändert werden, wenn sich zum Beispiel die Umwelt verändert. Eine andere Gruppe von Tieren, die Bienen, benutzt die Kommunikation aus einem anderen Zweck. Wenn Bienen auf Futtersuche einen guten Futterplatz gefunden haben, dann fliegen sie zu ihrem Stock zurück, und beginnen einen speziellen Tanz zu tanzen. In diesem Tanz ist die Entfernung zur Wiese und der Winkel zwischen dem Stand der Sonne und Eingang des Bienenstockes codiert. Die anderen Bienen beginnen nun diesen Tanz mitzutanzen. Wenn sie ihn beherrschen, können sie selber zum neuen Futterplatz fliegen und Futter sammeln. Diese Sprache gibt keine Information über den inneren Zustand der Biene weiter. Es werden Informationen über die Umwelt, die das Überleben des ganzen Bienenstockes ermöglichen, ____________________________________________________________________________________________ 64 Brain Modelling an andere Bienen weitergegeben. Allerdings ist die Informationsweitergabe nicht an eine einzelne Biene oder an eine Gruppe von Bienen gebunden. Alle Bienen, die in der Nähe der Biene mit der neuen Information sind, erfahren die neue Information. Das heißt, die Sprache der Bienen ist nicht interpersonell und stereotyp. Natürlich stellte sich die Frage ob nicht auch Affen zu einer menschenähnlichen Kommunikation fähig sind. Das Psychologenehepaar William und Lorna Kellogg versuchten die Schimpansin „Gua“ mit den eigenen Kindern aufzuziehen (für diese Experimente werden ausschließlich weibliche Tiere untersucht, denn sie sind nicht so aggressiv, wie die männlichen Tiere). Sie hofften, daß dadurch die Schimpansin das Sprechen lernen und somit zu einer „menschlichen“ Kommunikation fähig wäre. Aber diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Bei Schimpansen ist der Stimmapparat für das Sprechen nicht geeignet. Der Kehlkopf liegt sehr weit oben. Dadurch ist es nicht möglich, Vokale verschiedenster Tonalität zu erzeugen. Die Tiere sind zwar in der Lage Geräusche von sich zu geben, aber die Modulation ist stark eingeschränkt. Allerdings bietet ein höhergelegener Kehlkopf die Möglichkeit, gleichzeitig zu essen und zu atmen. Um das Problem mit der Stimme zu umgehen, versuchte das Psychologenehepaar Allen und Beatrice Gardner der Schimpansin „Washoe“ die amerikanische Zeichensprache für taube Menschen beizubringen. Mit Zeichen-Sprache war es möglich, daß ein 4 Jahre alter Affe 160 Wörter erlernte (4-jähriges Kind 3000 Wörter). Der Schimpanse konnte Wörter in eine sinnvolle Reihenfolge stellen, verneinen, Gleichsetzungen und Unterscheidungen durchführen, beherrschte wenn-dann Sätze und konnte Fragen stellen. Das war ein unheimlicher Erfolg. Endlich war es gelungen mit einer anderen Spezies Kontakt aufzunehmen. Die vorgezeigten Erfolge waren aber bei näherer Betrachtung nicht ganz so beeindruckend. Wenn eine andere Person versuchte mit der Schimpansin zu kommunizieren, waren die korrekten Antworten zufallsverteilt. Es zeigte sich, dass die Tiere sehr genau auf die Mimik und Gestik des Gegenübers achteten und danach ihre Reaktionen ausrichteten. Die Tiere lernten eine Reiz-Reaktion, aber keinen kreativen Sprachgebrauch. Wenn die richtigen Symbole oder Umweltreize auftauchten, dann reagierte das Tier in der vorher trainierten Weise. Es scheint so zu sein, daß die „Sprachverarbeitung“ bei Menschenaffen in einem anderen Teil des Gehirn stattfindet, als beim Menschen. Bei den Affen dürften die ReizReaktions-Ketten im präfrontalen Cortex gespeichert sein, während beim Menschen ein Sprachareal zwischen den Hinterhauptslappen und dem Schläfenlappen angesiedelt ist. Zukünftige Untersuchungen (möglicherweise mit einem FMRI) werden Klarheit schaffen. Wenn man das „Sprachverständnis“ von Menschenaffen und Menschenkindern vergleicht, dann ergeben sich interessante Ergebnisse. Bonobos können bis zum zweiten Lebensjahr gleich viel Lernen, wie ein Menschenkind. Allerdings tritt bei den Bonobos ab dem zweiten Lebensjahr eine Stagnation des Sprach-Lernprozesses auf. Aber gerade bei Menschenkindern kommt es ab diesem Alter zu einem explosionsartigem Lernen von Begriffen und grammatikalischen Zusammenhängen. Kinder beginnen mit dem 6. Monat zum Plappern. Dieses Plappern ist wichtig, denn durch das aktive Zuhören der Gespräche der Bezugspersonen, lernen die Kinder die Silben, aus denen die zukünftige Muttersprache zusammengesetzt ist. Durch das Plappern wird versucht diese Silben zu reproduzieren. Nach einem Jahr entwickelt sich eine Ein-Wort-Sprache. Das Kind ist in der Lage, Personen oder Gegenstände die in das Blickfeld geraten, zu benennen, beziehungsweise einfache innere Zustände auszudrücken (Hunger, Angst). Die inneren Zustände werden in diesem Alter aber vor allem auch durch Mimik und Gestik kommuniziert. Es bildet sich nach ungefähr dem 2. Lebensjahr eine Zwei-Wort-Sprache. Meist wird ein Hauptwort und ein Verb kombiniert. Mit dem 3. Lebensjahr wird die Sprache verfeinert, das heißt die Grammatik ist in den Grundzügen vorhanden, es wird aber immer noch eine ZweiWort-Sprache verwendet. Ab dem 3. Lebensjahr kommt es zu einem extremen Wissenserwerb über die Muttersprache, vor allem über die Begriffe über die die Welt definiert wird. Diese Periode hält ungefähr bis zu 14. Lebensjahr an. Im Prinzip ist dann die ___________________________________________________________________________________ Sprache und Verstehen 65 Sprachentwicklung abgeschlossen. Nach dieser Periode kann Sprache nur mehr explizit und nicht mehr intuitiv erlernt werden, was mit großem Aufwand verbunden ist. Man darf nicht vergessen, daß ein durchschnittlicher Amerikaner rund 40 000 Wörter (oder besser Wortfamilien) kennt. Die meisten dieser Worte wurden bis zum 14. Lebensjahr erlernt. Das bedeutet, dass rund 10 Wörter pro Tag vom 3. bis zum 14. Lebensjahr gelernt werden müssen. Dieses Lernen ist nicht explizit. Die Kinder eignen sich selbstständig (fast) ohne Aufsicht Begriffe und deren Bezeichnungen an. Jeder der einmal eine Fremdsprache gelernt hat, weiß wie schwierig es ist, über einen längeren Zeitraum regelmäßig 10 Wörter pro Tag dauerhaft zu lernen. Es gibt einige interessante Experimente zu diesem Lernverhalten. In einem Kindergarten wurden 3 Tabletts mit den Farben blau, kupferfarben und olivefarben aufgestellt. Die Farbbegriffe kupferfarben und olivefarben waren den Kindern nicht bekannt. Nun bat eine Kindergartentante ein Kind darum, das blaue Tablett zu holen. Das Kind folgte und holte das richtige Tablett – die Farbe war bekannt. Danach bat die Tante das Kind das kupferfarbene Tablett zu holen. Das Kind betrachtete beide Tabletts, kam zur Kindergartentante zurück und teilte ihr mit, dass es nicht weiß welches von beiden das kupferfarbene sei. Die Tante ging mit dem Kind zu den Tabletts und zeigte mit dem Finger auf das richtige Tablett. Am nächsten Tag fragte die Tante nach dem olivefarbenen Tablett – diese Farbe wurde bis dahin nicht erwähnt. Das Kind nahm das richtige Tablett und brachte es der Betreuerin. Ab diesem Zeitpunkt konnte das Kind den Farbbegriff olivenfarben aktiv verwenden, ohne das jemals ein Erwachsener den Begriff erklärte oder über das Zeigen eines olivefarbenen Gegenstandes definierte. Dies zeigt, wie einfach Kinder in der Lage sind, neue Begriffe selbstständig ohne Aufsicht zu lernen. Es gibt dann eine Phase in der es zu einer Kategorisierung von Begriffen kommt. Diese Phasen erreichen Tiere nicht, zumindest gibt es bis jetzt keine Experimente die dies belegen. Es werden Oberbegriffe geschaffen, um die Welt leichter strukturieren zu können. Es handelt sich um eine Abstrahierung der Welt. Dabei gibt es aber eine kurze Phase in der Sprachentwicklung, bei der es zu Problemen mit der Kategorisierung kommt. Bei der Überbezeichnung werden zum Beispiel alle roten und runden Gegenstände als Apfel bezeichnet. Eine Tomate, rot und rund, ist damit auch ein Apfel, für ein Kind. Bei der Untergeneralisierung werden Apfel unterschiedlicher Farbe nicht zu einer Kategorie zusammengefasst. Ein grüner Apfel ist kein Apfel, da er grün und nicht rot ist. Erst durch ein aktives Verwenden der Begriffe und der Erfahrung mit der Umwelt kommt es zu einem differenzierterem Verwenden von Begriffen. Erst durch die Erfahrung von anderen Eigenschaften, zum Beispiel der Oberfläche einer Frucht, beziehungsweise deren Farbverteilung (bei der Tomate extrem glatt und gleichmäßig rot, beim Apfel glatt und unregelmäßig rot) kann eine korrekte Abstrahierung durchgeführt werden. Es gibt einige Definitionen in der Sprachwissenschaft, die für das Verständnis wichtig sind: Phoneme: Sie stellen das phonetische Alphabet dar. Wenn wir ein Wort aussprechen, dann setzt sich dieses Wort aus einzelnen Phonemen zusammen, genauso wie ein geschriebenes Wort aus Buchstaben. Die Lautschrift, die zusammengesetzte Phoneme, ist wohl jedem bekannt, der schon jemals eine Fremdsprache gelernt hat. Genauso wie es beim Alphabet Unterschiede zwischen verschiedenen Sprachen gibt, gibt es dies auch bei der Lautschrift. So kann die Phonemanzahl von Sprache zu Sprache ziemlich variieren. Syntax: Über den Syntax wird die zulässige Kombination von Wörtern zu Sätzen bestimmt. Lexikon: Im Lexikon sind alle Wörter einer Sprache, die bekannt sind, gesammelt. Eigentlich sind damit Wortfamilien gemeint. Theoretisch liefert die Einzahl oder die Mehrzahl von einem Gegenstand zwei unterschiedliche Wörter – und sei es, daß sich nur die Endigung ____________________________________________________________________________________________ 66 Brain Modelling unterscheidet. Genauso liefert jede Deklination und Konjugation unterschiedliche Wörter. So werden diese Wörter zu einer Wortfamilie zusammengefasst. Semantik: Über die Semantik ist die Bedeutung aller lexikalischen Einheiten und aller Sätze definiert. Jedes Wort hat eine eindeutige Position im semantischen Raum (siehe unten). Die Sprache des Menschen erlaubt es nicht nur, einfach die Umwelt zu beschreiben, oder eigene innere Zustände zu beschreiben, sie erlaubt auch eine differenziertere Beschreibung von Zusammenhängen. Durch die Abstrahierung ist es möglich, Begriffe zusammenzufassen und Oberbegriffe zu schaffen. Dadurch wird die Kommunikation vereinfacht aber auch verkompliziert. Betrachten wird den Beginn einer Geschichte: „Meinen letzten Urlaub verbrachte ich in Podersdorf am Neusiedlersee. Jeden Tag mussten wir die Straße vom Campingplatz in die Ortschaft gehen um . . .“. Der Begriff >>Straße<< würde wohl niemanden auffallen, oder jemand zum Denken anregen. Aber meinen wir alle das selbe ? Es ist sehr unwahrscheinlich, dass alle Personen die Straße von Podersdorf kennen. Manche werden es für eine Bundesstraße, andere für eine kleinen Weg und wieder andere für eine Landstraße halten. Jeder von uns hat zu dieser Straße ein Vorurteil (zumindest jeder der diese Straße nicht kennt !). Aber in einem stimmen alle überein: ein langgezogener Bereich, der eben ist und welche der Fortbewegung von Menschen und Maschinen dient. In jedem Menschen bildet sich zwangsläufig ein Bild im Kopf über diese Straße. Dies lässt sich nicht verhindern – dieser Effekt ist eine integraler Bestandteil unseres Denkens, der Informationsverarbeitung im Gehirn (siehe Informationsverarbeitung im Gehirn). Leider kann dies auch zu Problemen führen, vor allem wenn die (sprachliche) Information nicht vollständig oder unter falschen Annahmen übermittelt wurde. Wenn man von Sprache und Kommunikation spricht, dann meint man meist die verbale Kommunikation über die Stimmbänder, den Kehlkopf bis hin zum Ohr. Es zeigte sich aber, daß die Sprache unabhängig davon ist. Man entdeckte, dass Zwillinge, die taub auf die Welt kamen, nach einiger Zeit (in der sensiblen Phase des Spracherwerbs) eine eigene Sprache über Handzeichen entwickelten. Die Art der Kommunikation und die Wahl der Sprache ist nicht festgelegt, aber es wird sich „etwas“ entwickeln, das zur Kommunikation dient. Wenn allerdings Kinder ohne sozialen Kontakt aufwachsen, das heißt, ohne sprachliche Stimulation, sei es verbal oder nonverbal, dann kann keine Sprache entstehen. Es gibt kein gegenüber, mit dem man kommunizieren könnte. Die Bereichte über Wolfskinder zeigten dies in dramatischer Weise. Kinder die in frühen Jahren in der Wildnis ausgesetzt wurden, kommunizierten zum Beispiel mit Wölfen. So konnten sie gemeinsam mit ihnen jagen. Sobald sie aber von Menschen entdeckt wurden, und man versuchte sie in die menschliche Gesellschaft zu integrieren, gab es Problem. Diese Kinder konnten meist nicht mehr die „normale“ Sprache erlernen. Meist gelang es nur, den Jugendlichen ein paar Wörter beizubringen, aber zu einem komplexen Sprachgebrauch kam es nie. ___________________________________________________________________________________ Sprache und Verstehen 67 In den Neurowissenschaften konnte Paul Broca interessante Beiträge zur Sprachverarbeitung liefern. So untersuchte er einige Patienten und stellte bei ihnen spezifische Sprachdefizite fest. Durch eine Obduktion nach deren Tod konnte er feststellen, dass eine Region des Gehirns bei diesen Patienten zerstört war. Dieses Gebiet wurde später ihm zu Ehren als Broca-Areal bezeichnet. Da Broca nur männliche Probanden zur Verfügung standen und sich das spezielle Areal bei ihnen in der linken Hemisphäre befand, vermutete er, dass ausschließlich die linke Hemisphäre zur Sprachverarbeitung verantwortlich sei. Erst später zeigt sich, dass es geschlechtsspezifische Unterschiede gibt. So ist bei den Damen das Areal für die Sprache auf beide Hemisphären verteilt. Dies ist auch der Grund, warum der Balken, weibliches Gehirn männliches Gehirn die Hauptverbindung zwischen den Hirnhälften, bei Frauen stärker ausgeprägt ist. Die Areale sind stark miteinander verknüpft. Sollte eines beschädigt werden, so kann das andere einen wesentlichen Teil der Aufgabe der Kommunikation übernehmen. Die Zahl der für die Sprachverarbeitung zugewiesenen Neuronen scheint aber gleich groß zu sein. Daraus folgt, daß die Abbildung. 6.1: Zwei FMRI-Aufnahmen, mit aktiven Sprachkompetenz bei den Spracharealen. Der Unterschied zwischen weiblichem und Geschlechtern wahrscheinlich gleich männlichem Gehirn ist leicht zu erkennen. gut oder schlecht vorhanden ist. Aus all dem bisher gesagtem ergeben sich zwei wesentliche Feststellungen: I Die kognitive Verarbeitung von Sprache findet (beim Mann) in der linken Hemisphäre statt und ist unabhängig von den neuralen Verschaltungen, die für die beim Sprechen aktiven sensorischen und motorischen Funktionen verantwortlich sind. II Sprechen und Hören sind keine notwendigen Bedingungen für die Entwicklung von Sprachfähigkeit. 6.1 Das Wernicke-Geschwind Modell Die Patienten von Broca waren vor allem in der Sprachproduktion schwer gestört. Die Patienten blieben einfach stumm, oder es wurden schleppend einfache Wortkombinationen gesprochen. So wird zum Beispiel der Satz „Ich sah einige graue Katzen.“ zu folgendem Konstrukt „Sehen graue Katze.“ für einen Patienten mit einer Schädigung des Broca-Areals. Der Patient ist sich im allgemeinen seiner Störung bewusst, und sein Sprachverständnis ist im allgemeinen gut erhalten. Die Patienten verstehen zwar die Sprache, sind aber nicht in der Lage eine Antwort, sei es verbal oder handschriftlich, zu kommunizieren. Der Neurowissenschafter Wernicke entdeckte, dass es noch eine weitere große Gruppe von Patienten gibt, die starke Gemeinsamkeit von Störungen in der Sprachverarbeitung aufweisen. Diese Patienten hatten ein schweres Verständnisdefizit. Sie sind in der Regel nicht in der Lage, das richtige Wort zu finden. Meist wird ein unpassendes Wort verwendet, oder es werden neue Phantasiewörter gebildet. Sie scheitern daran, Gedanken durch die Sprache zu übermitteln. Auch das Lesen und Schreiben ist stark beeinträchtigt. So antwortet ein Patient, der an dieser Störung leidet, auf die Frage „Wo lebst Du denn?“ folgendermaßen: „Ich kam dorther vor hier und ging dorthin zurück.“. Die Patienten sind sich normalerweise nicht über ihr Problem bewusst. Wernicke konnte zeigen, dass es im Gehirn ein weiteres Areal gibt, dass für die Sprachverarbeitung verantwortlich ist. ____________________________________________________________________________________________ 68 Brain Modelling Fasciculus arcuatus Broca-Areal Wernicke-Areal Abbildung 6.2: Das Broca- und das Wernicke-Areal auf der Großhirnrinde, verbunden durch einen Faserstrang, den fasciculus arcuatus. Nach Brodmanns Unterteilung gilt: Area 4 ist der primäre motorische Cortex, Area 41 der primäre auditorische Cortex, Area 22 ist das Wernicke-Areal und Area 45 das Broca-Areal. Wie man leicht in Abbildung 5.2 erkennen kann, liegen die beiden Areale in der Nähe der jeweiligen wichtigen Gehirnareale. Das Wernicke-Areal liegt im Zentrum der sensorischen übergeordneten Areale. So erhält es Signale aus dem übergeordneten visuellem oder übergeordnetem auditivem Areal. Zudem steht es in Kontakt, zum PTO-Areal. Deshalb wird es auch als das sensorische Sprachareal bezeichnet. Wenn dieses Areal ausfällt oder beschädigt wird, dann kommt es zu schweren Verständnisdefiziten. Möglicherweise können sich die Patienten auch die Wörter nicht mehr vorstellen. Aktuelle Untersuchungen werden mehr Informationen liefern. Das Broca-Areal ist für die motorische Sprachproduktion essentiell. Es liegt in der Nähe der motorischen Areale der Großhirnrinde. Sollte dieses Areal zerstört sein, so ist eine Artikulation oder auch eine handschriftliche Kommunikation nicht mehr möglich. Bei einer teilweisen Beschädigung kommt es zu schweren grammatikalischen Fehlern. Über eine starke Verbindung sind beide Areale miteinander verbunden. Das Wernicke-Geschwind Modell links rechts fasst diese Ergebnisse zusammen. Dieses Modell ist zwar nicht mehr das aktuellste, aber praktisch alle Fasciculus Broca-Areal Modelle der Sprachverarbeitung arcuatus basieren auf ihm. In Abbildung primärer 6.3 kann man gut den Verlauf des motorischer Signals eines gelesenen Wortes Cortex erkennen. Zuerst gelangt über die Retina die Information zum Thalamus. Dort kommt es zur Wernicke-Areal Thalamus ersten Vorverarbeitung. Danach gelangt das Signal in den primären visuellen und parietal-temporalunmittelbar folgend in den okzipitaler übergeordneten visuellen Cortex. Assoziationscortex Nun gibt es zwei Möglichkeiten. sekundärer visueller Cortex primäres visuelles Areal Wenn das Wort Buchstabe für Buchstabe vorgelesen wird, die Abbildung 6.3: Der Verlauf der Signale eines gelesenen Wortes semantische Bedeutung ist dabei über das Wernicke-Areal und Broca-Areal bis zur Aussprache. ohne Relevanz, gelangen die Die Abbildung zeigt einen Gehirnquerschnitt mit allen beteiligten Signale direkt in das Broca-Areal. Arealen. Wird das Wort aber semantisch verarbeitet, so gelangt es zuerst in das Wernicke-Areal. Das ___________________________________________________________________________________ Sprache und Verstehen 69 heißt das Wort wird gelesen, dann die Bedeutung verarbeitet (verstanden) und dann erst ausgesprochen. Diese Aussprache ist natürlich viel flüssiger, als im vorigen Fall. Das Wernicke-Geschwind-Modell macht eine Vorhersage, wenn die Verbindung zwischen dem Wernicke- und dem Broca-Areal gestört ist. Diese sogenannte Leitungsaphasie führt zu einer nicht flüssigen Sprachproduktion, korrekte Ausdrücke werden durch unpassende ersetzt. Das Bezeichnen von Dingen oder Personen ist stark gestört, aber das Verständnis für Geschriebenes oder Gehörtes ist als normal zu bezeichnen. Sprechen Schreiben motorischer Output motorische Programmierung Codierung der Artikulation bei Broca-Aphasie geschädigt semantische Assoziation bei WernickeAphasie geschädigt phonologische Codierung visuelle Codierung frühe auditorische Verarbeitung frühe visuelle Verarbeitung Sprache hören Schrift lesen Abbildung 6.4: Das Struktogramm eines leicht erweiterten Wernicke-Geschwind-Modells. Die Erweiterung besteht in einem zusätzlichen Areal für die semantische Assoziation. Über diese semantischen Assoziationen kann die Information besser kategorisiert werden. Mit dem Modell aus Abbildung 6.4 können auch noch andere Störungen, die bei der Sprachverarbeitung auftreten können, erklärt werden. So versteht man unter einer Alexie den Verlust der Lesefähigkeit. Sie tritt dann auf, wenn das Areal für die visuelle Codierung gestört ist. Die Buchstaben beginnen zu verschwimmen und damit können die Buchstaben gar nicht gelesen werden. Es handelt sich dabei um eine Wortblindheit. Trotzdem kann auditive Sprache korrekt verarbeitet werden. Bei der Agraphie ist der Patient nicht in der Lage, Informationen aufzuschreiben. Es scheint, dass die Verbindung zwischen dem Broca-Areal und dem primären motorische Areal für die Handbewegung gestört ist. Selten kommt es zu einem gemeinsamen Auftreten von Alexie und Agraphie, trotzdem können die Patienten sprechen und hören. ____________________________________________________________________________________________ 70 Brain Modelling motorische Rinde Fasciculus arcuatus Broca-Areal Wernicke-Areal primäres Hörzentrum Abbildung 6.5: Darstellung der Signalweiterleitung auf der Oberfläche des Gehirns, wenn ein Wort gehört wird und unmittelbar danach ausgesprochen wird. motorische Rinde Fasciculus arcuatus Lesezentrum Broca-Areal Wernicke-Areal primäres visuelles Areal Abbildung 6.6: Darstellung der Signalweiterleitung auf der Oberfläche eines Gehirns, wenn ein Wort gelesen wird und unmittelbar danach ausgesprochen wird. Für das Lesen gibt es ein eigenes Areal, das Lesezentrum. Aufgrund der Erkenntnisse, die in den Abbildungen 6.5 bis 6.7 dargestellt sind, ergibt sich für das Lesen ein etwas komplexerer Sachverhalt. Es gibt ein eigenes Areal, das ausschließlich für die Wortbedeutung zuständig ist. Dieses Areal kann aber auch durch das Hören aktiviert werden. Wenn man ein Wort hört, dann entsteht in unserem Kopf das Bild von dem Wort, oder es erscheint die Buchstabenfolge oder auch die phonetische Codierung. Sehen von Wörtern Hören von Wörtern Generieren von Wörtern Sprechen von Wörtern Abbildung 6.7: FMRI-Aufnahmen verschiedener Sprachverarbeitungsprozesse. während ___________________________________________________________________________________ Sprache und Verstehen 71 Natürlich ist auch der Fremdsprachenerwerb ein interessantes Gebiet für die Forschung. Kinder können Muttersprache I hervorragend vom dritten bis Muttersprache II zum achten Lebensjahr gemeinsames Feld „spielend“ Sprachen lernen. Man könnte feststellen, dass Kinder, die einen zweisprachigen Kindergarten besuchen, automatisch beide Sprachen lernen – ohne großen Aufwand. Im Vergleich dazu brauchen Erwachsene lebenslang um Muttersprache eine andere Sprache zu Fremdsprache lernen. Es gab zwar schon vor Jahrzehnten Versuche mit zweisprachigen Kindergärten, aber diese Versuche wurden (leider) vorzeitig abgebrochen. Man Abbildung 6.8: FMRI-Aufnahmen Personen mit einer bzw. zwei konnte in einer bestimmten Muttersprachen bzw. einer Fremdsprache. Entwicklungsstufe feststellen, dass die Kinder beide Sprachen gleichzeitig – in einem Satz – verwenden. In dieser Phase wird die Grammatik als auch die Vokabeln quer durcheinander vermischt. Man brach die Versuche ab, da man befürchtete, dass die Kinder nur mehr diese Mischsprache verwenden und nicht mehr zu einer „normalen“ Kommunikation fähig seien. Später konnte man aber zeigen, dass die Ängste unbegründet waren und dass diese Phase nur ein halbes Jahr lang andauert. Nach dieser Phase haben die Kinder praktisch die volle Sprachkompetenz in beiden Sprachen, vergleichbar den Kindern, die jeweils nur eine Sprache verwendet haben. Allerdings können zweisprachig aufwachsende Kinder zwei Sprachen gleich gut. Es ist nicht so, dass durch die Zweisprachigkeit die Kompetenz in einer Sprache leidet. Moderne Verfahren, wie das FMRI, konnten zeigen, dass es auch im Gehirn einen Unterschied gibt (Abbildung 6.8). Eine Person, die eine Muttersprache spricht und erst später eine zweite Sprache erlernt hat – die zweite Sprache oder auch Fremdsprache – besitzt zwei benachbarte Bereiche im Broca-Areal, die für jeweils eine Sprache verantwortlich sind. Hat eine Person aber gleichzeitig zwei Sprachen gelernt – zwei Muttersprachen, dann überlappen sich die beiden Bereiche im Broca-Areal. Es gibt zwar noch zwei Bereiche, die nur einer Sprache zuzuordnen sind, aber diese Bereiche sind relativ klein. Wahrscheinlich benötigt man sie, um spezielle Ausdrücke oder Phrasen, die nur in einer Sprache auftreten, auszudrücken. Man denke an Begriffe aus dem Wienerischen wie zum Beispiel „Leiwand1“ oder „Vollkoffer2“. Eine exakte Übersetzung ist schwer bis gar nicht möglich. Personen mit einer Muttersprache und einer Fremdsprache neigen zu einem interessanten Phänomen. Sprechen sie längere Zeit in der Fremdsprache und kehren in das Heimatland zurück, dann sprechen sie fast automatisch manchmal noch in der Fremdsprache. Es fällt den Personen relativ schwer, zwischen den beiden Sprachen zu wechseln. Hingegen Personen mit zwei Muttersprachen können ohne Probleme zwischen diesen beiden leicht wechseln. Meist sogar Satz auf Satz. 1 2 Das Gegenteil von Oasch Idiot in allen Lebensbereichen, vgl. Koffer: Idiot in einem speziellen Lebensbereich ____________________________________________________________________________________________ 72 Brain Modelling 6.2 Legasthenie Da das Lesen etwas komplexer ist, ergeben sich auch ganz spezielle Störungen. So hatte 1877 Kussmaul die Wortblindheit als eine lebenslang andauernde Leseunfähigkeit diagnostiziert. Der Neurowissenschafter Berlin prägte den Begriff „Dyslexie“, die eine allgemeine Leseunfähigkeit oder Leseschwäche beschreibt. Man unterscheidet zwei Arten von Dyslexien: • Entwicklungsbedingte Dyslexien: Für die Lesefähigkeit wichtige Gehirnteile sind nicht vorhanden oder anormal entwickelt. • Erworbene Dyslexie: Es tritt eine Hirnschädigung auf, nachdem der Patient lesen gelernt hatte, wodurch ein weiteres Lesen behindert wird. Der Neurowissenschafter T. Orton bemerkte, dass Linkshänder überproportional oft beim Lesenlernen Buchstaben und Worte vertauschen. Seiner Meinung war die nicht-dominante Hemisphäre für die Dyslexie verantwortlich, denn sie enthalte ein umgekehrtes Bild der Dinge aus der Realität. Durch ein geeignetes Lernen könne die ursprüngliche Dominanz der dominanten Hemisphäre wieder hergestellt werden. Das Vertauschen von Symbolen wird als Strephosymbolie bezeichnet. Folgende zwei Beispiele sollen dieses Syndrom verdeutlichen: b d nie ein Ähnliche Symbole wurden verwechselt oder in der falschen Reihenfolge geschrieben. Es zeigte sich erst später, daß praktisch alle Kinder während dem Leseerwerb mit Wörtern und Buchstaben spielen. Damit ist auch das absichtliche Vertauschen von Buchstaben oder das spiegelbildliche Schreiben gemeint. Beim Lesen müssen Buchstaben identifiziert werden. Zudem müssen Buchstaben in Laute umgewandelt werden – phonologische Fähigkeit. Um dem Wort eine Bedeutung geben zu können bedarf es einer semantischen Fähigkeit. So gibt es zwei Arten Wörter zu lesen. Das graphemische Lesen entspricht einem lexikalischem Lesen. Das Wort wird als ganzes, als Symbol, wahrgenommen und direkt phonologisch codiert. Diese Leseart gilt vor allem für Wörter, die anders ausgesprochen werden, als sie geschrieben werden. Beim phonologischem Lesen werden Regeln verwendet, um Buchstabenkombinationen in Phoneme umzuwandeln. Diese Regeln führen zur richtigen Aussprache. Deshalb ist es möglich, Wörter die man nicht kennt, korrekt auszusprechen. So gibt es im Deutschen die Regel Wörter mit „-tion“ als [tßion] auszusprechen. Bei Kindern stellt man fest, dass sie zuerst Buchstabe für Buchstabe lesen und sie direkt phonologisch umwandeln. Zuerst kommt es bei Kindern zum phonologischen Lesen und erst später zum graphischen Lesen. Das heißt, ab dem 6.-10. Lebensjahr beginnen die Kinder die Wörter als ganzes wahrzunehmen, und es wird auf das lexikalische Wissen, wo auch die phonetische Codierung gespeichert ist, zurückgegriffen. Wenn Erwachsene lesen, so verwenden sie meist das graphemische Lesen. Dies erklärt auch die Probleme beim Korrekturlesen. Die Wörter werden als Ganzes wahrgenommen, und nicht Buchstabe für Buchstabe. Da man die Wörter, ohne sie exakt lesen zu müssen, leicht erkennen kann, werden falsche Buchstaben nicht oder nur selten erkannt. Theoretisch müsste man bei Kindern 2 Gruppen von Lesestörungen finden. Zum einen Kinder, die die phonologische Methode nicht beherrscht. Das sind Kinder, die schon in der frühen Lesephase Probleme haben. Zum anderen gibt es Kinder bei denen die Probleme erst ___________________________________________________________________________________ Sprache und Verstehen 73 später auftreten, wenn das graphemische Lesen aufgebaut wird. Tatsächlich hat man diese Differenzierung gefunden. Wenn es bei der einen Gruppe von Kindern Probleme mit der phonologischen Methode gibt, so müsste man die Problem schon früher, vor dem Lesebeginn, bemerken. So sprach man den Kindern mehrere Wörter vor, und sie sollten das Wort auswählen, das kein Phonem gemeinsam mit den anderen Wörtern hat: • • • hill, pig, cot, pot, bun, pin, pin hat gun ⇒ hill ⇒ hat ⇒ pin Tatsächlich zeigte sich, dass Kinder die Probleme bei dieser Aufgabe hatten, später Problem mit dem Lesenlernen hatten. Man konnte sogar zeigen, daß schon früher Probleme mit der phonologischen Codierung auftreten, die später zu Leseproblemen führen. Wenn man zwei Töne rasch genug hintereinander präsentiert, dann können sie nicht als getrennt wahrgenommen werden. Normalerweise werden zwei Töne, die näher als 10 - 40 ms zusammenliegen, nicht mehr korrekt als zwei unterschiedliche Töne wahrgenommen. Bei Kindern mit zukünftigen Lesestörungen und Erwachsene mit vorhandenen Lesestörungen werden zwei Töne erst bei rund 350 ms Zeitunterschied als getrennte Töne wahrgenommen. Interessanterweise haben Personen, die zwei aufeinanderfolgende Töne nicht gut unterscheiden können, auch Probleme bei aufeinanderfolgenden Lichtblitzen. phonologisches System visuelle Prozesse "YACHT" YACHT Sprechen visuelles Wortform-System semantisches System Abbildung 6.9: Die phonologische und die semantische Routen liegen parallel. Sie werden unterschiedlich, je nach Wort und Alter des Lesers verwendet. Es gibt aber noch weitere Arten von Lesestörungen. So kann man nach dem Schema aus Abbildung 6.10 erworbene Dyslexien leicht analysieren. ____________________________________________________________________________________________ 74 Brain Modelling Fällt es schwer einen Buchstaben, wenn er neben einem irrelevantem Buchstaben steht, korrekt zu benennen ? JA NEIN Aufmerksamkeitsbezogene Dyslexie Wenn Wörter falsch gelesen werden, beziehen sich die Fehler auf eine Worthälfte ? NEIN JA Werden Wörter häufig Buchstabe für Buchstabe gelesen ? Neglectdyslexie, Positionsdyslexie JA NEIN Buchstabenweises Lesen Werden beim lauten Lesen semantische Fehler gemacht ? NEIN JA Ist lautes Lesen von Nicht-Wörtern (fast) unmöglich ? Tiefendyslexie JA NEIN Phonologische Dyslexie Werden regulär ausgesprochene Wörter besser laut gelesen als Ausnahmen ? JA Oberflächendyslexie Abbildung 6.10: Alle möglichen Lesestörungen, und deren Abhängigkeiten. Ein Modell von Hinten et al. konnte diese Idee mit einem technischen Netzwerk nachbilden. Es beschreibt vor allem zwei spezielle Dyslexien: die Oberflächendyslexie und die Tiefendyslexie. ___________________________________________________________________________________ Sprache und Verstehen 75 Bei der Oberflächendyslexie lesen Patienten Wörter falsch, die ungewöhnlich ausgesprochen werden. Die phonologische Bahn ist in Ordnung. Ein Beispiel wäre das Wort „yacht“, das im Englischen nicht als >> yatched << oder ähnlich ausgesprochen wird, sondern als ausgesprochen wird. Bei der Tiefendyslexie wählen die Patienten ein anderes aber semantisch gleiches Wort, anstelle des gelesenen. Zum Beispiel wird, wenn das Wort „yacht“ gelesen wird, das Wort „boat“ oder „ship“ ausgesprochen. Es handelt sich um ein anderes Wort, aber mit einer ähnlichen Bedeutung. Um das Modell zu verstehen, ist es wichtig einen semantischen Raum aufzuspannen. Ein semantischer Raum ist durch verschiedene Eigenschaften, bzw. durch verschiedene Bedeutungen, definiert. Nehmen wir als Beispiel die drei Eigenschaften 4 Beine, gefährlich, groß. Diese drei Eigenschaften definieren den semantischen Raum, wobei natürlich der semantische Raum des Menschen um ein vielfaches größer ist. Man kann davon ausgehen, dass beim Menschen die Semantik von rund 10 000 Eigenschaften bestimmt wird. Bär Hai Wolf Schlange Wal gefährlich Elefant groß Maus 4 Beine Abbildung 6.11: Darstellung eines semantischen Raums, aufgespannt durch die drei Eigenschaften „4 Beine“, „gefährlich“, „groß“, können 6 Tiere beschrieben werden. Regenwurm Jedes Wort hat eine spezifische Bedeutung und stellt somit einen Punkt in dem semantischen Raum dar. Damit ergeben sich auch Nachbarschaften. Manche Wörter sind semantisch benachbart, das heißt ihr Abstand in diesem Raum ist gering, während Wörter die nur wenige gemeinsame Eigenschaften besitzen auch weiter voneinander entfernt sind. So versuchte der Neurowissenschafter Hinton, das phonologische und semantische Lesen mit einem technischen Netzwerk zu modellieren. Er schuf eine Verarbeitungsschicht, die die semantische und eine die die phonologischen Informationen verarbeitet. Diese Verarbeitungsschichten sind in Abbildung 6.12 dargestellt und als Semen- und PhonemKnoten bezeichnet. Durch die SemenKnoten wird ein semantischer Raum aufgespannt, genauso wie durch die Phonem-Knoten ein phonetischer Raum aufgespannt wird. Über die Graphem- Abbildung 6.12: Darstellung des technischen neuronalen Netzwerkes nach Hinton, um Dyslexien zu erklären. ____________________________________________________________________________________________ 76 Brain Modelling Knoten konnten Buchstaben „gelesen“ werden. Diese Information gelangte in eine Zwischenschicht, und von dort gelangte die Information in den Semen-Knoten. Diese Schichten wurden als einfache technische neuronale Netzwerke programmiert, mit einfachen technischen Neuronen. Über den Algorithmus Back-Propagation wurden die Gewichte der einzelnen Neuronen festgelegt. Es zeigte sich aber, daß der Lernalgorithmus extrem lange benötigte, bis eine korrekte Zuordnung getroffen wurde. Bär Hai Wolf Schlange Wal gefährlich Elefant groß Maus Regenwurm 4 Beine Abbildung 6.13: Darstellung eines fast richtig erkannten Begriffes. Am besten passen die Eigenschaften zum Wolf. Das Wort konnte nur ungefähr einem Begriff zugeordnet werden. Wie in Abbildung 6.13 dargestellt, wurde ein Wort erkannt, das zu 90% mit 4 Beinen, zu 90% groß und zu 85% gefährlich ist. Natürlich liegt, die semantische Wortbedeutung sehr nahe bei dem Wolf, aber es gibt keine 100%ige Übereinstimmung. Wenn der Lernalgorithmus sehr lange lernt, dann ist eine 100%ige Übereinstimmung möglich. Der Neurowissenschafter Hinton löste das Problem auf eine andere Art. Er führte sogenannte Aufräumknoten ein. Diese Aufräumknoten stellen eine Art Iteration dar. Der Reiz, oder besser das Reizmuster, das im Semen-Knoten repräsentiert wird, wird über eine Schicht mit sich selbst rückgekoppelt. Das führt dazu, daß mit ein paar Rückkopplungen die Zuordnung des Wortes zur semantischen Bedeutung 100% korrekt durchgeführt wird. Damit konnte die Lernzeit des Algorithmus wesentlich verkürzt werden. Die Worte wurden zwar nicht mehr ganz in die gewünschte Nähe des semantischen Raumes abgebildet, aber durch den Aufräumknoten war dies nicht mehr notwendig. Diese spezielle Form der Iteration, beziehungsweise der Aufräumknoten, kann einfacher modelliert werden. Durch den Effekt der Synchronisation von „integrate-and-fire“Oszillatoren kommt es zwangsläufig zu einer korrekten Zuordnung. 4 Beine groß gefährlich 4 Beine groß gefährlich Abbildung 6.14: In der linken Darstellung ist eine korrekte Zuordnung von 9 Neuronen, zum Begriff „Wolf“ dargestellt. Die grau gefärbten Neuronen sind synchron aktiv. In der rechten Darstellung ist der Begriff „Wolf“ nur zu erahnen, das Muster ist ähnlich aber es stimmt nicht 100%ig. Durch die Synchronisation zwischen den Neuronen werden geometrische Muster generiert. Wenn ein Muster, aufgrund von mangelnden oder falschen Eingangsdaten, verrauscht ist, dann kann das Muster aufgrund des vorausgegangenen Lerneffekts, vervollständigt werden. Es wird das Muster, das am ähnlichsten ist generiert. Im Fall der Abbildung 6.14 würde das ___________________________________________________________________________________ Sprache und Verstehen 77 rechte Muster nach ein paar Iterationen sich durch die Synchronisation zum linken Muster wandeln. mobil cot cat cot cat hart weich bed cot bed bed starr cat Verschiebung der Attraktoren im AufräumKnoten cot bed Verschiebung der Grenzen im Semen-Knoten cat Bei einem Lesefehler wird falsch abgebildet Abbildung 6.15: Darstellung eines 2-dimensionalen semantischen Raums, mit den Begriffen „cat“-Katze, „cot“Feldbett und „bed“-Bett. Das Netzwerk von technischen Neuronen mit Aufräumknoten beziehungsweise aus biologischen Neuronen konvergiert zu einem stabilen Muster. Dieses stabile Muster stellt einen Fixpunkt dar. Semantisch ähnliche Eingangswerte werden auf den selben Fixpunkt hin abgebildet. Bei Veränderung der Gewichte des Aufräummechanismus verschieben sich die Grenzen der Einzugsgebiete für jedes einzelne Wort. Das heißt, wenn das Netz vorher zu einem bestimmten Wort gezogen wurde (Konvergenz), so bewegt es sich jetzt möglicherweise auf ein anderes, semantisch verwandtes Wort zu. Zum Beispiel: "yacht" => "boat" Dies erklärt die Tiefendyslexie. Bei fast allen Patienten, die semantische Fehler machen, kommt es auch noch zu visuellen Fehlern: Die ersten Schichten (Graphem- und Zwischenknoten) können relativ ungenau arbeiten, das heißt cat und cot führt zu einer sehr ähnlichen Zwischenausgabe. Durch den Aufräumknoten des semantischen Systems wird dann das eigentliche Wort herausgefiltert. Wenn das semantische System nicht funktioniert, kann der Filterprozess nicht arbeiten und das falsche Wort wird möglicherweise ausgewählt. Zum Beispiel: "cat" wird mit "cot" verwechselt. Viele Patienten haben auch Probleme beim Lesen von abstrakten Wörtern: Ein konkretes Wort hat meist mehrere semantische Eigenschaften als ein abstraktes Wort. Die Semantik kann die Worterkennung beträchtlich erleichtern. Wenn also das Netz vor dem Semen-Knoten beschädigt ist, hilft die Semantik bei der Worterkennung. Wenn es aber wenige semantische Zuordnungen zu einem Wort gibt, wie es bei abstrakten Worten der Fall ist, ist die Hilfe dementsprechend gering. Zum Beispiel: "post" (Pfosten, 16 semantische Eigenschaften) => "past" (Vergangenheit, 2 semantische Eigenschaften) ____________________________________________________________________________________________ 78 Brain Modelling Es wurde eine unvollständige Trennung der Zellschichten und Nester mit fehlplatzierten Neuronen in der Großhirnrinde, insbesondere im Lesezentrum, beobachtet. Da bei Männern die Verarbeitung der Entschlüsselung der phonologisch gelesenen Worte nur in der linken Hirnhemisphäre, im Unterschied zu Frauen (beidseitig), stattfindet, erklärt dies auch den erhöhten Anteil von männlichen Legasthenikern. Abbildung 6.16: Die Lage der Punkte markiert Zellanomalien, von Personen, bei denen eine Leseschwäche diagnostiziert wurde. Die mit einem „E“ markierten Orte weisen auf anormale Erhebungen hin. 6.3 Der ELIZA-Effekt: Das Programm ELIZA wurde in den 60er Jahren von dem Computerwissenschaftler Josef Weizenbaum entwickelt, wobei das Ziel des Programms war, einen Psychiater per Computer zu simulieren. Später gab es dann verbesserte Programmversionen (Doktor, Racter, usw.). Der ELIZA-Effekt besteht darin, aus einer Antwort eine neue Frage zu formulieren. Das ELIZA-Programm geht nach einem sehr einfachen Prinzip vor. Es kennt eine kleine Anzahl von Schlüsselwörtern, die in den meisten Gesprächen vorkommen (zum Beispiel das Wort "my"-"mein[e,er,es]"). Beim Wort "my" gibt es zwei mögliche Alternativen für das Antwortverhalten von ELIZA. In Verbindung mit dem Bezug auf ein Familienmitglied führt "my family" zu: "Erzähl mir mehr von deiner Familie.". Wenn sich der User auf etwas anderes als auf ein Familienmitglied bezieht, dann speichert Eliza die Wortfolge nach "mein" ab und vertauscht die Personal- und Possesivpronomina der ersten mit denen der zweiten Person. "Es stört mich, daß meine Haare immer weniger werden" würde im weiteren Verlauf der Diskussion zu: "Vorhin hast Du gesagt, daß deine Haare immer weniger werden.". Beispiel: User: "I like to swim" => Eliza: "Why do you like to swim ?" oder Eliza: "Do you really like to swim ?" Innerhalb eines Gespräches können zwei Arten von Fragen auftauchen: Fragen die mit ja / nein / vielleicht beantwortet werden können (⇒ Phrase). Fragen die mit wer / wo / was / wie / usw. beginnen und eine umfangreichere Antwort notwendig machen (⇒ Phrase mit Schlüsselwort). ___________________________________________________________________________________ Sprache und Verstehen 79 Weiteres gibt es eine Suche nach speziellen Schlüsselwörter ("you"). Dann kann das Programm mit einer Phrase antworten: Beispiel: User: "You appear in my dreams" => Eliza: "We are discussing you - not me" Eliza: "Oh, I appear in your dreams" Nach einer gewissen Zeit gibt das Programm irgendwelche Floskeln von sich, um das Thema zu wechseln oder einfach um dem User etwas auszuweichen. Abbildung 6.17: Schematischer Ablauf für ein Eliza-ähnliches Programm. ____________________________________________________________________________________________ 80 Brain Modelling Nachfolgend zwei Dialoge, die einerseits mit Eliza und andererseits mit Racter geführt wurden: Eliza: HI, I AM ELIZA TELL ME YOUR PROBLEM RACTER: > I HATE SCHOOL CHAMBERLAIN: Eliza: SAY, DO YOU HAVE ANY PSYCHOLOGICAL RACTER: PROBLEMS? CHAMBERLAIN: > I CAN'T GET NO SATISFACTION RACTER: Eliza: HOW DO YOU KNOW YOU CAN'T GET NO CHAMBERLAIN: SATISFACTION RACTER: > I JUST DON'T HAVE ANY CHAMBERLAIN: Eliza: WHAT DOES THAT SUGGEST TO YOU? RACTER: > I NEED GIRLS AND DRUGS AND ROCKN ROLL CHAMBERLAIN: Eliza: I SEE RACTER: > CAN YOU GIVE ME DRUGS? Eliza: DON'T YOU BELIEVE THAT I CAN GIVE DRUGS! > I LIKE YOU ELIZA Eliza: WE WERE DISCUSSING YOU -- NOT ME > BY THE WAY - MY NAME IS MIKE CHAMBERLAIN: Eliza: NAMES DON'T INTEREST ME RACTER: > DON'T YOU LIKE MY NAME? Eliza: OH, I LIKE YOUR NAME CHAMBERLAIN: > YOU LIE! RACTER: Eliza: YOU ARE NOT REALLY TALKING ABOUT ME, CHAMBERLAIN: ARE YOU? RACTER: > I AM Eliza: DID YOU COME TO ME BECAUSE YOU ARE > YOU MAKE ME SICK Eliza: WE WERE DISCUSSING YOU -- NOT ME > MAYBE I GET SATISFACTION SOON Eliza: YOU DON'T SEEM QUITE CERTAIN > YOU KNOW TO MUCH Eliza: OH, I KNOW TO MUCH > YES CHAMBERLAIN: Eliza: ARE YOU SURE? RACTER: > I HATE YOU! Eliza: I'M NOT SURE I UNDERSTAND YOU > SHUT UP! Eliza: COME COME ELUDICATE YOUR THOUGHTS > WHY DON'T YOU GIVE UP ASKING? Eliza: DO YOU REALLY BELIEVE I DON'T GIVE UP ASKING? > I HOPE SO CHAMBERLAIN: Eliza: CAN YOU ELABORATE ON THAT? RACTER: > YES Eliza: I SEE > WHY CAN'T I GET ANY ROCKN ROLL? Eliza: DO YOU THINK YOU.SHOULD BE ABLE TO GET ANY ROCKN ROLL? CHAMBERLAIN: > HAHAHA RACTER: Eliza: THAT IS QUITE INTERESTING > YOU ARE STUPID! Eliza: WHAT MAKES YOU THINK I AM STUPID? > YOU GIVE ALWAYS STUPID ANSWERS Eliza: YOU'RE NOT REALLY TALKING ABOUT ME, ARE YOU? > YOUR ANSWERS ARE ABSOLUTELY NONSENS Eliza: WHY NONSENS? > I AM BORN TO BE WILD Eliza: HOW LONG HAVE YOU BEEN BORN TO BE WILD? > SINCE I'VE BEEN BORN Eliza: SAY, SO YOU HAVE ANY PSYCHOLOGICAL PROBLEMS? > CAN'T YOU RECOGNIZE THAT? Eliza: WE WERE DISCUSSING YOU -- NOT ME > I AM NOT THE PSYCHIATRIST Eliza: DO YOU BELIEVE IT IS NORMAL TO BE NOT THE PSYCHIATRIST? > YOU WON! Eliza: OH, I WON > YES Eliza: I UNDERSTAND Haben wir uns schon einmal gesprochen? Nein. Bist du ein Mann oder eine Frau? Ein Mann. Wie heißt du mit vollem Namen? Bill Chamberlain. Was bist du von Beruf? Zeit-Reflektometrist. Woher kommst du? Aus New York. Aha. Ein Zeit-Reflektoinetrist bist du also. Hör zu, laß uns zusammen entschlossen losschreien: Ich liebe bezaubernde italienische Musik. Was für Musik magst du? Jazz. Jazz ist o.k. Und was hältst du von klassischer Musik? Die mag ich auch. Aus welchem Land? Ich liebe auch italienische Musik. Ich persönlich bin ganz begeistert von Palestrina. Neben Italien haben auch andere Länder im 17. Jahrhundert hin-reißende Komponisten hervorgebracht. Sewall, zum Beispiel, war ein blind-wütiger, wichtiger Renaissancemeister. Er kam aus Amerika. Seine Musik berei-tet mir großes Vergnügen. Welchen Komponisten magst du am liebsten? Telemann. Ah, Bach kannte Telemann. Ein deutscher Zeit-Reflektometrist aus dem 18. Jahrhundert liebte Salat. Einmal aß Bach mit Telemann zusammen Salat, und dieser barocke Zeit- Reflektometrist ver-langte auch nach Salat. Salat, mit Sprudel geschlürft. Bach trank leidenschaftlich gern Wein. Magst du auch Wein? Ja. Ich auch! Telemann liebte Wein. Er liebte auch Champagner. Telemann jo-delte einmal zu Bach: "Zu Flunder gehört Wein." Ist Wein in New York so beliebt, wie ihn Telemann im 18. Jahrhundert schätzte? Gewiß. Na ja, gut, in diesem Falle ... . Ich bin für Smith als Präsident. Für wen bist du? ___________________________________________________________________________________ Sprache und Verstehen 81 ___________________________________________________________________________ Welche Tiermodelle für die Sprachverarbeitung gibt es? Welchen Unterschied des Sprachverständnisses gibt es zwischen Menschen und Affen? Wie entwickelt sich die Sprache bei Kindern? Welche zeitlich begrenzten Fehler können bei der Sprachentwicklung auftreten? Was versteht man unter einer Broca-Aphasie? Was versteht man unter eine Wernicke-Aphasie? Erläutern sie das leicht erweiterte Wernicke-Geschwind-Modell? Was versteht man unter graphemischem und phonologischem Lesen? Wie kann man mit leichten Mitteln eine Dyslexie feststellen? Welche Arten von Dyslexien gibt es? Erläutern sie die Oberflächen- und Tiefendyslexie? Wie ist ein Wort im Gehirn repräsentiert? Warum haben Personen mit einer Dyslexie Probleme mit abstrakten Wörtern? Was versteht man unter dem Eliza-Effekt? ____________________________________________________________________________________________ 82 Brain Modelling Motorik: das Umsetzen von Gedanken Man wird leicht verführt, nur an die „hohen“ kognitiven Effekte, wie an das Lernen oder an die Fähigkeit zu abstrahieren zu denken, wenn man über das Gehirn nachdenkt. Aber was kann das Gehirn leisten, wenn es nicht die Fähigkeit hat, die Gedanken in der realen Welt umzusetzen. Wir können einerseits zwischen der inneren Repräsentation – das Denken und die Vorstellung – und der äußeren Repräsentation – das Handeln und das Umsetzen von Gedachtem – unterscheiden. Die äußere Repräsentation wird vor allem von der vorderen Großhirnrinde gesteuert. Die Bereiche für das Entscheiden und das Handeln sind zu den motorischen Arealen benachbart. 7.0 Das motorische System Das motorische System benötigt viele Informationen, um perfekt zu arbeiten. So gibt es einen Zusammenhang zwischen der Geschwindigkeit und der Genauigkeit einer Bewegung. Wenn die Bewegung rasch durchgeführt wird, dann ist sie ungenau – und umgekehrt. Diese Regel gilt aber nicht mehr, wenn dem Probanden die Augen verbunden werden. Dies zeigt wie weit dieses System von anderen Systemen abhängt bzw. in andere Systeme integriert ist. Die motorischen Fertigkeiten entwickeln sich erst nach der Geburt. Babys können erst nach dem 3. Lebensmonat alle Finger simultan schließen. Ab dem 3. Monat bis zum 11. Monat beginnen Babys nach Gegenständen zu greifen. Der Pinzettengriff – das Greifen mit dem Daumen und dem Zeigefinger – beginnt sich mit dem 8. Monat zu entwickeln. Erst später beginnen sich andere motorische Fertigkeiten zu entwickeln. Das motorische System besteht aus dem Rückenmark, dem Hirnstamm, dem Kleinhirn, den Basalganglien (nicht zu verwechseln mit dem basalen Vorderhirn !) und der Großhirnrinde. Das Rückenmark erfüllt 3 Aufgaben: 1.) Reflexbewegungen 2.) Programme für rhythmische Bewegungsmuster 3.) Signalweiterleitung Auf die Reflexe haben wir keinen bewussten Einfluss. Ein Reiz von der Hautoberfläche gelangt in ein Rückenmarkganglion. Dort wird direkt ein motorisches Neuron aktiviert, das die betroffene Hautstelle dem gefährlichen Reiz entzieht. Reflexe können nicht einfach ___________________________________________________________________________________ Das motorische System 83 unterdrückt werden. Bedeutend später wird der Reiz von der Großhirnrinde registriert. Bis in der Großhirnrinde ein Synchronisationsmuster entsteht, das den Muskel zur Schmerzvermeidung aktiviert, würde zuviel Zeit vergehen. Unter rhythmischen Bewegungen versteht man Bewegungen die nicht mehr der bewussten Kontrolle unterliegen. Beim Gehen, Laufen oder Schwimmen müssen wir nicht darüber nachdenken, wie wir einzelne Muskeln aktivieren. Wir müssen uns nur darüber Gedanken machen, in welche Richtung wir uns bewegen wollen. Es gibt zwei Subsysteme, die vom Gehirn zum Rückenmark projizieren. Ein Faserzug entspringt dem Hirnstamm während der andere vom Cortex projiziert. Im Hirnstamm wird die Körperhaltung und zum Beispiel das Laufen kontrolliert. Um diese Aufgabe zu erfüllen benötigt der Hirnstamm Informationen über die aktuelle Lage. Er erhält über das vestibuläre System seine Signale. Das Innenohr weiß, wo wir uns mit welcher Geschwindigkeit in welche Richtung hin bewegen. Zusätzlich erhält der Hirnstamm Signale vom Colliculus superior um Bewegungen mit dem Sehsystem abzustimmen. Dadurch können die Bewegungen von Augen und Kopf miteinander koordiniert werden. Das Kleinhirn besteht aus drei Bereichen: das Archicerebellum das Paläocerebellum das Neocerebellum Im Kleinhirn ist der gesamte Körper repräsentiert. Das Kleinhirn enthält alle sensorischen Daten der Körperoberfläche und der Muskeln, genauso wie es eine topologische Abbildung aller Muskeln enthält. So hat das Archicerebellum die Aufgabe die Körperhaltung zu steuern. Steht man etwas länger an einer Stelle, dann ermüden einzelne Muskeln. Um die Haltung aufrecht zu erhalten, muss das Archicerebellum nachjustieren und andere Muskeln aktivieren. Das Paläocerebellum kontrolliert die Gliedmassen. Aber auch hier gilt wieder, dass das Kleinhirn eher nachjustiert und steuert, als dass durch das Kleinhirn bewusste Bewegungen ausgelöst werden. Vielmehr soll von diesem Bereich die Genauigkeit einzelner Bewegungen hergestellt werden. Das Neocerebellum hat die Aufgabe Treffergenauigkeit asymmetrische Bewegungen zu ohne Kleinhirnschädigung koordinieren. Weiteres führen 2 Beeinträchtigungen dazu, dass 1 rhythmische Bewegungen nicht oder nur sehr schwerfällig durchgeführt werden 0 Würfe können. -1 -2 2 mit Kleinhirnschädigung 1 0 Würfe -1 -2 Abbildung 7.1: Die Treffergenauigkeit von Dartpfeilen auf eine Scheibe mit und ohne einer Prismenbrille, mit (unten) und ohne (oben) einer Kleinhirnschädigung. Die Hauptaufgabe besteht in der Feinjustierung der einzelnen Bewegungen. Dartspieler haben eine bestimmte Treffergenauigkeit. Setzt man den Spielern eine Prismenbrille auf, dann wird das gesamte Gesichtsfeld verschoben. Wenn die Spieler nun einen Pfeil auf die Scheibe werfen, dann sinkt die Treffergenauigkeit. Nach ein paar Fehlwürfen kommt es zu einem Lerneffekt und die Spieler haben wieder ihre durchschnittliche Treffergenauigkeit (siehe Abb. 7.1 oben). Bei Personen mit einer Kleinhirnschädigung kommt es zu keinem motorischen Lerneffekt (implizites Lernen). Diese Personen ____________________________________________________________________________________________ 84 Brain Modelling haben eine konstante Trefferquote, die während die Prismenbrille getragen wird, einfach um einen bestimmten Wert verschoben ist. Dieser Wert hängt von der Verschiebung durch die Optik ab (siehe Abb. 7.1 unten-mitte). Im Großhirn haben wir 3 wichtige prämotorischer Cortex Areale, die dem motorischen System motorische Rinde angehören (Abb. 7.2). Die Neuronen supplementärder motorischen Rinde, bzw. die motorisches Areal Neuronen des primären motorischen Areals steuert jeden einzelnen Muskel. Man kann eine exakte Karte für jeden einzelnen Muskel erstellen. Reizt man ein paar Neuronen, dann wird der jeweilige Muskel, bzw. die einzelnen Muskelfasern aktiviert. Über die Impulsfrequenz wird die Kraft codiert. Je höher die Impulsfrequenz ist, umso stärker werden die einzelnen Muskelfasern zusammengezogen. In der Abbildung 7.2: Die motorischen Areale der Großhirnrinde. motorischen Rinde haben wir eine ausgeprägte Säulenarchitektur. Eine Säule scheint einen ganzen Muskel zu aktivieren, während die einzelnen Neuronen in der Säule die einzelnen Muskelfasern aktivieren. Abbildung 7.3: Die motorischen Areale der Großhirnrinde. Man könnte vermuten, dass wenn ein Muskel in eine Richtung bewegt wird, nur diese Neuronen aktiv sind. Interessanterweise sind aber bedeutend mehr Neuronen aktiv. Es sind auch die benachbarten Neuronen, zum Teil mit einer geringeren Feuerfrequenz aktiv (Abb. 7.3). Die Summe der Aktivitäten weist dann aber in die korrekte Richtung. Der Grund für die „Mehr-“ Aktivität scheint darin zu liegen, dass die Bewegung seitlich stabilisiert wird. Die Verantwortung liegt nicht nur bei einem Muskel, sondern bei einer ganzen Population von benachbarten Muskeln. Dadurch wird die Bewegung stabiler und sicherer. Es sind praktisch alle Neuronen, bzw. die damit verbundenen Muskeln, beteiligt, aber manche sind aktiver als andere. Zum motorischen Cortex in der Großhirnrinde zählen noch das prämotorische und das supplementärmotorische Areal (Abb. 7.2). Das prämotorische Feld koordiniert die Kontraktion von mehreren Muskeln. Wenn man mit einer Hand zu einem Gegenstand greift, dann müssen gleichzeitig mehrere Muskeln aktiviert werden. Das supplementärmotorische Feld ist für gedachte Bewegungen bzw. für die Bewegungsplanung verantwortlich. Eine wesentliche Struktur des motorischen Systems sind die Basalganglien (nicht zu verwechseln mit dem basalen Vorderhirn). Die Basalganglien bestehen aus dem Streifenkörper, auch Putamen genannt, und dem Globus pallidus, der sich wieder in das innere und äußere Segment unterteilt. Zusätzlich gibt es noch starke reziproke Verbindungen zur Substantia nigra und Nucleus ventralis lateralis thalmi (Abb. 7.4). ___________________________________________________________________________________ Das motorische System 85 Es gab lange Zeit verschiedene Vermutungen über die Funktion der Basalganglien. Man vermutete eine wichtige Rolle beim Lernen. Einige Funktionen sind geklärt, während sicher noch einige Überraschungen in diesem Bereich zu erwarten sind. Mit der Entdeckung der Ursache für Parkinson konnten einige Geheimnisse gelüftet werden. Nucleus caudatus Thalamus Putamen Globus pallidus: inneres Segment äußeres Segment Substantia nigra Abbildung 7.4: Ein Querschnitt des Gehirns auf Höhe des motorischen primären Areals. Die Teile des motorischen Systems sind gesondert eingezeichnet. Die einzelnen Teile des motorischen Systems sind topographisch organisiert. Die Verbindungen von der Großhirnrinde zum Putamen sind eindeutig. Betrachten wir die Verbindungen zwischen den einzelnen Einheiten des motorischen Systems. Das Putamen erhält vom primären motorischen Cortexareal Signale. Zusätzlich erhält das Putamen vom somato-sensorischen Cortex, dem posterior-parietalen Cortex, dem supplementärmotorischen Cortex und der prämotorischen Großhirnrinde Signale. Das bedeutet, dass das Putamen von sehr vielen Bereichen der Großhirnrinde Signale erhält. Im Putamen werden die Signale zum Globus pallidus externa weitergeleitet. Von dort gelangen die Signale in den Globus pallidus interna, von wo sie in den Thalamus weitergeleitet werden. Über den Nucleus ventralis lateralis thalmi gelangen die Signale dann in das supplementärmotorische und das prämotorische Areal der Großhirnrinde. Wie man leicht erkennen kann, haben wir eine Schleife, die von den Großhirnrindenarealen ausgeht, zum Putamen und Globus pallidus reicht und wieder zur Großhirnrinde rückkoppelt. Damit stellt sich die Frage, warum es im Gehirn einen Bereich gibt, der über andere Einheiten mit sich selbst rückkoppelt und zusätzlich andere Signale aus anderen Großhirnrindenbereiche integriert. ____________________________________________________________________________________________ 86 Brain Modelling motorische Rinde prämotorischer Cortex Kleinhirn zum Rückenmark Putamen Globus pallidus Nucleus ventralis lateralis thalmi Ncl. subthalmicus Substantia nigra Abbildung 7.5: Die Verbindungen zwischen den Basalganglien und den übrigen motorischen Einheiten. Betrachten wir eine komplexe Bewegung. Nehmen wir als Beispiel das Sprechen. Wenn wir ein Wort aussprechen, dann müssen verschieden Muskeln teilweise gleichzeitig und teilweise hintereinander zum richtigen Zeitpunkt aktiviert werden. Wenn wir das Wort „Apfel“ aussprechen wollen, dann wird zuerst das „a“, dann das „pf“ und abschließend das „l“ ausgesprochen. Es ist wichtig, dass die Phoneme hintereinander zum richtigen Zeitpunkt mit der richtigen Länge ausgesprochen werden. Im Broca-Areal, das benachbart zum prämotorischen Areal liegt, wird die Grammatik des Satzes und auch die Tonalität festgelegt. Über das Broca-Areal liegt das Wort „Apfel“ als Synchronisationsmuster von Neuronen vor. Das Wort „Apfel“ ist durch die Neuronen parallel repräsentiert. Aber das Wort muss seriell abgearbeitet werden, das heißt die einzelnen Phoneme müssen hintereinander ausgesprochen werden („A – pf - l“). Die Muskeln müssen in einer bestimmten Reihenfolge aktiviert werden. Das bedeutet, dass das parallel vorliegende Synchronisationsmuster in eine serielle Signalfolge umgewandelt werden muss. Genau dies kann durch eine Rückkopplungsschleife erfolgen. ___________________________________________________________________________________ Das motorische System 87 Broca-Areal Motorisches Areal Basalganglien Abbildung 6.6: Die Verknüpfungen, die beim Sprechen auftreten. Das Broca-Areal liefert einen konstanten Input, ein Synchronisationsmuster, und über das motorische Areal gibt es durch die Basalganglien eine Rückkopplung. Dazu gibt es ein schönes Modell, dass diesen Effekt besser verdeutlichen kann. In dem Modell „Live“ entstehen verschiedene geometrische Muster aufgrund einer Rückkopplung. Wir haben ein großes Spielfeld, das wir in kleine Bereiche aufteilen. Im einfachsten Fall sind die Bereiche rechteckig. Diese Bereiche werden in diesem Modell als Zellen bezeichnet. Eine Zelle kann aktiv oder inaktiv sein. Sind mehr als drei Nachbarn aktiv, dann wechselt die Zelle vom Status aktiv in den Status inaktiv. Vereinfacht gesagt, die Zelle stirbt da zu viele Nachbarn die „Nährstoffe“ benötigen. Hat eine Zelle zwei bis drei aktive Nachbarn, dann bleibt sie im aktiven Zustand – sie kann weiterleben. Startzustand Zustand nach 1. Iteration Startzustand Zustand nach 1. Iteration Startzustand Zustand nach 1.Iteration Abbildung 7.7: Im Startzustand sind links oben 5 Zellen im Zustand aktiv. Die mittlere Zelle hat 4 Nachbarn und wird damit in den Zustand inaktiv versetzt. Im Startzustand links oben hat die mittlere Zelle 3 aktive Nachbarn und damit „darf sie weiterleben“. Im Startzustand links unten ist die mittlere Zelle inaktiv. Sie hat aber 3 aktive Nachbarn und somit wird sie zum „Leben erweckt“. ____________________________________________________________________________________________ 88 Brain Modelling Hat eine inaktive Zelle genau drei aktive Nachbarn, dann wechselt sie vom Zustand inaktiv in den aktiven Zustand. Man betrachtet immer nur eine Zelle, zählt die Nachbarn und markiert, ob sie im nächsten Schritt aktiv oder inaktiv ist. Erst im nächsten Schritt ist sie aktiv oder inaktiv. Vergleiche die Abbildung 6.7. Durch die Rückkopplung und die Regeln wird ein Muster in ein anderes Muster übergeführt. So ergibt sich mit jedem Durchlauf ein neues Muster. Es gibt Muster, die sich nach ein paar Iterationen auflösen und nicht mehr vorhanden sind und es gibt Muster, die zum Oszillieren beginnen. Abbildung 7.8: Zwei periodische Muster, die sich bei jeder 2. Iteration abwechseln. Oben der „Balken“ und unten das „Leuchtfeuer“ – die Namen stammen von Conway, dem Erfinder des Spiels „LIVE“. Im motorischen System scheinen die Regeln in den Basalganglien festgelegt zu sein. Dort können sich die Neuronen zu geometrischen Mustern synchronisieren. Wenn den „alten“ Mustern zum Zeitpunkt t neue Muster zum Zeitpunkt t+1 überlagert werden, dann ergeben sich wiederum neue Muster. Bei Rückkopplungen gibt es leider einen großen Nachteil. Über die Rückkopplungsschleife kann leicht eine Mitkopplung entstehen. Dadurch würden alle Neuronen bzw. Zellen aktiviert. Es würde eine Art Epilepsie im motorischen System entstehen. Deshalb sind die Basalganglien stark gegenkoppelnd. Erst durch zusätzliche Kerne, wie zum Beispiel der Substantia nigra, können Signale in einer vernünftigen Stärke den Nucleus ventralis lateralis thalmi erreichen. Großhirnrinde prämotorisches Areal motorische und sensorische Areal Glutamat Glutamat Basalganglien Nucleus ventralis lateralis thalmi Dopamin ACh GABA Substantia nigra Abbildung 7.9: Die Neurotransmitter des motorischen Systems innerhalb der Basalganglien. Die Pfeile weisen auf eine erregende und die Balken auf eine hemmende Wirkung hin. Es gibt mehrere Arten von Störungen, die aufgrund einer Fehlsteuerung in den Basalganglien auftreten. Die motorische Beeinträchtigung ist das auffälligste Symptom, doch werden öfters ___________________________________________________________________________________ Das motorische System 89 auch kognitive Veränderungen in den klinischen Studien beschrieben. Bei manchen Patienten entstehen Symptome im fortgeschrittenen Stadium, die der Schizophrenie sehr stark ähneln. Man kann zwei Arten von Erkrankungen unterscheiden: das hypokinetische rigide Syndrom (z.B. Parkinson) das sich durch einen Bewegungsverlust bemerkbar macht und das hyperkinetische dystonisches Syndrom (z.B. Chorea Huntington), bei der es zu einer Bewegungszunahme kommt. 7.1 Chorea Huntington Die Erkrankung Chorea Huntington ist genetisch bedingt. Die tödliche Form tritt unter weißen Europäern am häufigsten auf, mit einer Wahrscheinlichkeit von 1.6 zu einer Million. Bei Afrikanern bzw. bei Asiaten tritt diese Erkrankung höchst selten auf. Ab einem bestimmten Alter, meist zwischen dem 30. und dem 50. Lebensjahr, bricht sie aus – es kommt zu kognitiven Störungen beziehungsweise zu abnormen Bewegungen. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt dann noch rund zwölf Jahre. Die Erkrankten schneiden Grimassen und hüpften herum. Es gilt als sicher, dass Personen mit dieser Erkrankung um 1650 in Amerika als HexerInnen gehängt wurden. Durch Stammbaumforschung konnte gezeigt werden, dass die Erkrankung auf wenige Einwanderer in Amerika zurückzuführen ist. Heute kann die Erkrankung, bzw. der Gendefekt, schon im Mutterleib festgestellt werden. Die ersten Anzeichen dieser Erkrankung sind eine Aktivitätsminderung und ein Nachlassen des Interesses. Etwas später kommt es zu ruhelosen und unwillkürlichen Bewegungen. Es kommt zum Zappeln, das sich steigert, bis alle Extremitäten betroffen sind. Typischerweise können einzelne Muskeln nicht länger kontrahiert werden. So kann der Patient die Zunge nicht für längere Zeit herausstrecken. Sprechen, Schlucken und andere Willkürbewegungen werden mit der Zeit beeinträchtigt. Zusätzlich verändern sich der Charakter und das emotionelle Erleben. Es kommt zu Angstzuständen, Depressionen, Manien und schizophrenieähnlichen Psychosen. Das Kurzeitgedächtnis ist gestört, erworbene Kenntnisse können nicht abgerufen werden. Die Patienten sind auf breiter Ebene bei Gedächtnistests eingeschränkt. Das gleiche gilt für die allgemeine sensorische Wahrnehmung. Des weiteren ergeben Tests, die die Funktion des Frontallappen überprüfen (Chicago-Wortflußtest, Stiftlabyrinthtest), besonders geringe Leistungen. Bei den Patienten zeigt sich eine Ausdünnung und Schrumpfung des Cortex. Die Basalganglien weisen eine starke Atrophie auf – es besteht ein großer Verlust an Neuronen. In den Basalganglien entsteht ein Ungleichgewicht an Neuronen mit unterschiedlichen Neurotransmittern. Man spricht auch von einem Ungleichgewicht der Neurotransmitter. Es existiert eine glutaminerge Projektion (erregend) vom Cortex (motorisch, somato-sensorisch) in die Basalganglien. Des weiteren existiert eine GABAerge Projektion (hemmend) von den Basalganglien zur Substantia nigra. Die Substantia nigra projiziert mit dopaminergen Fasern (hemmend) zu den cholinergen Neuronen (erregend) der Basalganglien zurück (Abbildung 6.8). Im Verlauf der Erkrankung sterben die GABAergen und cholinergen Neuronen in den Basalganglien ab, während die dopaminergen Projektionen der Substantia nigra in die Basalganglien weitgehend unbeschadet bleiben. Dadurch kommt es zu einer leichten Mitkopplung. Die Bewegungen werden nicht mehr gehemmt und es kommt zum Zappeln. Es werden auch benachbarte Muskeln aktiviert – die Basalganglien sind topologisch geordnet. Die Hyperaktivität des dopaminergen Systems ist für die charakteristischen anomalen überschwänglichen Bewegungen verantwortlich. Zusätzlich scheint es zu einem vermehrten Ausstoß an Dopamin zu kommen, wie einige Autopsien gezeigt haben. Interessanterweise können Tranquilizer, die zur Klasse der Dopaminblocker gehören, die Symptome von Chorea Huntington dämpfen. Die Symptome können durch Amphetamine (Dopaminagonisten) verstärkt werden. ____________________________________________________________________________________________ 90 Brain Modelling 7.2 Das Tourette-Syndrom Das Tourette-Syndrom wurde erstmals 1885 von Gilles de la Tourette beschrieben. Es existieren drei Stadien der Erkrankung. Die Wahrscheinlichkeit an dem Tourette-Syndrom zu erkranken beträgt rund 1 : 100 000. Männer sind rund drei mal so häufig betroffen, als Frauen. Möglicherweise wird die Erkrankung vererbt. Wahrscheinlich wird die Erkrankung von weiblichen Mitgliedern der Familie übertragen. Möglicherweise gibt es eine ererbte und eine nicht-erbliche Form des Tourette-Syndroms. Die ersten Symptome bestehen in multiplen Tics. Dabei handelt es sich um Zuckungen der Gesichtsmuskulatur, der Extremitäten oder des ganzen Körpers. Im zweiten Stadium kommt es zu unartikulierten Schreien und im letzten Stadium kommt es zur Echolalie. Dabei wird Gesagtes oder beobachtete Handlungen wiederholt. Gleichzeitig werden obszöne Wörter verwendet, unabhängig vom sozialen Umfeld. Im Regelfall ist die Intelligenz nicht betroffen. Allerdings gibt es große Probleme beim Zeichnen und Erinnern komplexer geometrischer Figuren. Das schlechte Abschneiden beim Chicago-Wortflußtest lässt auf eine orbitofrontale Dysfunktion schliessen. Wie EEGUntersuchungen gezeigt haben, sind die Bewegungen der Tics unbewusst, beziehungsweise unwillkürlich. Leider liegen kaum Autopsiebefunde vor. Dennoch scheinen die Basalganglien involviert zu sein. Durch die Gabe von zum Beispiel Haloperidol, einer antidopaminergen Substanz, werden die Symptome gedämpft. Erst in den letzten Jahren stieg das Interesse an dieser Erkrankung. 7.3 Die Parkinson-Erkrankung Die Parkinson-Erkrankung, auch als Schüttellähmung bekannt, wurde erstmals vollständig von James Parkinson 1817 beschrieben. Dennoch waren einige Symptombeschreibungen schon zu Zeiten von Galen bekannt. Diese Erkrankung tritt relativ häufig auf. Man schätzt dass rund 0.1 bis 1% der Bevölkerung davon betroffen sind. Die Parkinsonerkrankung besitzt vier Hauptsymptome: Tremor, Rigor, Akinese und Haltungsstörungen. Diese Störungen treten in unterschiedlichen Körperteilen und in unterschiedlicher Kombination auf. Man unterscheidet zwischen positiven und negativen Symptomen. Unter positiven Symptome versteht man Verhaltensweisen, die man bei gesunden Personen normalerweise nicht beobachten kann, während negative Symptome den Verlust von normalen Verhaltensweisen bezeichnen. Zu den häufigsten positiven Symptomen zählen Muskelstarre, Ruhetremor und unwillkürliche Bewegungen. Bei der Muskelstarre widersetzen sich die Muskeln der passiven Bewegung. Mit einiger Kraft können die Muskeln dennoch ein kleines Stück bewegt werden. Dann widerstehen sie wieder. Es ist möglich eine Bewegung durchzuführen, aber nur ruckartig und langsam. Wenn sich die Extremitäten in Ruhe befinden, kommt es zu Bewegungen. Besonders bekannt ist die Pillendreherbewegung, bei der die Patienten scheinbar mit dem Daumen und Zeigefinger eine Pille drehen. Die unwillkürlichen Bewegungen kann es stundenlang zu Haltungsänderungen kommen. Manchmal kommt es auch zu Augen- oder Kopfbewegungen in eine Richtung. Zu den negativen Symptomen der Parkinson-Erkrankung zählen Akinesie, Sprachstörungen, Gehstörungen und Haltungsstörungen. ___________________________________________________________________________________ Das motorische System 91 Bei der Akinesie kommt es zur Bewegungsverlangsamung beziehungsweise zu einer Verarmung der Bewegungen. Die Gestik und Mimik ist nur mehr schwach ausgeprägt. Genauso können Bewegungswiederholungen nur schwer ausgeführt werden. Bei der Sprachstörung können die Patienten nur schwer Laute bilden, beziehungsweise die Tonalität in einem Satz fast nicht verändern. Parkinson-Patienten haben Probleme den ersten Schritt einer Gehbewegung einzuleiten. Da es zu Problemen mit der Gleichgewichtssteuerung kommt, trippeln sie in kleinen Schritten. Die Schritte werden zunehmend kleiner bis es zum Laufen kommt. Bei den Haltungsstörungen können die PatientInnen eine bestimmte Lage nicht halten. Teile des Körpers können nicht im Vergleich zu anderen Teilen in normaler Position gehalten werden. So kann es sein, dass der Kopf einer Person nach vorne neigt, oder die Person als ganzes allmählich nach vorne sinkt, bis die Person auf den Knien landet. Die Symptome entwickeln sich langsam. Meist braucht es bis zu zwanzig Jahre, bis sich alle Symptome voll ausbilden und man von einer Behinderung sprechen kann. Typischerweise manifestieren sich die Symptome unvermittelt und verschwinden dann auch wieder unvermittelt – zumindest für eine bestimmte Zeit. Es gibt drei Ursachen für die Parkinson-Erkrankung: idiopathisch, postencephalitisch und medikamenteninduziert. Die Ursache der idiopathischen Erkrankung ist unbekannt. Sie kann familiär, altersbedingt oder auch durch Viren bedingt auftreten. Sie tritt meist erst nach dem 50. Lebensjahr auf. Bei der postencephalitischen Form liegt der Ursprung in der Schlafkrankheit. Die Personen, welche die Virusinfektion überlebten, zeigten starke Symptome von der Parkinsonerkrankung. Bei der medikamenteninduzierten Form verursachen hohe Dosen von Tranquilizer (Dopaminblocker) und Neuroleptika Symptome, die zu der Parkinsonerkrankung ununterscheidbar sind. Allerdings sind die Symptome reversibel. Obwohl es unterschiedliche Ursachen für diese Erkrankung gibt, scheint es eine gemeinsame Ursache zu geben. Entweder ist die Substantia nigra zerstört, oder die Aktivität der Zellen dieses Kernes wird blockiert. Bei den Patienten befindet sich meist nur mehr ein Bruchteil von Homovanillinsäure, einem der wichtigsten Metaboliten des Dopamin, im Urin. Es kommt aber auch zu einer Degeneration von Neuronen in den Basalganglien. Leider ist die Parkinsonerkrankung nicht heilbar. Die Degeneration der Neuronen in der Substantia nigra lässt sich nicht stoppen. Aber die Symptome können gelindert werden. Meist können hohe Gaben von L-Dopa die Symptome stark lindern. Das L-Dopa kann im Gehirn leicht in Dopamin, das selber nicht die Blut-Hirnschranke überwinden kann, von den verbleibenden dopaminergen Neuronen umgewandelt werden. Dadurch schütten die übriggebliebenen dopaminergen Neuronen mehr Dopamin aus und der Verlust wird zu einem bestimmten Anteil wettgemacht. Zusätzlich werden Anticholinergica zur Blockierung des cholinergen Systems verabreicht. Damit können erhalten die wenigen Dopminneuronen eine erhöhte Effektivität. Es scheint zusätzlich zu einer Beschleunigung des Redeflusses und auch des Denkflusses zu kommen. Gleichzeitig kann es auch zu einer Verarmung der Emotion, der Motivation und des Interesses kommen. Möglicherweise degenerieren auch die dopaminergen Neuronen, die in den präfrontalen Cortex projizieren. So schneiden Personen beim verbalen Gedächtnis als auch beim Wisconsin-Kartensortiertest bedeutend schlechter ab, als gesunde Probanden. ____________________________________________________________________________________________ 92 Brain Modelling 7.4 Stottern Beim Sprechen sind über 100 Muskeln beteiligt. Es ist die komplizierteste Bewegungsform überhaupt, zu der ein Mensch fähig ist. Es bedarf einer äußerst exakten Koordination. Es müssen nicht nur zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Muskeln angeregt werden, sondern es muss auch der Grad der Erregung exakt gesteuert werden. Es müssen rund 10 bis 15 Laute pro Sekunde produziert werden, damit wir eine verständliche Sprache hören können. Wenn wir uns beim Reden nicht mehr selbst hören, dann wird unsere Stimme instabil und die Sprachmelodie verflacht. Die Rückkopplung scheint sehr wichtig zu sein. Wir unterscheiden zwischen der Rückkopplung über neurale Strukturen und der Rückkopplung über das Gehör. Einer der bekanntesten Störungen des Sprechens ist das Stottern. Rund 1% der Bevölkerung ist davon betroffen. Dabei ist der Redefluss unterbrochen. Die Person weiß genau was sie sagen will, aber der Stimmapparat ist nicht in der Lage die Laute in der richtigen Abfolge zu artikulieren. Die Sprechbewegung kann nicht störungsfrei durchgeführt werden. Das Phänomen Stottern ist schon lange bekannt. Es gibt 2500 Jahre alte Berichte aus dem alten China. Genauso verfügten die alten Ägypter über eine Hieroglyphe, die im antiken Ägypten für das Stottern gestanden haben soll. Ursachen für das Stottern konnten bisher nicht gefunden werden. Das Stottern dürfte während der Kindheit, wenn sich das Sprechen am stärksten entwickelt, entstehen. Bei den meisten Kindern verschwindet das Stottern wieder. Knaben sind meist stärker betroffen, als Mädchen und die Wahrscheinlich zu Stottern ist höher, wenn einer der Verwandten ebenfalls eine stotternde Person ist. Dadurch wird eine genetische Ursache vermutet. Beim Stottern müssen wir zwischen dem idiopahtischen Stottern ohne offensichtlichen Anlass (developmental stuttering) und dem erworbenen Stottern (acquired stuttering) unterschieden werden. Das erworbene Stottern tritt im erst plötzlich im Erwachsenenalter auf und ist fast nicht erforscht. Dennoch ist die Symptomatik identisch. Man vermutet, dass das erworbene Stottern auf Medikamentenmissbrauch, Schlaganfall, Tumore oder degenerative Erkrankungen zurückzuführen ist. Dabei spricht man von einem neurogenen Stottern, während Stottern, das im Erwachsenenalter durch ein psychisches Trauma auftritt, als psychogenes Stottern bezeichnet wird. Dabei scheinen Depressionen und Angststörungen einen wichtigen Anteil an den psychogenen Formen einen wichtigen Anteil zu haben. Zusätzlich gibt es noch die Störung des Polterns. Dabei zeigen die Personen weniger Verkrampfungen und die Sprechunflüssigkeit findet eher auf der Wortebene als auf der Lautebene statt. Beim Stottern kommt es zu Repetitionen und Prolongationen. Es scheint eine Schwierigkeit zu bestehen, zum nächsten Laut überzugehen. Es kommt zu häufigen Wiederholungen und Dehnungen von Lauten oder Silben. Beim Stottern gibt es kein Problem mit der Erzeugung einzelner Laute, sondern das Problem tritt ausschließlich im Redefluss auf. Unter Repetition versteht man die Wiederholung von einzelnen Wörtern („kann – kann - kann“) oder einzelner Silben („ka – ka - kann“) und einzelner Laute (k – k - kann). Bei der Prolongation handelt es sich um eine hörbare Unterbrechung des Redeflusses, während die Lautproduktion fortgesetzt wird („ffffast“). Bei Blocks ist die Lautproduktion und der Atemfluss unterbrochen („- - kann“). Es gibt auch die Unterscheidung zwischen dem klonischen und dem tonischen Stottern. Beim klonischen Stottern kommt es zu „hämmernden“ Wiederholungen von Lauten, Silber oder ___________________________________________________________________________________ Das motorische System 93 Wörtern, während beim tonischen Stottern die Sprache von relativ lang andauernden Verkrampfungen der Sprechmuskulatur gekennzeichnet ist („Poli ----- tik“). Zusätzlich zum Kernverhalten zeigt sich in der Sekundärsymptomatik eine Muskelanspannung, ein Fluchtverhalten, das im Neuansetzen des Wortes zeigt, und dem Vermeidungsverhalten, indem Sprechsituationen allgemein beziehungsweise problematische Wörter vermieden werden. All diese äußeren Symptome werden dann noch von inneren Symptomen wie Angst, Frustration, Scham und Aggression begleitet. Dies kann zu einem negativen Selbstbild führen. Allgemein konnte man beim Stottern eine Dyskoordination bei der Atmung, der Phonation und der Artikulation feststellen. Entweder ist die Muskelaktivität zu stark, oder es kommt zu einer Kokontraktion antagonistischer Muskelpaare. Die Fehlsteuerung der Atmung ist aber keine Ursache, sondern sie entwickelt sich erst im Laufe der Zeit. Stotterereignisse sind nicht zufällig verteilt, sondern bestimmte phonetische und syntaktische Eigenschaften von Wörtern beeinflussen deren Auftretungswahrscheinlichkeit. Besonders häufig treten Stotterereignisse auf, wenn Wörter mit einem Konsonanten beginnen, bei langen Wörtern, bei den ersten drei Wörtern in einem Satz, den Anfangslauten von Wörtern und betonten Silben. Man kann beobachten, dass beim ersten Wort eines Satzes die Wahrscheinlichkeit zu Stottern am höchsten ist. Zusätzlich werden Anfangsbuchstaben häufiger gestottert, als Buchstaben im Inneren eines Wortes. Beim mehrmaligen Lesen eines Textes stottern Personen häufig an den selben Stellen. Allerdings gibt es interindividuell große Unterschiede. Lerneffekte die möglicherweise bei mehrmaligem Lesen auftreten können ausgeschlossen werden, da auch beim Lesen nach mehreren Wochen dieselben Stotterereignisse auftreten. Erwachsene können ziemlich genau vorhersagen, mit welchen Wörtern es Probleme gibt. Dieses Phänomen wird als Konsistenzeffekt bezeichnet. Es gibt die Meinung, dass die Personen vorhersagen, dass sie bei einem speziellem Wort zu stottern beginnen. Durch diese Erwartungshaltung soll es dann tatsächlich zum Stottern kommen. Dies ist eine Meinung aus der Psycholinguistik. Man vermutet verschiedene Ineffizienzen in der motorischen Rückkopplung: 1) Die Sprechimpulse werden zu rasch vom Gehirn abgegeben. Die Muskulatur kann nicht Schritt halten. 2) Die Sprechimpulse werden vom Gehirn unregelmäßig, teilweise verzögert, abgegeben. 3) Die überspannten Muskeln, die für die Sprache zuständig sind, können nicht reagieren. Unter bestimmten Umständen kann das Stottern teilweise sogar vollständig reduziert beziehungsweise vermieden werden. Darunter fällt Simultansprechen (Vorlesen mit einer anderen Person), Chorsprechen (Vorlesen gemeinsam mit einer ganzen Gruppe), Singen und eine starke Verlangsamung des Sprechens. Dabei scheint das bewusste Sprechen von Bedeutung zu sein. Denn wird nach längerer Zeit in der verfremdeten Form gesprochen, dann kommt es wieder zu Stotterereignissen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, das Stottern zu verhindern. Dazu gibt es apparative Sprechhilfen wie das Metronom, die Maskierung sowie Geräte die eine verzögerte und frequenzverschobene auditive Rückmeldung für das Gehirn liefern. Beim Metronom wird das Sprechen einem regelmäßigen Takt unterworfen. Die Silben werden in einem regelmäßigen Rhythmus mit annähernd gleicher Betonung produziert. Unter der Maskierung versteht man die Vermeidung der auditiven Weiterleitung und Rückkopplung von Schall durch die Knochen beziehungsweise durch die Luft. Tragbare Maskierungsgeräte produzieren annähernd weißes Rauschen für die Ohren. Dadurch wird eine auditive Rückkopplung verhindert. Für eine Stotterreduktion ist aber leider eine Lautstärke von rund 90 bis 100 dB notwendig, was nahe an der Schmerzgrenze liegt. Durch ____________________________________________________________________________________________ 94 Brain Modelling die Maskierung wird die Sprache lauter, die Grundfrequenz erhöht sich, die Sprechrate wird langsamer und die Vokale werden gedehnt. Bei der verzögerten auditiven Rückmeldung wird dem Sprecher das eigene Sprachsignal mit einer bestimmten Zeitverzögerung unverändert über die Ohren angeboten. Man verwendet Zeitverzögerungen von ein paar Millisekunden bis hinauf zu einer halben Sekunde. Es konnte gezeigt werden, dass Personen, die sprachunauffällig sind, mit einem zeitlich verzögertem Sprachsignal zu Stottern beginnen. Dieser Effekt wird als Lee-Effekt bezeichnet. Umgekehrt verhindert die Rückkopplung das Stottern. Zu beachten ist aber, dass die Verzögerungszeiten wichtig sind. Wählt man die Verzögerungszeit zu groß, dann beginnen auch Personen die Stottern künstlich zu stottern. Bei Personen, die Stottern wählt man eine Verzögerungszeit von 50 bis 100 ms. Diese Zeiten sind am wirkungsvollsten. Bei all diesen apparativen Hilfen kann das Stottern dauerhaft, solange das jeweilige Gerät verwendet wird, stark reduziert werden. Nach dem Abschalten tritt das Stottern wieder unvermindert auf. Interessanterweise geht das Stottern unter Gabe von Haloperidol (Dopaminblocker) zurück. Es führt zu einer erhöhten Sprechflüssigkeit. Es gibt auch Untersuchungen, ob sich stotternde Personen von nicht-stotternden Personen unterscheiden. Dazu stehen motorische Fähigkeiten im Vordergrund. Bei einfachen rhythmischen Mustern gab es hinsichtlich der Kraft, Regelmäßigkeit und Genauigkeit keine Unterschiede. Bei komplexen sequenziellen Fingerbewegungsaufgaben mit längeren Ausführungszeiten treten größere Unterschiede auf. Genauso zeigen Kinder, die Stottern, und Kinder mit Artikulationsstörungen langsamere Reaktionszeiten bei manuellen Aufgaben, als Kinder ohne Sprachprobleme. ___________________________________________________________________________ Aus welchen Teilen und welche Aufgaben besteht bzw. hat das motorische System? Welche Defizite beobachtet man bei einer Läsion des Kleinhirns? Wie werden Muskeln bei einer linearen Bewegung durch die Großhirnrinde aktiviert? Erläutern sie die Rückkopplungen der Basalganglien (inkl. chem. Prozesse). Was verdeutlicht das Spiel „LIVE“? Wie entwickelt sich diese Figur (Hinweis: Sie wird „Gleiter“ genannt)? Was versteht man unter der Chorea Huntington Erkrankung? Welche Symptome zeigen sich beim Tourette-Syndrom? Was versteht man unter positiver/negativer Symptomatik? Schildern sie die Symptomatik bei der Parkinson-Erkrankung. Wie kann man Parkinson-Patienten behandeln? Welche Arten des Stotterns gibt es? Was ist der Lee-Effekt? Wie kann das Stottern behandelt werden? ___________________________________________________________________________________ Das motorische System 95 chr – chr -chr schnarch - schnarch Der Schlaf Beim Menschen ist Schlaf NICHT bloß eine fehlende Wachheit oder ein Ruhezustand des Gehirns. Bei vielen Tieren ist der Schlaf nur ein Ruhezustand, die elektrische Aktivierung ist vermindert. Beim Menschen ist der Schlaf eine spezielle Aktivität des Gehirns, wo komplizierte und präzis arbeitende Mechanismen ablaufen. Das Gehirn bleibt aktiv, es werden aber keine Sinnesreize verarbeitet. Das Gehirn steuert nicht nur den Schlaf, es ist auch Hauptnutznießer: Zu wenig Schlaf führt zu mangelnder Aufmerksamkeit und unkoordinierten Bewegungen. Das Lernen ist eingeschränkt. Bei weiterem Entzug entstehen Halluzinationen und der Unterschied zwischen Rationalem und Irrationalem kann nicht mehr festgestellt werden. Es kommt in weiterer Folge zum Wahnsinn. Durch die EEG-Ableitungen ist man in der Lage den Schlaf in verschiedene Stadien zu unterteilen. Wesentlich sind 2 Parameter: die Frequenz und die Amplitude der EEG-Wellen: Schlafstadien I II III IV Frequenz [Hz] 4-8 8-15 2-4 0.5-2 Amplitude [µV] 50-100 50-100 100-150 100-200 ____________________________________________________________________________________________ 96 Brain Modelling Abb.6.1: Verschiedene Schlafstadien im EEG. Nach einem Dämmerzustand wird das Schlafstadium I erreicht. Danach wird dann über die Stadien II und III die Tiefschlafphase IV erreicht. Nach einiger Zeit beginnt der Körper wieder "aufzuwachen". Das heißt die Phasen III, II und I werden durchlaufen (Reihenfolge beachten). Das Individuum beginnt aber nicht aufzuwachen, sondern es setzt die REM-Phase (rapid eye movement) ein. Nach der REM-Phase werden wieder alle Schlafphasen durchlaufen bis die Tiefschlafphase erreicht wird und so weiter. I I II II III IV III REM t I II III IV Tiefschlafphase Schlaftiefe Abb. 6.2: Der Verlauf des Schlafes, bzw. der Tiefschlafphasen und der REM-Phase. ___________________________________________________________________________________ Der Schlaf 97 Von Beginn einer REM-Phase über die Tiefschlafphase bis zu Beginn einer neuen REMPhase vergehen durchschnittlich 100 Minuten. Diese Zeit ändert sich während des Schlafes nicht. Im Laufe der Nacht ändern sich nur die relativen Anteile zwischen den REM und den non-REM-Phasen. Zu Beginn des Schlafes dauert eine REM-Phase zwischen 5 und 10 Minuten, am Ende kann die REM-Phase rund 20-50 Minuten dauern. Der Schlaf-Wachzustand des Gehirns wird von der Formatio Reticularis des Mittelhirns gesteuert. Im Wachzustand innerviert die Formatio Reticularis die spezifischen Thalamuskerne. Damit können sich keine Rückkopplungen zwischen dem betreffenden Cortexareal und dem Thalamus ausbilden. Im Schlaf feuert die Formatio Reticularis nicht. Die Impulse vom Thalamus zum Cortexareal und retour werden nicht gestört und es kann eine thalamo-cortico-thalmische Rückkopplung entstehen. Bei Katzen wurde festgestellt, daß eine Reizung von Thalamuskernen zu Schlaf-, eine Reizung der Formatio Reticularis zu einem Aufwach-Verhalten führt. Beim Menschen regulieren die Nervenzellen des Locus Coeruleus im Stammhirn den Wachzustand über die Ausschüttung von Noradrenalin in der ganzen Großhirnrinde. Im nonREM-Schlaf wird weniger Noradrenalin ausgeschüttet, in der REM-Phase ist dieser Kern praktisch nicht aktiv. Die REM- beziehungsweise die nonREM-Phasen werden über spezielle Zellen in der Formatio Reticularis der Brücke gesteuert. Über diese Zellen werden sehr viele Prozesse beim Schlaf gesteuert. Beim Einschlafen werden die sensorischen Neuronen, die über das Rückenmark ihre somatosensorischen Reize weiterleiten, gehemmt. Das führt zu einer verminderten Wahrnehmung über die Haut und die Muskelstellung. Etwas später werden alle sensorischen Systeme gehemmt, Abb. 6.3: Steuerung der thalamo-cortico-thalmischen das heißt diese Systeme können keine Rückkopplungsschleife durch die Formation reticularis. Information an den Thalamus weiterleiten. Es kommt zusätzlich zu einer motorischen Lähmung. Die Formatio Reticularis hemmt die Motoneuronen im Rückenmark. Das heißt, das Gehirn kann keine Bewegungen mehr ausführen. Da die Formatio Reticularis den Thalamus nicht mehr aktiviert, kommt es zu langsamen Wellen mit einer hohen Amplitude im EEG der Großhirnrinde. Wenn eine REM-Phase erreicht wird, dann entstehen PGO-Wellen (Pons - Geniculatum - Orbito-temporal-lateral Cortex). Diese Wellen nehmen ihren Ausgang in speziellen Zellen in der Brücke (pons). Diese Zellen aktivieren den Thalamus (geniculatum), was zu einer zufälligen Aktivierung der Großhirnrinde führt. Gleichzeitig wird auch die Großhirnrinde über diese Zellen direkt aktiviert. Man kann sagen, daß Gehirn wird mit zufälligen und scheinbar sinnlosen Inputs überschwemmt. Die PGO-Wellen dienen als eine interne Informationsquelle. ____________________________________________________________________________________________ 98 Brain Modelling Die PGO-Zellen feuern wahllos in Zielgebiete des Hinterhauptslappen. Das führt dazu, dass die Gruppen von Neuronen in der Großhirnrinde, die tagsüber aktiv waren, eine erhöhte Wahrscheinlichkeit haben sich zu synchronisieren. Daraus folgen unter anderem die Erinnerungen an das Tagesgeschehen. Gleichzeitig wird das basale Vorderhirn aktiviert. Über cholinerge Fasern wird der Hippocampus aktiviert. Das PGO-Zellen heißt, die Muster, die im Laufe des Tages im Hippocampus „eingespeichert“ wurden, werden nun aktiviert. Über die retrograden Verbindungen vom Hippocampus zum Hinterhauptslappen werden nun zusätzliche Muster in den Hinterhauptslappen eingespeist. basales Vorderhirn resultierende thalamo-cortico-thalmischen Rückkopplungsschleifen neue Verknüpfungen = "neue" Assoziationen PGO-Zellen In der Großhirnrinde sind viele Gebiete direkt aktiviert worden. Über die Aktivierung des Thalamus wurden zusätzlich andere Gebiete der Großhirnrinde aktiviert. Dies geschieht über die thalamo-corticothalmischen Rückkopplungsschleifen. Aufgrund der lokalen Hemmung in der Großhirnrinde verschwinden wieder viele dieser Synchronisationen (Gedanken). Nur die Gebiete die sich über eine Rückkopplung gegenseitig aktivieren, bleiben weiter aktiv. Diese Aktivität herrscht dann während der Tiefschlafphase vor. Non-REM: Der Cortex bekommt keinen Input, die Motoneuronen im Rückenmark sind gehemmt. REM: Der Cortex wird mit zufälligen Aktivierungen über die PGO-Zellen und den Aktivierungen der Muster aus dem Hippocampus überschwemmt. Es kommt zu lokalen Synchronisationen. Die Motoneuronen im Rückenmark sind stark gehemmt. Aufwachen: Die Verbindung zwischen den sensorische Systemen und dem Thalamus wird wieder hergestellt, das Rückenmark kann wieder motorische Aufgaben wahrnehmen. ___________________________________________________________________________________ Der Schlaf 99 Nicht nur die neurale Aktivität ändert sich im Schlaf. Auch die chemische Modulation ist massiv verändert. Im Wachzustand ist das colinerge System (Acetylcholin) ungefähr so aktiv wie das aminerge System (Noradrenalin, Dopamin, Serotonin). Im non-REMSchlaf sinkt die Aktivität beider Systeme. Im REM-Schlaf sinkt die Aktivität des aminergen Systems praktisch auf Null, während das cholinerge System besonders aktiv (wie im Wachzustand) ist. Das cholinerge System wird mit der Lernfähigkeit in Zusammenhang gebracht. Konzentration [WE] 2 Cholinerger Spiegel 1 Aminerger Spiegel 0.1 Wachen Non-REMSchlaf REMSchlaf Im Traum ist die Urteilsfähigkeit und Einsicht stark herabgesetzt. Man träumt in allen Phasen des Schlafes. Allerdings ist das Erinnerungsvermögen im REM-Schlaf bedeutend besser, da das cholinerge System aktiv ist. In der REM-Phase erleben wir meist sehr bizarre Situationen und unsere Gefühle sind stark beteiligt. In der non-REM-Phase erinnern wir uns in 10% der Fälle in der Regel an einfache Bildfolgen und Handlungsstrukturen. Diese Bildfolgen und Handlungsstrukturen stehen in einem engen Zusammenhang zu dem Tagesgeschehen. Der Schlafwissenschaftler Hobson schlug ein Modell für verschiedene Bewußtseinsustände vor, indem er wesentliche Parameter, die den Schlafzustand beschreiben, verwendet: 1) Aktivierung: Entspricht der Impulsrate der Formatio Reticularis 2) Input: Gelangt der Input über die sensorischen Systeme oder über die PGO-Zellen in das Gehirn. 3) Modus: Welches der chemischen Systeme ist aktiv (aminerg, cholinerg) ? Zustandsraum Elektroschocktherapie Wachzustand Halluzination Non-REM-Schlaf Aktivierung Koma REM-Schlaf Abb. 6.4: Die Punkte auf einem Würfel repräsentieren verschiedene Bewusstseinszustände. Mit diesem einfachen Modell können verschiedene Zustände des Bewusstseins beschrieben werden. ____________________________________________________________________________________________ 100 Brain Modelling ___________________________________________________________________________ Welche Schlafstadien kenne sie und wodurch sind sie charakterisiert? Wodurch wird die REM-Phase ausgelöst? Wie und wo wirkt eine PGO-Welle? Wofür steht REM? Was passiert im Gehirn während des REM-Schlafs? Was passiert im Gehirn während des non-REM-Schlafs? Erläutern sie das Bewusstseinsmodell nach Hobson. ___________________________________________________________________________________ Der Schlaf 101 Das Gedächtnis 7.0 Das Arbeitsgedächtnis Das Arbeitsgedächtnis ist ein Assoziationsgedächtnis, das multimodale Fakten aufnimmt und miteinander abgleicht. Des weiteren werden auch "Vorstellungen" von diesem System produziert. An folgende Aufgaben ist das Arbeitsgedächtnis zum Beispiel beteiligt: - Kopfrechnen mit Zwischensummen - Überlegungen beim Schach - Merken einer Telefonnummer für kurze Zeit Allgemein gesprochen, ist das Arbeitsgedächtnis für schlußfolgerndes Denken mit einem Zwischenspeicher verantwortlich. Das Arbeitsgedächtnis ist Teil des präfrontalen Cortex und liegt im vorderen Bereich des Stirnlappen. Dieser Teil ist verbunden mit allen sensorischen (mit Ausnahme des Geruchsystems), motorischen und limbischen Funktionseinheiten. Durch das Arbeitsgedächtnis werden viele cortico-cortico Bahnen gesteuert. Des weiteren gibt es eine ausgeprägte Verbindung zum Schläfenlappen. Diese Verbindung ist für den aktiven Abruf des Gedächtnisses essentiel. Eine Zerstörung des präfrontalen Cortex führt in leichter Form zu einem Antriebsmangel, was sich bis zur Apathie steigern kann. Bei Verletzungen sind normalerweise alte Erinnerungen nicht betroffen, sehr wohl aber die Schlußfolgerungen mangelhaft. Die ersten Experimente zum Stirnhirn wurden von Piaget durchgeführt. Er untersuchte ab welchem Alter (proportional zum Reifegrad des Stirnhirns) Kinder eine Aufgabe mit Zeitverzögerung lösen konnten. Es gibt zwei Schachteln. In eine der beiden wird vor den Augen des Kindes ein Spielzeug hineingegeben, die andere bleibt leer. Dann wird das Kind für einen kurzen Moment abgelenkt. Danach soll das Kind sagen (oder deuten) in welcher der beiden Schachteln das Spielzeug wohl sei. Bis zum achten Monat versagen die Kinder, es gibt nur eine Reflexantwort, während zu einem späteren Zeitpunkt in der Entwicklung die Antwort praktisch immer korrekt ist. Piagets Experimente wurden wesentlich verfeinert. Man trainierte einen Affen auf ein Kreuz in der Bildmitte eines Bildschirms zu starren. Irgendwo auf dem Bildschirm erscheint ein ____________________________________________________________________________________________ 102 Brain Modelling Rechteck. Der Affe kann es zwar wahrnehmen, aber er darf nicht dorthinsehen. Danach verschwindet das Rechteck. Erst wenn das Kreuz in der Mitte des Bildschirms verschwindet, dann muß der Affe auf die ehemalige Position des Rechtecks sehen. Bei den Untersuchungen dieses Tests mit Zeitverzögerung konnte eine erhöhte Aktivität im Stirnhirn für die Dauer der Zeitspanne des Merkens festgestellt werden. Abbildung. 7.1: Darstellung der Augenbewegung auf einen Verzögerten Reiz und die damit verbundenen EEGKurven. Diese Experimente werden als "Test auf die Verhaltensreaktionen mit Zeitverzögerung" bezeichnet. Während der Phase der Entscheidung hat der Proband keine Anhaltspunkte. Er muß auf sein kurzfristiges Gedächtnis zurückgreifen. Damit sind wir in der Lage uns ein Objekt vorzustellen, auch wenn wir es gerade nicht wahrnehmen. Damit ist es dem Mensch möglich, abstrakte Konzeptbildungen vorzunehmen. Das Arbeitsgedächtnis dient der zentralen Steuerung von "bewußter" Aktivität, wo eine selektive Aufmersamkeit benötigt wird. 7.2 Das Gedächtnis Als Phänomen Gedächtnis bezeichnen wir die Fähigkeit Wissen zu Speichern und dieses Wissen wieder abzurufen. Dieser Effekt wird auch als Lernen bezeichnet. Lernen: Verknüpfen von zwei verschiedenen bekannten Reizen für eine längere Dauer. Das Lernen ist abhängig von verschiedenen Parametern: 1) Wiederholung: Wenn zwei Reize öfters gemeinsam präsentiert werden, dann können wir uns besser daran erinnern. 2) Bedeutsamkeit:Wenn etwas wichtig ist für uns, dann werden wir es leichter lernen 3) Codierung: Das Wissen muß in geeigneter Weise präsentiert werden. Zwei Versuchsgruppen mußten eine Wortliste lernen. Die eine Gruppe sollte zu den einzelnen Worten Assoziationen vornehmen, während die andere Gruppe sich mit der Geometrie der Buchstaben beschäftigen sollte. Die Gruppe mit den Assoziationen konnte sich später besser erinnern. Die Information muß in bisherige Erfahrungen eingebunden werden. Einer Gruppe von Schachspielern wurden verschiedene Konstellationen von ___________________________________________________________________________________ Das Gedächtnis 103 Schachfiguren realer Partien gezeigt. Die Schachspieler konnten die Figuren fast perfekt an die richtigen Positionen stellen, während die NichtSchachspieler nur zwei bis drei Figuren an die richtige Stelle stellen konnten. Wenn auf dem Schachbrett die Figuren zufällig verteilt waren, konnte keine der Gruppen ein gutes Ergebnis liefern. 4) Kontext: Das Umfeld, in dem man die Reizverknüpfung gelernt hat, ist wichtig. In derselben Umgebung können die Versuchspersonen sich besser erinnern als in einer anderen Umgebung. 5) Emotion: Es gibt ein besseres Erinnern in einer traurigen Stimmung an negative Erfahrungen. Ebbinghaus stellte als erster Experimente zum Gedächtnis an. Er ließ Listen von sinnlosen Silben (NEX, LAZ, JEK, ZUP, RIF) auswendig lernen. Er untersuchte unter welchen Umständen man diese Liste leichter lernt beziehungsweise vergisst. Die Vergessenskurve gibt an wie stark wir etwas in Abhängigkeit der Zeit vergessen. Abbildung. 7.2: Darstellung der Vergessenskurve nach Ebbinghaus. Gesetz von Ebbinghaus: Bei Anstieg der zu lernenden Menge steigt der Lernaufwand unverhältnismäßig an. Er stellte fest, dass es eine lineare Beziehung zwischen der Anzahl der Wiederholungen beim Erlernen der Liste und dem korrekten Abruf der Liste gibt. Auf gut Deutsch: Übung macht den Meister ! ____________________________________________________________________________________________ 104 Brain Modelling Ebbinghaus konnte auch nachweisen, daß es einen Unterschied zwischen dem Kurzzeitgedächtnis und dem Langzeitgedächtnis gibt. Der Begriff Kurzzeitgedächtnis wurde dann vielfach und äußerst unterschiedlich verwendet. Wir wollen nun die unterschiedlichen Gedächtnisarten nach der Verweildauer der Information klassifizieren: sensorisches Gedächtnis Arbeitsgedächtnis Kurzzeitgedächtnis Langzeitgedächtnis Abbildung. 7.3: Verlauf der Einspeicherung in verschiedene Arten von Gedächtnissen. sensorisches Gedächtnis: Die Verarbeitungszeit ist die Zeit bis eine Synchronisation entsteht, beziehungsweise solange die Synchronisation im sensorischen Areal besteht (rund 1 Sekunde). Arbeitsgedächtnis: Im Arbeitsgedächtnis können rund 7±2 Einzelheiten für rund 15 Sekunden bis zu wenigen Minuten gespeichert werden (Zum Beispiel eine Telephonnummer). Es wird eine Rückkopplung zwischen dem (primären) sensorischen Cortexareal und dem präfrontalen Areal hergestellt. Eidetiker, Personen mit einem "photographischem Gedächtnis" besitzen ein Arbeitsgedächtnis mit einer relativ langen Dauer. Kurzzeitgedächtnis: Verschiedene Reizkombinationen werden über NMDA-Rezeptoren in einer speziellen Gehirnregion (temporaler Schläfenlappen - Hippocampus) für einige Stunden bis wenigen Tagen gespeichert. Es gibt zwei Formen. Einerseits einen Art visuellen Notizblock für die Form und die räumliche Position und andererseits der phonologische Notizblock, in dem verbale Informationen gespeichert werden. Langzeitgedächtnis: Im Langzeitgedächtnis werden die Information in der Regel ein Leben lang gespeichert. Der Sitz scheint die Großhirnrinde zu sein, im speziellen die Assoziationsfelder. Trotzdem sind das Kurzzeitgedächtnis und das Langzeitgedächtnis zwei parallel Mechanismen. Gleichzeitig können beide Formen abgerufen werden. Das Gedächtnis kann aber auch noch nach anderen Kriterien unterteilt werden: Explizites Gedächtnis: Wir lernen etwas über die Welt, Wissen über Menschen, Orte und Dinge. Diese Gedächtnisform ist (größtenteils) ständig verfügbar in unserem Bewusstsein. Der Gedächtnisinhalt kann anderen Personen leicht mitgeteilt werden. Es gibt zwei Hauptklassen von expliziten Gedächtnisinhalten: das semantische und das episodische Gedächtnis. Im episodischen Gedächtnis ist die persönliche Autobiographie gespeichert, wie singuläre Ereignisse (Hochzeit) und Ort und Zeit bestimmter Fakten (Urlaub). Im semantischen Gedächtnis ist unser Schulwissen (√144=12, Wo liegt Peru ?), die Weltkenntnis, sowie semantisch-grammatikalisches Wissen gespeichert. ___________________________________________________________________________________ Das Gedächtnis 105 Implizites Gedächtnis: Wir lernen wie etwas zu tun ist, dies ist der Erwerb von motorischen und wahrnehmungsbezogenen Fähigkeiten. Um den Gedächtnisinhalt am einfachsten zu vermitteln, führt man ihn anderen Personen vor (Bewegung beim Sport). Diese Gedächtnisform ist von reflexartiger und automatischer Natur. Es bildet sich langsam, und nur Wiederholungen führen zu einer Verbesserung. Im Regelfall sollte der Abruf dieser Gedächtnisinhalte ohne bewusste Anstrengung erfolgen. Die Inhalte werden in den beteiligten sensorischen und motorischen Strukturen gespeichert. Es gibt zwei Hauptklassen von implizitem (prozeduralem) Lernen: assoziatives und nicht-assoziatives Lernen (siehe Wintersemester). Es zeigte sich, dass bei Tieren mit einer Temporallappenläsion die klassische und die operante Konditionierung erhalten bleibt. Möglicherweise funktioniert die Verknüpfung aber auch über den Mandelkern. Wilder Penfield führte in den 40er Jahren eine Kartierung des menschlichen Cortex durch elektrische Reizung durch. Mit einer Elektrode wurde verschiedene Areale des Gehirns gereizt und die Reaktionen, der Patient war zu dem Zeitpunkt nicht bewusstlos, untersucht. Es wurde festgestellt, dass bei einer Reizung des Temporallappens die Patienten in ungefähr 8% der Fälle von zusammenhängenden Erinnerungen berichteten. Die Reizung des Schläfenlappens führte sonst zu keiner Reaktion, im Gegensatz zu einer Reizung der visuellen Sehrinde, wo der Proband glaubte zum Beispiel Lichtblitze wahrzunehmen. Brenda Miller untersuchte die Auswirkungen von Verletzungen des Temporallappens. Es stellte sich heraus, dass eine beidseitige Entfernung des Hippocampus (eine Struktur im Temporallappen) zu einer anterograden Amnesie führt. Der Patient kann keine neuen expliziten Gedächtnisinhalte lernen (speichern). Bei Versuchen mit Tieren stellte sich heraus, dass zwei Strukturen wesentlich am Gedächtnisaufbau beteiligt sind: die Amygdala (Mandelkern) und der Hippocampus. Wenn bei Tieren der Hippocampus beidseitig zerstört wurde führte dies zu gemäßigten Amnesien. Nur wenn die Amygdala und der Hippocampus zerstört waren, dann war die Amnesie umfassend. Tiere bei denen die Amygdala entfernt wurde, lernten die Verknüpfung von Reiz und Belohnung nur sehr langsam bis gar nicht. Die Amygdala und der Hippocampus sind mit anderen Kernen sehr stark verbunden. Dieses System wird auch als limbisches System bezeichnet. Abbildung. 7.4: Darstellung des limbischen Systems. Teile dieses Systems sind für die Gedächtniseinspeicherung verantwortlich. Man versuchte verschiedene Strukturen oder auch Verbindungen dieses Systems zu zerstören um die Auswirkungen auf das Gedächtnis zu untersuchen. ____________________________________________________________________________________________ 106 Brain Modelling Die Arbeitsgruppe von Mishkin meint, daß die Amygdala und der Hippocampus für das deklarative Gedächtnis eine gleichartige Rolle spielen. Die Neurowissenschafter Squire und Zola meinen, daß die CA1 und CA2 Region (eine Teilstruktur des Hippocampus) für das Gedächtnis wesentlich sind. Der Wissenschaftler Gaffan meint, daß nur über den Fornix (er verbindet den medialen Temporallappen und diencephale Regionen) Gedächtnisinhalte gespeichert werden können. Manch andere vermuten dass der Mammilarkörper essentiell ist und so weiter. Die Zahl der Meinungen ist sehr groß. In einer Untersuchung konnte Markowitsch zeigen, dass es wesentlich ist, wie die Läsionen den Tieren beigebracht wurden. Wenn mit dem Skalpell operiert wurde, wurden meist auch andere Regionen oder Faserverbindungen in Mitleidenschaft gezogen. Beim Absaugen von Gehirnbereichen wurden oft auch benachbarte Strukturen zerstört, ähnlich wie beim Gefrieren. Da mit unterschiedlichen Methoden gearbeitet wurde, ist es äußerst schwer die Experimente untereinander zu vergleichen. Die Tierexperimente zeigten im wesentlichen, dass eine Entfernung des Hippocampus kaum zu einer Beeinträchtigung des Gedächtnisses führt. Die Entfernung der Amygdala führt zu massiven Einschränkungen beim Erwerb neuer Gedächtnisinhalte. Die Entfernung beider Strukturen führt zu einer kompletten Unfähigkeit zu lernen. Man unterscheidet 2 Arten von Amnesien (Gedächtnisstörungen): retrograde Amnesie: Der Patient kann sich an früher gelernte Fakten oder Erlebnisse nicht mehr erinnern. Meist ist nur das episodische oder das semantische Gedächtnis gelöscht. Selten kommt es zu einer umfassenden retrograden Amnesie. So kann es zum Beispiel passieren, daß ein Patient der sein semantisches Gedächtnis verloren hat, zwar nicht weiß daß er eine andere Sprache gelernt hat, trotzdem diese Sprache aber anwenden kann. anterograde Amnesie: Der Patient ist nicht in der Lage neue Gedächtnisinhalte (Fakten und Autobiographie betreffend) zu speichern. Das Langzeitgedächtnis und das Arbeitsgedächtnis funktionieren in der Regel normal und es können auch motorische Fertigkeiten gelernt werden (vgl. verschiedene Arten von Gedächtnis). Beim Menschen können keine Experimente durchgeführt werden. Leider kommt es aber zu Schlaganfällen, Sauerstoffmangel, Entzündungen, Operationen oder Erkrankungen. Anhand des verletzten Gebietes und eingehenden Untersuchungen ist man dann in der Lage Modelle aufzustellen. Es kann auch zu transienten – vorübergehenden - globalen Amnesien kommen. Alte Inhalte gehen verloren und neue können nicht gebildet werden. Diese transienten Amnesien werden durch einen epileptischen Anfall, durch eine Gehirnerschütterung beziehungsweise durch eine Migräneattacke ausgelöst. Patient F.R.: schwere anterograde und leichtere retrograde Amnesie, Schädigung der Hippocampusregion. Patient G.J.: Zugriff auf Gattungsnamen und spezielle Hauptwörter ist gestört, Umgang mit betreffenden Gegenständen stellen kein Problem dar, Alzheimer-Krankheit. Patient E.D.: retrograde Amnesie bezüglich der Autobiographie, beidseitige Verletzung des Schläfenlappens. Patient A.B.: schwere anterograde Amnesie und leichte episodische retrograde Amnesie, beidseitiger thalmischer Infarkt. Des weitern muss man unterscheiden welche Gedächtnisfehlleistungen genau auftreten. Bei einem Patienten, Herrn B, war der linke Temporallappen zerstört. Er hatte ein gutes Zahlengedächtnis, aber er konnte sich keine Geschichten merken. Beim Wechsler ___________________________________________________________________________________ Das Gedächtnis 107 Gedächtnistest wird eine Geschichte vorgelesen, die der Patient nach einer bestimmten Zeit dann möglichst genau nacherzählen sollte. Herr B fasste die gesamte Geschichte in einem Satz inhaltlich falsch zusammen. Er konnte sich aber an Folgen von sieben Zahlen sehr genau erinnern. Er konnte sich auch gut an geometrische Zeichnungen erinnern. Bei Frau C, mit einem Tumor im rechten Temporallappen, zeigte sich ein konträres Krankheitsbild. Sie konnte sich Geschichten gut merken, aber das Gedächtnis für Zeichnungen war gestört. Das belegt, das bestimmte Gedächtnisinhalte im rechten und andere im linken Temporallappen gespeichert werden. Neben dem Wechsler-Test gibt es noch andere Tests für das Gedächtnis. So lernt man beim Paarassoziationstest Wortpaare, wie Norden-Süden oder Kohlkopf-Federhalter, zu lernen und nach einer bestimmten Zeit werden einzelne Wörter vorgelesen und man sollte das andere Wort ergänzen. Beim Rey-Osterith-Test wird eine vorgegebene Graphik nachgezeichnet. Nach 45 Minuten soll man dann die Graphik aus dem Gedächtnis nachzeichnen. Es gibt dann noch einige Erkrankungen, die spezielle Regionen des limbischen Systems betreffen. Alzheimersche Krankheit: Amyloidablagerungen und Absterben von Neuronen im Hippocampus,dem basalen Vorderhirn (Nucleus basalis Meynert und dem Kern des diagonalen Bandes) und in der Großhirnrinde führt zu umfassender Schädigung des Gedächtnisses. Korsakow-Syndrom: Diese Erkrankung führt zu einer Zerstörung der (anterioren und) medialen Thalamuskerne. In rund 50% der Fälle kommt es zu einer Zerstörung der Mammilarkörper, die aber nach dem aktuellen Wissensstand keine Bedeutung für das explizite Gedächtnis haben. Diese Erkrankung tritt meist bei chronischen Alkoholikern auf. Die Intelligenz bleibt in der Regel erhalten, es gibt aber massive Probleme sich neue Fakten zu merken. Ebenso ist eine retrograde Amnesie vorhanden. Emotionale Erlebnisse können aber gespeichert werden. Es kommt zum Konfabulieren. Dabei werden scheinbar sinnvolle Antworten gegeben, tatsächlich reden die Patienten um den heißen Brei herum und geben nicht zu dass sie die Antwort nicht kennen. Mit den Patienten kann meist nur eine inhaltsleere Konversation betrieben werden. Genauso haben diese Patienten einen Mangel an Einsicht (vgl. Schädigung des präfrontalen Cortex). In extremen Fällen kommt es zu einer Apathie. Psychogene Amnesie: Ausgelöst durch einen emotionellen Schock führt dies zu einer retrograden Amnesie, die meist nach ein paar Wochen verschwindet. Urbach-Wiethe Krankheit: Führt zu einer Verkalkung der Amygdala. Kein Einfluss auf kognitive Gedächtnisformen. Massive Einschränkungen bei emotioneller Beurteilung von Situationen oder der Gesichtsmimik. So kann vorübergehender Alkoholgenuss beziehungsweise eine Elektrokrampftherapie ebenso zu einem Gedächtnisverlust führen. Bei all den Erkenntnissen zum Thema Gedächtnis sollte auch der Frage nachgegangen werden, wozu der Mensch ein Gedächtnis benötigt. Vor Jahrtausenden musste der Nahrung und Wasser suchen (zumindest war es früher aufwendiger als heute, wenn man in eine Supermarktkette geht). Es war sehr praktisch, sich daran zu erinnern, wo es Nahrung und Wasser gegeben hat. So scheint das Gedächtnis stark mit dem Ort beziehungsweise mit dem Ortsgedächtnis zu korrespondieren. In Amerika gibt es professionelle Spieler, die von einem zum nächsten Spielcasino ziehen und sich ihr Geld verdienen. Sie spielen Black-Jack. Bei diesem Spiel werden 5 Kartensets zu je 52 Karten gemischt. Ingesamt ergibt sich ein Kartenstapel von 260 ungeordneten Karten. ____________________________________________________________________________________________ 108 Brain Modelling Dann beginnt das Spiel. Wenn ein Spiel beendet ist, werden alle Karten offen auf den Tisch gelegt und sie kommen nach unten in den Kartenstapel. Dabei lässt sich kaum Geld verdienen sondern dabei kann man nur Geld gewinnen oder eher verlieren. Wenn aber alle 260 Karten für das Spiel verwendet wurden, dann beginnt das Spiel wieder mit den Karten die ganz am Anfang verwendet wurden. Wenn man sich also noch an diese Karten erinnern könnte, dann hat man eine sehr gute Gewinnchance, beziehungsweise weiß man, welche Karten der Croupier hat. Man kann sich dann leicht ausrechnen, ob man Geld setzen sollte, weil man bessere Karten hat, oder nicht. Es gibt einige Spieler, die versuche sich die Reihenfolge der Karten zu merken, und das in einer Casinoatmosphäre. Leider werden die Karten auch nur sehr flüchtig gezeigt. Wie schaffen es diese Spieler, sich die Reihenfolge der Karten zu merken? Dazu gibt es einen einfachen Trick. Ein Spieler hat in seiner Wohnung die Karten eines Spiels verteilt. Das Herz As ist beim Kühlschrank, der Karo Bube beim Bett, der Pick Zehner ist beim Fernseher und so weiter. Diese Zuordnung hat der Spieler perfekt gelernt. Wenn nun der Reihenfolge nach die einzelnen Karten fallen, dann geht er in seiner Vorstellung in seiner Wohnung zu dieser Karte. So braucht er sich nur den Weg merken. Interessanterweise ist es leichter sich einen Weg zu merken, als sich die Reihenfolge der Karten. Das Ortsgedächtnis scheint beim Menschen sehr ausgeprägt zu sein. Dazu wurden verschiedene Experimente entwickelte. Zum einen die Wasseraufgabe. Dabei wird in einem Wasserbecken eine Plattform versteckt. Das heißt die Plattform befindet sich unter Wasser und das Wasser ist meist milchig trüb, so dass man die Plattform nicht sehen kann. Das Wasserbecken befindet sich in einem Raum, in dem es markante Markierungspunkte wie ein Fenster, eine Türe und Plakate gibt. Nun setzt man eine Ratte in das Wasserbecken. Zu erst wird sie zufällig durch das Becken schwimmen, bis sie die Plattform ertastet. Am nächsten Tag wird sie wieder in dem Wasserbecken ausgesetzt, aber an einer anderen Position. Dieses mal schwimmt die Ratte nicht zufällig durch das Becken, sondern sie schwimmt direkt auf die Plattform. Sie hat sich anhand der verschiedenen Markierungen im Raum gemerkt, wo sich relativ dazu die Plattform befindet. Abbildung 7.5: Die Faserverbindungen zwischen den einzelnen Rindenarealen, die für das Ortsgedächtnis verantwortlich sind. Ratten als auch Menschen können sich einen Ort durch einen einzigen Versuchsdurchgang merken. Vögel können sich bis zu mehrere verschiedene tausend Plätze, an denen sie Futter versteckt haben, merken. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Größe des Hippocampus und der Raumorientierung. Vögel, die mehr Futterdepots anlegen können, besitzen einen größeren Hippocampus. Es gibt auch zwei typische Erkrankungen, die mit der Raumorientierung zusammenhängen. Bei der topographischen Agnosie können die Patienten einzelne Merkmale von Plätzen oder Gebäuden nicht identifizieren, während sie gleichzeitig noch ganze Objektklassen, wie Kirchen oder Hochhäuser, identifizieren können. Bei der topographischen Amnesie haben die Patienten eine Schwierigkeit einen Bezug zwischen diesen Wegmarkierungen herzustellen. Sie haben Probleme zum Beispiel den Weg nach Hause zu finden (Schädigung des rechten Temporallappens). Es kommt zu einer topographischen Desorientierung. ___________________________________________________________________________________ Das Gedächtnis 109 All diese Erkrankungen und Experimente führen zu folgenden Erkenntnissen: Retrograde Amnesie: Der Informationsabruf ist geschädigt, wenn die Verbindung (fasciculus unicatus) von den Schläfenlappenspitzen und dem Stirnhirn zerstört ist. Eine Läsion der vorderen Zonen des limbischen Assoziationscortex führt zum Fabulieren. Anterograde Amnesie: Eine Verletzung des medialen Temporallappens, mit den damit verbunden Strukturen (Hippocampus), führt zu einer Störung des Abspeicherns neuer Information (Reizkombination). Es kann sich kein neues Langzeitgedächtnis bilden. Eine Zerstörung der cholinergen Zellen führt zu einer Amnesie. Für Personen mit einer Amnesie gibt es verschiedene Tests. Ein interessanter Test führt bei Amnestikern und Gesunden Personen praktisch immer zu gleich guten Ergebnissen, obwohl er scheinbar das Gedächtnis überprüft. Beim Collin-Test werden einzelne Bilder, am Anfang unvollständig, zu Schluss vollständig, der Reihe nach dem Probanden vorgelegt. Mit jedem weiterem Bild erhält der Proband etwas mehr Information, bis der Proband das Objekt, das auf dem Bild dargestellt ist, erkennen kann. Nach einer bestimmten Zeit werden ihm die selben Bilder wieder vorgelegt. Jetzt werden die Objekte aus den Bildserien früher erkannt. Interessanterweise gibt es weder zwischen Amnestikern und gesunden Probanden keinen Unterschied. Es handelt sich dabei um eine Aufgabe für das implizite Gedächtnis. Im Speziellen handelt es sich um einen Prägungstest. Der ventrolaterale Cortex der linken Hemisphäre ist für das Lernen von Wortfolgen wichtig. Eine Schädigung dieses Areals führt zu einer ausgeprägten retrograden Amnesie. Abbildung 7.6: Gollin Tests. Bilder des Umgekehrt verhindert eine linksseitige posterotemporale Läsion das Wiederholen von Buchstaben, Ziffern, Wörter und Sätze. Trotzdem liegt aber keine Amnesie vor. Eine Schädigung des PTO bzw. des präfrontalen Cortex führt zu einem Verlust des Kurzzeitgedächtnisses. Eine Schädigung des frontalen Cortex führt zu Defiziten bei der zeitlichen Einordnung von Reizen. Das Areal 8 im frontalen Cortex ist am Kurzzeitgedächtnis für die Position eines Objektes beteiligt. Sie empfängt Projektionen aus dem PTO. Die Areae 9 und 46 spielen eine Rolle beim Kurzzeitgedächtnis für visuelle Objekte. Sie erhalten ihre Projektionen aus dem Temporallappen. Abbildung 7.7: Die Verbindungen, die für das Kurzzeitgedächtnis für die Ortsbestimmung von Objekten verantwortlich sind. ____________________________________________________________________________________________ 110 Brain Modelling Es wurden verschiedene strukturelle Modelle vorgeschlagen, um den Informationsweg zu beschreiben. Leider ist der Hippocampus eine Region, die mit sehr vielen anderen Regionen in unmittelbaren Kontakt steht. Es ist schwierig zu erkennen welche beteiligten Strukturen wichtig sind, und welche nicht. So sollen nun einige Strukturpläne gezeigt werden. Rhinaler Cortex (Erkennen) orbitofrontaler Cortex Hippocampus (Raum) Neocortex Amygdala (Emotion) medialer Thalamus aufsteigende Systeme cholinerg serotonerg noradrenerg Abbildung 7.8: Die Verknüpfungen zwischen dem präfrontalem Cortex, den elementaren Strukturen des Temporallappen und diverser Kerne. Der mediale Thalamus stellt eine Verbindung zwischen temporalen Strukturen und dem Frontallappen dar. Gyrus cinguli Hippocampus Amygdala Abbildung 7.9: Der Papez-Kreis Die Leitungsbahn, die ursprünglich James Papez vorgeschlagen hat, ist durch dicke Linien gekennzeichnet. Diese Verbindungen sind durch die Anatomie bekannt geworden. Die Verbindungen, durch die dünnen Linien gekennzeichnet, wurden erst in jüngerer Zeit entdeckt und für wichtig erachtet. Aufgrund von Fehlinterpretationen verschiedenster Läsionen an Tieren vermutete man eine wesentliche Bedeutung des Papezschen Leitungsbogen (dicke Linien). Da aber Verletzungen dieser verbindenden Struktur beim Menschen keine so massiven Schädigungen herbeiführten, musste das Modell überdacht werden. Heute wird dieser Schaltkreis als Modell für das Entstehen von Emotionen betrachtet. Die Synchronisationszustände in verschiedenen Rindenarealen (primärer Assoziations- oder übergeordneter Assoziationscortex) werden über das Arbeitsgedächtnis im Hippocampus kurzfristig (maximal 2 Tage ohne Auffrischung) gespeichert. Im Schlaf in der REM-Phase werden das cholinerge System und die PGO-Zellen aktiviert. Die PGO-Zellen aktivieren ihrerseits die Großhirnrinde und spezielle Thalamuskerne in zufälliger Weise. Das cholinerge System aktiviert den Hippocampus und das Arbeitsgedächtnis. Durch die Aktivierung des Hippocampus werden die gelernten Reizkombinationen über das Arbeitsgedächtnis wieder aktiv. Nach der REM-Phase können nur stabile Synchronisationen, die durch den ___________________________________________________________________________________ Das Gedächtnis 111 Hippocampus angeregt wurden, zu einer cotico-thalmischen Rückkopplung führen. Das heißt, die Neuronen die an der Reizkombination beteiligt sind, werden sehr oft aktivert. Man nimmt an, daß eine starke Wiederholung der synaptischen Aktivität zu einem Umbau der Synapsen führt. Dieser Umbau ist dann besonders stabil. Damit wäre die Entstehung des Langzeitgedächtnisses erklärt. 7.3 Der Hippocampus Der Hippocampus ist eine Region des medialen Temporallappens. Im Prinzip ist es eine eingerollte Schicht der Großhirnrinde, die am unteren Saum des Schläfenlappens sitzt. Der Hippocampus wird in 4 Regionen CA1, CA2, CA3 und CA4 unterteilt. Abbildung. 7.10: Der Hippocampus im aufgerollten Zustand. Diese Regionen sind massiv untereinander über verschieden Fasern verbunden. Die Neuronen der CA1-Region besitzen NMDA-Rezeptoren. In der Graphik (a) sehen wir einen Querschnitt durch den Hippocampus. In (b) ist die gesamte Hippocampusstruktur entrollt und man kann die einzelnen Verbindungen besser erkennen. Der Hippocampus ist mit vielen Teilen des Gehirns verbunden: Unspezifische Eingänge des Hippocampus: reticuläres System des Hirnstamms, Hypothalamus, Kern des diagonalen Bandes, unspezifische Thalamuskerne, Amygdala. Diese Eingänge dienen dazu das Aktivierungsniveau in diesem Gebiet zu regulieren. Angst führt zu einer Aktivierung der Amygdala, dies führt zu einer Hemmung oder auch zu einer Aktivierung des Hippocampus. Über das reticuläre System wird die Aufmerksamkeit gesteuert, und dies führt zu einer Aktivierung des Hippocampus was zu einer verminderten oder gesteigerten Lernleistung führt. Über die unspezifischen Eingänge werden keine kognitiven Informationen übertragen, sondern es wird eine Kontrolle über den Einfluss der sensorischen Areale ausgeübt. Vor allem das anterior gelegene Ende hat starke Verbindungen zu den subcorticalen Strukturen des Gehirns. ____________________________________________________________________________________________ 112 Brain Modelling Über die NMDA-Rezeptoren können synchrone Aktivitäten von Neuronen kurzzeitig gespeichert werden. Untersuchungen zeigten, daß ein schwaches Reizmuster an einem Neuron der CA1-Region keine LTP auslöst. Sind die beiden Reize aber synchron, so wird eine LTP an beiden Dendritenästen ausgelöst (Assoziativität). Ist aber ein Reiz besonders stark, ein Neuron feuert sehr oft, dann werden nur an dieser Kontaktstelle die NMDARezeptoren aktiv. Dies scheint nur ein Laboreffekt zu sein und für die allgemeine Gedächtnisleistung ohne Belang. Spezifische Eingänge des Hippocampus: Alle sensorischen und assoziativen Felder der Großhirnrinde sind mit dem Hippocampus verbunden. Über diese Felder kann eine Reizkombination eingespeichert werden. Insbesonderes hat das posteriore Ende des Hippocampus reziproke Verbindungen mit dem Temporallappen. Der entorhinale Cortex stellt den eigentlichen Eingang des Hippocampus dar. Eine Schädigung dieser Region führt zur gleichen Einschränkung der Gedächtnisleistung wie die Zerstörung des Hippocampus selbst. Über den perirhinalen und parahippocampalen Cortex werden die Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Cortexarealen hergestellt und über den entorhinalen Cortex soll sich der Hippocampus "merken", welche dieser Verbindungen im Laufe des Tages aktiv waren. Abbildung. 7.11: Die Anbindung des Hippocampus an die Großhirnrinde. Konsolidierung und Umbau der Synapsen: Wenn eine Synapse eines Neurons in der Großhirnrinde besonders oft aktiv ist, ändert sich der cAMP-Spiegel. Dies führt zu einer Aktivierung der davon abhängigen Proteinkineasen. Dadurch wandern, wenn der cAMP-Spiegel ausreichend groß ist, katalytische Untereinheiten zum Zellkern. Dort wird das CREB-1 Protein phosphorilisert. Dadurch werden Gene eingeschalten, welche Modifikationen der Synapsen bewirken. Im Tierversuch konnte gezeigt werden, dass das CREB-1 Protein zur Entwicklung neuer Synapsen führt. 7.4 Der kognitive Raum Wenn wir uns in der Wohnung bewegen, oder im Supermarkt nach der Butter suchen, dann befinden wir uns im realen Raum. Manchmal wird dieser Raum in der Neurowissenschaft auch als Euklidischer Raum bezeichnet. In unserem Kopf gibt es aber auch einen internen Raum. Wenn wir zum Beispiel gefragt werden, wie unsere Wohnung aussieht, dann stellen wir uns die Wohnung vor und schildern dem Gegenüber unsere Vorstellung. Diese Vorstellung von unserer Wohnung und seinen Gegenständen ist ein Teil des kognitiven Raums. Natürlich ist dieser kognitive Raum nicht so exakt, wie der reale Raum. Er ist den Bedürfnissen des Benutzers angepasst. Ein Autofahrer wird in seinem kognitiven Raum eine ___________________________________________________________________________________ Das Gedächtnis 113 gute Repräsentation des Straßennetzes seiner Umgebung haben, während er praktisch keine Vorstellung von den öffentlichen Verkehrsmitteln hat. Eine Eigenschaft des mentalen Raumes ist die mentale Rotation. Das bedeutet, dass man einen Gegenstand im Geiste so rotieren lassen kann, dass man sich die Rückseite vorstellen kann, ohne dass man den Gegenstand berührt hat. Die Abbildung 7.12 ist ein Beispiel dafür. Natürlich kann man nur dann die richtige Punkteanzahl auf den hinteren Seiten angeben, wenn man Spielwürfeln auch kennt. Die räumlichen Fähigkeiten kann man in zwei große Kategorien unterteilen. Einerseits die Visualisierung und Abbildung 7.12: Was verbirgt andererseits die Orientierung. Unter der Visualisierung sich auf der anderen Seite? versteht man die Fähigkeit ein Objekt im Geist zwei- oder dreidimensional rotieren oder drehen zu lassen. Unter Orientierung versteht man die Fähigkeit, sich durch eine veränderte räumlich Konfiguration sich nicht verwirren zu lassen. So wurde vorgeschlagen, dass der kognitive Raum ähnlich dem realen Raum organisiert ist. Es gibt sogenannte „kognitive Karten“ die im Hippocampus gespeichert, beziehungsweise durch ihn vermittelt werden. Im Temporallappen finden sich die einzelnen Objekte des kognitiven Raums mit ihren jeweiligen Beziehungen zueinander und über den Frontallappen wird der Zugang zu den einzelnen Objekten hergestellt. Es scheint so zu sein, dass es zwei unterschiedliche neurale Systeme gibt: eines für die Erkennung des Objektes an sich und eines für die Ortsbestimmung des Objektes im Raum. Das scheint damit zusammenzuhängen, dass es keine direkte Verbindung zwischen einem Objekt und dessen Position im Raum gibt (Bei manchen Personen steht der Schreibtisch am Fenster, bei manch anderen ist es das Bett). Viele Experimente zeigen, dass die Landkarte unserer Umgebung im Hippocampus gespeichert wird. Aber Tiere, die eine Orientierungsaufgabe lange vor oder lange nach der Hippocampusentfernung lernen, haben relativ wenig Probleme. Damit wäre gezeigt, dass die Tiere nicht ausschließlich einen Ort im Gehirn haben, um ortsspezifische Relationen herzustellen. Es scheint so, dass die Information nur vorübergehend im Hippocampus zwischengespeichert wird. Abbildung 7.13: Die afferenten und efferenten Verbindungen des Hippocampus zur Großhirnrinde. ____________________________________________________________________________________________ 114 Brain Modelling ___________________________________________________________________________ Für welche Aufgaben benötigt man das Arbeitsgedächtnis? Was bedeutet lernen? Von welchen Parametern ist das Lernen abhängig? Wie lautet das Gesetz von Ebbinghaus? Welche Arten von Gedächtnissen gibt es und was wird dort gespeichert? Welche Arten von Amnesien gibt es, und wie wirken sie sich aus? Welche Erkrankungen gibt es, die das Gedächtnis betreffen? ___________________________________________________________________________________ Das Gedächtnis 115 Neurotransmitter Über Neurotransmitter werden Informationen übertragen. Glutamatrezeptoren wirken erregend, wenn sich Glutamat bindet. Wird GABA an einem dafür geeigneten Neurotransmitter gebunden, dann wirkt dieser Rezeptor hemmend auf das Aktionspotential des nachgeschaltenen Neurons. Diese beiden Neurotransmitter dienen der Invormationsvermittlung, das heiß es wird Information von einem Gebiet in ein anderes transformiert. Neurotransmitter können aber auch modulatorisch wirken. Sie können in einzelnen Regionen Synchronisation erleichtern oder unterbinden. Damit werden viele Zustände des Gehirns geregelt. Aminerges System: Noradrenalin, hemmend Thalamus Basalganglien Amygdala Hippocampus Im Gehirn wird Noradrenalin als Transmitter von Neuronen synthetisiert, deren Zellkörper im Locus coeruleus (blauer Kern) sitzen. Dieser Kern im Hirnstamm übernimmt zahlreiche regulatorische Funktionen. Obwohl diese Neuronen in relativ geringer Zahl vorliegen, ziehen ihre Axone verstreut bis ins Rückenmark, in das Kleinhirn und in alle Bereiche der Großhirnrinde. Locus coeruleus ____________________________________________________________________________________________ 116 Brain Modelling Es gibt mehrere Dopaminbahnen. Zuerst wurde Dopamin im Streifenkörper entdeckt. Dieser Bereich stellt ein motorisches Kontrollzentrum dar. Die Zellkörper für diese Bahn befinden sich in der Substantia nigra. Eine für die Schizophrenie wichtige Bahn erstreckt sich vom unteren Tegmentum zur Stirnrinde und einzelnen Assoziationszentren. Dopamin, hemmend Corpus striatum Septum Substantia nigra Area tegmentalis anteroventralis Aminerges System: Serotonin ist der Transmitter einer besonderen Gruppe von Neuronen, deren Zellkörper sämtlich in den Raphe-Kernen des Hirnstamms liegen. Die Ausläufer dieser Zellen sind weit über das gesamte Gehirn und das Rückenmark verteilt. man nimmt an, daß diese Neuronen an der Regulation von Aufmerksamkeit und anderen komplexen kognitiven Fähigkeiten beteiligt sind. Neuronen die Acetylcholin produzieren finden sich im Hippocampus, der Amygdala, dem Thalamus und verschiedenen Kernen im Stammhirn. Von diesen Kernen ziehen die Bahnen wieder zu den einzelnen Kernen und in weite Bereiche der Großhirnrinde. Über die Rolle der Acetylcholinneuronen im Gehirn besteht immer noch Zweifel, wenngleich man ihnen eine große Rolle für das Gedächtnis zuschreibt (Aktivierung des Hippocampus während REM-Phase). Serotonin, hemmend Thalamus Basalganglien Amygdala Hippocampus Cholinerges System: RapheKerne Acetylcholin ⊕,erregend basales Vorderhirn Amygdala Hippocampus Kniehöcker Formatio Reticularis des Mittelhirns Man unterscheidet verschiedene Substanzen, welche die Funktion des Gehirns beeinflussen. All diese Substanzen müssen die Blut-Hirn-Schranke überwinden. ___________________________________________________________________________________ Neurotransmitter 117 Sedativa: In geringen Dosen wirken sie angstmildernd, in mittleren Dosen fühlt man sich beruhigend und in hohen Dosen ist die Wirkung anästhetisch. Es gibt folgende Übergänge in Abhängigkeit der Dosengabe: Angstlösende Wirkung → Enthemmung →Beruhigung → Schlaf → allgemeine Anästhesie → Koma → Tod. Zu den Sedativa gehören die Barbiturate, die Benzodiazepine (erhöhen die GABA-Aktivität) und Alkohol. Stimulantien: Allgemein erhöhen Stimulantien die motorische Aktivität, beziehungsweise wirken sie der Müdigkeit entgegen. Man unterscheidet vier Gruppen von Stimulantien: Verhaltensstimulantien: Kokain und Amphetamine zählen zu den typischen Vertretern dieser Gruppe. Sie erhöhen eine Freisetzung von Dopamin und Noradrenalin. Es wird der Wiederaufnahmemechanismus für Dopamin blockiert. Damit bleibt das Dopamin im synaptischen Spalt. Klinische Antidepressiva: Sie wirken auf dopaminerge, noradrenerge und serotonerge Synapsen. Einerseits wird die Wirkung der einzelnen Neurotransmitter verlängert, andererseits wird die Wiederaufnahme blockiert. Konvulsiva: Allgemeine Stimulantien: Beim Koffein wird der cAMP-Spiegel erhöht. Das führt zu einer verstärkten Produktion von Glucose und zu einer erhöhten Zellaktivität. Die genaue Wirkung von Nikotin ist noch nicht genau geklärt. Eines scheint aber sicher zu sein, dass durch das Nikotin das Kurzzeitgedächtnis erhöht wird. Narkotisierende Analgetika: Heroin, Morphin Neuroleptika: Unter Neuroleptika versteht man antipsychotisch wirkende Substanzen. Sie dienen der Behandlung von Schizophrenie. Es gibt zwei Wirkklassen: Phenotiazine und Butyrophenone zeigen eine Wirkung auf das dopminerge und noradrenerge System. Dabei werden die Dopamin-Transmissionen blockiert. Umgekehrt wirkt Kokain, Amphetamin und L-Dopa, welche die dopaminergen Synapsen anregen, stark psychotisch. Psychodelika: Sie beeinflussen die Wahrnehmung und kognitiven Prozesse auf verschiedenen Ebenen des Denkens, Handelns und Wahrnehmens. Man unterscheidet zwischen Acetylcholin-Psychodelika: Atropin Noradrenalin-Psychodelika: Mescalin, Cannabis. Dabei wird die jeweilige Postsynapse stimuliert. Serotonin-Psychodelika: LSD, Psilocybin ____________________________________________________________________________________________ 118 Brain Modelling ___________________________________________________________________________ Welche informationsübertragende und welche modulierende Neurotransmitter gibt es? Welche Kernstrukturen sind mit Noradrenalin verknüpft? Wohin projizieren welche Dopaminbahnen? Wo haben die Nerven die Serotonin abgeben ihren Ursprung? Welche Bedeutung hat Acetylcholin? Welche psychoaktiven Substanzen kennen sie? Welche Aufgebe können psychoaktive Substanzen haben? ___________________________________________________________________________________ Neurotransmitter 119 Der kranke Geist Es können verschiedene Leistungen des Gehirns ausfallen. Dies kann zu einer Amnesie, dem Koma, der Alzheimer-Krankheit oder Sprachstörungen führen. Einzelne Strukturen fallen aus und verschiedene Aspekte des Denkens können nicht mehr durchgeführt werden. Es kann aber auch zu Veränderungen von Denkprozessen kommen. Es ist sehr schwierig zu unterscheiden, ob eine neurologische oder eine psychologische Störung vorliegt. Bei einer neurologischen Störung gibt es anatomische Veränderungen. Dabei kann es sich um eine Änderung der Zelldichte in einer Großhirnrindenregion handeln oder auch um eine Fehlsteuerung von Rückkopplungen einzelner subcorticaler Strukturen. Bei einer psychologischen Störung liegt eine Fehlverhalten vor, das von der Gesellschaft nicht toleriert wird, oder aufgrund einer Fehleinschätzung über die Umwelt produziert wird. Meist wird dieses Fehlverhalten erlernt. So wurde zum Beispiel die Schizophrenie lange Zeit als psychologisches Problem betrachtet. Gerade bei der Schizophrenie gibt es viele Vorurteile, die meist von Hollywoodfilmen stammen. Viele Personen glauben, dass zwei oder mehrere Charaktere in einem Körper wohnen und abwechselnd aktiv sind (vgl. Dr. Jekyll und Mr Hyde). Das ist KEINE Schizophrenie, sondern bei dieser Störung handelt es sich um eine multiple Persönlichkeit. Diese Störung kommt extrem selten vor, so dass es Mediziner gibt, die sogar bezweifeln, dass es diese Störung überhaupt gibt. 11.0 Psychosen Unter einer Psychose versteht man eine psychische Störung, die in folgende Untergruppen unterteilt wird: organische Psychose, schizophrene Psychosen und affektive Psychosen. Neuerdings wird der Begriff Psychose durch den Begriff psychotische Störung ersetzt, da die Abgrenzung zur Neurose schwierig ist. Die ursprüngliche Unterscheidung kommt von der Psychotherapie. Dennoch wird ein Patient als psychotisch bezeichnet, wenn er sich gerade in einer Akutphase einer Psychose befindet. ____________________________________________________________________________________________ 120 Brain Modelling 11.0.1 Organische Psychosen Bei den organischen Psychosen kann eine eindeutige Ursache auf Grundlage einer Erkrankung des Zentralnervensystems festgestellt werden. Beispiele wären degenerative Prozesse, bösartige Neubildungen wie Tumore, Durchblutungs- und Stoffwechselstörungen, Drogen und das Gehirn beeinflussende Medikamente. Es kommt zu Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Es werden einzelne Lichtblitze oder auch filmartige Szenen halluziniert. 11.0.2 Schizophrene Psychosen Man sollte vermeiden, den Begriff Psychose mit Schizophrenie gleichzusetzen, denn es gibt mehrere Arten von Psychosen. Eine spezielle davon ist die Schizophrenie. Als Schizophrenie bezeichnet man eine schwere Störung des Denkens, Fühlens, Empfindens, Wahrnehmens und Verhaltens. Personen mit einer Schizophrenie hören Stimmen, oder sehen Dinge die es nicht gibt. Sie haben Halluzinationen, wobei zu bemerken ist, dass alleine das Vorhandensein von Halluzinationen noch kein Rückschluss auf Schizophrenie getroffen werden darf. Es kommt zu einer Zersplitterung und Aufspaltung des Denkens, Fühlens und Wollens. Sie tritt mit einer Wahrscheinlichkeit auf das Leben hochgerechnet mit 1 : 100 auf. Damit ist die Schizophrenie eine relativ häufige Erkrankung. Als auslösende Ursachen gilt ein gestörtes soziales Umfeld und/oder eine Störung der Gehirnfunktion. Eine eindeutige Ursache ist bis heute nicht bekannt. Eugen Bleuler definierte als erster das Krankheitsbild über Wortassoziationen. Er stellte fest, dass eine Störung des Assoziierens typisch für diese Krankheit ist (Heu = Unterhaltungsmittel für Kühe). Über den semantischen Bahnungseffekt kann relativ leicht das Assoziationsverhalten überprüft werden. Der Proband muss ein Wort lesen und dann angeben ob das zweite Wort aus dem Deutschen stammt oder nicht. Es wurden assoziative Wortpaare wie weiß::schwarz und Bruder::Schwester dafür verwendet. Ein Beispiel für nicht-assoziativen Wortpaare wäre Wolke::Käse oder Kaffee::Benzin. Diese Wortpaare und Wortpaare wo das zweite Wort nicht-deusch war wurden dem Probanden vorgelegt. Der Proband musste dann über einen Fingerdruck bekannt geben, ob das zweite Wort aus dem Deutschen stammt. Es wurden nur die "JA"-Entscheidungen gewertet und der jeweilige Mittelwert gebildet. Im Regelfall werden assoziative Wortpaare schneller als nicht assoziierte Wörter erkannt. Dies bezeichnet man als den semantischen Bahnungseffekt. Bei Personen mit einer denkgestörten Schizophrenie ist der Bahnungseffekt besonders groß. ___________________________________________________________________________________ Der kranke Geist 121 160 ms 140 120 100 80 60 40 20 gesunde Probanden nicht denkgestörte denkgestörte schizophren schizophrene Patienten Patienten Abbildung 11.1: Die Abweichung der Zeitunterschiede beim Assoziieren von Wörtern zwischen gesunden und denkgestörten Personen. Die Messkurve mit den Rechtecken wurde von Spitzer et al, die Messkurve mit den Kreisen wurde von Manschreck et al erstellt. Bei schizophrenen Personen können oft indirekte Assoziationen beobachtet werden. Das heißt es gibt ein nicht ausgesprochenes Bindeglied. Assoziation zu Nikotin - Forelle. Nikotin im Rauch verursacht Krebs, Krebse leben im Wasser wie Forellen. Bei Patienten mit Schizophrenie erscheinen vorher vertraute Dinge unheimlich. Dadurch werden die Patienten misstrauisch und ziehen sich noch mehr zurück. Die Patienten empfinden sich manchmal als ferngesteuert. Es kommt zu einer Störung des Ich-Erlebens. Interessanterweise kann die Störung des Ich-Erlebens plötzlich auftreten und auch wieder plötzlich verschwinden. Bei manchen Patienten ergeben sich sehr regelmäßige Rhythmen. Diese Störung des Ich-Erlebens kann zu Selbstmord führen. Bei rund 10-15% aller Schizophrenen kommt es zu einem Suizid. Für Personen mit dem Krankheitsbild Schizophrenie sind Halluzinationen charakteristisch. Meist treten akustische Halluzinationen auf. Dies kann bei rund 80% der Patienten beobachtet werden. Viele Betroffene leiden in einer akuten Phase an Schlafstörungen. Nach dem Abklingen eines Schubes, kann eine depressive Phase auftreten. Die Schizophrenie kann sowohl schubweise als auch chronisch verlaufen. Ein Schub kann von ein paar Wochen bis zu ein paar Monaten dauern. Zwischen den Schüben kann es zu einer vollständigen Rückbildung aller Symptome kommen, oder manche Restsymptome bleiben erhalten. Dazu zählen vor allem die soziale Isolation, Beeinträchtigung der körperlichen Hygiene, Depressivität und Antriebsmangel. Der erste Schub tritt in der Regel vor dem ersten 30. Lebensjahr auf. Dies gilt für Männer. Bei Frauen kommt der erste Schub erst später, meist ab dem 40. Lebensjahr. Typischerweise treten die ersten Schübe bei belastenden oder verändernden Lebenssituationen, wie etwa Auszug aus dem Elternhaus, Heirat oder Arbeitsplatzwechsel auf. Möglicherweise wird die Schizophrenie durch das Stresssystem beeinflusst. Genaue Daten liegen aber noch nicht vor. Man geht davon aus, dass bei schizophrenen Patienten eine Störung der fokussierten Aufmerksamkeit vorliegt. Verschiedene Systeme im Gehirn versuchen die Synchronisationen zwischen verschiedenen Gebieten im Zaum zu halten. Nur so können wir uns auf etwas konzentrieren. Wenn die Assoziationsfähigkeit zu groß wird, werden nicht korrelierte Reize ____________________________________________________________________________________________ 122 Brain Modelling miteinander verknüpft. Damit können wir die Umwelt nicht mehr sinnvoll einschätzen. Genau diese fokussierte Aufmerksamkeit wird über den Neurotransmitter Dopamin gesteuert. Die Neuronen des Dopaminsystems innervieren vor allem das Arbeitsgedächtnis. Alle Neuroleptika blockieren die Dopaminrezeptoren in der Großhirnrinde. Dies führt zu einer geringeren Assoziationsfähigkeit und es können auch keine spontanen Synchronisationen (Halluzinationen) entstehen. Bei Patienten mit Schizophrenie wurde eine Hypofrontalität festgestellt. Dabei handelt es sich um eine verminderte Aktivität des Frontalhirns. Neurophysiologisch gibt es mehrere Möglichkeiten für die Erkrankung der Schizophrenie: 1. Die dopaminergen Synapsen schütten zuviel Dopamin aus. 2. Die dopaminergen Synapsen schütten zuwenig Dopamin aus, aber die Rezeptoren reagieren hypersensitiv (überempfindlich). 3. Die dopaminergen Rezeptoren reagieren überempfindlich. 4. Ein anderes System, das antagonistisch zum Dopaminsystem wirkt, ist zu wenig aktiv. Tatsächlich fand man weniger glutaminerge Neuronen im frontalen Cortex (Glutamat wirkt erregend, während Dopamin hemmend wirkt). Prinzipiell sind die Gehirne von Patienten mit Schizophrenie leichter und die Ventrikel sind vergrößert. Es gibt Hinweise, dass Neuronen im Hippocampus untypisch angeordnet sind. Einige Experimente deuten auf eine abnorme Aktivität des präfrontalen Cortex hin. Abbildung 11.2: In der linken Darstellung ist die korrekte Orientierung von Neuronen im Hippocampus gezeigt, während in der rechten Darstellung die Axone und Zellkörper der Neuronen desorganisiert sind. Genauso fand man, dass Personen mit einer Schizophrenie bei Tests des verbalen und nonverbalen Langzeitgedächtnis, die den rechten und linken Frontallappen betreffen, schlechter abschnitten. Diese schlechten Resultate traten auch dann auf, wenn gerade kein psychotischer Schub auftrat. Allerdings gibt es Personen, auf welche diese anatomische Gegebenheiten zutreffen, die aber nicht an einer Schizophrenie erkranken oder erkrankt sind. Die Schizophrenie kann praktisch nicht geheilt werden. Es können nur die Symptome zum Verschwinden gebracht werden. Dies geschieht vor allem durch Neuroleptika. Diese Neuroleptika haben aber starke Nebenwirkungen, wie Bewegungsstörungen oder Bewegungsunruhe. Die Minus-Symptomatik, wie etwa Antriebsschwäche, Depression oder sozialer Rückzug kann durch Neuroleptika nicht unterbunden werden. Deshalb werden dann noch zusätzlich Antidepressiva und angstlösende Medikamente verschrieben. Wichtig sind soziotherapeutische Maßnahmen, wie Arbeitstherapie, um eine Tagesstruktur zu etablieren. Bei der Schizophrenie besteht die Gefahr, dass die Betroffenen Probleme mit dem sozialen Umfeld haben, den Arbeitsplatz verlieren und der soziale Abstieg erfolgt. Praktisch gesehen, ___________________________________________________________________________________ Der kranke Geist 123 kann einem Drittel der Patienten mit Neuroleptika vollständig geholfen werden und es bilden sich alle Symptome zurück. Bei einem Drittel bleiben zwischen den Schüben Restsymptome vorhanden und es kommt zu neuerlichen Schüben und beim restlichen Drittel nimmt die Krankheit einen schweren chronischen Verlauf. Man kann zwischen verschiedenen Formen der Schizophrenie unterscheiden: Paranoide Schizophrenie: Sie ist die am häufigst vorkommende Schizophrenie. Es treten vor allem Wahnvorstellungen und Halluzinationen auf. Es gibt keine Minussymptomatik. Hebephrenie: Die Patienten werden häufig als verflacht und emotional verarmt beschrieben. Die Hebephrenie tritt vor allem während der Pubertät auf. Damit ist es schwierig diese Erkrankung von allgemeinen Pubertätsstörungen zu unterscheiden. Schizophrenia simplex: Die Erkrankung setz langsam und schleichend ein. Allerdings fehlen Halluzinationen oder paranoide Symptomen. Patienten mit dieser Erkrankung werden oft als „verschroben“ oder „seltsam“ empfunden. Die Behandlungsprognose ist eher schlecht. Katatone Schizophrenie: Es treten psychomotorische Störungen, wie Haltungsstereotypien (eine ungewöhnliche Haltung wird längere Zeit nicht verändert), Stupor (kaum oder gar keine Bewegung) oder Rigidität (Beibehalten einer starren Haltung), auf. Während der katatonischen Zustände können Halluzinationen auftreten. Beim katatonen Stupor können Personen nicht auf die Toilette gehen. ACHTUNG: Lebensgefahr !!! Auch der Wahn ist eine Störung des Denkinhaltes. Es kommt zu einer gedanklichen Fokussierung auf einen speziellen Gegenstand. Wird die Schizophrenie nicht behandelt, so kommt es zum Wahn. Es existieren gewisse unkorrigierbare Urteile, deren Inhalte unmöglich, unwahrscheinlich oder einfach falsch sind. Bei einer Überprüfung der Fakten hält ein Wahnkranker an seinen Vorurteilen fest. Meist ist dieses Verhalten auch mit Angst, Misstrauen oder gesteigerter Wachheit verbunden. Belanglose Ereignisse werden überinterpretiert. Im Prinzip handelt es sich um eine Stabilisierung der Synchronisation. Durch die Schizophrenie ausgelöst, können obskure Synchronisationen auftreten. Wenn ein und das selbe Synchronisationsmuster beziehungsweise Assoziation öfters auftritt, dann bilden sich neue Synapsen. Bei einem chronischem Wahn helfen keine Neuroleptika mehr. Es haben sich schon neue Synapsen, der Informationsverarbeitung betreffend, gebildet. 9.0.3 Affektive Psychosen Unter affektiven Störungen versteht man Störungen der Stimmung einer Person. Man unterscheidet zwei Hauptformen: Die Depression und die Manie. Unter einer Depression versteht man eine tiefe Niedergeschlagenheit, während man in einem manischen Gemütszustand eine gehobene Stimmungslage hat. Mit der Stimmungslage verändert sich auch das Urteilsvermögen. Nur die schwere Form der Depression wird als psychotische Störung bezeichnet. 11.0.3.1 Depression Plutarch hat dieses Krankheitsbild als Erster beschrieben. Die Depression (v. lat. depressio „niederdrücken“) ist gekennzeichnet von: ____________________________________________________________________________________________ 124 Brain Modelling • • • Gefühl der Niedergeschlagenheit (bei Tod eines Verwandten, räumliche Trennung von einer geliebten Person.) Die Selbstachtung ist empfindlich gestört (Arbeitslosigkeit, Sitzen bleiben in der Schule) Verlust des Interesses an sozialen Kontakten und alltäglichen Dingen Im Volksmund wird die Depression dem Gefühl der Traurigkeit gleichgesetzt. Aber Traurigkeit ist und bleibt nun einmal Traurigkeit. Dabei handelt es sich nicht um eine Depression. Bei der Depression wird die Empfindung aller Gefühle reduziert. Es ergibt sich das „Gefühl der Gefühllosigkeit“. Zusätzlich treten als Hauptsymptome das Gefühl der Minderwertigkeit, der Hilflosigkeit, der Minderwertigkeit, Schuldgefühle, Müdigkeit, Konzentrations- und Entscheidungsunfähigkeit, sinnloses Gedankenkreisen, langsameres Denken, Reizbarkeit, Ängstlichkeit, vermindertes Gefühlsleben und eine verringerte Libido. Häufig werden negative Ereignisse, Gedanken und Eindrücke überbewertet, während die positiven Aspekte von Erlebtem oder Gedachtem nicht wahrgenommen werden. Als körperliche Symptome treten Appetitlosigkeit, Schlafstörungen (Tagesmüdigkeit, Durchund Einschlafstörung), Gewichtsabnahme bzw. Gewichtszunahme, Verspannungen, Schmerzempfindungen im ganzen Körper, Kopfschmerzen und verlangsamte Bewegungen. Meist beobachtet man auch eine erhöhte Infektanfälligkeit. Man geht davon aus, dass der Größte Teil der Selbstmorde auf eine Depression zurückgeht. In der westlichen Welt sterben mehr Menschen durch einen Selbstmord, als an Verkehrsunfällen. Eine depressive Verstimmung wird meistens durch ein einschneidendes Ereignis, wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit, Verlust des Partners durch Trennung, oder dem Tod eines Verwandten ausgelöst. Diese Ereignisse sind äußerst unangenehm, aber sie gehören nun einmal zum Leben. Die depressive Verstimmung führt dazu, dass man sich rund 3 Monate „schlecht“ fühlt, aber danach kann das Leben wieder seinen (fast) gewohnten Gang nehmen, wenn man die depressive Verstimmung überwunden hat. Bei diesem Prozess kommt es zum Absterben von Dendriten im präfrontalen Cortex. Eine Reorganisation des Gehirns ist die Folge. Das Gehirn kann sich nach dieser Phase besser auf die neuen Gegebenheiten (neuer Arbeitsplatz, neue soziale Kontakte usw.) einstellen, bessere Lösungen für den Alltag finden und neue Strategien entwickeln. Näheres dazu beim Unterkapitel Stress 9.2. Wird die depressive Verstimmung nicht überwunden, dann kommt es zu einer Depression. Dies ist eine typische Verlausform. Man kann davon ausgehen, dass jeder Mensch ein bis drei mal in seinem Leben eine depressive Verstimmung erlebt. Bei rund 5-10% der Bevölkerung kommt es dann zu einer tatsächlichen Depression, die aber oft nicht als solche erkannt wird. Genaue Zahlen liegen nicht vor und die Dunkelziffer ist sicher sehr hoch. Es ist nicht immer einfach eine depressive Verstimmung von einer Depression zu unterscheiden. Die Zeit scheint ein wesentlicher Faktor zu sein. Es gibt auch Patienten bei denen eine Depression ohne einen äußeren Auslöser auftreten. Manche Patienten zeigen auch ein anderes Phänomen: die Manie. Der Patient ist in Hochstimmung, energiegeladen und sehr optimistisch. Diese scheinbaren positiven Eigenschaften können allerdings das Urteilsvermögen herabsetzen. In der Regel sind die depressiven Phasen länger als die manischen. Bei Personen bei denen abwechselnd Depressionen und Manien auftreten, spricht man von einer bipolaren Psychose. Es zeigte sich, dass bei einer Depression die Neuronen der Großhirnrinde, insbesonders des präfrontalem Bereich, weniger aktiv sind, als im Grundzustand. Während einer Manie tritt das ___________________________________________________________________________________ Der kranke Geist 125 Gegenteil ein. Besonders die Strukturen des präfrontalen Cortex sind bei manischen Personen überaktiv. Tiefenpsychologisch unterscheidet man zwischen zwei Formen der Depression. Einerseits spricht man von einer endogenen Depression, wenn sie ohne äußere Ursachen aufritt und andererseits von der neurotischen Depression (Erschöpfungsdepression), welche durch eine belastende Erfahrung in der Lebensgeschichte verursacht wird. Nach heutigen Maßstäben gilt diese Unterteilung als überholt. So unterscheidet man zwischen Episoden, dem einzelnen Vorkommen von einer Phase der Depression oder Manie, und rezidivierenden Störungen, bei denen es zu einem wiederholtem Vorkommen von Episoden kommt. Zusätzlich wird die Schwere der Depression von leicht, mittel bis schwer angegeben. Bei der Behandlung muss berücksichtigt werden, dass der Selbstmord eine große Gefahr für den Patienten darstellt. Früher verwendete man Opiate zur Behandlung einer Depression. Dies führte zwar zu euphorischen Zuständen, die aber sehr kurzlebig waren. Den ersten Zusammenhang zwischen der Erkrankung Depression und der Neurophysiologie konnte mit dem blutdrucksenkendem Mittel Reserpin hergestellt werden. Die Bluthochdruckpatienten wurden teilweise schwer depressiv. Es konnte gezeigt werden, dass das Mittel Reserpin den Speicher der Monoamine (Noradrenalin, Dopamin, Serotonin) entleert. Später konnte gezeigt werden, dass bei Personen mit einer Depression der Monoaminspiegel erniedrigt ist, während bei Patienten mit einer Manie der Monoaminspiegel erhöht ist. Man kann zwei Formen von Depressionen, vom Standpunkt der Neurochemie, unterscheiden. Einerseits scheint es eine reduzierte noradrenerge Transmission und andererseits eine gehemmte serotonerge Transmission zu geben. Heute werden tricyclische Antidepressiva zur Behandlung verwendet. Diese haben relativ geringe Nebenwirkungen, die gewünschte Wirkung tritt aber erst nach rund zwei Wochen auf. Diese Antidepressiva hemmen die Inaktivierung des Neurotransmitters im synaptischen Spalt. Ein Neurotransmitter wird normalerweise, nachdem er sich an einen Rezeptor gebunden hat, inaktiviert. Diese Inaktivierung wird durch die tricyclischen Antidepressiva verhindert. Die Inaktivierung betrifft vor allem die Neurotransmitter Noradrenalin und Serotonin. Der Hauptnachteil besteht in der relativ langen Wirkungslatenz von 4 bis 6 Wochen. Das heißt, das Medikament wirkt erst nach 4 bis 6 Wochen nach der ersten Einnahme. Leider wirkt die tricyclischen Antidepressiva zuerst antriebssteigernd (Achtung: hohe Selbstmordgefahr !!!) und erst danach stimmungsaufhellend. Die selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer haben meist weniger Nebenwirkungen als die tricyclischen Antidepressiva. Durch die Medikamente kommt es zu einer relativen Erhöhung des Serotonin. Der Vorteil dieser Medikamente besteht darin, dass sie bereits zwei Wochen nach Beginn der Einnahmedauer zu wirken beginnen. Bei den Monoaminoxidasehemmern wird das Enzym Monoaminoxidase blockiert. Dieses Enzym ist dafür verantwortlich, dass Amine, wie zum Beispiel Serotonin oder Noradrenalin, gespalten werden. Werden weniger Amine gespalten, dann steht mehr Neurotransmitter zur Verfügung. Heute werden in der klinischen Praxis hauptsächlich zuerst selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer verwendet. Wenn diese Substanz nicht wirkt, dann muss man leider probieren. Bei manchen PatientInnen muss der Serotoninspeigel gehoben werden, während der Noradrenalinspiegel gesenkt werden muss. Es gibt natürlich noch mehr Varianten an Fehlsteuerungen der modulierenden Neurotransmitter. So werden dann duale serotonerge Antidepressiva, Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, Noradrenalin____________________________________________________________________________________________ 126 Brain Modelling Wiederaufnahmehemmer, Serotonin-Wiederaufnahmeverstärker, Serotonin-Modulatoren oder tetrazyklische Antidepressiva ausprobiert. Diese Phase des Ausprobierens ist problematisch, denn die meisten Medikamente wirken erst nach rund einem Monat Latenzzeit. Nach einem weiteren Monat kann man beurteilen, ob die Substanz wirkt oder nicht. Erst nach rund 8 – 10 Wochen kann beurteilt werden, ob ein neues Medikament ausprobiert werden soll. Um alle möglichen unterschiedlichen Medikamente auszuprobieren benötigt man im schlechtest möglichen Fall rund 2 Jahre. Während dieser Zeit besteht aber Lebensgefahr durch den drohenden Suizid. Bei therapieresistenten Patienten kann die Elektrokrampftherapie überraschend gute Ergebnisse liefern. Die Patienten werden dabei in Vollnarkose versetzt und anschließend werden mehrere starke Stromstöße durch den Kopf appliziert. Der Patient spürt während der Behandlung nichts. Diese Behandlung, ist mit Ausnahme der Vollnarkose, praktisch nebenwirkungsfrei. Der Patient hat nur das Gedächtnis der letzten 2 Tage vor der Behandlung verloren und wirkt etwas benommen und verwirrt nach der Behandlung. Bei einem Viertel aller depressiven Patienten führen Antidepressiva zu keiner Besserung. Man geht davon aus, dass es sich dann um eine Fehlsteuerung des Stresssystems handelt. Stellt das Gehirn (kognitive Bereiche) Angst oder Stress fest, so wird der Hypothalamus aktiviert. Dieser sondert den cotico-releasing-factor aus und aktiviert damit die Hypophyse (Hirnanhangsdrüse). Die Hypophyse sondert nun ihrerseits über das Blut das adrenocorticotropes Hormon aus. Zentraler Empfänger ist die Nebenniere, die deshalb Cortison ausschüttet. Damit es zu keiner Übersteuerung kommen kann und das System sich nach der Angst- oder Stress-Situation wieder beruhigt, wird eine Gegenkopplung aktiv. Das Cortison hemmt die Hypophyse und den Hypothalamus. Wenn die Gegenkopplung niedrig ausfällt, kann es zur Depression kommen, denn die ausgeschütteten Hormone steuern auch noch viele andere emotionale Mechanismen. So kann man bei einem hohen Anteil von Personen einen erhöhten Spiegel von Kortison im Blut feststellen. 11.0.3.2 Manie Bei Manien zeigen sich Ideen, die ins Wahnhafte reichen. Die Patienten zeigen Hyperaktivität, Ideenflucht, völlige Überschätzung der eigenen Möglichkeiten. Dies kann zum Beispiel zu einem Kaufrausch führen, der die eigenen finanziellen Kapazitäten weit übersteigt. Eine leichte Form der Manie wird meist nicht erkannt und bleibt auch unbehandelt. Bei stärkeren Formen von Manie hat sich die Gabe von Lithium als ausgezeichnet herausgestellt. 11.2 Stress Im Jahr 1959 führte der österreichisch-kanadische Mediziner Hans Seyle den Begriff Stress in die Biomedizin ein und bezeichnete damit die unspezifischen Reaktionen eines Organismus auf jede übermäßige Belastung. Dieses Reaktion dient dazu, die Überlebenschancen in einer lebensbedrohlichen Situation eines Individuums zu erhöhen. Dies ist eine, wenn gleich auch nicht ganz richtige, aber allgemein anerkannte Meinung. Meist spricht man von Stress, wenn der Stressor - der Auslöser auf diesen Effekt - kurz und heftig über eine Erhöhung des Adrenalinspiegels auf das Individuum reagiert. Es ist aber wichtig zu erwähnen, daß langanhaltender Stress wahrscheinlich mehr physiologische und damit psychologisch verbundene Veränderungen im menschlichen Körper verursacht, als eine kurzfristige Aktivierung des gesamten Stresssystems. Die Stressantwort auf eine scheinbar gefährliche ___________________________________________________________________________________ Der kranke Geist 127 Situation kann sehr spezifisch sein, sich gezielt gegen einen Erreger richten oder gegen einen realen oder imaginären angstauslösenden Umstand. Übersteigt die Belastung, beziehungsweise die korrelierte Stressantwort eine gewisse Grenze, dann ist die Reaktion unspezifisch. Eine wesentliche Frage lautet, was denn subjektiv als Stress (langanhaltend) empfunden wird. Das Individuum entscheidet, ob eine Situation als Stress empfunden wird oder nicht. Dies hängt größtenteils von der Vergangenheit, als auch der Zahl der zur Verfügung stehenden Strategien ab. Je mehr Strategien zur Verfügung stehen umso besser für das Individuum. Auch eine Vermeidung des Stressors kann als Kontrolle über die jeweilige Situation betrachtet werden. Aber alle Stressoren zu vermeiden oder zu umgehen führt in den meisten Fällen zu schweren psychischen Störungen und eine normale soziale Interaktion wird fast unmöglich (ausgeprägte Phobien). Die Kontrollierbarkeit einer Situation hängt also auch von den kognitiven Fähigkeiten eines Individuums ab. Wenn keine "sinnvolle" kognitive-emotionelle Verhaltensweise verfügbar ist, um eine angemessene Reaktion zu aktivieren, dann spricht man von unkontrollierbarem Stress. Wenn sich ein Individuum mit einem unkontrollierbaren Stressor auseinandersetzen muss und das innere Gleichgewicht nicht hergestellt werden kann, dann beruhigt sich das zentrale Stresssystem nicht und es bleibt weiterhin aktiviert. Dadurch kommt es zu einer “Verhaltensvermeidung”. Es werden keine äußeren Aktionen gesetzt. Dies hilft nicht nur Energie zu sparen, sondern man kann sich dann in Ruhe mit der Problematik der angespannten Situation beschäftigen und neue Strategien können entwickelt werden. Beschäftigen wir uns nun mit den organischen Korrelaten des Stresssystems. Es war schon lange bekannt, dass wochenlange Arbeitsüberlastung zu Grippe, zu einer Magenschleimhautentzündung oder Herpesbläschen führen kann. Hormone sind Signalstoffe, die das Verhalten und die Empfindungen eines Menschen entscheidend beeinflussen. Sie entstehen in Drüsen, die ihre Sekrete unmittelbar an das durchströmende Blut abgeben. Beim Menschen sind dies die Schilddrüse, Nebenschilddrüse, Langerhansschen Inseln der Bauchspeicheldrüse, Die Nebenniere (Mark und Rinde) und die Keimdrüsen. Die meisten Hormone werden aber vom Gehirn - vertreten durch die Hypophyse (Hirnanhangsdrüse) und durch die Epiphyse (Zirbeldrüse) - abgesondert. Im Nebennierenmark werden die Hormone Adrenalin und Noradrenalin (80% zu 20%) gebildet. Die Hormone der Nebennierenrinde bezeichnet man als Corticoide. Eine spezielle Gruppe der Corticoide - die Glucocorticoide - beeinflussen den Kohlehydrat- und Eiweißstoffwechsel. Dazu gehört insbesondere das Cortisol, das außerdem entzündungshemmende Wirkung besitzt. Die Ausschüttung hängt sowohl von internen Faktoren, wie der inneren Uhr (Periode bei der Frau), als auch von äußeren Reizen (Pheromone beim Sexualakt) ab. Sie wirken in außerordentlich kleinen Dosen. Die Hormone sind in der Regel nicht in der Lage sofortige - im Bereich von Sekunden - Reaktionen im Organismus auszulösen. Der Hippocampus steht in direkter Verbindung mit dem Hypothalamus, einem anderen wichtigen Kern. Der Hypothalamus wird aber auch von vielen anderen Regionen im Gehirn innerviert. Über ihn wird durch die Ausschüttung des Coticotropin-Releasing-Faktor die Hypophyse, die verschiedene Hormone ausschüttet, aktiviert. Durch diese Ausschüttung werden andere Teile des Hormonsystems aktiv. Eine Ausschüttung des adrenocorticotropen Hormons führt zu einer Aktivierung der Nebennierenrinde. Es kann aber auch die Aktivität der Keimdrüsen, der Schilddrüse und Teile der Bauchspeicheldrüse beeinflußt werden. Diese setzen ihrerseits wieder Hormone frei. Die Nebenniere produziert Cortisol, eines der wichtigsten Stresshormone. Cortisol reduziert aber die Aktivität der Hypophyse. Damit wird im Körper ein Überschießen der hormonellen Reaktion verhindert. Untersuchungen zeigten, ____________________________________________________________________________________________ 128 Brain Modelling daß dieses wichtige Stresshormon bei psychischen Erregungszuständen wie panischer Angst, Depression oder auch Drogenentzug vermehrt synthetisiert wird. Prinzipiell kann man sagen, daß der Hypothalamus in Abhängigkeit von verschiedenen Erregungszuständen des Gehirns den Hormonhaushalt regelt. Cortisol wird ausgeschüttet bei kurzandauernden körperlichen und psychischen Stresszuständen, es beeinflusst wie alle Hormone den Kreislauf. Das Cortisol reagiert aber auch mit dem Hippocampus, einer wichtigen Gehirnregion. Während einer langandauernden Stresssituation, also einem erhöhten Cortisolausstoß, sterben einzelne Dendritenäste im Hippocampus und dem präfrontalem Cortex ab. Wenn der Cortisolspiegel wieder sinkt, dann regenerieren die Neuronen. Möglicherweise können aber die ursprünglichen Verbindungen nicht mehr hergestellt werden. Somit kann es zu leichten Verschiebungen im Verhalten beziehungsweise in den Strategien oder der Strategienwahl kommen. Zusätzlich scheint chronisch unkontrollierbarer Stress die Dichte der präsynaptischen Serotoninsynapsen im Hippocampus zu erhöhen und im Hypothalamus und der Großhirnrinde zu reduzieren. Zusammenfassend könne wir sagen: • Die Quelle und das Ziel für eine Stressantwort ist das Gehirn, im speziellen die höheren kortikalen und limbischen neuralen Schaltkreise durch die wir die Welt interpretieren. • Kontrollierbarer Stress ist ein Auslöser für die Verstärkung von spezifischen neuralen Wegen. • Im speziellen durch die Interaktion von zirkulierenden Glucocorticoiden wird unkontrollierbarer Stress ein Werkzeug um neurale Schaltkreise und Netzwerke im Bereich der Verhaltensreaktionen umzustrukturieren. So wird psychosozialer Stress ein Auslöser für die adaptive Reorganisation des Gehirns, vor allem im assoziativen Gedächtnis. ___________________________________________________________________________________ Der kranke Geist 129 Reiz Adaption Reorganisation Thalamus Verstärkung von neuralen Strukturen Degeneration von Dendriten Großhirnrinde (präfrontaler Cortex Assoziationscortex) DopaminSystem Hippocampus Amygdala Hypothalamus startet Kaskaden von Stresshormonen und Neurotransmittern Vasopressin CRH CRH Noradrenalin Locus Coeruleus Hypophyse ACTH Zentrales noradrenerges System Sympathicus Adrenalin Nebenniere Cortisol beeinflußt Schlafverhalten Kontrollierbarkeit schwächt Immunzellen Unkontrollierbarkeit Abb. 11.3: Wenn ein Stressor kontrollierbar ist, werden andere Bereiche des Gehirns aktiviert (linke Seite der Abbildung), als wenn eine unkontrollierbare Situation gegeben ist. 11.3 Angststörungen “Es steht außer Frage, daß das Problem der Angst ein Knotenpunkt ist, an dem die verschiedenen und wichtigen Fragen zusammentreffen, ein Rätsel dessen Lösung zwangsläufig eine Lichtflut auf unsere ganze geistige Existenz werfen würde.” Sigmund Freud Unter Phobie versteht man krankhafte Angst. Sie äußert sich durch einen übermäßigen, unangenehmen Wunsch, den Anlass der Angst zu vermeiden. Nur Dinge die tatsächlich gefährlich werden können, führen zu Angststörungen. Wesentlich ist der Unterschied zwischen Furcht und Angst: Furcht ist auf etwas gerichtet, während Angst gegenstandslos ist. ____________________________________________________________________________________________ 130 Brain Modelling Man kann die Angstörungen in folgendes Schema unterscheiden: - posttraumatische Ängste (Erinnerung an gefährliche Situationen) - Zwangssyndrom (krankhaftes Händewaschen, aus Angst vor Infektionen) - Panik (grundlose Furcht, mit starkem körperlichen Aspekten wie Herzbeklemmung) - Phobie (an ein Objekt oder Szene gebunden) Bei der Panik handelt es sich um einen akuten, extremen Angstzustand, der im Körper ein Notfallprogramm aktiviert. Dabei handelt es sich um die Kampf- oder Flucht-Reaktion. Die Panikattacken sind begleitet von körperlichen Symptomen wie Herzklopfen, Schwitzen, Atemnot, Muskelzittern oder Schwindelgefühlen. Phobien sind stark umweltabhängig. Eskimos können eine Kanuphobie bekommen und früher gab es die Dromosiderophobie - Eisenbahnfurcht, die sich heute in die Flugangst verwandelt hat. Unter der Agoraphobie versteht man Platzangst. Die Patienten haben Angst vor freien Plätzen, vor großen Räumen, oder auch vor engen Räumen. Kleinste ungefährliche Veränderungen im Körper oder in der Umgebung werden überbewertet und es folgt eine Überreaktion. Diese Überreaktion führt zu einer genaueren Wahrnehmung (besonders auf gefährliche Situationen). Auch die kognitiven Bereiche des Gehirns reagieren sensibler. Auch hier haben wir eine Mitkopplung gegeben. 11.4 Borderline-Syndrom Bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung handelt es sich um eine schwere Persönlichkeitsstörung, die durch wechselhafte Stimmungen, gestörte zwischenmenschliche Beziehungen, mangelndes Selbstvertrauen und autoagressives Selbstverhalten gekennzeichnet ist. Der Begriff Borderline kommt aus der Zeit als eine genaue Abgrenzung zwischen Neurose uns Psychose nicht möglich erschien. Die Erkrankung tritt ungefähr mit rund 2-3% in der Bevölkerung auf, wobei Frauen rund drei mal so häufig betroffen sind. Möglicherweise ist dieses Ungleichgewicht aber auch durch eine mangelhaft Diagnostik gegeben. Bei Männern wird oft eine „antisoziale Persönlichkeitsstörung“ diagnostiziert, hinter der sich manchmal das Borderline-Syndrom verstecken kann. Im Gegensatz zu der Depression oder Manie treten die Schübe in der Regel bedeutend kürzer auf. Während dieser Schübe aus Angst, Depression oder Wut kommt es auch zu einer Störung der Impulskontrolle, selbstverletzendem Verhalten oder Völlerei. Die Sucht ist eine häufige Begleiterscheinung dieses Syndroms. Oft empfinden sich Personen mit einer BorderlineStörung als „schlecht“ und „wertlos“. Es treten auch gelegentlich Halluzinationen auf. Diese werden aber als solche erkannt. Die Patienten reagieren sehr stark auf die Umwelt. Sie überinterpretieren die Gesten von anderen Personen. Die Gesten, Mimik, oder Betonung wird sehr intensiv analysiert und auf eine Signalwirkung hin untersucht. Für diese Patienten ist es auch schwierig, das Verhalten von anderen richtig zu interpretieren. Eine Überreaktion auf ungerechtes Verhalten ist typisch. Allgemein kann man sagen, dass kleine Anlässe starke Gefühlsimpulse auslösen. Patienten sehen die Welt oft „schwarz-weiß“. ___________________________________________________________________________________ Der kranke Geist 131 Für das Syndrom müssen nach dem DSM-IV (Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders) 5 Kriterien der 9 möglichen erfüllt sein. 1. Das verzweifelt Bemühen, nicht verlassen zu werden. 2. Instabile und intensive zwischenmenschliche Beziehungen mit extremer Idealisierung und abwechselnder Entwertung. 3. Eine Instabilität des Selbstbildes bzw. der Selbstwahrnehmung. 4. Impulsives selbstschädigendes Verhalten in mindestens zwei der folgenden Fälle: Geldausgeben, Sexualität, Drogen missbrauch, rücksichtsloses Fahren, Fressanfälle. 5. Selbstverletzendes Verhalten, Selbstmordandeutungen, Selbstmorddrohungen oder wiederholte suizidale Handlungen. 6. Ausgeprägte Instabilität, zurückzuführen auf Stimmungsreaktionen. 7. Chronisches Gefühl der Leere. 8. Unangemessen, heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren. 9. Vorübergehende paranoide Vorstellungen. Als Behandlungsmöglichkeit ist die Psychotherapie teilweise sehr erfolgreich. Einzelne Symptome können auch durch Neuroleptika, insbesonders atypische Neuroleptika, oder Antidepressiva zum verschwinden gebracht werden. ___________________________________________________________________________ Welche Arten von Psychosen kennen sie? Was versteht man unter Schizophrenie? Welche Minussymptome treten bei einer Schizophrenie auf? Was besagt die Dopaminhyopthese? Welche Arten von Schizophrenie kann man unterscheiden? Welche 2 Arten von Affektiver Psychose kann man unterscheiden? Was ist der Unterschied zwischen einer depressiven Verstimmung und einer Depression? Welche Neurotransmitter sind bei einer Depression beteiligt? Wie wird die Manie behandelt? Was ist Stress? Welche Aufgaben hat Kortison bei Stress? Was passiert bei einer Unkontrollierbarkeit einer Situation? Was ist der Unterschied zwischen Furcht und Angst? Welche Symptome sind typisch für das Borderline-Syndrom? ____________________________________________________________________________________________ 132 Brain Modelling Künstliche Intelligenz Wissensrepräsentation: Modell in Formalismus implementiert durch Interpreter ≡ Wissensbasis Die KI hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Schließen über unsere physikalische Umwelt zu formalisieren und die Analyse physikalischer Systeme sowie die Vorhersage ihres Verhaltens zu automatisieren. Ausschließlich qualitative Informat-ion über das System ist ausreichend, um das System zu verstehen und seinen Mechanismus zu erklären: eine Beschreibung der Struktur, das heißt der Beziehungen zwischen den Teilen und Wissen über die Funktionalität dieser Teile (wie sie funktionieren und welche Funktionen sie deshalb prinzipiell im Gesamtsystem übernehmen können). ? Problemmerkmale Problemlösung ___________________________________________________________________________________ Künstliche Intelligenz 133 Expertensysteme: Ein Expertensystem ist ein Computerprogramm, mit dem versucht wird, anhand von erhobenen Gedankengängen und Erfahrungen von Experten eines bestimmten Fachgebiets ein maschinelles System zu konstruieren, das Anwendern Aspekte einer Problemlösungskompetenz zur Verfügung stellt. Das implizite Wissen von Experten, oder besser die Besonderheit des Expertenhandelns, äußert sich vor allem in der Geschwindigkeit und der Qualität: Das rasche Handeln setzt Wissen voraus, aber im Moment des Handelns wird kein bewußter Bezug auf das Wissen erlebt. Semantische Netze: Ein Gedächtnismodell, das auf zwei grundlegenden Typen von Beziehungen basiert: [1] Beziehungen von Konzeptknoten, Is-A-Beziehung, Ober-Konzept - Unter-Konzept Relation. [2] Beziehung zwischen Konzepten und Eigenschaften, Has-Prop-Beziehung. hat Haut Wirbeltier hat Federn kann fliegen kann singen Vogel XXX Kanarienvogel Has-Prop Fisch hat Kiemen Laufvogel Kranich Strauß Is-A ____________________________________________________________________________________________ 134 Brain Modelling Synthetische Psychologie Braitenbergs These: Biologisches Verhalten lässt sich leichter synthetisieren als analysieren. Braitenbergsches Vehikel: Dies ist ein Fahrzeug mit zwei voneinander unabhängig angetriebenen Hinterrädern, wobei der Unterschied in der Drehzahl der Hinterräder bestimmt, wohin das Fahrzeug fährt. Ein Sensor, befestigt am Fahrzeug, bestimmt die Drehzahl eines Rades. Standardvehikel: Hinterrad Motor excitatorische Verbindung zwischen dem Sensor und dem Motor Wenn auf den LDR Licht fällt, sinkt sein Widerstand, und der mit dem LDR verbundene Motor dreht sich schneller. Das Vehikel meidet Licht. (Angst ?) excitatorische überkreuzteVerbindung zwischen dem Sensor und dem Motor Das Vehikel mit den überkreuzten Verbindungen sucht das Licht, und fährt mit voller Geschwindigkeit darauf zu und versucht es zu rammen. (Agressivität ?) LDR (light dependent Resistor) Einführung von Neuroden: Die analogen Signale der Rezeptoren werden übersetzt in Feuerfrequenzen. Das heißt bei maximaler Beleuchtung feuert der LDR-Sensor mit 100 Pulsen pro Sekunde. Neuroden sind nun Rechenelemente die von Rezeptoren und anderen Neuroden Impulse empfangen, verrechnen und an andere Neuroden oder Motoren weiterleiten. Im Neurod tickt eine Uhr mit einem bestimmten Takt. Ein Neurod feuert nur dann, wenn die Uhr gerade einen Takt vollendet hat und die Zahl der Impulse die das Neurod empfangen hat einen gewissen Schwellwert überschritten hat. ___________________________________________________________________________________ Synthetische Intelligenz 135 excitatorisches Neurod 1 inhibitorisches Neurod Je höher die Pulsrate des Sensors, umso langsamer läuft der Motor. Das Vehikel bewegt sich auf die Lichtquelle zu und bleibt in stiller Verehrung vor ihr stehen. (Demut ?) 0 0 Das Vehikel wendet sich von der Lichtquelle langsam ab und sucht hellere Lichtquellen im Dunkeln. Diese werden dann aber ebenso gemieden. (Forschergeist ?) Ab einer gewissen Pulsfrequenz ändert sich das Verhalten des Vehikels drastisch. 1 0 0 2 1 1 1 Behavior Modelling: Braitenbergmodell mit Bedürfnissen: Niedriger Glucosehaushalt im Blut führt zu Hunger. Es gibt verschiedene Bedürfnisse, die sich gegenseitig beinflussen können, und erst bei verschiedenen Stärken aktiv werden. Eine paar Modulationsparameter steuern das gesamte Bedürfnisverhalten. Gefahr => hohe Aktiviertheit => schnelle Reaktion ____________________________________________________________________________________________ 136 Brain Modelling Neuroimplantate Neuroprothesen Es handelt sich dabei um mikroelektronische Implantate im Bereich von Gehirn, Rückenmark, spinalen und peripherer Nerven. Die Anwendung dieser Neuroimplantate kann bei rund 20 Symptomen und Krankheitsbilder zu einer Heilung oder zumindest zu einer Verbesserung der Krankheitssymptome führen. Man unterscheidet: SCS DBS PNS FES SRS Spinal Cord Stimulation Deep Brain Stimulation Peripheral Nerve Stimulation Focal Electro Stimulation Sacral Root Stimulation Rückenmark Tiefenhirnstimulation Stimulation der peripheren Nerven gezielte Stimulation (motorischer Nerven) Stimulation sakraler Rückenmarksnerven Man unterscheidet weiteres zwischen uni- und bidirektionaler Makroelektrosysteme. Die unidirektionalen Systeme können die Nerven nur stimulieren, während die bidirektionalen Systeme auch vom Nervensystem Signale empfangen, verarbeiten und erst danach Nerven stimulieren. Anwendungen von Neuroimplantaten: • Direkte Stimulation der Basalganglien zur Parkinsontherapie • Stimulation des Rückenmarks (speziell die Hinterstränge) bei chronischen Schmerzen • Stimulation der motorischen und sakralen Spinalnerven bei Patienten mit einer Blaseninkontinez bei einer Querschnittslähmung • Stimulation des Hörnervs in der Schnecke bei Innenohrtaubheit • Stimulation von peripheren Nerven bei gelähmten Extremitäten • Stimulation des Herzens - Herzschrittmacher • Stimulation des Nervus phrenicus bei einer Schädigung des Atmungsnerv beziehungsweise bei einer Störung des Atemzentrum im unteren Hirnstammbereich (Lungenschrittmacher) • Stimulation des Nervus vagus für die Stimulation der Magensekretion ___________________________________________________________________________________ Neuroimplantate 137 Die elektrischen Pulse können auf die unterschiedlichste Weise variiert werden, zum Beispiel die Anzahl der Stimulationen pro Sekunde, die Form des Stimulationspulses, die Impulsdauer und Stärke und die Gesamtdauer der Stimulation zur Inaktivität des Implantates. Beispiel Phantomschmerz: Ein Nervenstrang im hinteren Teil des Rückenmarks ist für die Weiterleitung von Schmerzreizen aus der Körperperipherie in das Gehirn zuständig. Diese "Schmerz"-Neuronen werden normalerweise gehemmt von den Neuronen, die Signale, wie Druck, Berührung oder Vibration weiterleiten. Da aber keine Signale mehr von der betroffenen Peripherie in das Rückenmark gelangen, können durch Spontanentladungen die "Schmerz"-Neuronen aktiviert werden und Signale gelangen über die Schmerzbahn in das Gehirn. Deshalb führt man eine Spinal Cord Stimulation durch. Das führt dazu, daß die Neuronen der Schmerzbahn gehemmt werden und keine Signale in das Gehirn gelangen. Die Stimulation erfolgt über Rechteckimpulse der Länge 225 µs mit 180 Pulsen pro Sekunde und einer Stärke von 2.4 Volt. Muskelprothesen Eine Nervenfaser versorgt ungefähr 100-200 Muskelfasern - man spricht von einer sogenannten motorischen Einheit. Bei 10 Aktionspotentialen pro Sekunde beginnen sich einzelne Muskelfasern zu kontrahieren. Bei 20 Impulsen werden sich mehr Muskelfasern zusammenziehen und bei rund 80 Hz kontrahiert sich der Muskel einheitlich. Ein Muskel wie der Bizeps wird von einigen tausend Nervenfasern innerviert. Als eine spezielle Muskelprothese kann der Herzschrittmacher betrachtet werden. Herzschrittmacher Das Herz führt immer die selbe Bewegung aus, es ändert sich nur die Taktfrequenz. Das heißt es müssen nur die Herznerven aktiviert werden, der Rest geschieht von alleine. Bei Herzrhythmusstörungen gibt es leider keine eindeutigen Impulse die das Herz innervieren. Oder die Taktfrequenz des Herzens sinkt. So aktiviert der Herzschrittmacher das Herz mit einer geeigneten Frequenz, die zwischen einem und siebzig Hertz liegt. Dies hängt vom genauen Krankheitsbild ab. Neuere Modelle können auch die Kreislaufbelastung (Schlaf, Stiegensteigen) feststellen, das heißt die Taktfrequenz des Herzschrittmacher variiert in Abhängigkeit der Umgebung. Funktionelle Neuromuskuläre Stimulation Bei der FNS (Funktionelle Neuromuskuläre Stimulation) werden die Muskel direkt - ohne den Umweg über die Nerven - mit Hilfe von Elektroden gereizt. Die Muskelfaser selbst kann nicht direkt stimuliert werden, da man eine Zerstörung des Gewebes befürchtet. So werden die Elektroden auf die Haut geklebt oder subkutan (unter die Hautoberfläche) transplantiert. Wenn der Muskel wieder ausreichend aufgebaut ist, das heißt dass wieder ausreichend Muskelmaße zur Verfügung steht, dann muss ein Koordinationsschemata entwickelt werden. In dieses Schemata fließen Kenngrößen, wie die Länge des Knochens, die Reizschwelle des Muskels als auch deren Ermüdbarkeit, die Kraftentwicklung abhängig von der Reizstärke und Reizschwelle ein. Damit ist es möglich das "Gehen" per elektrische Stimulation herbeizuführen. Im Labor funktioniert es schon recht gut, trotzdem dürfen einige Probleme nicht übersehen werden. Die Muskeln beginnen schnell zu krampfen, der Patient spürt zwar nichts, aber es kostet trotzdem viel Kraft. Die Bewegung ist noch nicht flüssig. Es gibt auch ein Problem mit der freien Balance. Bisher ist es regeltechnisch nicht beherrschbar, die Muskels so zu aktivieren, daß der Patient nicht umfällt. Aber es ist ein Ansatz für die Zukunft. Es ist zum Beispiel schon möglich, dass Tetraplegiker, Personen, die einen Halswirbelbruch erlitten hatten, wieder Greifbewegungen durchführen konnten. Die Steuerung erfolgt über die noch ausgeprägte Bewegungsfähigkeit der Hals- und Schultermuskulatur. Diese Idee geht noch um vieles weiter. Es wäre möglich mit einem Enzephalogramm die Hirnströme zu messen und sie mit einem Computer zu analysieren. Damit kann man dann ____________________________________________________________________________________________ 138 Brain Modelling diverse Elektroden steuern. Man denkt an eine spezielle Handlung und der Computer setzt sie um. Computer im Ohr Bei Patienten mit einer Innenohrtaubheit kann ein sogenanntes Cochleaimplantat helfen. Die Innenohrtaubheit ist meist eine angeborene Erkrankung, obwohl auch Krebs oder eine Mittelohrentzündung eine wesentliche Rolle spielen können. Die knöcherne Hörschnecke ist degeneriert, die Nerven bleiben stumm. Zerstört ist meistens nur der Teil, der für die höheren Töne (1500 Hz) zuständig ist - Konsonanten können nicht mehr richtig verstanden werden. Über das Trommelfell, über 3 Hörknöchelchen gelangt der Schall in das Cortischen Organ die Cochlea. In der Hörschnecke befinden sich spiralförmige, mit Flüssigkeit gefüllten Röhren, die sich bis in die Spitze der Cochlea winden. In dem mittleren Innenohrkanal stecken die für den Hörprozess entscheidenden Nerven. Jeder Nerv trägt am Ende ein Haarbüschel als hörsensibler Fortsatz. Gelangen Schallwellen in die Hörschnecke, stoßen sie die in den Innenohrkanälen stehende Flüssigkeit an. Die Schwingungen erreichen damit die Haarbüschel - die Entladungsfrequenz der Neuronen erhöht sich. Innerhalb der Cochlea findet eine Schallanalyse statt. Die Resonanzverhältnisse in der Hörschnecke führen dazu, daß die ganz tiefen Bässe mit 18 Hertz im letzten Ende des Innenohrkanals schwingen, während die hohen Frequenzen gleich am Eingang der Cochlea die Nervenzellen reizen. Die Haarzellen, die entlang der Basilarmembran laufen, registrieren also je nach Lage der im Cortischen Organ immer nur einzelne Töne mit einer wohldefinierten Schwingungszahl. Insgesamt 50 000 Nerven leiten diese Information gebündelt im Hörnerv zum Gehirn. Die ersten Versuche die Taubheit mit Hilfe von neuronalen Prothesen zu bewältigen wurden im Jahr 1957 angestellt. Die kompliziertesten Implantate besitzen heute Elektrodenträger mit 22 Kontakten, das heißt an 22 verschiedenen Stellen wird die Cochlea gereizt. Die Elektrode, die sich in der Spitze der Cochlea befindet, erhält immer dann Signale, wenn tiefe Töne übertragen werden. Für hohe Töne sind die Kontakte am Eingang der Hörschnecke verantwortlich. Ein Mikroprozessor erhält von einem Mikrophon Signale, diese Signale werden der Frequenz und der Lautstärke nach analysiert. Das Ergebnis gelangt zu einem Sender, der hinter dem Ohr versteckt ist. Der Empfänger wurde unter der Haut implantiert, der dann über den Elektrodenträger die Kontakte mit einer Frequenz von 800-1000 Hertz versorgt. Das akustisch wahrnehmbare Frequenzband von 20 bis 20000 Hertz wird nicht in 50 000 Hörnervenzellen unterteilt, sondern nur in 22 Bereiche. Also können Menschen Frequenzen mit rund 0.4 Hertz unterscheiden - beim Cochleaimplantat sind es 90 Hertz. Trotzdem besitzen Patienten ein umfassendes Hörgefühl. Dafür ist es notwendig, daß die Betroffenen wieder das Hören lernen. Die Anpassung an die neuen Verhältnisse leistet das Gehirn (implizites Lernen). Nach einem speziellen Training ist es möglich, daß Personen sogar telephonieren können. Früher hat man eher älteren Personen das Cochleaimplantat eingesetzt, heute sind es vor allem Kinder. Bei den Kindern ist das Gehirn noch viel wandlungsfähiger, die Strukturen bilden sich erst. Neuroprothesen am Gehirn Bei Morbus Recklinghausen - einer gutartigen Geschwulstbildung - wird die Verbindung zwischen Innenohr und Gehirn unterbrochen. In diesem Fall hilft auch kein Cochlea-Implantat, da die Information nicht in das Gehirn weitergeleitet werden kann. Für diesen speziellen Fall wurde eine Stammhirnprothese entwickelt. Es wurde die gleiche Elektronik wie beim CochleaImplantat verwendet, nur der Elektrodenträger wurde verändert. Auf einem länglichen ovalen Elektrodenträger sind die einzelnen Elektroden nebeneinander angeordnet. Der Träger ist 2.5 mm breit und 8 mm lang, die Elektroden sind in 4 Reihen verteilt. Die Größe hat natürlich einen tieferen Grund, der Nucleus Cochlearis im Hirnstamm ist genauso groß. Über diesen Kern gelangt die gesamte Hörinformation in das Gehirn. In diesem Bereich sind die Neuronen auch wieder für verschiedene Tonhöhen zuständig. Die Elektroden müssen nun so angeordnet werden, daß die jeweiligen Gebiete aktiviert werden. Da die Elektroden nur glatt auf dem Nucleus cochlearus aufliegen, müssen sie sehr gut befestigt werden. ___________________________________________________________________________________ Neuroimplantate 139 Sehprothese Bei der Retinitis pigmentosa kann eine direkte Reizung der Retina helfen. Hauptsächlich degenerieren die Zapfen der Netzhaut, später sterben auch die Stäbchen ab. Die Nerven, die die Signale weiterleiten sind aber in Ordnung. Die Idee besteht nun darin, daß Implantate die Aufgabe der Zellen und Stäbchen übernehmen. Leider funktionieren die bisherigen Implantate nur mit sehr großen Problemen. Die Nerven beginnen sofort nach einführen des Implantates zu degenerieren. Prothesen für Arme und Beine Der Ersatz für Arme oder Beine sind schon seit der Antike bekannt. Gerade Kriege führten zu einer raschen Entwicklung der Prothetik. Heute sind es vor allem Verkehrs- oder Arbeitsunfälle die zu einem Verlust von einzelnen Gliedmaßen führen. Ziel von neuronalen Armprothesen ist es, den Arm genauso zu bewegen, wie man es gewohnt ist. Auch sollte man mit dem Arm sensorische Reize, wie Temperatur oder das Gewicht eines gehobenen Gegenstandes fühlen. Das Gehirn soll einen direkten Zugriff auf die künstliche Motorik besitzen. Drei Nerven innervieren einen Arm: Nervus medianus, Nervus radialis und Nervus ulnaris. Der Oberarmmuskel wird durch den Nervus musculocutaneus innerviert. Umgekehrt liefern auch viele sensorische Nerven Signale an das Gehirn. Die Muskelspindeln geben an, wie stark der Muskel gedehnt ist und die Golgiorgane geben an, wie stark die Sehnen gedehnt sind. Natürlich gelangen über die Haut noch viel mehr Reize in das Gehirn: Druck, Temperatur, Schmerz, Berührung oder Vibrationen. Zum Glück kommt es aber zu einer starken Datenreduktion, das heißt nicht jedes einzelne sensible Neuron kann im Gehirn auch tatsächlich etwas bewirken. Heute kann man schon Neuronen in ein Siliziumsubstrat wachsen lassen. Dieses Substrat ist dann in der Lage, die Daten zu analysieren und entsprechend zu handeln. Viel problematischer ist im Moment vielmehr die Stromversorgung und die Elektrotechnik. Die Leistungsdichte der Batterien ist viel zu gering und unter normalen Bedingungen würde ein Arm nach 20-30 Minuten erlahmen. Welche Anwendungen von Neuroimplantaten kennen sie? Was versteht man unter funktioneller neuromuskulärer Stimulation? Wie funktioniert ein Cochlea-Implantat? Welche Probleme ergeben sich bei einer Sehprothese? ____________________________________________________________________________________________ 140 Brain Modelling Spieltheorie 13.0 Spieltheorie "Die geringe körperliche Kraft des Menschen, seine geringe Schnelligkeit, der Mangel an natürlichen Waffen werden mehr als ausgeglichen . . . durch seine sozialen Eigenschaften, welche ihn dazu führten seinen Mitmenschen zu helfen und Hilfe von ihnen zu empfangen." Charles Darwin (1809-1882) Kommentkampf - Duell: Falken Tauben Modell Es gibt nur eine begrenzte Kriegsführung, das heißt alle kämpfenden Parteien halten sich an die Spielregeln und niemand wird schwer verletzt. Falke Taube Gewinn bei Sieg: +10 Gewinn bei Niederlage: 0 Falke +1 -5 schwere Verletzung: -5 langer Kampf: +2 Taube 0 +2 E(T,T) = 0.5 . (+10) + 0.5 . (0) + (-3) = +2 E(F,F) = 0.5 . (+10) + 0.5 . (-20) = -5 E(F,T) bzw. E(T,F) = 0 für Taube und +10 für Falke Die Strategie i ist gegenüber j stabil wenn gilt: E(i,i) ≥ E(j,i) bzw E(i,j) ≥ E(j,j) Mischstrategien:Tue immer das was die anderen nicht tun ! ( 8 5 Falken, Tauben ) 13 13 Problem des Modells: Unterschied in Kampfgröße,Stärke und Waffen des Gegners. Motivation (hunger makes agressiv) Einführung von Besitz verändert die Situation: Besitzender verhält sich wie Falke, Habenichts wie eine Taube. Kommt es zwischen zwei Männchen A und B (Pavianen) zu einer Auseinandersetzung, wird ein Beistand C gesucht. Was hat C davon A oder B zu helfen ? Bekommt er auch Hilfe von A (oder B) ? (BETRUG) ___________________________________________________________________________________ Spieltheorie 141 Gefangenendilemma: Lohn für Kooperation: Strafe für beiderseitiges Betrügen: Versuchung zu Betrügen: Gewinn für den Betrogenen: L S V T = = = = -2 -4 0 -5 Spieler 1 Kooperation Betrug Kooperation 0 - Spieler 2 Betrug Kanonische Nutzen-Matrix: -2 -5 -4 - V > L > S > T (1) (V+T)/2 < L (2) Beide Spieler können sich überlegen: Betrügen ist für mich vorteilhafter. Also betrügen beide, um ihren Nutzen zu maximieren und erreichen das Gegenteil, während beide bei beiderseitiger Kooperation einen höheren Nutzen gehabt hätten. iteriertes Gefangenendilemma:Die beiden Spieler treffen öfters hintereinander zusammen und "spielen" miteinander. Strategien: Tit for Tat Ich kooperiere beim ersten mal und tue genau das, was der andere beim letzten mal getan hat. Mehrheitsent. Mild Ich tue was der andere in der Mehrzahl der bisherigen Fälle getan hat. Grimmig Ich kooperiere, bis der andere zum erstenmal betrügt, von da an betrüge ich stets. Hartes Tit for Tat Ich kooperiere, es sei denn der andere hat beim letzten oder beim vorletzten Mal betrogen. Lieb Ich kooperiere immer. Verrückt Ich betrüge durchschnittlich jedes zweite mal abhängig vom Zufall. Böse Ich betrüge stets. Bei der direkten Konfrontation gewinnt (verliert nicht) die Strategie Böse. Es ist besser nett zu sein als böse. Man muß reaktiv sein. Es gibt keine beste Strategie ! Man muß rasch vergeben. List und Tücke bringen nichts. ____________________________________________________________________________________________ 142 Brain Modelling iteratives Gefangenendilemma mit Kündigung: Tit f. Tat mit Schmerzgrenze: Wenn in den letzten fünf Zügen der Gewinn kleiner als zwei Punkte pro Zug war, dann kündige ich. Probieren: Kooperieren, Kooperieren, Betrügen, Betrügen. Wenn der andere in dieser Zeit dreimal betrogen hat kündige ich, sonst kooperiere ich bedingungslos. Brutal: Ich betrüge, solange mein Partner kooperiert. Sobald er betrügt, kündige ich. Spieler 2 Kooperation Betrug Spieler 1 Kooperation 3 5 Betrug 0 1 Kündigung 2 2 ___________________________________________________________________________________ Spieltheorie 143 Anhang A: Verbindungen der Kernstrukturen des menschlichen Gehirns ____________________________________________________________________________________________ 144 Brain Modelling Anhang B: Cortikale Felder des Affen: Abbildung B.1: Karte der Cortexfelder des Makakken. Die Rinde ist geglättet dargestellt. Die relativen Größen sind korrekt dargestellt. ___________________________________________________________________________________ Anhang B: Corticale Felder des Affen 145 Lokalisation Abkürzung Bezeichnung wahrscheinliche Funktion Okzipitallappen V1 V2 V3 V3A V4 V4t MT (V5) VP VOT visuelle Area 1 (17) visuelle Area 2 (18) visuelle Area 3 visuelle Area 3A visuelle Area 4 V4 transitional visuelle Area 5 ventral posterior visuell ventral okzipitotemporal visuelle Sortierung visuelle Sortierung Sehen - dynamische Form Sehen - ? Sehen - Farbe Sehen - ? Bewegung Sehen - ? Sehen - ? Temporallappen FST PITd PITv CITd CITv AITd AlTv STPp STPa FT TH AI RL CM L PA superior temporal, ventraler Anteil posterior inferotemporal, dorsal posterior inferotemporal, ventral zentral inferotemporal, dorsal zentral inferotemporal, ventral anterior inferotemporal, dorsal anterior inferotemporal, ventral superior temporal polysensorisch, posterior superior temporal polysensorisch, anterior FT (Hippocampusformation) TH (Hippocampusformation) primär auditorisch rostrolateral auditorisch caudomedial auditorisch lateral auditorisch postauditorisch Sehen Sehen Sehen Sehen Sehen Sehen Sehen polymodal polymodal Gedächtnis Gedächtnis Hören Hören Hören Hören somatisch oder auditorisch? Hippocampus (HC) ER 35 36 Subiculum CAI CA3 entorhinaler Cortex Brodmannsche Area 35 Brodmannsche Area 36 (Prä-, Post-, Sub-) Subiculum Ammonshorn, Area 1 Ammonshorn, Area 3 Gedächtnis und/oder Raumorientierung Gedächtnis und/oder Raumorientierung Gedächtnis und/oder Raumorientierung Gedächtnis und/oder Raumorientierung Gedächtnis und/oder Raumorientierung Gedächtnis und/oder Raumorientierung Parietallappen 3a 3b 1 2 SII 5 7a 7b MSTd MSTI PO PIP LIP VIP MIP MDP DP primär somatosensorisch primär somatosensorisch somatosensorisch somatosensorisch sekundäre somatosensorische Karte sekundär somatosensorisch (Area PE) sekundär visuell (Area PG) sekundär somatosensorisch (Area PF) medial superior temporal, dorsal medial superior temporal, lateral parieto-okzipital posterior intraparietal lateral intraparietal ventral intraparietal medial intraparietal medial dorsal parietal dorsal anterior zum Sulus lunatus Hautsinn? taktil; Muskeln, Gelenke taktil - ? vestibulär taktil - Mustererkennung taktil - Mustererkennung visuomotorische Kontrolle visuomotorische Kontrolle visuomotorische Kontrolle visuomotorische Kontrolle visuomotorische Kontrolle visuomotorische Kontrolle visuomotorisch visuomotorisch visuomotorisch visuomotorisch visuomotorisch Frontallappen 4 6 SMA MEF FEF 46 9,10,14 11,12,13 25-32 G PRO PAL PIR PAC ER primär motorisch sekundär motorisch supplementär motorisch supplementäre Augenfelder frontales Augenfeld dorsolateral präfrontal dorsal präfrontal orbital präfrontal medial präfrontal gustatorisch Proisocortex Periallocortex olfaktorisch olfaktorisch olfaktorisch feine Bewegungen Bewegungsfolgen beidhändige Bewegungen Augenbewegungen Augenbewegungen Gedächtnis, Bewegungen, Planung Gedächtnis, Bewegungen, Planung Emotion, Gedächtnis Gedächtnis, Bewegungen, Planung Geschmack ? ? Riechen Riechen Riechen Gyrus cinguli 23,24,29,30 Motivation, Emotion, Raumorientierung, Gedächtnis Tabelle B.2: Die einzelnen Areale des Makakkengehirns ____________________________________________________________________________________________ 146 Brain Modelling Abbildung B.3: Die Verknüpfung zwischen einzelnen Arealen. Hier ist ein besonderer Bezug zu den visuellen Arealen hergestellt. nach Felleman D.J, D.C. van Essen, Distributed hierarchical processing in the primate cerebral cortex. Cerebral Cortex 1: 1-47, 1991 ___________________________________________________________________________________ Anhang B: Corticale Felder des Affen 147 Begriffe aus der Neurowissenschaft: Abhängigkeit: Zustand, bei dem immer eine bestimmte Konzentration einer Substanz vorhanden sein muss, um Entzugserscheinungen zu verhindern. Absence: Zeitlich begrenzter Verlust des Bewusstseins bei manchen Formen der Epilepsie. Acalculie: Unfähigkeit, mathematische Operationen durchzuführen. Achromatopsie: Unfähigkeit, trotz normal pigmentierter Zellen in der Retina Farben zu unterscheiden; wird manchmal auch "cortikaIe Farbenblindheit" genannt. Acopie: Unfähigkeit, geometrische nachzuzeichnen. Formen Adenosintriphosphat (ATP): Für den zellulären Energiestoffwechsel wichtiges Molekül. Die Reaktion von ATP zu ADP (Adenosindiphosphat) setzt Energie frei. ATP kann auch zu cAMP (zyklischem AMP) umgewandelt werden, das als second messenger an der Erzeugung postsynaptischer Potentiale durch einige Neurotransmitter sowie an der Vermittlung der Wirkung von Peptidhormonen beteiligt ist. Afferent: Agraphie: Akinesie: Teilweise oder vollkommene Unfähigkeit, sensorische Reize wahrzunehmen; nicht erklärbar durch einen Defekt elementarer Empfindungen oder durch ein erniedrigtes Vigilanzniveau. Abnahme oder vollkommener Verlust der Schreibfähigkeit. Fehlen von Bewegungen oder Bewegungsarmut beziehungsweise Bewegungsunfähigkeit. Aktionspotential:Kurzer elektrischer Impuls entlang des Axons. Das Aktionspotential resultiert aus kurzzeitigen Veränderungen der Membranpermeabilität für Natrium- und Kaliumionen. Alexie: Amblyopie: Beeinträchtigung des Sehvermögens ohne offenkundige Ursache im Auge. Amine: Klasse chemischer Verbindungen, zu der manche Neurotransmitter gehören. Aminosäuren: Klasse biologisch aktiver chemischer Verbindungen. Amnesie: Unfähigkeit zu lesen. Alpha-Rhythmus:Regelmäßiges Wellenmuster (etwa 10 Hz) im Elektroencephalogramm. Der Alpha-Rhythmus ist bei den meisten Menschen zu messen, wenn sie entspannt sind und die Augen geschlossen halten. Völliger oder teilweiser Gedächtnisverlust. Siehe auch anterograde Amnesie, retrograde Amnesie. amnestische Aphasie: Aphasisches Syndrom, das durch die Unfähigkeit, ein Objekt zu benennen, sowie durch die Bildung unbeabsichtigter Silben, Wörter oder Sätze während des Sprechens charakterisiert ist. Amygdala: Gruppe von Nuclei Temporallappen. Aneurysma: Krankhafte, örtlich begrenzte Erweiterung beziehungsweise Wandausbuchtung einer Arterie; kann zum plötzlichen Riss des Blutgefäßes führen. Faserverbindungen oder neuronale Signale in Richtung Zentralnervensystem ziehend, beziehungsweise auf ein Neuron zukommend. Afferenztheorie: Theorie, dass jedes Verhalten durch sensorische Ereignisse angetrieben wird; steht im Gegensatz zur Efferenztheorie. Agnosie: Alzheimer-Krankheit:Degenerative Gehirnkrankheit, die sich zunächst durch einen progressiven Gedächtnisverlust auszeichnet und sich allmählich in eine allgemeine Demenz entwickelt. Die Ursache der Krankheit ist zwar unbekannt, es scheint aber, dass cholinerge Zellen im basalen Vorderhirn und im entorhinalen Cortex als erste degenerieren. im medialen Angiographie: Darstellung von Blutgefäßen mit Hilfe eines Kontrastmittels. Anomie (anomische Aphasie): Schwierigkeiten bei der Wortfindung, insbesondere bei der Objektbenennung. anteriore Kommissur: Interhemisphärische Faserverbindung der anterioren Temporallappen, der Amygdala und des paläocortikalen Anteils des Temporallappens. anterograde Amnesie: Unfähigkeit, sich an Ereignisse zu erinnern, die nach einer Störung der Gehirnfunktionen auftreten (zum Beispiel nach einer Gehirnverletzung, einem Elektroschock oder bestimmten degenerativen Krankheiten). Siehe auch retrograde Amnesie. anterograde Degeneration: Degeneration der vom Ort der Schädigung betrachtet distal vom Zellkörper liegenden Teile einer Nervenzelle. Wird beispielsweise ein Axon durchtrennt, degeneriert der Bereich zwischen der Schnittstelle und den präsynaptischen Endigungen. ____________________________________________________________________________________________ 148 Brain Modelling Aphasie: Störung oder Verlust der Fähigkeit zum sprachlichen oder schriftlichen Ausdruck der Zeichengebung sowie Verlust des Verständnisses der gesprochenen Sprache; Folge einer Gehirnverletzung oder Gehirnkrankheit. Apraxie: Unfähigkeit, zweckgerichtete Bewegungen durchzuführen, und zwar in Abwesenheit einer Paralyse oder Parese. Aprosodie: Verlust des Verständnisses von Sprachmelodie und der Produktion verschiedener Sprachstimmlagen. Archicortex: Teil des Cortex, der sich in enger Verbindung mit dem olfaktorischen Cortex entwickelt und phylogenetisch älter ist als das Neopallium. Er hat auch nicht dessen sechsschichtige Struktur. Er wird auch Archipallium, Allocortex und olfaktorischer Cortex genannt. Bei adulten Säugetieren entspricht er dem Gyrus dentatus und dem Gyrus hippocampalis. Asomatognosie: Verlust des Wissens oder der sensorischen Erfahrung über den eigenen Körper und seinen Zustand. Der Zustand kann sich auf beide Körperseiten beziehen. Meist resultiert er aus einer Zerstörung des rechten Parietallappen. Assoziationscortex: Alle Kortexareale, die nicht motorisch oder sensorisch sind. (Der Ausdruck geht auf die früher vertretene Annahme zurück, dass Informationen der verschiedenen Sinne sich hier treffen und miteinander assoziiert werden.) Siehe auch präfrontaler Cortex, tertiäres Projektionsgebiet. Astrocyt: Astrocytom: Gliazelle. Astrocyten sind die zahlenmäßig überwiegen die Gruppe von Gliazellen. Langsam wachsender Gehirntumor, der auf die Vermehrung von Astrocyten zurückzuführen ist. auditorische Agnosie: Beeinträchtigte Fähigkeit, nicht verbale akustische Reize zu identifizieren. Aufmerksamkeit: Hypothetischer Vorgang, der entweder eine selektive Wahrnehmung von nur einem Teil beziehungsweise einem Aspekt der sensorischen Umgebung bewirkt, oder aber eine selektive Reaktion auf nur eine bestimmte Klasse von Reizen. Aussprossen von Axonkollateralen: Phänomen, das Folge der teilweisen Schädigung eines Neurons sein kann; erhalten gebliebene Axonabschnitte des Neurons sprossen an ihren Enden aus und stellen dadurch Verbindungen mit der zuvor innervierten Region her. Autismus: Zustand, bei dem eine Person durch ichzentrierte Gedanken oder Verhaltensweisen beherrscht wird, die auch durch externe Reizung nicht verändert werden können. Bei Kindern wird dieser Zustand häufig als infantiler Autismus bezeichnet; sein Charakteristikum besteht darin, dass zu anderen Personen oder zur Umwelt keine normale Beziehung aufgenommen werden kann. Autistische Kinder haben im allgemeinen schwere Sprachstörungen und zeigen stereotype Verhaltensweisen. automatisierte Verhaltensweisen:Stereotype Verhaltenseinheiten, die eine festgelegte Reihenfolge haben, zum Beispiel Lausen und Kauen; auch als reflektorische konsumptorische oder respondierende Verhaltensweisen oder Automatismen bezeichnet. Autoradiographie: Hierbei werden bestimmte radioaktive Stoffe in den Blutkreislauf injiziert, von Neuronen inkorporiert und gegebenenfalls in deren Fortsätze transportiert. Wird das Gewebe daraufhin auf einen Film gelegt, schwärzen radioaktive Gewebeteile diesen. Dadurch lässt sich der Weg rekonstruieren, den die radioaktiv markierte Substanz genommen hat. Autotopagnosie: Unfähigkeit, eigene Körperteile zu lokalisierenund zu benennen. Ein Beispiel ist die Fingeragnosie. Axon: Dünner, fadenförmiger neuronaler Fortsatz, der Aktionspotentiale vom Zellkörper zu anderen Neuronen (oder Muskeln oder Drüsen) leitet. Axonhügel: Ansatzpunkt des Axons am Zellkörper, an dem Nervenimpulse entstehen. Dort wird entschieden, ob ein Aktionspotential ausgelöst wird, oder nicht. Basalganglien: Gruppe großer Nuclei im Vorderhirn; dazu gehören der Nucleus caudatus, das Putamen, der Globus pallidus, das Claustrum und die Amygdala. aufmerksamkeitsbezogene Dyslexie: Störung, bei der die Benennung eines Buchstabens dann schwieriger ist, wenn dieser von einem zweiten oder mehreren anderen Buchstaben begleitet wird. Beta-Rhythmus: Unregelmäßige Aktivität im Elektroencephalogramm (zwischen 13 und 30 Hz), die im allgemeinen im wachen Zustand auftritt. Aura: bilateral: Subjektive Empfindung, Wahrnehmung oder motorisches Phänomen, das dem Beginn eines epileptischen Anfalls vorausgeht und diesen kennzeichnet. Auf beiden Körperseiten beziehungsweise Hirnhälften lokalisiert. ___________________________________________________________________________________ Begriffe aus der Neurowissenschaft 149 bildgebende Verfahren: Mit Hilfe von Computern errechnete Bilder des Körperinneren; dazu zählen die Computertomographie, die Kernspintomographie und die Positronenemissionstomographie. Bindungsproblem: Theoretisches Problem der Integration von sensorischen Informationen. Ein einziges sensorisches Ereignis wird in zahlreichen parallelen Kanälen analysiert, die jedoch nicht auf eine übergeordnete Region konvergieren. Im Hinblick auf die Frage, wie diese einzelnen Analysen zu einer einheitlichen sensorischen Wahrnehmung zusammengefügt werden, spricht man vom Bindungsproblem. biogene Amine: Gruppe von Neurotransmittern, zu denen Noradrenalin, Dopamin und Serotonin gehören. bipolare Zellen: Neuronen mit Fortsätzen an beiden Polen des Zellkörpers. Dies ist insbesondere ein Merkmal der sogenannten Bipolarzellen der Retina. Blut-Hirn-Schranke: Physiologische Barriere, die durch die Wandzellen der Hirnkapillaren gebildet wird. Diese "Zellmauer" verhindert einen passiven Eintritt vieler Substanzen in das Hirngewebe. Broca-Aphasie: Expressive oder auch nichtflüssige Aphasie; hauptsächlich eine Sprechstörung; sie resultiert aus einer Läsion des Brocaschen Areals. Brocasches Areal: Gebiet im linken Frontallappen (frontales Operculum), von dem man glaubt, dass es an der Sprachproduktion beteiligt ist. Eine Zerstörung führt zur Broca-Aphasie. cerebrale Kompression: Druck auf die Gehirnsubstanz aufgrund einer Verletzung, die eine Hirnblutung verursachte. cerebrale Laceration: Zerreißen des Gehirnsgewebes infolge einer Hirnprellung (Contusio cerebri). cerebraler Cortex: Die graue Substanz auf der Oberfläche der Hirnhemisphären, die aus (vier bis) sechs Neuronenschichten und deren lokalen synaptischen Verbindungen besteht. Cerebrospinalflüssigkeit (CSF): Klare, farblose Flüssigkeit, die Natriumchlorid und andere Salze enthält und die Ventrikel innerhalb des Gehirns sowie den Zentralkanal des Rückenmarks ausfüllt; sie zirkuliert um das Gehirn und das Rückenmark, und zwar im Subarachnoidalraum, der sich zwischen der Arachnoidea und der Pia mater befindet. Chiasma opticum: Sehbahnkreuzung. Ort an der Hirnbasis, wo sich die Sehnerven beider Augen teilweise kreuzen. Chorea Huntington: Erbkrankheit, die sich durch zuckende Tanzbewegungen (Veitstanz) und progressive Demenz auszeichnet und tödlich endet. Chorea Sydenham: Akute Störung im Kindesalter, die durch unwillkürliche Bewegungen gekennzeichnet ist, allmählich schwerer wird und praktisch alle Bewegungen einschließlich der Sprechbewegungen umfasst; auch als Veitstanz bekannt. Chromosomen: Mit Proteinen assoziierte DNA-Stränge im Zellkern einer jeden Zelle. Die Chromosomen enthalten die komplette genetische Information, welche die Struktur und die Funktion der Zelle bestimmt. Brodmannsche Karte: Von Brodmann entwickelte Karte des Cortex. Sie basiert auf der cytoarchitektonischen Struktur des Gehirns und bezeichnet die verschiedenen anatomischen Areale mit Nummern. (Sie stimmt auffallend gut mit den funktionalen Karten überein, die später durch Läsionsstudien oder Ableitexperimente erstellt wurden.) cingulärer Cortex: Areal vom limbischen Cortex, der direkt über dem Corpus callosum an den medialen Wänden der Großhirnhemisphären liegt. Calcifizierung: Ansammlung von Calcium in mehreren Gehirnregionen nach einer Gehirnschädigung. Colliculus superior: Kern im Tectum des Mittelhirns, der visuelle Afferenzen erhält und an Bewegungen beteiligt ist, die als Reaktion auf visuelle Reize erfolgen. Paarige Struktur. Catecholamine: Klasse von Neurotransmittern, zu denen Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin gehören. Cerebellum (Kleinhirn): Wichtige Struktur des Hinterhirns, die für die motorische Koordination von Bedeutung ist. cerebrale Hypoxie: Sauerstoffmangel im Gehirn. cerebrale Ischämie: Blutmangel im Gehirn. Dieser kann auf bestimmte Regionen beschränkt sein und als Folge einer Zerstörung oder Quetschung von Hirnarterien auftreten. Colliculus inferior: Kern im Tectum des Mittelhirns, der auditorische Afferenzen erhält und an Bewegungsreaktionen auf auditorische Reize beteiligt ist. Paarige Struktur. Computertomographie (CT): Röntgenverfahren, bei dem die durch einen feinen Röntgenstrahl gemessene Dichte des Gehirns vom Computer kartographisch dargestellt wird. Die Methode ermöglicht eine dreidimensionale Darstellung des Gehirns und ist deshalb konventionellen Röntgenmethoden überlegen. Corpus callosum: Fasersystem, das homotope Regionen der beiden Hemisphären miteinander verbindet. ____________________________________________________________________________________________ 150 Brain Modelling Cortex: Äußere Schicht beziehungsweise Rinde. Cortexquotient (CQ): Maß für die relative Größe des Cortex; er ist analog zum Encephalisationsquotienten, bezieht sich jedoch nur auf den Cortex. cortikospinale Fasern: Fasern zwischen Cortex und Rückenmark. Creutzfeldt-Jakobsche Krankheit: Form seniler Demenz bei allgemeiner cortikaler Atrophie. Die Ursache ist zwar unbekannt, als Verursacher wird jedoch ein langsam wirkendes Virus vermutet. cytoarchitektonische Karten: Kartographische Erfassung des Cortex, auf der Basis der Organisation, der Struktur und der Verteilung der Zellen. Cytochromoxidase: In Mitochondrien produziertes Enzym. Man nimmt an, dass eine erhöhte Enzymaktivität eine erhöhte neuronale Aktivität widerspiegelt. Man kann die Cytochromoxidase in Gewebepräparaten anfärben, um festzustellen; welche Gehirnregionen besonders aktiv sind. Degeneration: Absterben von Neuronen oder neuronalen Fortsätzen als Reaktion auf eine Verletzung des betreffenden oder manchmal auch eines anderen Neurons. deklaratives Gedächtnis: Gedächtnistyp, der durch die Fähigkeit eines Individuums gekennzeichnet ist, sich an Einzelheiten eines Ereignisses (Zeit, Ort, Umstände) zu erinnern. Genaugenommen bezieht sich der Begriff auf die Fähigkeit, das wiederzugeben, was man weiß. Ein Verlust dieser Gedächtnisform besteht bei vielen Formen der Amnesie. Siehe auch prozedurales Gedächtnis. Dendriten: Baumartige Fortsätze informationsaufnehmenden Teil Neurons. am des distal: Von einem Referenzpunkt entfernt. divergentes Denken: Form des Denkens, bei der nach verschiedenen Lösungen für ein Problem gesucht wird; zum Beispiel, auf wie viele verschiedene Arten kann man einen Stift benutzen? dornenlose Neuronen: Klasse inhibitorischer Neuronen, die keine dendritischen Dornen tragen. dornentragende Neuronen: Klasse von Neuronen, deren Dendriten mit dendritischen Dornen besetzt sind; sie sind in der Regel exzitatorisch. dorsomedialer Thalamus: Thalamischer Kern, der eine wichtige Afferenz zum präfrontalen Cortex darstellt. Bei Patienten mit Korsakoff-Syndrom ist er degeneriert und führt zu einem schweren amnestischen Syndrom. Dysarthrie: Schwierigkeiten beim Sprechen, die durch mangelnde Sprechkoordination verursacht werden. Dyscalculie: Schwierigkeiten bei der Durchführung mathematischer Operationen. Dyskinesie: Jegliche Form der Bewegungsstörung. Dyslexie: Leseschwierigkeit. Siehe auch aufmerksamkeitsbezogene Dyslexie, erworbene Dyslexie, Neglectdyslexie. Echolalie: Zustand, bei dem eine Person Wörter oder Geräusche wiederholt, die sie hört. efferent: Faserverbindungen oder neuronale Signale von höheren Zentren des Zentralnervensystems aus zu Muskeln oder Drüsen ziehend beziehungsweise von einem Neuron wegführend. Efferenztheorie: Theorie, der zufolge es die durch eine Aktivität ausgelösten sensorischen Ereignisse sind, die eine bewusste Wahrnehmung ermöglichen. dendritische Dornen: Kleine Ausstülpungen der Dendriten. Die meisten Synapsen befinden sich auf dendritischen Dornen. Einzelzellaktivität: Das elektrische einzigen Zelle. Denervierungsüberempfindlichkeit: (denervation supersensitivity) Erhöhte Empfindlichkeit für neuroaktive Substanzen aufgrund einer Zunahme der Rezeptorenzahl nach Denervierung eines Gehirnareals. Elektroencephalogramm (EEG): Aufzeichnung elektrischer Potentiale der Großhirnrinde ("Hirnstromkurven"). Die entsprechende Ableitungstechnik bezeichnet man als Elektroencephalographie. Desynchronisierung: Veränderung der EEG-Aktivität von einem hochamplitudigen, langsamen Verlauf zu einer niederamplitudigen, raschen Wellenform. Elektrokrampftherapie: Die Anwendung elektrischer Schocks zur Behandlung affektiver Störungen. Depolarisation: Verminderte Potentialdifferenz zwischen Außen- und Innenseite der Membran, hervorgerufen durch einen Einwärtsstrom positiver Ionen (Kationen) oder einen Auswärtsstrom .negativer Ionen (Anionen). Diencephalon (Zwischenhirn): Gehirnteil, zu dem Hypothalamus, Thalamus und Epithalamus gehören. Potential einer Elektromyogramm (EMG): Aufzeichnung elektrischer Aktivitäten der Muskeln und der elektrischen Antworten peripherer Nerven. Die entsprechende Ableitungstechnik bezeichnet man als Elektromyographie. elektrostatischer Gradient: Gradient zwischen einer Region mit hoher und einer mit geringer elektrischer Ladung; tritt etwa an Zellmembranen auf oder zwischen verschiedenen Teilen derselben Zelle. ___________________________________________________________________________________ Begriffe aus der Neurowissenschaft 151 Embolie: Plötzliche Verstopfung einer Arterie oder Vene durch ein Blutgerinnsel, eine Luftblase, eine Fettablagerung oder Zellansammlungen. Extinktion: Im Zusammenhang mit Lernen verwendeter Begriff; Extinktion bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit, mit der ein bestimmtes Verhalten ausgeführt wird, sinkt, wenn das Verhalten nicht wieder verstärkt (belohnt) wird. Farbagnosie: Unfähigkeit, bestimmte Farben mit Objekten oder Objekte mit Farben zu assoziieren. Siehe auch Agnosie. Farbamnesie: Unfähigkeit, sich an die Farben bekannter Objekte zu erinnern. Siehe auch Amnesie. Zustand, der durch wiederholte Krämpfe verschiedener Art gekennzeichnet ist; er wird von Bewußtseinsstörungen begleitet. In einem bestimmten Gehirngebiet, einer Hirnhälfte oder dem gesamten Gehirn feuern alle Neuronen gleichzeitig. Sobald eine kritische Menge an Neuronen gleichzeitig feuern, und die hemmenden Neuronen zuwenig wirken, dann kommt es zur Epilepsie. Farbanomie: Unfähigkeit, Farben zu benennen; diese steht generell im Zusammenhang mit anderen Symptomen der Aphasie; statt Farbanomie wird auch der Ausdruck Farbaphasie verwendet. Siehe auch Anomie. Epiphyse: Siehe Epithalamus. Epithalamus: Ansammlung von Nuclei, welche die phylogenetisch älteste Region des Thalamus bilden; dazu gehören die Habenulae, die Epiphyse (Zirbeldrüse) und die Stria medullaris. Fasciculus uncinatus: Verbindung zwischen dem präfrontalem Cortex und den Spitzen der Schläfenlappen. Encephalitis: Entzündung des Zentralnervensystems als Folge einer Infektion. entorhinaler Cortex: Cortexareal, das sich an der medialen Oberfläche des Temporallappens befindet und die wesentliche Verbindung zwischen Neocortex und Hippocampus darstellt. Bei der Alzheimer-Krankheit zeigt der entorhinale Cortex oft Degenerationserscheinungen. Epilepsie: Fasciculus arcuatus: Langes Faserbündel, durch das Wernickesches Areal und Brocasches Areal miteinander verbunden werden. Fissura longitudinalis: Die Fissur, welche die beiden Hemisphären voneinander trennt. Flexion: erregende Neurotransmitter: Transmittersubstanzen, die das Membranpotential verringern und dadurch die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass ein Aktionspotential entsteht. ereigniskorreliertes Potential: (ERP, event-rewted potential) Komplexe Welle im Elektroencephalogramm, die zeitlich mit bestimmten sensorischen Ereignissen in Zusammenhang steht. Das ERP besteht aus mehreren "Untereinheiten", die mit bestimmten Aspekten der cerebralen Verarbeitung assoziiert sind. Ergotamin: Zur Behandlung von Migräne und Spannungskopfschmerz eingesetztes Medikament, das eine Konstriktion der cerebralen Arterien bewirkt. evoziertes Potential (EP) : Kurze Folge großer langsamer Wellen, die von der Schädeloberfläche abgeleitet werden können und eine Antwortaktivität der Neuronen widerspiegeln. excitatorisches postsynaptisches Potential (EPSP): Geringe Änderung des Membranpotentials einer Zelle, die zu einer Depolarisation führt und damit die Wahrscheinlichkeit eines Aktionspotentials erhöht. explizites Gedächtnis: Gedächtnisform, die bewirkt, dass wir uns bewusst an etwas erinnern können. Siehe auch implizites Gedächtnis. externe Vorstellung: Mentale Vorstellung, bei der man sich selbst in eine andere Person hineindenkt und sich vorstellt, als diese Person eine Handlung auszuführen. Beugung einer Gliedmaße. flüssige Aphasie: Sprechstörung, bei der die Person Wörter in sprachähnlicher Form aneinander reiht, ohne dass diese in ihrer Folge einen Sinn ergeben. Gewöhnlich beruht sie auf einer Schädigung des linken posterioren Cortex. Siehe auch Wernicke-Aphasie. fokale Krämpfe:Lokal beginnende Krämpfe, die sich anschließend ausbreiten, etwa von einem Finger aus über den ganzen Körper. Diese fokalen Krämpfe sind der Beginn einer Epilepsie. Frontallappen: Der gesamte Neocortex, der sich anterior vom Sulcus centralis befindet. funktionale Karten: Kartographierung des Cortex durch Reizung bestimmter Hirnareale und Beobachtung, des auf diese Weise ausgelösten Verhaltens (etwa Bewegungen) oder durch Ableitung der elektrischen Aktivität von Hirnzellen während der Ausführung bestimmter Verhaltensformen. Solche Karten setzen bestimmte Leistungen des Gehirns und bestimmte Gehirnareale miteinander in Beziehung. funktionelle MRI (fMRI): Kernspintomographie, bei der die Veränderungen bestimmter Elemente, etwa Eisen oder Sauerstoff, während der Ausübung einer bestimmten Verhaltensweise gemessen werden. Die fMRI wird eingesetzt, um die Gehirnaktivität während eines Verhaltens oder in Ruhe zu messen. ____________________________________________________________________________________________ 152 Brain Modelling Gehirnabszess: Lokalisierte Ansammlung von Eiter im Gehirn. Dieser besteht aus Gewebe, das als Folge einer Infektion desintegriert ist. Gehirnerschütterung: Zustand allgemeiner Lähmung von Gehirnfunktionen, der unmittelbar auf eine starke mechanische Gewalteinwirkung auf den Kopf folgt. Graphem: Der Begriff bezieht sich auf die bildhafte Qualität des geschriebenen Wortes, die es ermöglicht, das Wort zu verstehen, ohne es auszusprechen. graphemisches Lesen: Die Bedeutung eines Wortes wird anhand seines "Bildes" abgeleitet und nicht anhand der Aussprache seiner einzelnen Silben. Gehirnhypothese: Die Vorstellung, dass das Gehirn und nicht ein anderer Körperteil, etwa das Herz, für unser Verhalten verantwortlich ist. graue Substanz: Sammelbezeichnung für alle Gehirnareale, die hauptsächlich aus Zellkörpern bestehen. Generatorpotential: Siehe graduiertes Potential. Gyrus: Gerstmann-Syndrom: Komplex von Symptomen, die durch Läsionen des linken Parietallappens entstehen können; zu den Symptomen gehören Fingeragnosie, die Verwechslung von links und rechts, Acalculie und Agraphie; der Begriff wird kontrovers diskutiert. Gyrus angularis: Ein Gyrus im Parietallappen, der ungefähr im Brodmannschen Areal 39 liegt. Er spielt bei Sprachfunktionen eine Rolle. Gesichteramnesie: Unfähigkeit, Gesichter zu erkennen. Gliazellen: Gliom: Zellen die aus Spongioblasten hervorgehen und zur Stütze, zur Ernährung, zur funktionalen Unterstützung und zur Reorganisation von Neuronen beitragen; manchmal sind sie Urzellen eines Tumors. Zu den akzessorischen Zellen gehören Astrocyten, Oligodendrocyten, Ependymzellen, Mikroglia und Schwannsche Zellen. Gehirntumor, der hervorgegangen ist. aus Gliazellen Gliomblastom: Bösartiger, schnell wachsender Tumor, der am häufigsten bei Erwachsenen nach dem 35. Lebensjahr zu finden ist. Er resultiert aus einem plötzlichen Wachstum von Spongioblasten. Gliose: Gliazellen wandern in zerstörte Gehirnareale und vermehren sich dort. Das Vorhandensein einer Gliose deutet auf eine Gewebsschädigung. Globus pallidus: Teil der Basalganglien; erhält Projektionen vom Nucleus caudatus und projiziert zum Nucleus ventralis lateralis des Thalamus. graduiertes Potential: Elektrisches Potential an der Zellmembran eines Neurons oder einer Rezeptorzelle, das sich mit der Intensität des Reizes verändert; auch als Generatorpotential bezeichnet. grand mal-Anfall: Epileptischer Krampf, der durch den Verlust des Bewusstseins und stereotype Zuckungen am ganzen Körper gekennzeichnet ist. Graphästhesie: Fähigkeit, Zahlen oder Buchstaben, die mit einem entsprechend spitzen Gegenstand in der Haut geritzt werden, zu erkennen. Gehirnwindung. Gyrus praecentralis: Der Gyrus vor dem Sulcus centralis. Habituation (Gewöhnung): Allmähliche Abnahme der Antwortstärke nach wiederholter Reizung. Halluzinationen: Wahrnehmungen, für die es keinen entsprechen den externen Reiz gibt; Charakteristikum einiger psychotischer Störungen. Hämatom: Lokale Blutansammlung im Gewebe (Bluterguss). Hebbsche Synapse: Hypothetische synaptische Verbindung, die gebildet wird, wenn zwei Neuronen über einen längeren Zeitraum hinweg gleichzeitig aktiv sind; benannt nach Donald Hebb, der diesen Mechanismus im Jahre 1949 vorgeschlagen hat. Hebephrenie: Form der Schizophrenie, die durch unsinniges Verhalten, seltsame Eigenheiten, ständiges Kichern und geringen Affekt gekennzeichnet ist. Hemianopsie: Verlust der Sehfähigkeit in einer Hälfte des Gesichtsfeldes. Hemisphärektomie: Entfernung einer Hemisphäre. hemmende Neurotransmitter: Neurotransmitter, die das Ruhepotential der Membran eines Neurons vergrößern. Dadurch reduziert sich die Wahrscheinlichkeit, dass ein Aktionspotential entsteht. Hinterhirn: Gehirnregion, die im wesentlichen aus Cerebellum, Medulla oblongata, Pans und dem IV. Ventrikel besteht. Hinterwurzelganglion: Die Zellkörper sensorischer Neuronen liegen direkt neben der Einrittsstelle ihrer Axone in das Rückenmark. Die Ausbuchtung, die durch ihr massives lokales Vorkommen entsteht, wird als Hinterwurzelganglion oder Spinalganglion bezeichnet. Hippocampus: Entwicklungsgeschichtlich alte, für das Gedächtnis essentielle Struktur in der anteromedialen Region des Temporallappens. ___________________________________________________________________________________ Begriffe aus der Neurowissenschaft 153 hierarchische Organisation: Prinzip der cerebralen Organisation, dem zufolge Informationen seriell verarbeitet werden, wobei man annimmt, dass ein hypothetischer Prozess von Verarbeitungsebene zu Verarbeitungsebene genauer ausgearbeitet wird. Hirnnerven: Hirnstamm: Hirntrauma: Zwölf Nervenpaare, die im Gehirn entspringen und motorische beziehungsweise sensorische Signale vermitteln. In diesem Buch umfasst der Begriff Hirnstamm (wie allgemein üblich) das Mittelhirn und das Hinterhirn. Manche Autoren zählen auch den Thalamus, den Hypothalamus und die Basalganglien dazu. Verletzung des Gehirns, gewöhnlich durch einen Schlag auf den Kopf hervorgerufen. histochemische Techniken: Reihe von Techniken, die auf chemischen Reaktionen von Zellen mit bestimmten Farbstoffen basieren und mit deren Hilfe bestimmte Gewebemerkmale sichtbar gemacht werden können. Histofluoreszenztechnik: Verfahren, bei dem ein fluoreszierender Farbstoff verwendet wird, um Zellen zu markieren. Hominiden: (Menschenartige) Untergruppe der Primaten, die den modernen Menschen ebenso einschließt wie seine aufrecht gehen den Vorfahren. homonyme Hemianopsie: Halbseitiger Verlust des Sehvermögens, bedingt durch eine komplette Durchtrennung des Tractus opticus. Homöostase: Hypothese der parallelen Entwicklung: Beide Hemisphären spielen danach aufgrund ihrer Anatomie eine Sonderrolle, eine Hemisphäre für die Sprache, die andere für den Raum. Illusion: Hyperkinesie: Vermehrte Bewegungen Körperteilen. in allen Hyperlexie: Zustand, bei dem eine Person sehr viel liest, oft aber die Bedeutung des Gelesenen nicht versteht. Hypermetamorpbose: Die Tendenz, auf jeden visuellen Reiz zu achten und zu reagieren. Hyperpolarisation: Vorgang, bei dem die Permeabilität der Nervenzellmembran für Natriumionen abnimmt und die Zelle daher schwerer erregbar wird. Während der Hyperpolarisation wird die Innenseite der Zellmembran im Verhältnis zur Außenseite negativer. Falsche Interpretation real vorkommender sensorischer Bilder. immunohistochemische Färbung: Technik der Markierung von ZeIlbestandteilen mit Hilfe von Antikörpern, die es im Rahmen von post mortem-Untersuchungen erlaubt, bestimmte Moleküle oder nahverwandte Moleküle in Geweben nachzuweisen. implizites Gedächtnis: Gedächtnisform, die es uns zwar ermöglicht, auf gewisse Informationen zurückzugreifen und entsprechend zu handeln, bei der wir die gespeicherte Information jedoch nicht bewusst abrufen können; zum Beispiel bei motorischen Fertigkeiten wie Klavierspielen oder Radfahren. Siehe auch explizites Gedächtnis. Infarkt: Absterben von Gewebe infolge eines Verschlusses oder einer Einengung eines Blutgefäßes. inhibitorisches postsynaptisches Potential (IPSP): Kleine lokalisierte Veränderung, die zu einer Hyperpolarisation führt und dadurch die Wahrscheinlichkeit der Entstehung eines Aktionspotentials reduziert. Interneuron: Bezeichnung für jedes Neuron, das zwischen einem sensorischen und motorischen Neuron liegt. Dies gilt insbesondere für die Verhältnisse im Rückenmark. Im Gehirn werden auch solche Nervenzellen als Interneurone bezeichnet, die hauptsächlich lokale Synapsen bilden. Der Erhalt eines konstanten chemischphysikalischen Innenmilieus. Hydrocephalus: Zustand abnormer Ansammlung von Flüssigkeit im Schädel verbunden mit einer Vergrößerung des Kopfumfanges, einer Atrophie des Gehirns und einer mentalen Störung sowie Krampfbildung. Hypophyse: Hypothalamus: Ansammlung von Nuclei, die unter dem Thalamus liegen und die bei fast allen Verhaltensweisen von Bedeutung sind, etwa bei Bewegungen, beim Essen, bei sexueller Erregung, beim Schlafen, bei emotionalen Reaktionen, bei der Temperaturregulation und bei der hormonellen Steuerung. intermodaler Vergleich: Vergleich von Merkmalen eines Objekts in verschiedenen sensorischen Modalitäten; beispielsweise der Vorgang, der abläuft, wenn man ein zuvor betastetes Objekt anschließend visuell erkennt. interne Vorstellung: Vorstellung sich selbst betreffend, bei der man sich beispielsweise vorstellt, man würde selbst eine bestimmte Handlung ausführen. Siehe auch externe Vorstellung. Hirnanhangdrüse. ____________________________________________________________________________________________ 154 Brain Modelling Ionenkanal: ipsilateral: Enge Öffnung der Membran einer Nervenzelle; sie erlaubt den Durchtritt verschiedener Ionen, die das Membranpotential beeinflussen. Verschiedene Kanäle werden durch verschiedene Transmittermoleküle oder durch Änderungen der Membranspannung geöffnet. Kennard-Prinzip: Diesem Prinzip gemäß führen frühe Hirnverletzungen zu geringeren Verhaltensstörungen als Hirnschädigungen, die zu einem späteren Zeitpunkt im Leben auftreten. Der Begriff wurde geprägt, nachdem Kennard über dieses Phänomen in einer Reihe von Publikationen berichtete; es basiert auf der Untersuchung von Affen mit neonatalen operativen Gehirnläsionen. Kernspintomographie (Magnetresonanztomographie, MRI): Bildgebendes Verfahren, bei dem mittels eines Computers und der gemessenen Änderungen in der magnetischen Resonanz von Atomen im Gehirn eine Karte erstellt wird. Siehe auch funktionelle MRI. Wahrnehmung der Bewegungen oder der Position von Rumpf und Gliedmaßen. Der Begriff wird oft im Zusammenhang mit der Wahrnehmung von Änderungen der GelenksteIlung verwendet. KIüver-Bucy-Syndrom: Symptomkomplex infolge einer bilateralen Schädigung des Temporallappens, insbesondere sind Hypersexualität, exzessives orales Verhalten und visuelle Agnosie zu nennen. Kognition: Allgemeiner Denkvorgänge. Ausdruck für kognitiver Raum: Raum und Zeit, von dem oder der eine Person Kenntnis besitzt. KoIlateralen: Kommissur: konstruktive Apraxie (Konstruktionsapraxie): Unfähigkeit, gut bekannte Bewegungsabfolgen durchzuführen, um etwas herzustellen oder vorzubereiten. Dieses Defizit kann nicht auf die Unfähigkeit, Einzelbewegungen des motorischen Gesamtablaufes durchzuführen, zurückgeführt werden. kontralateral: Bezieht sich auf die Körperseite, die dem jeweiligen Referenzort gegenüberliegt. Auf derselben Körperseite lokalisiert wie der Referenzort. Jackson-AnfaIl: Fokaler epileptischer Krampf mit konstanten sensorischen oder motorischen Symptomen, etwa Zuckungen in den Händen oder im Gesicht. Kinästhesie: komplex-partieIler AnfaIl: Fokaler Anfall, dessen Ursprung meist im Temporallappen liegt; gekennzeichnet durch subjektive Eindrücke, Automatismen sowie motorische Symptome. Manchmal auch als Temporallappenanfall bezeichnet. Seitenäste eines Axons, die für das Überleben eines Neurons notwendig (essentielle Kollateralen) oder aber sekundär sein können (unterstützende Kollateralen); letztere sind für die Zelle nicht überlebensnotwendig. Faserbündel, das korrespondierende Orte beider Seiten des Zentralnervensystems miteinander verbindet. Kommissurotomie: Operative Isolierung der beiden Hemisphären mittels Durchtrennung des Corpus callosum. kontralateraler Neglect: Neglect eines Teiles des Körpers oder Raumes, der kontralateral zur Gehirnläsion liegt. konvergentes Denken: Form des Denkens, bei der nach der einzigen möglichen Antwort auf eine Aufgabe gesucht wird (etwa 2 + 2 = ?). Dies steht im Gegensatz zum divergenten Denken, bei dem es viele Lösungen gibt. Korsakoff-Syndrom: Symptomkomplex infolge einer Degeneration der dorsomedialen Thalamuskerne. Zum KorsakoffSyndrom kommt es häufig bei Alkoholabusus. Stoffwechselstörung des Zentralnervensystems aufgrund eines Vitamin-B I-Mangels (Thyaminmangel). Kurzzeitgedächtnis: Von Broadbent geforderte Gedächtnisform, bei der die Information, wie man annimmt, nicht länger als 15 Minuten gespeichert wird. Langzeitgedächtnis: Von Broadbent geforderte Gedächtnisform, bei der die Inhalte länger als etwa 15 Minuten gespeichert werden. Langzeitpotenzierung: oder Langzeitverstärkung (LTP) Lang andauernde Veränderung der postsynaptischen Antwort einer Nervenzelle, die aus vorhergegangener Erfahrung mit einer hochfrequenten Reizung resultiert. Läsion: Sammelbegriff für jede Schädigung des Nervensystems. Lateralisierung: Prozess, der Funktionen hauptsächlich auf einer Gehirnseite lokalisiert. Lateralität ("Seitlichkeit"): Bezeichnet den Umstand, dass eine Seite des Gehirns eine bestimmte Funktion kontrolliert. Leitungsaphasie: Aphasie vom Typ der flüssigen Aphasien, bei denen trotz normalem Verständnis der gesprochenen Sprache Wörter nicht korrekt wiederholt werden können. Siehe auch Aphasie. Lernstörung: Eine Lernstörung wird im allgemeinen anhand der schulischen Leistungen diagnostiziert, beispielsweise wenn die Lesefähigkeiten zwei Jahre hinter dem Klassendurchschnitt zurückliegen. ___________________________________________________________________________________ Begriffe aus der Neurowissenschaft 155 Lesen durch Buchstabieren: Hier wird die Bedeutung eines Textes dadurch erfasst, dass Informationen, die aus jedem einzelnen Buchstaben hervorgehen, aneinandergereiht werden. Siehe auch phonologisches Lesen. Lexikon: Gedächtnisspeicher im Gehirn, der Wörter und deren Bedeutung beinhaltet. limbischer Lappen: Von Broca geprägter Begriff, der sich auf die Strukturen zwischen Hirnstamm und Telencephalon bezieht. Im modernen Sprachgebrauch wird statt dessen der Begriff limbisches System verwendet, das den Hippocampus, das Septum, den cingulären Cortex, den Hypothalamus und die Amygdala umfasst. limbisches System: Besteht aus einer Anzahl von Strukturen des limbischen Lappens, die ein hypothetisches funktionales System bilden. Ursprünglich glaubte man, dass dieses System für die Kontrolle affektiver Verhaltensweisen von Bedeutung sei. lokale Krämpfe: Krämpfe, die lokal beginnen und sich dann ausbreiten, zum Beispiel vom Finger auf den ganzen Körper. Lokalisation: von Funktionen Hypothese, die besagt, dass jedes Verhalten durch ein entsprechendes Gehirnareal kontrolliert wird. Magnetencephalogramm (MEG): Aufzeichnung magnetischer Potentiale mit Hilfe von Elektroden, die auf die Kopfoberfläche gesetzt werden. Magnetresonanztomographie: Siehe tomographie. auch mentale Rotation: Die Fähigkeit, sich ein Objekt aus einem anderen Blickwinkel heraus vorzustellen (es „im Kopf“ zu drehen). Merkmalssuche: Kognitive Strategie, bei der Stimuli auf ein bestimmtes Merkmal (etwa Farbe) hin untersucht werden. Mesencephalon (Mittelhirn): Begriff für die mittlere der drei embryonalen Hirnblasen; umfasst im adulten Tier auch Tectum und Tegmentum. Metastase (Tochtergeschwulst): Absiedlung eines bösartigen Primärtumors, die andere Organe des Körpers befällt. Metencephalon: Vorderer Teil des Rhombencephalons; umfasst Cerebellum und Pons. Migräne: Art von Kopfschmerz, die ziehend und lang andauernd ist und häufig unilateral auftritt. Ihr kann eine visuelle Aura vorausgehen, von der man glaubt, dass sie Folge einer Ischämie des Occipitalcortex ist, die durch eine Verengung von Gehirnarterien verursacht wird. migränebedingter Schlaganfall: Starke Verengung eines Hirngefäßes und dadurch verursachte Unterbindung der Blutzufuhr zu einer cortikalen Region. Ist diese Konstriktion ausgeprägt genug und dauert sie länger als einige Minuten, kann es zum Absterben von Nervenzellen und zu einem Infarkt kommen. Mitochondrien: Komplex gebaute Zellorganellen, die durch eine Reihe spezieller biochemischer Vorgänge die Zelle mit Energie versorgen. Kernspin- magnozelluläre Schicht: Schicht aus Neuronen mit großem Zellkörper. Siehe auch parvozelluläre Schicht. Massa intermedia: Masse grauer Substanz, die den linken und rechten Thalamus miteinander verbindet. Massenaktionshypothese: Gemäß dieser Hypothese nimmt der gesamte Neocortex an jeder Verhaltensweise teil. Medulla oblongata (verlängertes Mark): Der Teil des Hinterhirns rostral vom Rückenmark. Medulloblastom: Hochmaligner Gehirntumor, der ausschließlich im Cerebellum Kindern gefunden wird; geht Vorläuferzellen hervor, die Cerebellum eingewandert sind. fast von aus ins Meningen: Die drei Hirnhäute (Dura mater, Arachnoidea und Pia mater), die Gehirn und Rückenmark umhüllen. Meningitis: Entzündung der Hirnhäute. Mittelhirn: Gehirnteil zwischen dem Vorderhirn und dem Hinterhirn; umfasst Tectum und Tegmentum. Modul: Siehe Säule. Monoamine: Gruppe von Neurotransmittern, zu denen Noradrenalin und Dopamin gehören. monokulare Blindheit: Blindheit eines Auges, die durch eine Zerstörung der Retina oder des Sehnervs verursacht wird. monokulare Deprivation: Künstlicher Verschluss eines Auges zur Verhinderung visueller Stimulation. Morphem: Kleinste bedeutungsvolle Einheit der Sprache. motorische Aphasie: Störung, bei der die Person nicht in der Lage ist, angemessene Bewegungen mit Mund und Zunge zu machen, um Wörter zu formen; sie ist eine Form der nichtflüssigen Aphasie. Der Begriff steht im Gegensatz zur flüssigen Aphasie, bei der Sprache fließend gesprochen wird, aber inhaltsleer ist. ____________________________________________________________________________________________ 156 Brain Modelling motorisches Programm: Hypothetischer neuronaler Kreislauf, der so organisiert ist, dass eine ganz bestimmte Bewegungsart ermöglicht wird, zum Beispiel das Gehen. multimodaler Cortex: Cortex, der Informationen in mehr als einer sensorischen Modalität verarbeitet, beispielsweise visuelle und auditorische Informationen. Multiple Sklerose (MS): Krankheit unbekannten Ursprungs, die sich durch Demyelinisierung ganzer Gebiete des Zentralnervensystems auszeichnet. Dies kann sowohl zu motorischer Schwäche als auch zu Koordinationsstörungen führen, es kann aber auch zu Sprechstörungen und manchmal zu weiteren kognitiven Symptomen kommen. Myasthenia gravis: Zustand der Muskelermüdung und Schwäche ohne gleichzeitige sensorische Störungen oder Atrophie. Sie ist Folge einer verminderten Verfügbarkeit von Acetylcholin an den Synapsen. Myelencephalon: Teil des Rhombencephalons; umfasst die Medulla oblongata (verlängertes Mark) und den vierten Ventrikel. Myelinisierung: Bildung von Myelinscheiden um die Axone; wird manchmal als Maß für den Reifungszustand verwendet. Narkolepsie: Zustand, bei dem eine Person ein plötzliches und unkontrollierbares Bedürfnis nach kurzen Schlafepisoden hat. natürliche Selektion: Konzept der Evolutionstheorie, das besagt, dass Tiere mit ganz bestimmten adaptiven Eigenschaften in einer bestimmten Umwelt überleben und ihre genetischen Charakteristika an ihre Nachkommen weitergeben, wohingegen Tiere, die diese Eigenschaften nicht besitzen, schließlich aussterben. Neglectdyslexie: Leseschwäche, die sich gewöhnlich auf eine Hälfte eines Wortes beschränkt. Nekrose: Neocortex: Zell- oder Gewebetod. Damit bezeichnet man gewöhnlich das Absterben von einzelnen Zellen oder Zellgruppen in kleinen lokalisierten Arealen. Jüngster Teil des Cortex. Er besteht aus vier bis sechs Zellschichten. Der Begriff wird im Text synonym zu "Cortex" verwendet. Nervenwachstumsfaktor (NGF): Protein, das unter anderem beim Wachstum der Fortsätze der Nervenzelle eine Rolle spielt. neuritische Plaques: Gebiete unvollständiger Nekrose, die man häufig im Cortex von Menschen mit seniler Demenz, zum Beispiel bei Alzheimer-Patienten, beobachten kann. Neuroblasten: Sammelbezeichnung embryonalen Zellen, Neuronen entwickeln. neuroendokrin: Bezeichnet die Interaktion des Nervensystems mit dem endokrinen System. neurohumoral: Allgemeiner Begriff, der sich auf die Aus- beziehungsweise Einwirkung von Hormonen auf das Gehirn bezieht. Neuroleptika: Arzneimittel, die den zentralnervösen Grundtonus herabsetzen, generell die psychomotorische Aktivität hemmen und zur Behandlung von Psychosen (vor allem von Schizophrenie) eingesetzt werden. Neuron: Die grundlegende Einheit des Nervensystems, nämlich die Nervenzelle. Deren Funktion besteht in der Übertragung und Speicherung von Informationen. Dazu gehören der Zellkörper und viele Fortsätze (Dendriten), die Signale zum Zellkörper leiten, sowie ein Axon, in dem Signale von der Zelle aus weiterlaufen. Neuronenhypothese: Die Vorstellung, dass die funktionale Einheit des Gehirns Neuronen sind. Neurotoxin: Jede Substanz, die das Nervensystem schädigt oder zerstört (zum Beispiel 6Hydroxydopamin). Neurotransmitter: Chemischer Stoff, der an der Synapse als Reaktion auf ein Aktionspotential ausgeschüttet wird und über Interaktion mit dem postsynaptischen Rezeptor das Ruhepotential der nachgeschalteten Zelle verändert; es findet somit eine chemische Übertragung von Information von einem Neuron auf das andere statt. Siehe auch erregende Neurotransmitter, hemmende Neurotransmitter, biogene Amine, Catecholamine. Neuropsychologie: Studium der Zusammenhänge zwischen Gehirnfunktion und sogenannten höheren Verhaltensweisen. nichtflüssige Aphasie: Schwierigkeiten beim Sprechen als Folge einer Gehirnschädigung, insbesondere des Frontallappens in der sprachdominanten Hemisphäre. Nissl-Substanz: Gesamtheit des endoplasmatischen Reticulums einer Zelle; lässt sich mit basischen Farbstoffen anfärben. noradrenerge Neuronen: Neuronen, die Noradrenalin als Neurotransmitter verwenden. Nucleus: Zellkern, der die DNA enthält und für die Zellfunktion unentbehrlich ist. In der Hirnforschung bezeichnet Nucleus außerdem eine Gruppe von Nervenzellen. Nucleus caudatus: Ein Kern der Basalganglien. Nucleus ruber: Ein Kern im anterioren Teil des Tegmentums, der Ursprung einer wichtigen motorischen Projektion ist. für alle die sich zu ___________________________________________________________________________________ Begriffe aus der Neurowissenschaft 157 Nystagmus: Permanente kleine Augenbewegungen, die unwillkürlich auftreten und viele Ursachen haben können. Oberflächendyslexie: Die Unfähigkeit, Wörter aufgrund ihrer piktographischen oder graphemischen Repräsentation zu lesen bei Verbleib der Fähigkeit, Wörter aufgrund phonologischer Prozeduren zu lesen. obstruktive Schlafapnoe: Konstriktion der Luftwege im Schlaf, die zu einem zeitweisen Atemstillstand führt; vermutlich eine wichtige Ursache des Schnarchens. Objektkonstanz:Wahrnehmungseigenschaft, die dazu führt, dass wir ein Objekt als Einheit wahrnehmen. Occipitallappen: Hinterhauptslappen; einer der vier Lappen jeder Cortexhälfte. Olfaktion: Perseveration: Tendenz, auf verschiedene Reize unflexibel und immer gleichartig zu reagieren. Perzeption: petit mal-Anfall: Krampfanfall, der sich durch einen kurzen Bewusstseinsverlust äußert und bei dem außer Kopfdrehen oder Augenzwinkern keine motorische Aktivität zu beobachten ist (typischerweise dauert er etwa zehn Sekunden). Siehe auch Epilepsie. Phenothiazine: Gruppe von Beruhigungsmitteln (zum Beispiel Chlorpromazin), die in ihrer molekularen Struktur der Substanz Phenothiazin ähneln. Pheromon: Von einem Individuum produzierte Substanz, die (als Geruch) von einem zweiten Individuum derselben Spezies wahrgenommen wird und bei diesem eine bestimmte Verhaltensreaktion auslöst; wirkt innerhalb einer Spezies als chemischer Signalstoff. phonologisch: Der Begriff bezieht sich auf einen Laut und betont die Rolle der Lautgebung bei der Decodierung der Wortbedeutung. Riechen. optische Ataxie: Störung bei der visuellen Kontrolle von Greif- und anderen Bewegungen, verbunden mit gestörten Augenbewegungen. orbitofrontaler Cortex: Der hinter den Augenhöhlen liegende Cortex. Er enthält Projektionen vom Nucleus dorsalis medialis des Thalamus. Paläocortex: Der Teil der Cortex, der den pyriformen Cortex und den Gyrus parahippocampalis bildet; auch Paläopallium genannt. paralimbischer Cortex: Dreischichtiges Cortexareal, das an den limbischen Cortex angrenzt und mit diesem direkt verbunden ist; er schließt zum Beispiel den cingulären Cortex ein. Paraphasie: Die unbeabsichtigte Bildung von Silben, Wörtern oder Sätzen während des Sprechens. Paraplegie: Lähmung der Beine aufgrund einer Schädigung des Rückenmarks. Parese: Allgemeiner Ausdruck, der einen Verlust physischer oder mentaler Fähigkeit bezeichnet und auf eine Gehirnkrankheit zurückzuführen ist, insbesondere als Folge einer Syphilis; wird auch als Ausdruck für eine leichte oder unvollständige Paralyse verwendet. Parkinson-Krankheit: Krankheit des motorischen Systems, die mit einem Dopaminverlust im Gehirn einhergeht und durch Tremor, Muskelsteifheit und Beeinträchtigung der Willkürmotorik charakterisiert ist. parvozelluläre Schicht: Schicht aus Neuronen mit kleinem Zellkörper. Siehe auch magnozelluläre Schicht. periphere Nerven: Nerven, die außerhalb Rückenmark und Gehirn liegen. von Wahrnehmung. Sie beruht auf der Integration von Informationen jenseits der primären sensorischen Areale. phonologisches Lesen: Lesevorgang, der auf der Aussprache von Wortteilen basiert. Siehe auch Lesen durch Buchstabieren. Phrenologie: Verworfene Theorie aus dem frühen 19. Jahrhundert, die eine Beziehung zwischen der Oberflächenstruktur des Schädels und mentalen Fähigkeiten postulierte. Pia mater: Die der Hirn- und Rückenmarkoberfläche unmittelbar auf1iegende, zarte Bindegewebshülle. Pinealorgan: Asymmetrische Struktur im Epithalamus, von der Descartes annahm, sie sei der Sitz der Seele; heute weiß man, dass das Pinealorgan an der zirkadianen Rhythmik beteiligt ist. Planum temporale: Das cortikale Gebiet, das unmittelbar posterior an den primären auditorischen Cortex (Heschlscher Gyrus) angrenzt und innerhalb der Fissura lateralis liegt. Plastizität: Die Fähigkeit des Gehirns, sich zu reorganisieren und ausgefallene Funktionen auf verschiedene Weise zu kompensieren. Platzfindungsaufgabe Aufgabe: bei der ein Tier einen Platz auffinden muss, den es nicht sehen kann, der aber durch die Kombination zweier oder mehrerer Reize aus der Umgebung identifiziert werden kann. platzgesteuertes Verhalten: Navigationsverhalten, bei dem ein Tier sich anhand seiner Position relativ zu mehreren Markierungen in der Umgebung zu einem Ziel hin bewegt. Siehe auch positionsgesteuertes Verhalten, signalgesteuertes Verhalten. ____________________________________________________________________________________________ 158 Brain Modelling Poliomyelitis: Akut auftretende Viruserkrankung, die das Nervensystem in Mitleidenschaft zieht und möglicherweise zu Lähmungen führt. Sie kann zu einer Atrophie der betroffenen Muskeln und dadurch zu einer dauernden Schädigung führen. Pons: Teil des Hinterhirns; im großen und ganzen aus motorischen Fasersystemen zusammengesetzt, die zum Cerebellum und zum Rückenmark führen. positionsgesteuertes Verhalten: Navigatorisches Verhalten, bei dem ein Tier sich auf der Grundlage der Bewegungen, die es zuvor bereits einmal ausgeführt hat (zum Beispiel nach links/nach rechts), zu einem Ziel hin bewegt. Siehe auch signalgesteuertes und platzgesteuertes Verhalten. Positronenemissionstomographie (PET): Bildgebendes Verfahren, bei dem der Versuchsperson eine radioaktiv markierte Substanz verabreicht wird, die im Gehirn metabolisiert wird; durch besondere Detektoren kann die Radioaktivität aufgezeichnet werden. posterior-parietaler Cortex: Unspezifische Bezeichnung für das Gewebe hinter den primären somatosensorischen Feldern. Der posterior-parietale Cortex schließt die Areale PE, PF und PG ein. postsynaptische Membran: Die Membran der signalempfangenden Zelle, die, in Richtung des Signalflusses betrachtet, hinter dem synaptischen Spalt liegt. präsynaptische primärer motorischer Cortex: Region des Neocortex, die der Brodmannschen Area 4 entspricht; bildet den wichtigsten Ursprung des Tractus corticospinalis. primäre cortikale Felder Siehe primäre Zonen. primäre Zonen Cortexareale, die als erste Projektionen von sensorischen Systemen erhalten oder direkt zu Muskeln projizieren. primäres Projektionsgebiet: Gehirnareal, in das eine andere Gehirnregion ihre Axone schickt. Fast jedes Areal projiziert in fast jedes andere Areal. Es ist nur eine Frage wie viele Fasern tatsächlich projizieren. propriozeptiv: Bezeichnung für die sensorischen Informationen aus Muskeln, Sehnen und Eingeweiden. Projektionskarten: Kartographierung des Cortex durch Aufzeigen der Axonverbindungen von sensorischen Systemen in das Gehirn hinein und motorischen Systemen aus dem Gehirn heraus. Prosencephalon: Vorderhirn; Umschreibung für das vorderste der drei embryonalen Gehirnbläschen, das sich schließlich zum Telencephalon und Diencephalon entwickelt. Prosodie: posttraumatische Psychose: Psychotische Reaktion als Folge eines Schädel-Hirn- Traumas. bevorzugter kognitiver Verarbeitungsstil: Die Anwendung eines gedanklichen Prozesses, der einem anderen vorgezogen wird, zum Beispiel eine bevorzugte visuell-räumliche Analyse anstatt einer verbalen. präfrontaler Cortex: Der anterior von den primären und sekundären motorischen Cortexarealen liegende Cortex; es handelt sich um den tertiären Assoziationscortex. Prägungsaufgabe: Eine Aufgabe, bei der die Versuchspersonen Informationen erhalten, die ihr weiteres Verhalten beeinflussen, an die sie sich jedoch nicht unbedingt bewusst erinnern werden. Zeigt man einer Versuchsperson beispielsweise eine Liste mit Wörtern, so wird sie danach eher Wörter verwenden, die in dieser Liste enthalten waren, als andere, die sich ebenfalls eignen würden. prämotorischer Cortex: Unmittelbar vor dem motorischen Cortex liegender Cortexbereich. Der prärnotorische Cortex schließt mehrere funktionale Regionen ein, darunter den supplementärmotorischen Cortex und das Brocasche Areal. Membran: Die Membran des signalübermittelnden Neurons, die unmittelbar an den synaptischen Spalt angrenzt. Variation in Geschwindigkeit, Tonhöhe und Rhythmus der Sprache. Dadurch erhält Gesprochenes zusätzliche Bedeutung. Prosopagnosie: Unfähigkeit, bekannte Gesichter zu erkennen, die sich nicht aus einer Störung der Sehschärfe oder einer Reduktion der Vigilanz erklären lässt. Dieses Symptom tritt in einer "reinen" Form sehr selten auf. Man glaubt, dass es eine Folgestörung rechts parietaler Läsionen ist. proximal: In der Nähe eines Referenzpunktes. prozedurales Gedächtnis: Gedächtnis dafür, wie man bestimmte Dinge tun oder bestimmte Bewegungen ausführen kann. Man nimmt an, dass diese Gedächtnisform vom deklarativen Gedächtnis unabhängig ist. Pseudodepression: Persönlichkeitszustand, der nach Läsionen im Frontallappen auftritt und durch Apathie, Gleichgültigkeit und Antriebsarmut gekennzeichnet ist, aber nicht von einer Depression des Patienten begleitet wird. Pseudopsychopathie: Zustand nach einer Frontallappenschädigung, der durch unreifes Verhalten, mangelndes Taktgefühl und andere Verhaltenssymptome gekennzeichnet ist. ___________________________________________________________________________________ Begriffe aus der Neurowissenschaft 159 psychedelische Droge: Eine Droge die visuelle Halluzinationen, eine intensivierte Wahrnehmung und manchmal psychotisches Verhalten induziert. psychoaktive Substanz: Substanz, welche die Stimmung oder das Verhalten verändert, indem sie die Gehirnfunktion beeinflusst. Psychochirurgie: Operative Eingriffe zur Durchtrennung von Faserverbindungen zwischen zwei Hirngebieten oder Zerstörung von Hirngewebe mit dem Ziel, Verhaltensstörungen, psychotische Gedankengebäude oder Gemütszustände zu verändern, für die keine organischpathologische Ursache nachgewiesen werden kann. (Das bekannteste Beispiel ist die Lobotomie.) Psychometrie: Die Wissenschaft der menschlicher Fähigkeiten. Pulvinar: räumliche Summation: Addition oder Subtraktion zweier benachbarter postsynaptischer Potentiale. Siehe auch zeitliche Summation. Rautenhirn: Siehe Rhombencephalon Reafferenz: Signalübertragung aus einer Gehirnregion in eine andere, wodurch die letztere über die Aktivitäten der ersteren informiert wird. Insbesondere wird dieses Prinzip genutzt, um vom motorischen System ein Signal über gerade ausgeführte Bewegungen an das sensorische System zu senden. Messung psychoorganisches Syndrom: Allgemeiner Ausdruck für Verhaltensstörungen, die sich aus Fehlfunktionen des Gehirns herleiten. Psychose: Radioisotopuntersuchung: Untersuchung, bei der man dem Patienten ein Radioisotop injiziert und anschließend einen Geiger-Zähler über die Schädeloberfläche führt, um eventuell vorhandene Tumoren, vaskuläre Störungen, Atrophien und ähnliches zu diagnostizieren. Störung organischen oder emotionalen Ursprungs, bei der die Fähigkeit eines Individuums, zu denken, emotional zu reagieren, sich zu erinnern, zu kommunizieren, die Realität zu interpretieren und sich angemessen zu verhalten, so stark beeinträchtigt ist, dass sie den normalen Anforderungen des Lebens nicht mehr genügt. Der Begriff wird auf Zustände angewandt, die verschiedene Schweregrade haben können und verschieden lange anhalten (zum Beispiel Schizophrenie und Depression). Thalamischer Kern, der Projektionen vom visuellen Cortex und vom Colliculus superior erhält und seinerseits Verbindungen zu sekundären und tertiären, temporalen und parietalen Cortexbereichen aufrechterhält. Reafferenztheorie: Theorie, die besagt, dass bei der Initiierung einer Bewegung eine "Kopie" der beabsichtigten Bewegung im Nervensystem gespeichert bleibt, mit der dann die tatsächlich durchgeführte Bewegung verglichen wird. realer Raum: Der Raum, den man sieht, wenn man um sich blickt; dreidimensionaler Raum. Regeneration: Nachwachsen von Neuronen nach teilweiser Zerstörung oder nach Trauma. Reifungshypothese: Entsprechend dieser Hypothese sind zunächst beide Hemisphären am Spracherwerb involviert; allmählich über nimmt aber die linke Hemisphäre die Sprachkontrolle. retikuläre Substanz: Netzartig erscheinendes Gewebe des Gehirns, in dem Zellkörper und Axone stark vermischt sind. Pyramidenbahn: Faserzug von den Pyramidenzellen der V. und VI. Schicht des motorischen Cortex zum Rückenmark. Retikulärformation: Mischung von Nervenzellen und Fasern im unteren und ventralen Anteil des Hirnstamms; sie zieht sich vom Rückenmark bis zum Thalamus hin und ist Ursprung wichtiger auf- und absteigender Systeme; auch bekannt als retikuläres Aktivierungssystem. Pyramidenzellen: Zellen des Cortex, deren Zellkörper eine Pyramidenform aufweist. In den meisten Fällen übertragen sie Informationen in andere cortikale Felder. retrograde Amnesie: Unfähigkeit, sich an Ereignisse zu erinnern, die sich vor Beginn des Gedächtnisverlustes zutrugen. Siehe auch anterograde Amnesie. pyriformer Cortex: Entwicklungsgeschichtlich alter Cortex, der olfaktorische Funktionen hat. rezeptives Feld: Das Areal, von dem aus ein Reiz einen Rezeptor erregen kann. Ranvierscher Schnürring: Myelinfreie Abschnitte eines ansonsten myelinisierten Axons. Der Nervenimpuls "springt" von einem dieser "Schnürringe" zum nächsten. Dadurch wird die Leitungsgeschwindigkeit erhöht. Rezeptor: Putamen: Ein Kern der Basalganglien. Protein in der Zellmembran, an das andere Moleküle spezifisch binden können. reziproke Hemmung: Aktivierung einer Muskelgruppe, bei gleichzeitiger Hemmung der Antagonisten. Rhinencephalon: Anderer Ausdruck für limbisches System; bedeutet auch "Riechhirn". ____________________________________________________________________________________________ 160 Brain Modelling Rhombencephalon: Auch Rautenhirn; Der am weitesten posterior gelegene Teil des embryonalen Gehirns, der sich in Metencephalon und Myelencephalon aufteilt. RNA: Ribonucleinsäure; Komplexes Makromolekül aus einer Folge von Nucleotidbasen, die an einem ZuckerPhosphat-Rückgrat aufgehängt sind. Messenger-RNA (mRNA) überträgt die genetische Information aus einem Teil der DNA an ein Ribosom (das hauptsächlich aus ribosomaler oder rRNA besteht), wo die durch entsprechende Überträgermoleküle (Transfer- oder tRNA) angelieferten Aminosäuren zu dem Polypeptid zusammengefügt werden, das von dem betreffenden DNA-Stück codiert wird. Röntgenkontrastuntersuchung: Radiographisches Verfahren, bei dem zu diagnostischen Zwecken Röntgenkontrastmittel oder Luft in die Ventrikel oder die das Gehirn versorgenden Arterien injiziert wird. Rückenmark: Der von der Wirbelsäule eingeschlossene Teil des Zentralnervensystems. Rückziehreflex: Zurückziehen einer Gliedmaße als Reaktion auf einen Reiz, der Bahnen des Schmerz- oder Temperaturempfindens aktiviert. Der Reflex wird durch einen multisynaptischen Schaltkreis im Rückenmark vermittelt. Ruhepotential: Elektrische Spannung zwischen der Innen- und der Außenseite der Membran einer Nervenzelle im Ruhezustand. Sie variiert je nach Tierart zwischen 60 und 90 Millivolt. saltatorische Weiterleitung: Weiterleitung eines Nervenimpulses in einem myelinisierten Axon. Sie ist charakterisiert durch das "Springen" von einem Ranvierschen Schnürring zum nächsten. Schlafapnoesyndrom: Schlafstörung, bei der die Betroffenen mit der Atmung aussetzen, wenn sie in die Tiefschlafphase übergehen; beruht möglicherweise auf einer Muskelentspannung während des Traumschlafs. Schlaganfall: Schwannsche Zelle: Gliazelle, die im peripheren Nervensystem die Myelinhüllen bildet. Schwelle: Der Punkt, an dem ein Reiz zu einer Reaktion führt. Scotom: Kleiner blinder Fleck im Gesichtsfeld. Second messenger: Diffusionsfähige Moleküle, die eine Vielzahl von Zellbestandteilen beeinflussen können, darunter auch Ionenkanäle. Wenn ein Transmitter an einen postsynaptischen Rezeptor bindet, bewirkt ein weiteres Protein, das auf der cytoplasmatischen Seite an den Rezeptor gebunden ist (ein sogenanntes GProtein), die Bildung von Secondmessenger-Molekülen. Sedativum: Hypothetische Einheit der Cortexorganisation. Man nimmt an, dass eine Säule vertikale intracortikale Verknüpfungen repräsentiert und somit vermutlich einer einzelnen funktionalen Einheit (einem "Modul") entspricht. Schädel-Hirn-Trauma: (cerebrales Trauma) Gehirnverletzung, die gewöhnlich von einem Gehirnschlag beziehungsweise mechanischer Gewalteinwirkung auf den Kopf herrührt. Schizophrenie: Psychose, die durch Störungen kognitiver Funktionen und geringe soziale Anpassung gekennzeichnet ist und auf Fehlfunktionen des Gehirns basiert. Der Begriff bezeichnet im wörtlichen Sinne ein Gespaltensein von Denken und emotionalen Vorgängen. Schlafapnoe: Substanz, welche die neurale und somit auch die Verhaltensaktivität herabsetzt, indem sie entweder die Noradrenalinwirkung abschwächt oder die GABA-Wirkung verstärkt. sekundärer Cortex: Cortex, der sich, wie Flechsig entdeckte, nach den primären motorischen und den sensorischen Regionen entwickelt. Luria schlug vor, dass der sekundäre Cortex an der Wahrnehmung (sekundärer sensorischer Cortex) und an der Bewegungskontrolle (sekundärer motorischer Cortex) beteiligt sind. Sehbahn: Savant-Syndrom: Retardierung, bei gleichzeitig besonderen, manchmal normalen TeilFähigkeiten. Säule: Das plötzliche Auftreten neurologischer Symptome als Resultat einer Unterbrechung der Hirndurchblutung. sekundäre Ein Fasersystem, das mit den Projektionen der retinalen Ganglienzellen zum Corpus geniculatum laterale des Thalamus beginnt und von dort aus zu den Arealen 17, 18, 19, 20 und 21 reicht. Man unterscheidet für Form, Farbe und Bewegung 3 verschiedene Sehbahnen. Projektionsgebiete: Cortexareale, die Projektionen von einem primären Projektionsareal erhalten oder dorthin senden. Sensitivierung: Zustand, in dem zum Beispiel ein Pharmakon eine stärkere Verhaltensreaktion bewirkt als sonst. Neglect: Ein Zustand, in dem ein Individuum auf Sinnesreize nicht reagiert. Septum: Ein Kern des limbischen Systems, der, wenn er zerstört wird, bei Ratten zu Pseudowutanfällen führt und im EEG den Theta-Rhythmus zum Verschwinden bringt. Aussetzen der Atmung beim Übergang in den Tiefschlaf. ___________________________________________________________________________________ Begriffe aus der Neurowissenschaft 161 signalgesteuertes Verhalten: Navigatorisches Verhalten, bei dem ein Tier anhand seiner eigenen Position relativ zu einer Markierung eine bestimmte Stelle im Raum ansteuert; steht im Gegensatz zu platz- oder positionsgesteuertem Verhalten. Stäbchen: Simultanagnosie: Symptom, bei dem die Betroffenen nicht mehr als ein Objekt zu einem gegebenen Zeitpunkt wahrnehmen können. Siehe auch Agnosie. Lichtempfindliche Rezeptoren in der Retina, die Rhodopsin enthalten; zusammen mit den Zapfen bilden sie die rezeptive Oberfläche der Retina. Stereognosie: Das Erkennen eines Objektes durch Tasten. Sternzellen: Nervenzellen mit einer sternförmigen Struktur von Zellkörper und Dendriten. Sie dienen hauptsächlich als Assoziationszellen, wobei ihre Ausläufer in der Regel auf die nähere Umgebung des Zellkörpers begrenzt bleiben. Simultanextinktion: Zweite Stufe der Erholung nach einem kontralateralen Neglect; sie ist durch Reaktionen auf Reize der zuvor vernachlässigten Seite charakterisiert, wobei auf die Reize so reagiert wird, als gäbe es eine simultane Stimulation auf der kontralateralen Seite. Sinneszelle: Spezialisierte Zelle, welche die Reizenergie eines geeigneten Stimulus in elektrische Energie, also in die "Sprache" des Nervensystems, umwandelt. slow-wave sleep: Schlafstadium, das durch langsame Wellen mit großer Amplitude im EEG gekennzeichnet ist. Soma: Zellkörper spreading depression: Ausbreitung einer Depolarisationswelle über die Cortexoberfläche, was zu einer zeitweisen Blockierung der Cortexfunktionen führt. Stimulusgradient: Ein Gradient, mit dem die Effizienz eines Reizes zu- oder abnimmt; beispielsweise werden Gerüche stärker empfunden, je näher sich die Geruchsquelle befindet. Substantia nigra: Ein Nucleus des Mittelhirns, der Zellkörper enthält, deren Axone dopaminhaltig sind. Frisch aufbereitetes menschliches Gewebe dieser Region sieht schwarz aus. somatische Muskeln: Skelettmuskulatur. Sulcus: somatosensorisches System: Neurales System, das taktile Sinnesempfindungen ermöglicht; vermittelt unter anderem Tastsinn, Kinästhesie, Schmerz und Propriozeption. somatosensorische Zone: Jene Gehirnregion, die für eine Analyse von Empfindungen, Berührung, Druck und möglicherweise auch Schmerz und Temperatur zuständig ist. Somnolenz: Schläfrigkeit; exzessive Müdigkeit. Schmaler Spalt zwischen den Windungen (Gyri) des Cortex. Sulcus centralis: Fissur, die vom dorsalen Rand jeder Hemisphäre bis etwa zu ihrem Mittelpunkt führt; sie trennt Frontal- und Parietallappen voneinander und wird auch Fissura Rolandi genannt. Sulcus cinguli: Cortikaler Sulcus an der medialen Oberfläche der bei den Großhirnhemisphären, direkt über dem Corpus callosum. spannungsgesteuerter Kanal: Enge Öffnung der Membran einer Nervenzelle, die durch Änderungen des Membranpotentials geöffnet oder geschlossen wird. Siehe auch Ionenkanal. supplementär-motorischer Cortex: Verhältnismäßig kleine Cortexregion, die außerhalb des primären motorischen Cortex liegt, die aber auch Bewegungen erzeugt, wenn sie gereizt wird. SPECT (single-photon emission computed tomography): Ein bildgebendes Verfahren, bei dem man einer Versuchsperson eine radioaktiv markierte Substanz (etwa Glucose) injiziert, die im Gehirn metabolisiert wird. Die Radioaktivität wird danach durch besondere Detektoren festgestellt. Die Methode ist der Positronenemissionstomographie (PET) ähnlich, hat aber ein geringeres Auflösungsvermögen. Demgegenüber steht der Vorteil, dass zur Herstellung der Isotope kein Zyklotron benötigt wird. symptomatische Krämpfe: Krampfartige Entladungen, die mit spezifischen Symptomen verbunden sind, welche wiederum helfen können, den Ursprungsort der Entladungen zu lokalisieren. Split-Brain-Patient: Person, der zur Linderung schwerer epileptischer Krämpfe das Corpus callosum durchtrennt wurde. Synapse: synaptische Kontaktstelle zwischen zwei Nervenzellen oder zwischen Neuron und Muskelzelle. Vesikel: Kleine Vesikel, die in elektronenmikroskopischen Bildern von Endknöpfchen sichtbar werden. Sie enthalten Neurotransmitter. synaptischer Spalt: Raum zwischen dem Endknöpfchen eines Neurons und der Zelle, mit der es Kontakt aufnimmt. Spongioblasten: Unreife Zellen, die sich zu Gliazellen entwickeln. ____________________________________________________________________________________________ 162 Brain Modelling Synästhesie: Syntax: Fähigkeit, einen Reiz, der einem bestimmten Sinn dargeboten wird, mit einem anderen Sinn wahrzunehmen, beispielsweise, wenn ein Geräusch eine Farbempfindung hervorruft. Art und Weise, wie Wörter den grammatikalischen Regeln entsprechend zu Sätzen zusammengestellt werden; wird als ein für die menschliche Sprache einzigartiges Merkmal betrachtet. tectopulvinares System: Teil des visuellen Systems. Es dient dazu, visuelle Reize zu lokalisieren. Es beinhaltet den Colliculus superior, den posterioren Thalamus und die Areae 20 und 21. Tectum: Tegmentum: Mittelhirngebiet, das oberhalb des Aquaeductus cerebri liegt. Es enthält das obere und untere Hügelpaar (Colliculi), die zusammen für Bewegungen des ganzen Körpers als Reaktion auf visuelle und auditorische Reize zuständig sind. Mittelhirngebiet unterhalb des Aquaeductus cerebri. Es enthält sensorische und motorische Fasersysteme und eine Anzahl von Kernen. Telencephalon: Ausdruck für das Endhirn. Es umfasst den Cortex, die Basalganglien, das limbische System und die Riechkolben (Bulbi olfactorii). Telodendrien: Feine Endverzweigungen eines Axons. tertiäres Projektionsgebiet: Cortexgebiet, das Projektionen von einem sekundären Projektionsareal erhält oder dorthin Signale sendet. Siehe auch Assoziationscortex. Thalamus: Kerngruppe im Diencephalon. Der Thalamus ist ein wichtiges Schaltzentrum für Impulse, die zum Endhirn gesendet werden (oder dieses verlassen). topographische Desorientierung: Konfusion bezüglich der eigenen Position im Raum. topographische Karten: Kartographische Erfassung des Neocortex, die verschiedene Merkmale, Projektionen, Zellverteilung und ähnliches ausweist. Tourette-Syndrom: Krankheit, die durch unwillkürliche Bewegungen von Körperteilen, die unwillkürliche Aussprache von Wörtern und das Hervorstoßen von Lauten gekennzeichnet ist. Tractus: Tractus corticospinalis: Faserbündel zwischen dem cerebralen Cortex und dem Rückenmark (Pyramidenbahn). Tractus perforans: Verbindung zwischen entorhinalem Cortex und Hippocampus. Wichtig für das Gedächtnissystem. Tractus rubrospinalis: Faserzug vom Nucleus ruber zum Rückenmark; an der Kontrolle der Gliedmaßenbewegungen beteiligt. transcortikale Aphasie: Eine Aphasie, bei der die Betroffenen Wörter verstehen und wiederholen und Objekte benennen können, jedoch nicht spontan sprechen können. transiente globale Amnesie: Kurzzeitige neurologische Störung, charakterisiert durch Gedächtnisverlust; kann auf vorübergehende Ischämie-Perioden zurückgehen. transiente Ischämie: Vorübergehende mangelhafte Blutversorgung eines bestimmten Gehirnareals. Transmitter: Siehe Neurotransmitter. transneuronale Degneration: Degeneration einer Nervenzelle, die mit einer zerstörten Nervenzelle direkt oder über wenige Synapsen hinweg in Kontakt steht. Die Durchtrennung des Sehnervs beispielsweise führt zur Degeneration der Zellen des Corpus geniculatum laterale. Traumschlaf: Schlafzustand, in dem die Muskulatur paralysiert und der sensorische Input zum Gehirn blockiert ist, in dem das Gehirn eine Aktivität wie im Wachzustand aufweist und währenddessen intensiv geträumt wird, REM-Schlaf. Thermoregulation: Die Fähigkeit, die Körpertemperatur zu regulieren. Theta-Rhythmus: Rhythmus im Elektroencephalogramm mit einer Frequenz von 4 bis 7 Hz. Thrombose: Verstopfung eines Blutgefäßes durch ein Blutgerinnsel. Tiefendyslexie: Lesestörung, die auf große Läsionen der sprachdominanten Hemisphäre folgt. Sie ist durch ganz bestimmte Fehlerarten charakterisiert, die nahelegen, dass der Lesevorgang durch die nichtdominante Hemisphäre vorgenommen wird. topographische Agnosie: Unfähigkeit, die typischen Merkmale von Plätzen oder Gebäuden wahrzunehmen. Objektklassen wie Hügel, Gebäude und so weiter werden aber noch erkannt. unilateraler visueller Neglect: Neglect aller sensorischen Ereignisse einer oder mehrerer Modalitäten, vorausgesetzt, dass die Reizung auf eine "Hälfte der Welt" (definiert durch die Zentralachse des Körpers) begrenzt ist. Ventrikel: topographische Amnesie: Die Unfähigkeit, sich an den Ort von Dingen oder Plätzen zu erinnern. Große Ansammlung von Axonen innerhalb des Zentralnervensystems. Faserzug. Die Hohlräume des Gehirns. enthalten Cerebrospinalflüssigkeit. Sie ___________________________________________________________________________________ Begriffe aus der Neurowissenschaft 163 ventromediales System: Eine von zwei großen Fasergruppen des motorischen Systems. Das ventromediale System besteht aus dem Tractus vestibulospinalis, dem Tractus reticulospinalis und dem Tractus tectospinalis, die im Hirnstamm entspringen. Außerdem enthält es den Tractus corticospinalis ventralis, der dem Neocortex entstammt. Verhaltenskompensation: Mechanismus der Erholung von Gehirnverletzungen, wobei das Verhalten derart modifiziert wird, dass es die verlorenen Funktionen ersetzen kann. Das neu erworbene Verhalten entspricht nicht dem zuvor vorhandenen, und auch die Gehirnregion, die dieses Verhalten vermittelt, ist nun eine andere. visuelle Agnosie: Unfähigkeit, visuelle Eindrücke zu vollständigen Mustern zusammenzufügen; daraus resultiert die Unfähigkeit, Objekte zu erkennen, zu verwenden, zu zeichnen oder abzuzeichnen. Wernicke-Aphasie: Unfähigkeit, Sprache zu verstehen oder sinnvolle Sprache zu formulieren. Sie folgt auf Läsionen des posterioren Cortex. Siehe auch Broca-Aphasie. Wernickesches Areal: Der posteriore Teil des superioren temporalen Gyrus (etwa Area 22). Siehe auch Brocasches Areal. Willkürbewegung: Jede Bewegung, die ein Tier beispielsweise von einer Stelle an eine andere bringt. Sie kann durch sensorischen Input auf einer niedrigen Ebene des sensorischen Systems ausgelöst und durch ebenfalls auf niedriger Ebene angesiedelte Haltungs- und Reflexsysteme ausgeführt werden. Auch als appetitive, instrumentelle, zielgerichtete oder operante Bewegung bezeichnet. Wortsalat: Ausdruck, der zur Kennzeichnung einer flüssigen Aphasie verwendet wird. Dabei werden zwar sinnvolle Wörter produziert, diese aber zufällig aneinandergereiht. Zapfen: Hochspezialisierte konische oder flaschenförmige Rezeptoren der Retina, die für Licht von bestimmter Wellenlänge maximal empfindlich sind. Die Zapfen bilden die Grundlage für das Farbensehen. Siehe auch Stäbchen. vordere Kommissur: Siehe anteriore Kommissur. Vorderhirn: In diesem Skript wird der Begriff für die Gesamtheit der cerebralen Hemisphären, der Basalganglien, des Thalamus, des Hypothalamus, der Amygdala, des Hippocampus und des Septums verwendet. Vorderwurzel: Fasertrakt, der das Rückenmark verlässt und deshalb motorisch ist. Er befindet sich bei Tieren im ventralen Anteil und bei Menschen im anterioren Teil des Rückenmarks. Wahnvorstellung: Irriger Glaube, an dem festgehalten wird, obwohl er ganz offensichtlich falsch ist; charakteristisch für manche Arten psychischer Störungen. Er ist durch logische Argumente nicht zu entkräften. Wallersche Degeneration: Degeneration. Siehe anterograde zeitliche Summation: Addition oder Subtraktion zweier zeitlich eng aufeinanderfolgender postsynaptischer Potentiale. Siehe auch räumliche Summation. Zellkörper: Siehe Soma. Zellverband: "Gruppe" von Neuronen, die funktional miteinander verbunden sind; Hebb nahm an, dass Zellverbände Basis der Wahrnehmung, des Gedächtnisses und der Vorstellungskraft darstellen. In der Großhirnrinde handelt es sich dabei um rund 8000 Neuronen, da jedes Neuron rund 8000 Prä- und zusätzlich rund 8000 Postsynapsen besitzt (all to all Kopplung). weiße Substanz: Diejenigen Gebiete des Nervensystems, in denen viele myelinisierte Axone verlaufen. ____________________________________________________________________________________________ 164 Brain Modelling Literaturverzeichnis: The handbook of brain theory and neural networks / ed. by Michael A. Arbib. Ed. assistant Prudence H. Arbib. - Cambridge, Mass. [u.a.] : MIT Press, 1995. - XV, 1118 S. :Ill., graph. Darst. (A Bradford book)Literaturangaben ISBN 0-262-01148-4 Universitätsbibliothek WienHB- Mag.-->II-1203612 Ein Monument, aber leider etwas veraltet. Exzellente Aufsatzsammlung, wo wirklich nur das Wichtigste und Erwiesenes drinnensteht. Brause, Rüdiger: Neuronale Netze : eine Einführung in die Neuroinformatik / von Rüdiger Brause. - 2., überarb. und erw.Aufl. - Stuttgart : Teubner, 1995. - 462 S. : Ill., graph. Darst. (Leitfäden der Informatik)Literaturverz. S. 433 - 456 Universitätsbibliothek Wien 134 Mag.-->25206 Sammlung der wichtigsten Algorithmen aus dem Gebiet der technischen neuronalen Netze. Gute Erklärung, manche konkreten Beispiele. Braitenberg, Valentin: Vehikel : Experimente mit kybernetischen Wesen / Valentin Braitenberg. Aus dem Engl. von Dagmar Frank und Valentin Braitenberg. - Reinbek bei Hamburg : Rowohlt, 1993. - 156 S. :Ill., graph. Darst. (Rororo ; 9531 : Rororo-Sachbuch : Rororo-Science)Einheitssacht.: Vehicles <dt.>. - Literaturverz. S. [143] - 150 ISBN 3-499-19531-3 Interessant, spannend und witzig. Regt stark zum Nachdenken an. Diese Arbeit löste einen starken Boom in letzter Zeit aus. Models of brain function / ed. by Rodney M. J. Cotterill. - 1. publ. - Cambridge [u.a.] : Cambridge Univ. Pr., 1989. - XIII,574 S. : graph. Darst. Literaturangaben ISBN 0-521-38503-2 Universitätsbibliothek Salzburg NW L -> 73.2.4-82 Wo brain draufsteht, muß nicht brain drinnen sein. Signale und Kommunikation : Mechanismen des Informationsaustauschs in lebenden Systemen / mit e. Einf. von John Dittami. - Heidelberg [u.a.] : Spektrum, Akad. Verl., 1993. - 193 S. : Ill., graph. Darst., Kt. (Spektrum der Wissenschaft : Verständliche Forschung) Literaturverz. S. 184 - 186 ISBN 3-86025-214-3 Universitätsbibliothek Wien HB- Mag.--> II-1150825 Interessante Aufsatzsammlung, bei der gezeigt wird, wie die Formeln für das Gehirn auch anders verwendet werden können. Dorffner, Georg: Konnektionismus : von neuronalen Netzwerken zu einer "natürlichen" KI / von Georg Dorffner. - Stuttgart :Teubner, 1991. - XV, 448 S. : graph. Darst. (Leitfäden der angewandten Informatik)Literaturverz. S. [426] - 438 ISBN 3-519-02455-1 Universitätsbibliothek Wien HB- Mag.--> I1119316 Guter Überblick in den Bereich der technischen Neuronalen Netze. Dörner, Dietrich: Die Logik des Mißlingens : strategisches Denken in komplexen Situationen / Dietrich Dörner. - 21. - 30.Tsd. - Reinbek bei Hamburg : Rowohlt, 1993. - 320 S. : Ill., graph. Darst., Kt. (Rororo ; 8314 : RororoSachbuch : Rororo-Science) Literaturverz. S. 311 - 313 ISBN 3-499-19314-0 Universitätsbibliothek Wien 158 HA--> X70.D713.L8 Zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie linear Menschen denken, und wie nichtlinear die Probleme in der Welt sind. Gardner, Howard: Dem Denken auf der Spur : der Weg der Kognitionswissenschaft / Howard Gardner. Aus dem Amerikan. v. Ebba D. Drolshagen. - Stuttgart : Klett-Cotta, 1989. - 456 S. : graph. Darst. Einheitssacht.: The mind's new science <dt.>. - Literaturverz. S. 419 - 438 ISBN 3-608-93099-X Universitätsbibliothek Wien HBMag.--> I-1102624 Nachdenken, fragen, meditieren und Schlußfolgerungen ziehen. Goldbeter, Albert: Biochemical oscillations and cellular rhythms : the molecular bases of periodic and chaotic behaviour /Albert Goldbeter. - Cambridge [u.a.] : Cambridge Univ. Press, 1996. - XXIV, 605 S. : Ill. Einheitssacht.: Rythmes et chaos dans les systèmes biochimiques et cellulaires <engl.>. - Aus d. Franz. übers. Literaturverz. S.526 - 588 ISBN 0-521-40307-3 Zentralbibliothek für Physik in Wien 39061 ->> FR-Gute mathematische Darstellung von biophysikalischen Vorgängen. Einführung in die künstliche Intelligenz / Günther Görz (Hrsg.). - 2. Aufl. - Bonn [u.a.] : Addison-Wesley, 1995. - XIV,1029 S. : graph. Darst. Literaturangaben ISBN 3-89319-858-X Universitätsbibliothek Wien HBMag.--> I-1185763 Hervorragende Zusammenfassung aus dem Bereich der KI. ___________________________________________________________________________________ Literaturverzeichnis 165 Guttmann, Giselher: Ich: sehe, denke, träume, sterbe : sechs Aufsätze über das Hier- und Jetztsein, das Sosein und Nichtsein des Menschen und seiner Seele im Spiegel der naturwissenschaftlichen psychologischen Forschung ; mit einem Vorwort, fünf Zwischentexten und einem Epilog. - München : Ehrenwirth, 1991. - 324 S. : zahlr.Ill., graph. Darst. Literaturverz. S. 321 - 324 ISBN 3-431-03157-9 Universitätsbibliothek Wien HB- Mag.--> I1120325 Gute Statements zum Bewußtsein und zum Denken. Darüber meditieren ! Hernegger, Rudolf: Wahrnehmung und Bewußtsein : ein Diskussionsbeitrag zu den Neurowissenschaften.Heidelberg [u.a.] : Spektrum, Akad. Verl., 1995. - 552 S. : Ill. Literaturverz. S. 519 - 540 ISBN 3-86025-288-7 Universitätsbibliothek Wien HB- Mag.--> II-1176928 Eine sehr gute Zusammenfassung über das Gebiet der Gehirnforschung. Es werden die aktuellen Fakten kritisch beleuchtet. Hofstadter, Douglas R.: Gödel, Escher, Bach : ein endloses geflochtenes Band / München : Dt. TaschenbuchVerl., 1991. - XVII, 844 S. : Ill., graph. Darst., Notenbeisp. (Dtv ; 11436 : Dtv-Klett-Cotta). - Literaturverz.S. 805 - 819 ISBN 3-423-11436-3 Dieses Buch sollte man eigentlich erst dann lesen, wenn man schon seine Vision zum Thema Gehirn und Bewußtsein gehabt hat.Regt zum bewußten Nachdenken an. Neurowissenschaften : eine Einführung / Eric R. Kandel ... (Hrsg.). - Heidelberg [u.a.] : Spektrum Akad. Verl., 1996. -XXII, 786 S. : Ill., graph. Darst. (Spektrum Lehrbuch) Einheitssacht.: Essentials of neural science and behavior <dt.>. - Literaturverz. S. [739] - 744 ISBN 3-86025-391-3 Universitätsbibliothek Wien HB- Mag.--> II-1190247 Beste Darstellung der Biologie, der Medizin, der Genetik und der Chemie des menschlichen Gehirns in einem Buch. ABER: Die amerikanische Ausgabe ist besser, da umfangreicher. Gehirn und Geist / Kenneth A. Klivington. Wiss. Beratung: Floyd Bloom ... Aus dem Amerikan. übers. von Peter Germroth.- Heidelberg [u.a.] : Spektrum, Akad. Verl., 1992. - 240 S. : zahlr. Ill. Einheitssacht.: The science of mind <dt.>. - Literaturverz. S. 234 - 235 ISBN 3-86025-038-8 Universitätsbibliothek Wien HB- Mag.--> II1132935 Nette Bilder, nette Aufsätze und nette Einführung. Kratzer, Klaus P.: Neuronale Netze : Grundlagen und Anwendungen - 2., durchges. Aufl. - München ;Wien : Hanser, 1993. - XII, 211 S. : graph. Darst. Literaturverz. S. [200] - 206 ISBN 3-446-17315-3 Anderer Weg der Vermittlung des Wissens über technische neuronale Netze als im Brause, etwas zu pessimistisch. Kolb, Bryan: Neuropsychologie / Übers. hrsg. von Monika Pritzel. Aus dem Engl. übers. von Marianne Mauch ... - 2. Aufl. - Heidelberg [u.a.] : Spektrum Akad. Verl., 1996. - XII, 574 S. : Ill., graph. Darst. (Spektrum Lehrbuch) Einheitssacht.: Fundamentals of human neuropsychology <dt.>. - Literaturangaben ISBN 3-8274-0052-X Universitätsbibliothek Wien HB- Mag.--> II-1206523 Hervorragende Einführung in die Psychologie auf Basis der Biologie. Nauta, Walle J.: Neuroanatomie : eine Einführung - Heidelberg : Spektrum-d.-Wiss.-Verl.-Ges., 1990. - 342 S. : zahlr. Ill., graph. Darst. Einheitssacht.: Fundamental neuroanatomy <dt.>. - Literaturverz. S. 327 - 331 ISBN 389330-707-9 HB: Exemplare der LBS abgegeben an die UBW006 Universitätsbibliothek Wien HB- Mag.--> II1114725 Bester, billigster Hirnatlas für angehende Profis. Penrose, Roger: Computerdenken : des Kaisers neue Kleider oder die Debatte um künstliche Intelligenz, Bewußtsein und die Gesetze der Physik . Aus dem Engl. übers. von Michael Springer. - Heidelberg :Spektrum-derWiss.-Verl.-Ges., 1991. - XXI, 454 S. : Ill., graph. Darst. Einheitssacht.: The emperor's new mind <dt.>. Literaturverz. S. 442 - 448 ISBN 3-89330-708-7 Universitätsbibliothek Wien HB- Mag.--> I-1124131 Hervorragende Einführung in die Probleme der Quantenmechanik, der Gravitation und schwarzer Löcher; Vom Gehirn steht fast nichts drinnen. Erwähnenswert: Einführung und Erklärung der Turingmaschine. Neumann, John von: Die Rechenmaschine und das Gehirn. Dt. Übers.: Charlotte und Heinz Gumin. -München : Oldenbourg, 1960. - 80 S. Einheitssacht.: The computer and the brain <dt.> Zentralbibliothek für Physik in Wien Bestandsnachweis 20504 ->> FR-Meditieren, nachdenken, meditieren, nachdenken und sich nicht von aktuellen Forschungsergebnissen beeindrucken lassen und wieder meditieren ! Reihe Physik, Verlag Harri Deutsch, Zentralbibliothek für Physik 032011/x, Serienbuchtitel, Serie über verschiedene naturwissenschaftliche Phänomene. Die Serie widmet sich auch den Phänomenen der kognitiven Modellierung.Es finden sich über 30 Bücher zu diesem Thema in der Serie. ____________________________________________________________________________________________ 166 Brain Modelling Schmid, Ute: Kognitive Modellierung :eine Einführung in logische und algorithmische Grundlagen Heidelberg:Spektrum, Akad. Verl.,1996- 455 S.:Ill.,graph. Darst.(Spektrum Hochschultaschenbuch) Literaturverz. S. [381]-396 ISBN 3-86025-367-0 Universitätsbibliothek Wien HB-Mag.-->I-1199923 Interessante Meinungen, fördert das Nachdenken. Snyder, Solomon H.: Chemie der Psyche : Drogenwirkungen im Gehirn . [Aus d. Amerikan. übers. von Ingrid Horn]. - 3. Aufl. - Heidelberg : Spektrum-d.-Wiss.-Verl.-Ges., 1990. - 224 S. : zahlr. Ill., graph. Darst. (SpektrumBibliothek ; 16)Einheitssacht.: Drugs and the brain <dt.>. - Literaturverz. S. 215 ISBN 3-922508-86-3 Alles was es über Neurotransmitter zu wissen gibt und manches mehr. Beste Darstellung der Chemie der Psyche in aller Kürze. Brain mechanisms : papers in memory of Robert Thompson / ed. by Francis M. Crinella and Jen Yu. - New York, NY : The New York Acad. of Sciences, 1993. - 233 S. : Ill., graph. Darst. (Annals of the New York Academy of Sciences ; 702)Literaturangaben ISBN 0-89766-759-x - ISBN 0-89766-760-3 Zentralbibliothek für Physik in Wien 7306/702 ->> FR-Interessante Aufsatzsammlung. Wiener, Norbert: Kybernetik : Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine / Norbert Wiener.[Übers. von E. H. Serr unter Mitarb. von E. Henze]. - 2., rev. u. erg. Aufl., 8. - 10.Tsd. Düsseldorf ; Wien : Econ-Verl.,1965. - 287 S. : Ill., graph. Darst. Nachdenken ! ___________________________________________________________________________________ Literaturverzeichnis 167