Descartes` Meditationen

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F.-W. v. Herrmann
Descartes’
Meditationen
KlostermannRoteReihe
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1. Auflage 2011
© Vittorio Klostermann GmbH · Frankfurt am Main · 2011
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Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen
Printed in Germany
ISSN 1865-7095
ISBN 978-3-465-04127-6
JEAN-LUC MARION
dem großen französischen Descartes-Forscher
Mitglied der Académie française
Chevalier de la Légion d’honneur
Officier des Palmes académiques
Directeur du Centre d’Etudes cartésiennes
Paris-Sorbonne
in dankbarer Erinnerung
an die ›Journée d’Etudes Cartésiennes‹
an der Universität Paris-Sorbonne
gewidmet
I N H A LT
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
Zur Zitierweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18
Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
E I N L E I T U NG
§ 1 Titel und methodische Auszeichnung der »Meditationen
über die Erste Philosophie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
a) Hegel als Sprecher der neuzeitlichen Philosophie . . . . . . . 25
b) Der Titel des cartesischen Hauptwerkes . . . . . . . . . . . . . 26
c) Methodische Auszeichnung der »Meditationen« . . . . . . . 30
§ 2 Philosophie als System aller Wissenschaften . . . . . . . . . 32
E R S T E S K A PI T E L
Der Weg des methodischen Zweifels für die Grundlegung
der Metaphysik. Die methodische Funktion des Zweifels
und die Zweifelsgründe
§ 3 Veranlassung und Abzielung der Meditationen. Die faktisch-individuelle Situation des meditierenden Ich. Zwei
methodische Anweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
a) Veranlassung und Abzielung der Meditationen . . . . . . . . 36
b) Die faktisch-individuelle Situation des meditierenden Ich . 39
c) Der methodische Zweifel – zwei Anweisungen . . . . . . . . . 42
§ 4 Zum Weg des methodischen Zweifels . . . . . . . . . . . . . . 45
8
Inhalt
§ 5 Das Phänomen der Sinnestäuschung als Grund des Zweifels an der unumstößlichen Wahrheit der sinnlichen Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
a) Sinnliche Wahrnehmung – empirisches Sosein und Wirklichsein (existentia) der Dinge (Körper) . . . . . . . . . . . . . 47
b) Sinnestäuschung und Halluzination. Räumlich-partielle
Täuschungsphänomene und genereller Zweifelsgrund . . . . 51
§ 6 Das Phänomen des Traumes als zweiter Grund für den
Zweifel an der Wahrheit der sinnlichen Erfahrung . . . . . 58
a) Wachen und Träumen – das geträumte Wachsein . . . . . . 58
b) Natürlicher und generalisierter Traum . . . . . . . . . . . . . 60
c) particularia, generalia, universalia. Die Wesensstrukturen
der Körper (Dinge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
d) Tatsachenwissenschaft en und Wesenswissenschaft en . . . . . 68
§ 7 Die fi ktiv angesetzte Unvollkommenheit der göttlichen
Seinsursache meines Verstandesdenkens als dritter Zweifelsgrund für die Wahrheit der Verstandeserkenntnis . . . 73
a) Die vetus opinio des allmächtigen und vollkommensten
Schöpfergottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
b) Der hypothetisch umgestaltete Gottesbegriff als Zweifelsgrund
für die apodiktische Wahrheit der reinen Verstandeserkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76
c) Der methodische Zweifel als willentlich ausgebildete methodische Grundhaltung: die cartesianische Epoché . . . . . . . 80
Z W E I T E S K A PI T E L
Das Selbstbewußtsein als das gesuchte absolut
unbezweifelbare erste Prinzip der Ersten Philosophie
und aller in ihr gründenden Wissenschaften
§ 8 Die ontologische Frage nach der absolut gewissen Seinsweise des Wirklichseins (existentia) des Selbstbewußtseins 85
a) Wiederaufnahme der generellen methodischen Zweifelshaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Die Blickwendung des methodisch zweifelnden Ich. Drei
85
Inhalt
9
Schritte der Einsicht in das absolut unbezweifelbare Ich-bin
(ego existo) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
c) Der intuitive Erkenntnischarakter des ego cogito ergo sum . 94
d) Das Ich-bin als der erste unbezweifelbare Erkenntnisboden 98
§ 9 Die Frage nach dem Wer des Ich als ontologische Frage
nach der absolut unbezweifelbaren Wesensverfassung des
Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
a) cogitatio als essentia – res cogitans . . . . . . . . . . . . . . . . 101
b) Die cogitationes (modi cogitandi) des ego cogito . . . . . . . . 108
c) Die cogitata des jeweiligen cogito . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
d) ego cogito me cogitare cogitatum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
e) Descartes und die Intentionalität des Bewußtseins . . . . . . 121
§ 10 Die geistige Selbsterfassung der je eigenen ichlichen Bewußtseinssphäre in ihrer höchsten Gewißheit als notwendige Voraussetzung in der verstandesmäßigen Erkenntnis
von der Körperwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
DR I T T E S K A PI T E L
Wahrheit und Methode
§ 11 Die absolut unbezweifelbare Gewißheit des ego-cogitocogitatum als Quelle und Fundament für die allgemeine
Wahrheitsregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
§ 12 Der Methodengedanke Descartes’ und die Hauptregeln
der Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
V I E RT E S K A PI T E L
Der bewußtseinsanalytische Gottesaufweis als Lösungsweg für die Frage nach der transzendenten Geltung der
bewußtseinsimmanenten Vorstellungen (cogitata) von
der materiellen Körperwelt
§ 13 Methodische Erwägungen im Rückblick und Vorblick . . 166
§ 14 Bewußtseinsanalyse als Weg zum Gottesaufweis . . . . . . 168
10
Inhalt
a) Klassifi zierung der cogitationes in drei Gattungen: ideae,
voluntates-aff ectus, iudicia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
b) Klassifi zierung der ideae in drei Arten: ideae innatae, ideae
adventiciae, ideae a me ipso factae . . . . . . . . . . . . . . . . 185
c) Vormeditative Motive für die Setzung des Wirklichseins einer Körperwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
§ 15 Bewußtseinsanalytischer Gottesaufweis am Leitfaden des
ontologischen Begriffspaares realitas obiectiva – realitas
formalis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
a) Die zweifache Betrachtungsweise der ideae . . . . . . . . . . . 195
b) realitas obiectiva – realitas formalis . . . . . . . . . . . . . . . 199
c) Die realitas obiectiva in den ideae und ihr unterschiedlicher
Realitätsgrad. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
d) Die idea Dei und ihre realitas obiectiva. Ihre realitas for malis als notwendige Existenz der göttlichen Substanz . . . . . 220
F Ü N F T E S K A PI T E L
Descartes’ Lehre vom wahren
und unwahren Urteil
§ 16 Analyse des Urteils – reiner Verstand und freier Wille . . 231
§ 17 Analyse des wahren und falschen Urteils . . . . . . . . . . . 241
S E CH S T E S K A PI T E L
Die wahre Erkenntnis vom Wesen (essentia) und
den Wesensbestimmungen der Körperdinge.
Der zweite als der überlieferte Gottesbeweis.
Descartes’ Ontologie der Substanzen im Aufr iß
§ 18 Die unbezweifelbare Erkenntnis vom Wesen (essentia)
und den Wesensbestimmungen der Körper . . . . . . . . . . 249
§ 19 Der überlieferte (ontologische) Gottesbeweis auf dem
Boden der vergewisserten ichlichen Bewußseinssphäre . . 260
§ 20 Descartes’ Ontologie der Substanzen im Aufriß . . . . . . . 270
Inhalt
11
S I E BE N T E S K A PI T E L
Die zwei Beweise für die existentia
der materiellen Körperdinge
§ 21 Der Beweis vom wahrscheinlichen Wirklichsein der Körper aus der Analyse der Einbildungskraft . . . . . . . . . . . 284
§ 22 Der Beweis für die Gewißheit über das Wirklichsein der
materiellen Körper auf dem Wege der Wahrnehmungsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306
VORWORT
Nachdem der Verfasser der hier vorgelegten Descartes-Monographie
zum Wintersemester 1957/58 seinen Studienplatz von der Freien
Universität in Westberlin an die Albert-Ludwigs-Universität Freiburg verlegt hatte, besuchte er als Student im 6. Semester als erste
philosophische Lehrveranstaltung das von Eugen Fink angekündigte Hauptseminar zu Descartes’ ›Meditationen über die Erste
Philosophie‹ in einem Hörsaal des heutigen Kollegiengebäudes I,
in dessen viertem Stockwerk Finks Seminar für Philosophie und Erziehungswissenschaft lag. In der ersten Seminarsitzung Anfang November begegnete ihm erstmals Eugen Fink, der einstige langjährige
Privatassistent Edmund Husserls, durch den der Verfasser 1961 promoviert wurde, dessen wissenschaftlicher Assistent er von 1961 bis
1970 war und unter dessen Leitung und Förderung er sich 1970 habilitiert hat. Schon die erste Seminarsitzung wurde für den Verfasser
zu einer staunenden Erfahrung und Bestätigung seiner getroffenen
Entscheidung, von Berlin nach Freiburg zu wechseln. Eugen Fink
hatte die Eigentümlichkeit, seine Seminare im Stile einer ganz von
ihm selbst ausgehenden Interpretation des zugrundegelegten Textes
zu gestalten. Seine flüssige, in druckreifen Sätzen und in einem bedächtigen Tempo daherfließende Rede ließ den Hörer in den auch
didaktisch wohl durchdachten Gedankengang einschwingen. Die
auslegende Zuwendung zum Text setzte hier wie in allen späteren
Seminarveranstaltungen mit einer Besinnung auf den Titel des Textes ein, wodurch es ihm gelang, einen ersten hermeneutischen Horizont für die gesamte folgende Interpretationsaufgabe auszuspannen.
Nicht nur der Begriff ›Meditationen‹ gab Anlaß für eine erste Erläuterung des denkerischen Stils dieses Hauptwerkes Descartes’, sondern auch der Terminus ›Erste Philosophie‹ forderte ihn auf, den
philosophiegeschichtlichen Bezug zur πρώτη φιλοσοφία des Aristoteles herzustellen. Die von Eugen Fink ausgehende Textauslegung,
der jeweils das laute Lesen der Textpassagen vorausging, wurde immer wieder durch Wissens- und Verständnis-Fragen, die er an die
14
Vorwort
Teilnehmer richtete, unterbrochen. Selbstverständlich hatten auch
die Studenten die Möglichkeit, sich jederzeit mit eigenen Fragen zu
Wort zu melden. Schon nach den ersten von Eugen Fink gesprochenen Sätzen und dann im weiteren Verlauf dieser ersten Seminarveranstaltung trat dem Verfasser ein ganz neu gesehener ›Descartes‹
entgegen im Vergleich zu jenem ›Descartes‹, den er erstmals an der
Berliner Universität kennengelernt hatte. Es war der ihm bis dahin
noch nicht vertraute methodische Zugang, die durch das phänomenologische Sehen geführte Textanalyse, die ihn in ein anschauendes
und insofern höchst lebendiges Philosophieren mit dem cartesischen
Text und – durch diesen hindurch – mit den zu denkenden Sachen
hineinzog.
Der Hintergrund, von dem her Eugen Fink auf Descartes’ »Meditationen« zuging, war das phänomenologische Descartes-Studium im Umkreis der Husserlschen Phänomenologie, insbesondere der »Cartesianischen Meditationen« Husserls von 1929 und
den folgenden Jahren, an deren literarischer Abfassung und Überarbeitung Eugen Fink in seiner Eigenschaft als Privatassistent Husserls produktiv mitgearbeitet hatte. Diese Tatsache, daß der gerade
promovierte 24-jährige Assistent von Husserl selbst in die tägliche
philosophische Arbeit eingebunden wurde, löste in uns Studenten
große Bewunderung aus. Aus dem Geist dieses phänomenologischen
Umgangs mit Descartes’ »Meditationen« im Umkreis der Husserlschen Phänomenologie führte Eugen Fink sein Descartes-Seminar
durch, jedoch ohne dadurch Descartes auf Husserls Grundstellung
der Transzendentalen Phänomenologie zurückzuführen. In seiner
Descartes-Auslegung blieb Descartes der, der er historisch war, also
auch ohne Husserls Kritik an Descartes, aber Finks Interpretation
war methodisch von der phänomenologischen Forschungsmaxime
Husserls ›Auf die Sachen selbst zurückgehen‹ durchdrungen. Den
phänomenologischen Umgang mit den überlieferten Texten der Philosophie hatte Eugen Fink vor allem in den Seminaren und Vorlesungen Martin Heideggers kennengelernt und sich zu eigen gemacht. Bereits diese erste Seminarsitzung Eugen Finks über Descartes’ Hauptwerk ließ den Verfasser ahnen, welch große Bedeutung
Descartes für die Phänomenologie Husserls hat. 1957 waren es ge-
Vorwort
15
rade erst sieben Jahre her, daß Husserls »Cartesianische Meditationen« und deren Vorläufer, die »Pariser Vorträge« von 1929, als
Band I der Gesammelten Werke Husserls (Husserliana) erstmals erschienen waren. Daher umwehte dieses Buch noch der Hauch einer
hochbedeutsamen Neuerscheinung aus dem Nachlaß Husserls, über
die unter den damaligen Studenten aus dem In- und Ausland an den
drei Freiburger Philosophischen Seminaren lebhaft diskutiert wurde.
Für den Verfasser begann die Zeit, sich in die Schriften Husserls
einzuarbeiten und in die phänomenologische Sehweise einzuüben.
Für seine Antrittsvorlesung als Privatdozent der Freiburger Philosophischen Fakultät am 12. Juni 1970 wählte der Verfasser das
Thema »Husserl und die Meditationen Descartes’«1. Zu den Hörern dieser Antrittsvorlesung gehörte auch Pater Prof. Dr. Herman
Leo van Breda, Gründer und erster Direktor des berühmten Löwener Husserl-Archivs und persönlicher Freund Eugen Finks.
Am 8. Juni 1985 veranstaltete das ›Centre d’Etudes Cartésiennes‹
an der Universität Paris-Sorbonne eine eintägige Tagung unter dem
Rahmenthema »Descartes en phénoménologie« mit vier Vorträgen:
F.-W. v. Herrmann, Husserl et Descartes; Jean-Luc Marion, L’ego et
le Dasein, Heidegger et la ›destruction‹ de Descartes dans ›Sein
und Zeit‹; Nicolas Grimaldi, Sartre et la liberté cartésienne. Der
vierte Vortrag sollte über Descartes im Denken von Emmanuel Lévinas handeln. Lévinas selbst war es, der diese Aufgabe übernommen
hatte und in freier Rede über sein Verhältnis zu Descartes, insbesondere zu dessen Idee des Unend lichen, sprach. In der Publikation
der Vorträge innerhalb der ›Revue de Métaphysique et de Morale‹2
erschien jedoch anstelle der von Lévinas frei gehaltenen Rede ein
Text von Jean-François Lavigne ›L’idée de l’infini: Descartes dans
la pensée d’Emmanuel Lévinas‹. Jean-Luc Marion in seiner Eigenschaft als Secrétaire du ›Centre d’Etudes Cartésiennes‹ war es gewesen, der den Verfasser – veranlaßt durch seine Lektüre der Freiburger Antrittsvorlesung – zur Teilnahme an der Pariser Tagung
eingeladen hatte.
1
2
v. Herrmann 1971.
Marion 1987.
16
Vorwort
Während seiner dreißigjährigen Lehrtätigkeit an der Freiburger
Universität hat der Verfasser wiederholt Vorlesungen und Seminare
zu Descartes gehalten. In diesen Lehrveranstaltungen ging es ihm
um die Erarbeitung des ›historischen‹ Descartes, aber Behandlungsart und Zugangsweise waren phänomenologisch ausgerichtet. Husserls transzendental-phänomenologische Descartes-Würdigung und
Descartes-Kritik sowie Heideggers fundamentalontologische und
seinsgeschichtliche Auseinandersetzung mit Descartes sind eigene
Themen, die vom Verfasser sowohl in besonderen Lehrveranstaltungen wie in Veröffentlichungen3 untersucht worden sind. Etwas
anderes aber ist, Descartes aus seiner eigenen Grundstellung interpretatorisch in den Grundzügen und in phänomenologischer Blickstellung zu folgen, diese Grundzüge denkerisch vorurteilslos zum
Tragen kommen zu lassen und sie so stark wie möglich zu machen
und zu würdigen. Ein solcher interpretatorischer Umgang mit Descartes bleibt auch eine unabdingbare Voraussetzung für ein Sicheinlassen auf Husserls und Heideggers Zugang zu Descartes, der –
wie gar nicht anders möglich – aus ihren eigenen Grundstellungen
und Grundfragen bestimmt ist. Eine ernsthafte interpretatorische
Bemühung um die Descartes-eigene denkerische Grundstellung ist
ebenfalls erforderlich, um in dieser den Einsatz der neuzeitlichen
Philosophie aus dem Selbstbewußtsein für das neuzeitliche Denken
bis hin zu Hegel zu begreifen. In dieser Blickstellung hat der Verfasser seine wiederholten Descartes-Vorlesungen und Descartes-Seminare angelegt und durchgeführt. Auf diese zahlreichen DescartesLehrveranstaltungen geht die hier vorgelegte Descartes-Monographie zurück.
*
1929 hat Edmund Husserl im ›Amphitheatre Descartes‹ der Universität Paris-Sorbonne seine berühmten »Pariser Vorträge« gehalten, aus denen die »Cartesianischen Meditationen« hervorgegangen sind. Meine 1971 veröffentlichte Freiburger Antrittsvorlesung
3 v. Herrmann 1987, 227–231, 247–256; v. Herrmann 2005, 192–230; v. Herrmann 2008, 219–224; v. Herrmann 1970.
Vorwort
17
»Husserl und die Meditationen Descartes’« und die darin vorgetragene Interpretation des bewußtseinsanalytischen Gottesaufweises
der III . Meditation waren es, die Jean-Luc Marion 1985 veranlaßten,
mich zu der Tagung ›Descartes en phénoménologie‹ an die Sorbonne nach Paris einzuladen. Mit der Widmung dieser DescartesMonographie an Jean-Luc Marion danke ich nicht nur für diese ehrenvolle Einladung, sondern auch für Marions Forschung über den
größten Denker der französischen Philosophie.
*
Frau Univ.-Prof. Dr. Paola-L. Coriando (Universität Innsbruck)
danke ich sehr herzlich für ihre aufmerksame Gesamtdurchsicht von
Satzvorlage und Druckfahnen. Für seine tatkräftige und kundige
Unterstützung bei den Korrekturarbeiten sage ich Herrn Dr. Till
Platte (Freiburg) sehr herzlich Dank.
Freiburg i. Br., im Frühjahr 2011
F.-W. v. Herrmann
Zur Zitierweise
Die Werke Descartes’ werden nach den Ausgaben der Philosophischen Bibliothek des Felix Meiner Verlags zitiert in Anbetracht dessen, daß unsere Descartes-Monographie als Studienbuch gedacht
ist und die Werkausgaben der Philosophischen Bibliothek für jeden Studierenden erreichbar sind. Die lateinischen und französischen Texte Descartes’ können über die in den deutschen Ausgaben
angegebenen Seitenzahlen der französischen Standardausgabe der
Werke Descartes’ von Ch. Adam und P. Tannery oder auch über die
am äußeren Seitenrand stehenden Seitenzahlen der Originalausgaben, die am äußeren Seitenrand der Bände der französischen Standardausgabe abgedruckt sind, in dieser Ausgabe aufgesucht werden:
Œuvres de Descartes. Edition C. Adam et P. Tannery, 11 Volumes,
Paris 1897–1913, nouvelle présentation Paris 1982 ff. (fortan zitiert
unter AT mit entsprechender Bandnummer in römischen Ziffern
und Seitenzahl).
Die fortlaufenden Textstellen aus den »Meditationen« werden
durch Angabe der arabisch gezählten Absätze (Abschnitte) zitiert.
Die zitierten bzw. wiedergegebenen deutschen Übersetzungen sind
vom Verfasser hier und da zugunsten einer wörtlicheren Übertragung modifiziert. Die von uns zugrundegelegte zweisprachige Ausgabe der »Meditationen« von Artur Buchenau, Lüder Gäbe und
Hans Günter Zekl gibt die Seitenzahlen des Bandes VII der französischen Standardausgabe am Kopf der linken Seite mit dem lateinischen Text rechtsstehend an. Die am linken Rand des lateinischen
Textes stehenden Ziffern sind die Seitenzahlen der Originalausgabe.
Andere klassische Autoren werden mit Kurztitel, Herausgebernamen, Erscheinungsjahr der Edition und Stellenangabe zitiert. Die
Verweise auf Forschungsliteratur erfolgen durch Angabe des Autorennamens, des Erscheinungsjahrs und der Seitenzahl. Die vollständigen bibliographischen Angaben der zitierten Werke Descartes’, der
zitierten Werke anderer klassischer Autoren und der zitierten Sekundärliteratur können jeweils dem Literaturverzeichnis entnommen werden.
H I N F Ü H RU NG
In methodischer Hinsicht beabsichtigen wir eine durchgehend phänomenologisch ausgerichtete Interpretation von Descartes’ »Meditationen über die Erste Philosophie«. In unserer thematischen Interpretation jedoch bleiben sowohl Husserls transzendental-phänomenologische wie auch Heideggers fundamentalontologische und
seinsgeschichtliche Sichtweise auf Descartes ausgeklammert. Das
Phänomenologische unseres Umgangs mit den cartesianischen Texten versteht sich zuerst als die Behandlungsart, die sich für Husserl
und für Heidegger in der Untersuchungsmaxime ›Auf die Sachen
selbst zurückgehen‹ bzw. ›Zu den Sachen selbst‹ ausspricht.1 Die
›Sachen selbst‹ sind hier die von Descartes gesehenen ›Sachen‹,
die in der Weise, wie Descartes sie sieht, entfaltet werden sollen.
In thematischer Hinsicht werden Descartes’ »Meditationen« als
eine Grundlegung der Metaphysik des Selbstbewußtseins und aus
dem Selbstbewußtsein gelesen, wobei die Grundlegung selbst metaphysischen Charakter hat. Durch die so verstandene Metaphysik
des Selbstbewußtseins wird Descartes zum Wegbereiter der großen
Metaphysiken der Neuzeit von Spinoza über Leibniz, Kant, Fichte
Schelling bis zu Hegel. Descartes’ »Meditationen« werden von
uns mit derselben Eindringlichkeit gedanklich durchdrungen wie
es sonst für die Hauptwerke der auf Descartes folgenden und sich
dessen Metaphysik des Selbstbewußtseins verdankenden neuzeitlichen Denker geschieht. Auch dann, wenn jeder der nachcartesianischen Denker für die Bestimmung der je eigenen Grundstellung
auch ein kritisches Verhältnis zu Descartes unterhält, bleibt dennoch seine Grundstellung durch das cartesianische Grundmotiv
ermöglicht und bestimmt. Eingedenk dessen, daß es ohne Descartes’ »Meditationen über die Erste Philosophie« keine »Kritik der
reinen Vernunft«, keine »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre«, kein »System des transzendentalen Idealismus« und keine
1
v. Herrmann 1988.
20
Hinführung
»Phänomenologie des Geistes« gäbe, sind die »Meditationen« Descartes’ für uns ein philosophisches Grundwerk, das den gleichen
denkerischen Rang einnimmt wie die genannten, auf Descartes folgenden großen Werke.
Descartes’ »Meditationen« sind kein Werk für den ›philosophischen Kindergarten‹, obwohl sie als Text in einem Proseminar für
eine Einführung in die Philosophie gut geeignet sind. Doch ihre
Eignung für diesen Zweck liegt nicht etwa in ihrer vermeintlichen
›Einfachheit‹ oder gar in einem unterstellten ›Anfängerhaften‹,
sondern in dem Tatbestand, daß mit den »Meditationen« Descartes’ eine neue Epoche der Geschichte der Philosophie einsetzt,
deren geistige Aneignung zunächst nicht allzu viele Voraussetzungen, die es am Beginn eines Philosophie-Studiums noch nicht gibt,
einschließt. In vergleichbarer Weise eignet sich auch Kants »Kritik
der reinen Vernunft« für ein einführendes Proseminar in das Philosophieren, weil mit Kant innerhalb der neuzeitlichen Philosophie
wieder ein Neues, der transzendentale Idealismus, einsetzt. Dagegen
ist z. B. Fichtes »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre« für
einen ersten Einstieg in die Philosophie deshalb ungeeignet, weil
dieses Werk in einer betonten Weise eine Kenntnis der »Kritik der
reinen Vernunft« oder zumindest der »Meditationen über die Erste
Philosophie« voraussetzt.
Während Heideggers fundamentalontologische und seinsgeschichtliche Auseinandersetzung mit Descartes grundsätzlich
und umfassend eine philosophische Kritik an Ansatz und Grundlagen des cartesianischen Denkens ist, setzt Husserls Zuwendung
zu Descartes zunächst mit einer hohen Würdigung und Rezeption
Descartes’ ein, um erst anschließend zu einer Kritik überzugehen.
Der Grund für dieses ganz anders geartete Verhältnis Husserls zu
Descartes liegt darin, daß das gemeinsame philosophische Forschungsfeld beider Denker die cogitatio und das Bewußtsein sind,
während Heidegger in seiner hermeneutischen Phänomenologie dieses sachliche Untersuchungsfeld von vornherein verläßt und an dessen Stelle das Sachfeld des faktischen Lebens und seinsverstehenden
Daseins aufsucht. Husserl eröffnet seine »Pariser Vorträge« mit den
Worten: »An dieser ehrwürdigen Stätte französischer Wissenschaft
Hinführung
21
über die neue Phänomenologie sprechen zu dürfen, erfüllt mich aus
besonderen Gründen mit Freudigkeit. Denn kein Philosoph der Vergangenheit hat auf den Sinn der Phänomenologie so entscheidend
gewirkt wie Frankreichs größter Denker René Descartes. Ihn muß
sie als ihren eigentlichen Erzvater verehren. Ganz direkt, ausdrücklich sei es gesagt, hat das Studium der Cartesianischen Meditationen
in die Neugestaltung der werdenden Phänomenologie eingegriffen
und ihr diejenige Sinnesform gegeben, die sie jetzt hat und die es fast
gestattet, sie einen neuen Cartesianismus zu nennen, einen Cartesianismus vom 20. Jahrhundert.«2
Husserls philosophierende Zuwendung zu Descartes vollzieht
sich in zwei deutlich voneinander abgehobenen Schritten, deren
erster in der Heraushebung jener Motive besteht, denen er eine
»Ewigkeitsbedeutung« zuerkennt, und deren zweiter in einer Kritik besteht. Fast ausschließlich sind es Descartes’ »Meditationen«,
denen sich Husserls Interesse zukehrt, und innerhalb dieser sind es
die I. und die II. Meditation. Denn diese beiden »Meditationen«
enthalten die Zweifelsmethode (I) und die Entdeckung des absolut sicheren ego-cogito-me-cogitare-cogitatum (II) als einer Vorgestalt der absoluten transzendentalen Subjektivität. Die cartesianische Zweifelsmethode nennt Husserl deshalb auch die »Cartesianische Epoché«,3 weil er zu Recht in dieser den Vorläufer seiner eigenen transzendental-phänomenologischen Epoché erkennt. In der
Art und Weise, wie Husserl die cartesianische Zweifelsmethode als
»Cartesianische Epoché« zur Auslegung bringt, hat er einen bedeutenden Schritt für das Verständnis der eigentümlichen methodischen Grundhaltung nicht nur der ersten beiden, sondern aller
Meditationen Descartes’ vollzogen. Die »Cartesianische Epoché«,
das schrittweise universelle Außer-Geltung-setzen aller urteilsmäßigen Wahrheits- und Seinssetzungen, zur Gewinnung der absolut
sicheren Seinssphäre des ego-cogito-me-cogitare-cogitatum, können wir im Unterschied zur phänomenologischen Methode der Behandlungsart als die phänomenologische Zugangsmethode 4 fassen,
2
3
4
Husserl, Cartesianische Meditationen, Hua I (Strasser) 1950, 3.
Husserl, Cartesianische Meditationen, a. a. O., 77.
Siehe Anmerkung 1.
Hinführung
22
die den Zugang zum Sachfeld der philosophischen Untersuchung
bildet. Husserls Ausdeutung der »Cartesianischen Epoché« führt
zur Descartes-immanenten Erkenntnis, daß diese Epoché, diese Zugangsmethode, nicht nur die Methode der I. und II. Meditation ist,
sondern daß Descartes diese methodische Grundhaltung der Epoché durch das ganze Werk der »Meditationen« durchhält. Denn die
Evidenz in das jeweils Unbezweifelbare auf dem Wege der »Meditationen« wird nur innerhalb der aufrechterhaltenen Zweifelsmethode gewonnen. Diese methodische Einsicht Husserls in die die
»Meditationen« im ganzen tragende methodische Grundhaltung
ist es, die wir uns für unsere phänomenologische Interpretation des
cartesianischen Hauptwerkes zu eigen machen.
Husserls Descartes-Kritik betrifft die, wie er sagt, »Vorurteile«
Descartes’, die er dreifach gliedert: 1. die psychologistische Mißdeutung des reinen Ego, 2. das selbstverständliche Festhalten am
Objektivismus trotz des Rückganges in die subjektive Sphäre des
ego-cogito-me-cogitare-cogitatum, 3. die Verfehlung der wahren
Intentionalität der Bewußtseinsweisen (cogitationes).5 Diese »Vorurteile« sind Husserl zufolge der Grund für die weiteren fehlgehenden Gedankenführungen Descartes’, zu denen für Husserl allem voran der cogitatio-analytische Gottesaufweis der III. Meditation und der zweite Gottesbeweis aus der V. Meditation gehören.
Husserls Descartes-Kritik wird stets dann am heftigsten, wenn
sie sich gegen den »ersten Schluß« auf die Transzendenz Gottes
richtet. Hier spricht er von den »paradoxen und grundverkehrten
Gottesbeweise(n)« der III. und V. Meditation.6
Für unsere eigene, nach Behandlungsart und Zugangsmethode
phänomenologische Auslegung der »Meditationen« steht jedoch
der sog. Gottesbeweis der III. Meditation im Zentrum, weil wir –
inhaltlich gesehen – nicht dem transzendentalen, und das heißt
absoluten Idealismus Husserls, sondern dem endlichen Idealismus
Descartes’ und dessen denkerischer Tendenz folgen. Obwohl wir
also in Husserls Würdigung der cartesianischen Zweifelsmethode
5
6
Husserl, Krisis, Hua VI (W. Biemel) 1962, 74–85.
Husserl, Krisis, a. a. O., 76.
Hinführung
23
als Cartesianische Epoché einen bedeutenden Hinweis auf die generelle methodische Grundhaltung der »Meditationen« sehen, halten wir aus guten Gründen an unserer Entscheidung fest, das Phänomenologische unserer Descartes-Interpretation auf das Methodische der Behandlungsart und Zugangsmethode zu beschränken
und in unserer thematischen Interpretation Descartes’ von Husserls
transzendental-phänomenologischer Sichtweise abzusehen. Innerhalb der Grundstellung der Transzendentalen Phänomenologie ist
Husserls thematische Descartes-Interpretation und Descartes-Kritik vollkommen stimmig und folgerichtig, aber sie kann nicht unser Vorhaben, Descartes aus seinen eigenen Möglichkeiten zu verstehen und ungeschmälert auszulegen, leiten. Das gleiche gilt auch
für Heideggers fundamentalontologische und seinsgeschichtliche
Descartes-Kritik, die in sich aus Heideggers Grundstellung heraus
sachlich völlig zutreffend ist, deren Nachvollzug jedoch zunächst
einmal eine unverkürzte Aneignung der cartesianischen Metaphysik
des endlichen Selbstbewußtseins voraussetzt.
Unsere interpretatorische Durchdringung der »Meditationen«
Descartes’ steht unter dem Leitgedanken Endlichkeit des Selbstbewußtseins und das Problem der Transzendenz. Die Bedeutung des
bewußtseinsanalytischen Gottesaufweises sehen wir in dessen Einsicht, daß das ego cogito an ihm selbst wesensverfaßt ist als transzendierender Bezug zur Herkunft seines Seins, daß somit das Selbstbewußtsein nicht in sich selbst gründet, sondern in Jenem, das das
Selbstbewußtsein in sein Sein hervorgebracht hat und darin erhält.
(Fundamentalontologisch hieße das: Das sich entwerfende Sein ist
für sein Entwerfen schon ein geworfenes Sein – geworfen aus einem
herkünftigen Wurf.) Das Selbstbewußtsein trägt seine Endlichkeit
in sich selbst als seine seinsmäßige Herkunft, der es sich als Selbstbewußtsein verdankt. Weil der transzendierende Wesensbezug des
Selbstbewußtseins ein Bezug zum Seinsursprung ist, nennen wir ihn
die Urtranszendenz. Diese gehörte aber schon zur vollen Wesensverfassung des ego cogito, als dieses erstmals in der II. Meditation enthüllt wurde, nur mit dem Unterschied, daß dort die Urtranszendenz
des ego cogito noch verhüllt blieb. Der bewußtseinsanalytische Aufweis des göttlichen Seinsursprungs in der III. Meditation hat somit
24
Hinführung
keinen schließenden oder ableitenden, sondern einen enthüllenden
Charakter. So gesehen vollendet der bewußtseinsanalytische Gottesaufweis die analytische Freilegung der Wesensverfassung des egocogito-me-cogitare-cogitatum. In diesem als Urtranszendenz verfaßten Selbstbewußtsein gründet sodann die bewußtseinsimmanente
Transzendenz der idealen Wesensverhalte (V. Meditation) sowie die
Bewußtseinstranszendenz der existierenden materiellen Körperwelt
(VI. Meditation). Wie sich zeigen wird, vollzieht sich das endliche
Selbstbewußtsein als das Gefüge eines dreifachen Transzendierens.
Schließlich ist sich die hier vorgelegte Lesart der cartesianischen
»Meditationen« dessen bewußt, daß auch sie aufgrund ihrer Fragestellung und Zugangsweise – durch die jede Interpretation bestimmt
wird – nur eine von mehreren möglichen Sichtweisen auf das Werk
ist, dessen gedankliche Größe sich in der Vielfalt perspektivischer
Auslegungsmöglichkeiten bekundet.
E I N L E I T U NG
§1
Titel und methodische Auszeichnung der
»Meditationen über die Erste Philosophie«
a) Hegel als Sprecher der neuzeitlichen Philosophie
Wir beabsichtigen, Descartes’ »Meditationen über die Erste Philosophie« als eine metaphysische Grundlegung der Metaphysik des
Selbstbewußtseins aus dem Selbstbewußtsein zur Auslegung zu
bringen. Die wegweisende Bedeutung der Einsicht Descartes’, daß
die Philosophie fortan aus dem Selbstbewußtsein zu entfalten sei,
würdigt Hegel im Dritten Teil seiner »Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie«: »Mit Cartesius treten wir, seit der Neuplatonischen Schule, und dem, was damit zusammenhängt, erst
eigentlich in eine selbstständige Philosophie ein, welche weiß, daß
sie selbstständig aus der Vernunft kommt, und daß das Selbstbewußtseyn wesentliches Moment des Wahren ist. Die Philosophie
auf eigenem, eigenthümlichem Boden verläßt gänzlich die philosophirende Theologie, dem Principe nach, und stellt sie auf die andere Seite. Hier, können wir sagen, sind wir zu Hause, und können,
wie der Schiffer nach langer Umherfahrt auf der ungestümen See,
›Land‹ rufen; mit Cartesius hebt in der That die Bildung der neuern
Zeit, das Denken der modernen Philosophie wahrhaft an, nachdem
lange auf dem vorigen Wege fortgegangen worden.«1
An späterer Stelle heißt es: »René Descartes ist ein Heros, der die
Sache wieder einmal ganz von vorne angefangen, und den Boden der
Philosophie von Neuem constituirt hat, auf den sie nun erst nach
dem Verlauf von tausend Jahren zurückgekehrt ist. Die Wirkung
1 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, ed. E. L. Michelet;
WW 15, 18442, 298.
Einleitung
26
dieses Menschen auf sein Zeitalter und die Bildung der Philosophie
überhaupt kann nicht ausgebreitet genug vorgestellt werden.«2 Und
ferner: »In der Philosophie hat Cartesius eine ganz neue Wendung
genommen: mit ihm beginnt die neue Epoche der Philosophie, wodurch der Bildung das Princip ihres höhern Geistes in Gedanken, in
der Form der Allgemeinheit zu fassen vergönnt war […]. Cartesius
ging davon aus, der Gedanke müsse von sich selbst anfangen; alles
bisherige Philosophiren, besonders das von der Autorität der Kirche
ausging, wurde seitdem hintangestellt.«3
Und schließlich: »Cartesius fängt, wie später auch Fichte, mit
dem Ich als dem schlechthin Gewissen an; ich weiß, daß sich etwas
in mir darstellt. Hiermit ist auf einmal die Philosophie in ein ganz
anderes Feld und auf einen ganz anderen Standpunkt versetzt, nämlich in die Sphäre der Subjectivität.«4
Hegel ließen wir als Sprecher der neuzeitlichen Philosophie zu
Wort kommen, die mit Descartes einsetzt und in Hegels Philosophie
ihren Höhepunkt erreicht. Wenn Hegel im Rückblick auf Descartes
betont, daß mit Descartes die Philosophie zur Gewißheit gelange,
daß das Selbstbewußtsein ein wesentliches Moment des Wahren
sei, dann denkt er daran, wie das ego cogito durch Kant zur transzendentalen Apperzeption, durch Fichte zum absoluten Ich der Tathandlung und durch ihn selbst zum absoluten Geist entfaltet wurde.
b) Der Titel des cartesischen Hauptwerkes
Meditationes de prima philosophia – Meditationen über die Erste
Philosophie 5 ist der Obertitel der beiden kurz aufeinander folgenden Auflagen von 1641 und 1642, während der Untertitel in beiden
2
Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, a. a. O., 301.
Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, a. a. O., 304.
4 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, a. a. O., 308.
5 Descartes, Meditationen; ed. Buchenau, Gäbe, Zekl 1977 – Descartes, Meditationen mit Einwänden und Erwiderungen; ed. Buchenau 1954 – Descartes,
Meditationen mit Einwänden und Erwiderungen; ed. Wohlers 2009 – Meditationes; ed. Adam-Tannery VII 1904: S. 1–90 Meditationes, S. 91–561 Objectiones
et Responsiones.
3
§ 1. Titel und methodische Auszeichnung
27
Auflagen voneinander abweicht. In der ersten Auflage heißt es »in
qua Dei existentia et animae immortalitas demonstratur«. Das relativische ›in qua‹ bezieht sich auf die prima philosophia, ›in welcher
die Wirklichkeit Gottes und die Unsterblichkeit der Seele bewiesen wird‹. In der zweiten Auflage ist dieser Untertitel abgewandelt:
»in quibus Dei existentia et animae humanae a corpore distinctio
demonstrantur«. Jetzt bezieht sich das relativische ›in quibus‹ auf
die Meditationen, ›in denen das Dasein Gottes und die Unterschiedenheit der menschlichen Seele vom Körper bewiesen werden‹. Die
Abweichung im Untertitel der zweiten Auflage entspricht dem tatsächlichen Inhalt der »Meditationen«. Diese geben zwar in der Tat
zwei Beweise von der Existenz Gottes, nicht aber – wie die erste
Auflage angibt – einen Beweis für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele. Was die Meditationen tatsächlich enthalten, ist der Beweis von der substanziellen, der wesenhaften Unterschiedenheit der
menschlichen Seele vom Körper. Dieser Beweis ist dann allerdings
eine Voraussetzung für einen möglichen Beweis von der Unvergänglichkeit der Seele und des Geistes im Tod. Sind Körper und Seele
wesenhaft verschieden, dann vergeht im Tod mit dem Körper nicht
auch die Seele.
Den Haupttitel »Meditationes de prima philosophia« werden
wir nun nach seinen drei Bestandteilen erläutern.
meditatio
Lexikalisch gesehen heißt meditatio das Nachsinnen, die Besinnung
oder Betrachtung. Doch die Angabe der lexikalischen Bedeutung
bleibt hier unzureichend. Die Bedeutung von meditatio bestimmt
sich bei Descartes ganz aus der Sache, auf die sich die Besinnung
richtet. Wir werden meditatio als ›Selbstbesinnung‹ deuten müssen.
›Selbstbesinnung‹ wird hier aber einen zweifachen Sinn haben: erstens die Besinnung, in der das Selbst ihr Vollzieher ist; zweitens die
Besinnung, in der das meditierende Selbst sich auf sich selbst besinnt,
so, daß das Selbst und das Ich als Selbstbewußtsein der vorrangige
thematische Gegenstand dieser Besinnung ist. Meditation als Selbstbesinnung ist die Besinnung des Selbst auf sich selbst als Selbstbe-
Einleitung
28
wußtsein, in welchem das Selbst oder das Ich den absolut sicheren
und gewissen Grund und Boden für die darauf neu zu gründende
Philosophie im ganzen findet. Die Meditation als Selbstbesinnung
vollzieht sich als eine Analytik des Ich und des Selbst als des Selbstbewußtseins. Meditation hat für Descartes die Bedeutung, die sich
aus dem Ansatz seines Philosophierens im Selbstbewußtsein ergibt.
prima philosophia
Mit dem Wort prima philosophia im Titel seines Hauptwerkes
macht Descartes deutlich, mit welchem Anspruch dieses Werk auftritt. Prima philosophia ist die lateinische und scholastische Übersetzung des von Aristoteles geprägten Titels πρώτη φιλοσοφία, der
Ersten Philosophie. Wir unterscheiden zwischen der Philosophie
und den Einzelwissenschaften, den positiven Wissenschaften. Weder die Mathematik noch die Physik bezeichnen wir als eine Philosophie, sondern die Mathematik als eine Wesenswissenschaft, die Physik als eine Tatsachenwissenschaft, um hier Husserls Unterscheidung
aufzugreifen. Aristoteles aber verwendet den Ausdruck φιλοσοφία
gleichbedeutend mit dem Wort ἐπιστήμη, Wissenschaft , und nennt
z. Β. die mathematische Wissenschaft (ἐπιστήμη μαθεματική) und
die physikalische Wissenschaft (ἐπιστήμη φυσική) jeweils eine
φιλοσοφία. Im VI. Buch (E) der »Metaphysik«6 1026 a 30–32 sagt
Aristoteles von der πρώτη φιλοσοφία: Die Erste Philosophie ist die
allgemeine (καθόλου) Philosophie, sofern sie die erste ist, und als
erste Philosophie betrachtet sie das Seiende als das Seiende (ὂν ᾗ ὄν).
Das verdeutlicht sich aus dem Beginn des IV. Buches (Γ) der »Metaphysik« 1003 a 21 : Es gibt eine Wissenschaft (ἐπιστήμη), welche
das Seiende als das Seiende (τὸ ὂν ᾗ ὄν) betrachtet und dasjenige,
was dem Seienden an ihm selbst (καθ’αὑτό) zukommt. Diese Wissenschaft, die die Erste Philosophie ist, ist mit keiner der anderen
Wissenschaften gleichzusetzen. Denn alle übrigen Wissenschaften
grenzen aus dem Seienden im Ganzen einen Teil des Seienden aus
und untersuchen nur das, was diesem Teilbereich zukommt. Wenn
6
Aristoteles, Metaphysik; ed. Bonitz, Christ, Seidl 1978.
§ 1. Titel und methodische Auszeichnung
29
Descartes im Titel seines Hauptwerkes Meditationen über die Erste
Philosophie ankündigt, dann geht auch diese letztlich auf das zurück, was Aristoteles als πρώτη φιλοσοφία bestimmt hat. Die Erste
Philosophie ist aber gleichbedeutend mit dem, was später als Metaphysik bezeichnet wurde. Die Erste Philosophie als Metaphysik betrachtet die ersten Prinzipien und Ursachen des Seienden, die noch
›über‹ die Prinzipien und Ursachen des naturhaft Seienden hinausliegen. In diesem Sinne übersteigt das Denken der Ersten Philosophie oder Metaphysik (μετά, trans) alles Seiende auf dessen erste
Prinzipien und Ursachen des Seins hin. Die Metaphysik als Erste
Philosophie übersteigt, transzendiert das Seiende im Ganzen auf
dessen Sein hin. Die ›Meditationen über die Erste Philosophie‹
Descartes’ sind Meditationen über die Metaphysik. Sie sind primär
eine metaphysische (nicht aber eine erkenntnistheoretische) Schrift.
Das ›de‹
Die Meditationes ›de‹ prima philosophia wollen Besinnungen sein
›über‹ die Erste Philosophie, ›über‹ die Metaphysik. Das ›de‹ ließe
sich zweifach deuten. Besinnungen ›über‹ die Erste Philosophie wären auch so möglich, daß sie ›auf‹ den überkommenen Grundlagen
und Prinzipien der Metaphysik durchgeführt werden. Jedoch nach
allem, was wir vom Neuanfang des cartesischen Philosophierens bereits wissen, müssen wir das ›über‹ in anderer Weise verstehen. Es
handelt sich bei Descartes um Besinnungen nicht ›auf‹ dem überlieferten Boden und Grund der Philosophie, sondern um solche Besinnungen, in denen der überlieferte Boden und Grund verlassen
und ein neuer Grund der Ersten Philosophie und Metaphysik gelegt
wird. Im »Vorwort« an den Leser kündigt Descartes an, er wolle in
den »Meditationen über die Erste Philosophie« die Anfänge, d. h.
die Prinzipien der ganzen Ersten Philosophie behandeln (totius primae Philosophiae initia tractare)7 dergestalt, daß er in diesen Meditationen nach einem neuen und tragfähigen Grund für die Erste
Philosophie als Metaphysik Ausschau hält. Die »Meditationen über
7
Descartes, Meditationes (Buchenau), a. a. O., 18; AT VII, 9.
30
Einleitung
die Erste Philosophie« sind das philosophische Unternehmen einer
neuen Grundlegung der Metaphysik. Neue Grundlegung heißt, die
initia, die ἀρχαί und αἴτια, also die ersten Prinzipien der Metaphysik neu zu bestimmen.
c) Methodische Auszeichnung der »Meditationen«
Die »Meditationes de prima philosophia« sind das eigentliche
Grundwerk Descartes’. Sie enthalten Descartes’ grundlegende Besinnungen über die Erste Philosophie, über die Metaphysik und
metaphysischen Grundfragen in ihrem sachlichen Gefüge. Aber
auch die »Principia Philosophiae« enthalten in ihrem Ersten Teil
»De principiis cognitionis humanae« eine Darstellung der Metaphysik Descartes’. Mancher Sachverhalt ist hier sogar ausführlicher
dargelegt als in den »Meditationen«. Allein, das Auszeichnende
der »Meditationen« besteht in ihrem Wegcharakter, d. h. im Besonderen jenes Weges, auf dem Descartes den Grund der neuzeitlichen Philosophie legt und den Bau seiner aus dem ersten Prinzip des
Selbstbewußtseins gefügten Metaphysik errichtet. Das Auszeichnende dieses Weges zeigt sich in der eigentümlichen ›Beweisart‹ der
»Meditationen«. In Descartes‹ »Erwiderungen« auf die Zweiten
Einwände, die der Cartesianer Mersenne gegen die »Meditationen«
erhoben hat, nimmt Descartes zu der eigentümlichen ›Beweisart‹
in den »Meditationen« aufschlußreich Stellung.
Hier in den genannten »Erwiderungen« unterscheidet Descartes
zwei Beweisarten: die Analysis und die Synthesis.8 Spricht Descartes
von der synthetischen Beweisart, dann blickt er auf die Geometrie.
Die synthetische Methode der Geometrie geht aus von Definitionen,
Postulaten und Axiomen, um von diesen aus einen geometrischen
Satz schlüssig zu beweisen. Diese Beweisart legt ihr Schwergewicht
auf die logische Folgerung und Stringenz. Die synthetische Beweisart
verfährt logisch-deduktiv. Zu dieser sagt Descartes: Wenn jemand
8 Descartes, Meditationen mit Einwänden und Erwiderungen (Buchenau),
a. a. O., 140 f.; AT VII, 155 f.
§ 1. Titel und methodische Auszeichnung
31
einem synthetisch geführten Beweis innerhalb des logischen Folgerns eine logische Konsequenz bestreitet, vermag man dem Zweifler sogleich zu zeigen, daß das logisch Gefolgerte im vorhergehenden
Axiom oder Satz, der seinerseits letztlich auf das Axiom zurückgeht,
enthalten ist. Dadurch werde dem widerstrebenden und hartnäckigen Gegner die Zustimmung zu der logischen Folgerung entrissen.
Indessen ist der so geführte Beweis für Descartes nicht die einzige
und nicht die erste Beweisart, der man sich im Denken der Philosophie und gar der Metaphysik zu bedienen habe. Ihr Mangel beruhe
darin, daß sie nicht imstande ist, die Art und Weise zu lehren, in der
die Sache, um die es geht, erstmals gefunden werden kann. Zu zeigen
und zu lehren, wie ein Sachverhalt gefunden, d. h. aufgedeckt und
aufgeschlossen, also enthüllt wird, ist das Eigentümliche dessen, was
Descartes die Analysis oder die analytische Beweisart nennt. Diese
kennzeichnet er so: Die Analysis zeige den wahren Weg, auf dem
eine Sache methodisch und apriori gefunden werde, so, daß, wenn
der Leser ihr folgen und sein Augenmerk darauf richten wolle, er die
Sache genau so vollkommen einsehen und sie ebenso sich zu eigen
machen werde, wie wenn er selbst sie gefunden hätte (Analysis veram
viam ostendit per quam res methodice et tanquam apriori inventa
est, adeo ut, si lector illam sequi velit atque ad omnia satis attendere,
rem non minus perfecte intelliget suamque reddet, quam si ipsemet
illam invenisset).9
Somit wird deutlich, wie sich für Descartes Analysis und Synthesis zueinander verhalten. Die synthetische Beweisart ist nur möglich, nachdem die Sache zuvor auf analytischem Wege zum Aufweis
gebracht worden ist. Wir sagen jetzt statt ›bewiesen‹ zutreffender
›aufgewiesen‹, ›zum Aufweis gebracht‹. Denn Descartes meint,
wenn er vom Weg des Findens einer zu denkenden Sache spricht,
nichts anderes als den Weg des Aufweisens. Die analytische Beweisart ist die Art des Aufweisens im Unterschied zur synthetischen Beweisart des logisch folgernden Beweisens. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Arten des Vorgehens besteht darin, daß in
9 Descartes, Meditationen mit Einwänden und Erwiderungen (Buchenau),
a. a. O., 140; AT VII, 155.
32
Einleitung
der analytischen Methode die Sache allererst aufgewiesen wird, während die synthetische Methode angewiesen bleibt auf den vorangehenden methodisch geleiteten Sachaufweis, um im nachhinein für
die logisch-systematische Darstellung des zuerst analytisch Aufgewiesenen Sorge zu tragen.
Nachdem Descartes diese beiden Beweisarten gegenübergestellt
hat, sagt er: »Ich meinerseits bin in meinen Meditationen ausschließlich den Weg der Analysis gegangen, der zur Belehrung der
wahre und beste Weg ist, während die Synthesis […] doch für diese
metaphysischen Gegenstände nicht so recht passen würde« (Ego
vero solam Analysim, quae vera et optima via est ad docendum, in
Meditationibus meis sum sequutus; sed quantum ad Synthesim […]
non tamen ad has Metaphysicas tam commode potest applicari).10
Mit diesen Ausführungen Descartes’ zu den beiden methodischen
Vorgehensweisen haben wir zwar noch keinen Einblick in deren Unterschied. Das Eigentümliche des analytischen Aufweisens lernen
wir aber kennen, wenn wir uns dem methodischen Vorgehen in den
»Meditationen« zuwenden. Die Methode des analytischen Aufweises gibt den »Meditationes« und deren Entfaltung der Grundlagen
der cartesischen Metaphysik einen Vorzug vor der Darstellung desselben Gehaltes in den »Prinzipien der Philosophie«. Dennoch ziehen wir für die Durchsprache einer jeden sachlichen und methodischen Frage alle parallelen und ergänzenden Textstellen aus den anderen metaphysischen und methodischen Schriften Descartes’ heran.
§2
Philosophie als System aller Wissenschaften
Mit der Suche nach dem neuen Grund und Boden für die Metaphysik behält Descartes zugleich das auf Aristoteles letztlich zurückgehende Gründungsverhältnis von Erster Philosophie und den
10 Descartes, Meditationen mit Einwänden und Erwiderungen (Buchenau),
a. a. O., 141; AT VII, 156. Vgl. Schmidt 1971, 9 ff.; Perler 2006, 62 ff.; Schäfer 2006,
25 ff.
§ 2. Philosophie als System aller Wissenschaft en
33
Wissenschaften bei. Durch den neuen Grund, den er im Selbstbewußtsein finden wird, erhält nicht nur die Erste Philosophie selbst,
sondern durch sie hindurch erhalten auch alle Wissenschaften ihre
neue Begründung.
Über dieses Gründungsverhältnis äußert sich Descartes in dem
berühmten philosophischen Brief an seinen engen Freund und
Übersetzer seiner lateinisch verfaßten »Prinzipien der Philosophie«
ins Französische, Abbé Picot. Diesen Brief bestimmte Descartes hernach als Vorwort für die französische Ausgabe der »Prinzipien der
Philosophie«.1 In diesem Brief (S. XLI) spricht Descartes von der
wahren Philosophie. Die wahre Philosophie ist für ihn nicht nur die
Philosophie im engeren Sinne. Descartes gebraucht den Ausdruck
›Philosophie‹ ähnlich wie Aristoteles in der weiten Bedeutung von
Wissenschaft überhaupt. Philosophie ist für ihn in einem weiten
Sinne das System aller Wissenschaften, d. h. alles wissenschaft lich
begründeten Wissens, jenes Umschließende, das die Philosophie
im engeren Sinne und alle Wissenschaften einschließt. Diese umfassende Philosophie ist für Descartes dann die wahre Philosophie,
wenn sich die Wahrheit der in ihr zusammengeschlossenen Wissenschaften aus dem neu gelegten Grund der universalen Philosophie
bestimmt.
Die neue Grundlegung soll in einem Teil der umfassenden Philosophie erfolgen. Weil es innerhalb der umfassenden Philosophie
der für alle anderen Teile grundlegende Teil ist, heißt er Erste Philosophie. Daher sagt Descartes in seinem Brief an Picot: Der Erste Teil
der wahren Philosophie ist die Metaphysik. Sie enthält die Prinzipien der Erkenntnis. Der Zweite Teil der universellen Philosophie
ist die Physik. Descartes umschreibt die Thematik der Physik so:
Weil die Physik es mit der materiellen Natur zu tun hat, müssen in
ihr zunächst die wahren Prinzipien der materiellen Dinge aufgewiesen werden. Die zentrale Aufgabe der »Meditationen über die Erste
Philosophie« wird es aber sein, das Selbstbewußtsein in der Gestalt
1 Descartes, Schreiben des Verfassers an Abbé Picot, in: Die Prinzipien der Philosophie; ed. Buchenau 1955, XXXI–XLVII; AT IX (Zweiter Teil): Les principes
de la philosophie, 1–20.
34
Einleitung
des ego-cogito als die denkende Substanz (res cogitans) in einer absolut gesicherten Weise zu erkennen und diese gegen das körperlichmaterielle Seiende, gegen die räumlich ausgedehnte Substanz (res extensa) abzuheben. Die sichere Erkenntnis der allgemeinen Natur der
ausgedehnten Substanz ist somit das, was die Erste Philosophie als
Metaphysik für die Physik zu leisten hat. In der aus dem ego-cogito
als dem Selbstbewußtsein gesicherten Wesenserkenntnis der ausgedehnten Substanz besteht die Grundlegung der Physik durch die
Metaphysik des Selbstbewußtseins. Die allgemeine Seinsstruktur,
in der die ausgedehnte Substanz gedacht wird, läßt sich die Physik
von der Metaphysik vorgeben, um ihrerseits die weniger allgemeinen Prinzipien der materiellen Substanzen (Körper) zu bestimmen.
Der Physik als dem Zweiten Teil der Universalphilosophie entspringen weitere Wissenschaften, z. Β. die Medizin, die über die Vermittlung der Physik ihre letzte Begründung auch aus der Metaphysik
erhält.
Descartes veranschaulicht (S. XLII) sein System der wahren Philosophie, der Universalphilosophie, in dem Bilde eines Baumes, an
dem wir Wurzel, Stamm und Zweige unterscheiden. »Die gesamte
Philosophie ist also einem Baume vergleichbar, dessen Wurzel die
Metaphysik, dessen Stamm die Physik und dessen Zweige alle übrigen Wissenschaften sind«.2 Die Wurzel ernährt den Baum im ganzen, seinen Stamm und durch diesen hindurch die Zweige. Wie es
keinen Baum mit Stamm und Zweigen ohne die Wurzel gibt, so
gibt es kein gegründetes menschliches Wissen in den Wissenschaften ohne die Erste Philosophie, ohne die Metaphysik. Alles, was wir
über die Erste Philosophie und deren Verhältnis zu den anderen
Philosophien oder Wissenschaften bei Aristoteles ausgeführt sehen,
ferner was wir über die Funktion der Ersten Philosophie als Wurzel
des Baumes der universellen Philosophie bei Descartes ausgeführt
haben, müssen wir im Blick behalten, wenn wir den Titel von Descartes’ metaphysischem Hauptwerk »Meditationen über die Erste
Philosophie« in zureichender Weise verstehen wollen.
2 Descartes, Schreiben des Verfassers an Abbé Picot, a. a. O., XLII; AT IX (Zweiter Teil), p. 14.
E R S T E S K A PI T E L
DE R W E G DE S M ET HODI S CH E N Z W E I F E L S
F Ü R DI E G RU N DL E GU NG DE R M ETA PH Y S I K .
DI E M ET HODI S CH E F U N K T ION DE S
Z W E I F E L S U N D DI E Z W E I F E L S G RÜ N DE
Die erste von sechs Meditationen trägt die Überschrift: De iis quae
in dubium revocari possunt – Über alles das, was in den Zweifel
zurückgerufen werden kann. Hier ist es wichtig, revocari wörtlich
zu übersetzen, weil dieses Wort genau das nennt, was im dubitare
geschieht. Aus welchem sachlichen Grund setzt das Philosophieren
Descartes’ mit dem ›in dubium revocare‹ ein? Nicht etwa deshalb,
weil nun einmal der Zweifel zum Geschäft der Philosophie gehört,
sondern allein deshalb, weil Descartes’ Ausgang vom Zweifel bereits
geleitet ist aus seinem Vorblick auf dasjenige, was er als das neue
Fundament der Philosophie setzen wird. Die »Meditationen« sind
als Text so angelegt, daß ihr Autor auf das erste Prinzip der Metaphysik in Gestalt des sich seiner selbst vergewissernden Ichs oder
Selbstbewußtseins als des absolut unbezweifelbaren Fundamentes
zubewegt, das nur gefunden werden kann auf dem Wege des zur
Methode erhobenen Zweifels.
Der Inhalt der ersten Meditation ließe sich kurz berichten. Vieles auf den nur wenigen Druckseiten scheint bloß literarisches Beiwerk zu sein. Auch die Sprache, in der Descartes seinen Zweifelsweg
durchläuft, scheint vielfach in die Nähe eines Erzähltons zu geraten. Überdies scheinen die rationes dubitandi, die Zweifelsgründe,
die ihn dazu veranlassen, die Wahrheit seines gesamten bisherigen
wissenschaftlich-philosophischen, aber auch vorwissenschaft lichen
Erkenntniswissens außer Geltung zu setzen, an den Haaren herbeigezogen. Die wenigen Druckseiten – so scheint es – geben nicht den
Eindruck einer strengen Gedankenarbeit. Daher scheint sich eine
allzu ausführliche Beschäftigung mit diesen nicht recht zu lohnen.
Doch diesem Anschein zum Trotz sagt Descartes in seinen »Erwi-
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