Kleinertnp-, Soziale Arbeit im Bereich der Justiz Beiträge np 5/2009 5/2009 Axel Bohmeyer Soziale Arbeit und Religion – sozialwissenschaftliche und anthropologische Spurensuchen in postsäkularer Gesellschaft Einleitung Im stillschweigendem Einvernehmen mit der modernisierungstheoretischen Säkularisierungsthese – verstanden als das Verschwinden der Religion aus der Gesellschaft – geht auch der Mainstream der Sozialen Arbeit davon aus, dass Religion in ihren unterschiedlichen Praxisfelder keine Rolle spielt. Das Thema Religion stößt anscheinend auf ein tiefsitzendes Misstrauen. Doch ein lebensweltlicher bzw. alltagsorientierter Blick belehrt uns eines Besseren. Verortet die Soziale Arbeit ihren Ausgangspunkt konsequent in der Perspektive und subjektiven Sicht ihrer Adressaten, dann wird sie sich dem Phänomen der Religion nicht entziehen können. Religion taucht dann in ihrer subjektiven Seite als Religiosität in der individuellen Lebensführung und alltäglichen Lebensbewältigung der Adressaten auf. Mit einem solchen lebensweltorientierten Referenzpunkt hätte die Soziale Arbeit nicht erst darauf warten müssen, dass die Sozialwissenschaften – diese lebensweltlichen Phänomene ignorierend – in das Stadium einer erneuten Beschäftigung mit der Religion und Religiosität treten. Denn innerhalb der unterschiedlichen Theoriediskurse der Sozialen Arbeit ist Hans Thierschs Konzept der Alltags- und Lebensweltorientierung eigentlich ein bedeutsamer und profilierter theoretischer Ansatz (vgl. May, 2008: 41–68). Doch auch mit diesem theoretischen Rüstzeug im Gepäck steht die Soziale Arbeit in einer Distanz zur Religion (eine Ausnahme ist: Grose, 2004).1 Das ist überraschend, denn das lebensweltorientierte Konzept insistiert doch auf der Notwendigkeit, sich auf menschliche Erfahrungen und Praktiken zu beziehen und steht so in Opposition zu einem voreingenommenen Blick. Gerade mit Blick auf die Religion hat die Soziale Arbeit aber über die Köpfe der Betroffenen hinweg ein negatives Urteil gefällt.2 Für die lebensweltorientierte Soziale Arbeit ist es wichtig, eben diese oftmals auch religiös formatierte Lebenswelt der Subjekte zumindest wahrzunehmen, wobei ja mit dem lebensweltorientierten Blick keinesfalls ein affirmatives Vorgehen impliziert wird, sondern im Gegenteil eine kritische Perspektive etabliert werden soll. Wichtig aber ist: Soziale Arbeit in postsäkularer Gesellschaft hat sich darauf einzustellen, dass in der sich weiterhin säkularisierenden Moderne religiöse Gemeinschaften und religiöse Einstellungen in der pluralistischen Öffentlichkeit präsent sein werden. Im Weiteren geht es somit um theoretische Klärungen, die den Zusammenhang 1 Im erziehungswissenschaftlichen Diskurs hat es Anfang der 1990er eine ausführlichere Debatte gegeben. Vgl. dazu das Schwerpunktthema »Religion und Pädagogik« in der Zeitschrift für Pädagogik, 38. Jg. (1992), Nr. 2. 2 Dieses Urteil bzw. dieser blinde Fleck der Sozialen Arbeit ist auch deshalb irritierend, findet doch ein großer Teil der Sozialen Arbeit in der Verantwortung kirchlicher Träger statt. 439 01_5_2009_Beitrag Bohmeyer.indd 439 MedienServiceCenter Renda-Becker 16.12.2009 08:12:04 3 16/12/2009 np Bohmeyer, Soziale Arbeit und Religion 5/2009 von Sozialer Arbeit und Religion aufzeigen. Zuerst wird ein sozialwissenschaftlicher Zugang zum Phänomen der Religion eröffnet und die derzeit vorgenommenen theoretischen Präzisierungen des Säkularisierungstheorems werden skizziert (1). Im Anschluss an die sozialwissenschaftlichen Ausführungen wird das Phänomen der Religion bzw. des Religiösen aus anthropologischer Perspektive ausgeleuchtet (2) und dann der Entwurf einer postsäkularen Gesellschaft erläutert (3). Daran anschließend wird das Konzept lebensweltorientierter Sozialer Arbeit dargelegt (4), und in einem weiteren Schritt (5) werden die Konsequenzen für die Soziale Arbeit aufgezeigt. Abschließend (6) sollen die Ambivalenzen nicht verschwiegen werden, die mit dem Phänomen der Religion im Kontext der Sozialen Arbeit verbunden sind und die ein großes Aufgabenfeld erschließen. 1 Religion im sozialwissenschaftlichen Diskurs Mit Blick auf die Religion oder das Religiöse hat es in den letzten Jahren in den Sozialwissenschaften einen wirkmächtigen Perspektivwechsel gegeben. Religion hat Konjunktur. Mit der Kritik an der einstmals unantastbaren Theorie von der fortschreitenden Säkularisierung moderner Gesellschaften werden auch – so jedenfalls scheint es – die klassischen soziologischen Denker infrage gestellt. Säkularisierungstheorie Zumindest auf Auguste Comte trifft das zu, ging dieser doch von der säkularistischen Grundannahme aus, dass Religion in der Moderne verschwinden würde. Die Säkularisierungstheorie von Max Weber und Emile Durkheim aber auch neuere Säkularisierungstheorien gehen aber gar nicht so weit, dass Religion in der Moderne unausweichlich verschwinden wird. Es wird zwar ein Bedeutungsrückgang der Religion bzw. des Religiösen für die Gesellschaft konstatiert, keinesfalls aber ihr Verschwinden. In dieser Hinsicht kann man von der Mehrdeutigkeit des Säkularisierungstheorems sprechen. Drei Bedeutungen des Begriffs der Säkularisierung lassen sich insgesamt herausarbeiten. Erstens meint Säkularisierung die Abnahme oder das Verschwinden der Religion, zweitens den Rückzug der Religion aus der Öffentlichkeit und drittens eine gesellschaftliche Ausdifferenzierung in unterschiedliche Teilbereiche und damit deren Ablösung von der Religion (vgl. Joas, 2007).3 Wenn nun der Soziologe Detlef Pollack der Säkularisierungstheorie nach wie vor auch eine breite empirische Grundlage zuspricht, so »dass eine Bestreitung ihrer Gültigkeit auf eine Ignoranz gegenüber der empirischen Datenlage hinausläuft« (Pollack, 2006: 10), dann geht er einerseits von einer sehr differenzierten Säkularisierungstheorie aus: Hiernach lautet die zentrale Annahme, »dass in dem Maße, wie sich moderne Lebensformen und Lebensstile ausbreiten und Prozesse der Industrialisierung, Urbanisierung, Wohlstandsanhebung, Pluralisierung und Individualisierung durchsetzen, die soziale Signifikanz von Religion und Kirche abnimmt und religiöse Weltsichten durch säkulare ersetzt werden. Die Behauptung eines Spannungsverhältnisses von Religion und Moderne macht den Kern der Säkularisierungsthese aus. Diese These besagt nicht, dass der gesellschaftliche Bedeutungsrückgang von Religion sich unausweichlich vollzieht, noch dass er unumkehrbar ist und natürlich auch nicht, dass es sich um einen wünschenswerten Prozess handelt, wohl aber, dass er unter den Bedingungen der Moderne wahrscheinlich ist.« (Pollack, 2006: 19) Andererseits geht Pollack aber auch von einem sehr engen Begriff der Religion und dem Religiösen aus. Die quantitative empirische Forschung ist natürlich auf harte Fakten angewiesen und greift deshalb insbesondere auf die Kirchlichkeit und religiöse Praxis der Menschen zurück. Hier ist ohne Zweifel ein Plausibilitätsverlust ehemals bedeutsamer religiöser Vermittlungsinstanzen und damit einhergehend deren Entmonopolisierung festzustellen. Doch der religiöse Formwandel ist nicht so stark mit dem Bedeutungsrückgang des Religiösen verbunden, wie Pollack behauptet (vgl. Pollack, 2006; und auch Casanova, 2007). 3 Mit Blick auf das dritte Verständnis lohnt sich eine Auseinandersetzung mit Niklas Luhmanns Theorie der Ausdifferenzierung der Gesellschaft in funktionale Systeme. Vgl. dazu Luhmann, 1996; und Luhmann, 2002. 440 01_5_2009_Beitrag Bohmeyer.indd 440 MedienServiceCenter Renda-Becker 16.12.2009 08:12:04 4 16/12/2009 np Bohmeyer, Soziale Arbeit und Religion 5/2009 Im Kontext der Individualisierungsprozesse kommt es nämlich zu einer Subjektivierung der Religion und der dort praktizierten dominanten Formen des Religiösen. Der Bedeutungsverlust der institutionalisierten Religion ist dann nicht mit einem individuellen Bedeutungsverlust gleichzusetzen. Im Gegenteil: Durch die Individualisierungsprozesse der modernen Gesellschaft kommt es zu einem Anstieg einer subjektivierten Religiosität, zu einer Pluralisierung der Religiosität und der religiösen Formen, Inhalte und Verhaltensweisen. Eine solche subjektivierte Subjektivierte Religiosität mit ihrer synkretistischen Gestalt des Religiösen ist methodisch viel Religiosität schwieriger zu erfassen, als das bei institutionalisierter religiöser Zugehörigkeit und institutionalisierter religiöser Praxis der Fall ist. Die empirische Analyse der im Zuge der Individualisierung transformierten ehemaligen religiösen Praktiken in religiöse Versatzstücke – im Modus der Erlebnisorientierung, Psychologisierung, Spiritualisierung und Ästhetisierung – ist ein anspruchsvolles Unternehmen.4 2 Religion in anthropologischer Perspektive Der deskriptive sozialwissenschaftliche Zugang zum Phänomen der Religion bzw. des Religiösen lässt sich auf einer tiefer liegenden Ebene um eine anthropologische Perspektive ergänzen. Religion bzw. Religiosität soll für das Selbstverständnis des Menschen konstitutiv, als eine anthropologisch gegebene Disposition, entfaltet werden. Das Religions- oder Transzendenzbedürfnis ist der anthropologische Bezugspunkt, der Mensch wird als »homo religiosus« identifiziert. Religion und Religiosität sind damit nicht stillzulegende menschliche Phänomene, womit wir uns im Kontext einer philosophisch-anthropologischen Theoriebildung befinden – die von der Sozialen Arbeit nicht ignoriert werden kann. Eine solche anthropologische Perspektive findet sich schon bei Ludwig Feuerbach, der die Existenz der Religion strukturell im Wesen des Menschen ansiedelt (vgl. Feuerbach, 1969).5 Seine anthropologische Analyse der Herkunft der Religion wird von ihm in einem zweiten Schritt religionskritisch gewendet. Religion entspringt demnach einem verzerrten Selbstbewusstsein und produziert ein falsches Selbstbild. Die Chiffre der Gottbildlichkeit aus Gen 1,26 wird dialektisch gewendet: Es ist der Mensch, der sich seinen Gott gemäß seinen eigenen Bedürfnissen macht. Dieses Bedürfnis unterscheidet den Menschen vom Tier. Doch es gründet sich nicht in einem objektiven Wesen, sondern im Gattungsbewusstsein des Menschen. Für Feuerbach bindet der Mensch sich aus einer Schwäche bzw. aufgrund eines Selbstbetrugs an etwas Transzendentes außerhalb seiner selbst zurück. Diese Rückbindung stellt einen Zustand der Entfremdung dar, verharrt der Mensch doch in einem Zustand, den er im aufgeklärten Bewusstsein nicht einnehmen müsste. So verstanden führt die Feuerbachsche Anthropologie dann im Zusammenhang mit seiner Religionskritik zu der modernisierungstheoretisch zugespitzten These, dass Religion innerhalb der Menschheitsentwicklung ein primitives Stadium darstellt.6 Insofern religiöse Praktiken weiterhin zu beobachten sind, sind diese als ein Atavismus bzw. als weiterhin existente Entfremdung des Selbstbewusstseins zu deuten. In diese religionskritische Richtung bewegt sich auch der bri- Feuerbachsche Anthropologie 4 Ein wichtiger Referenzautor für die Pluralisierung der religiösen Ausdrucksformen und die Entkirchlichung des Religiösen ist William James. Seines Erachtens hat die Religion ihren eigentlichen Ort in der individuellen Erfahrung des Religiösen und nicht in den körperschaftlich verfassten Religionsgemeinschaften. Vgl. James, 1997; und dazu Taylor, 2002. 5 Laut Feuerbach ist das Geheimnis der Theologie die Anthropologie. Streng genommen lässt eine anthropologische Auseinandersetzung mit dem Religionsbedürfnis des Menschen – der Mensch als homo religiosus – die Theologie außen vor. Die theologische Anthropologie kann aber mit ihren spezifischen Problemen auch wieder thematisch werden. Vgl. zur theologischen Anthropologie und ihrem spezifischen Gegenstandsbereich: Schoberth, 2006. 6 Im Übrigen betont Feuerbach damit die Geschichtlichkeit der Anthropologie und die Möglichkeit der Veränderung der conditio humana. 441 01_5_2009_Beitrag Bohmeyer.indd 441 MedienServiceCenter Renda-Becker 16.12.2009 08:12:04 5 16/12/2009 np Bohmeyer, Soziale Arbeit und Religion 5/2009 Existenzielle Rückbindung tische Biologe Richard Dawkins, der bei religiös musikalischen Menschen einen »Gotteswahn« diagnostiziert (vgl. Dawkins, 2008). Mit seiner evolutionsbiologischen Kritik des religiösen Glaubens ruft er einen neuen Atheismus aus, der sich auf die Naturwissenschaften beruft und Religion als eigentlich gefährliche Wahnvorstellung, höchstens aber als nützliche Illusion mit evolutionärem Selektionsvorteil entlarvt. Zudem tritt ein politisches Anliegen zu Tage: Ohne den wahnhaften Gottesglauben würde es laut Dawkins keinen politischen Fanatismus, keine Intoleranz und keine Diskriminierung geben. Nicht erst die Thesen dieses neuen Atheismus, schon die religionskritische Spitze Feuerbachs, seine These von einer Verblendung des menschlichen Selbstbewusstseins durch die Rückbindung an die Religion, verdeckt die eigentlich vorgängige anthropologische These: In der Religion geht es um eine existenzielle Rückbindung an eine andere – nicht empirische – letzte Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit liegt außerhalb der menschlichen Zugriffsmöglichkeiten, wirkt aber auf die Lebenswirklichkeit der Menschen ein. Durch bestimmte Weltdeutungsangebote, praktische Handlungsorientierungen und rituelle Praktiken strukturiert das Sinnsystem Religion das Leben des religiösen Menschen. Eine solche existenzielle Rückbindung ist als eine universellanthropologische Struktur zu interpretieren. Religion bzw. Religiosität gehört in diesem Sinne zur conditio humana. Man wird »davon ausgehen können, dass der – theistische, deistische oder »spiritualistische« – Glaube an etwas Höheres unausrottbar zum Menschen gehört und auf einer innerweltlichen Erfahrung aufruht, die jedermann und jede Frau hat: auf der Erfahrung von Transzendenz« (Ebertz, 2006: 63). Auch bei einer anthropologischen Verortung der Religion entzieht sich der Begriff aufgrund der Komplexität des Phänomens einer abschließenden Definition. So sind die Grenzen zu anderen Begriffen (Magie, Numinoses, Kult, Weltanschauung, Moral) nicht immer trennscharf zu ziehen und die unterschiedlichen historischen Ausprägungen erschweren eine präzise Definition ebenfalls. Ein anthropologischer Zugang zur Religion kann aber herausarbeiten, dass »Menschen, im Unterschied zu anderen Tieren, sich Zwecke setzen, sie leben auf Ziele hin, und ihnen erscheint sogar das Weiterleben selbst als Ziel, und dies hat zur Folge, daß Menschen mit dem Problem des Zufalls und der Kontingenz konfrontiert sind, und dies hat überall in der voraufgeklärten Geschichte der Menschheit dazu geführt, das, was in seiner Auswirkung auf uns kontingent ist, seinerseits zielhaft zu deuten als Ausfluß mächtiger, übernatürlicher Wesen, die dann auch personal, also als Götter gedeutet wurden.« (Tugendhat, 2007a: 179) Auch nach der Aufklärung bleibt für Ernst Tugendhat dieses Bedürfnis nach Religion bestehen und er will dieses Bedürfnis nicht wie Feuerbach religionskritisch mit einem falschen menschlichen Selbstbewusstsein in Verbindung bringen.7 Das Bedürfnis nach Religion gründet in einer unhintergehbaren Erfahrung von Kontingenz, wobei der eigene Tod und der Tod der anderen Menschen die größte Erfahrung menschlicher Kontingenz ist.8 Ein solcher funktionalistischer Religionsbegriff deutet Religion als einen Lösungsansatz oder als Bewältigungsstrategie von Kontingenzerfahrungen. »Kontingenz meint, dass etwas möglich, aber nicht notwendig ist, dass es ist, was es ist, aber auch ganz anders sein könnte. Kontingenz ist also durch die gleichzeitige Negation von Notwendigkeit und Unmöglichkeit definiert und provoziert die Frage, warum etwas so ist, wie es ist, und warum es nicht anders ist.« (Pollack, 2007: 24) Im Gegensatz zu anderen Lösungsansätzen zur Überwindung der Kontingenz arbeitet die religiöse Kontingenzbewältigung beim Umgang mit Sinnproblemen mit dem Ausgriff auf das Übernatürliche, Metaphysische oder Heilige. Ein religiöser Mensch gründet seine Existenz letztlich nicht in sich selbst oder in anderen Menschen oder diesseitigen Ideen, also nicht in der irdischen Wirklichkeit, sondern im Transzendenten. 3 Die postsäkuläre Gesellschaft Mithilfe dieser sozialwissenschaftlichen und anthropologischen Spurensuchen nähern wir uns dem von Jürgen Habermas geprägten Begriff der postsäkularen Gesellschaft. Es wäre nun gerade im Kontext der Säkularisierungstheorie falsch, die 7 Tugendhat behauptet aber, dass der Mensch diesem Bedürfnis aus intellektueller Redlichkeit nicht nachgeben dürfe. Vgl. dazu Tugendhat, 2007b. 8 Tugendhat betont, dass er nicht theologisch argumentiert, sondern Religion »nur rein subjektiv als Ausdruck eines anthropologischen Bedürfnisses verstehen« will (Tugendhat, 2007b: 200). 442 01_5_2009_Beitrag Bohmeyer.indd 442 MedienServiceCenter Renda-Becker 16.12.2009 08:12:04 6 16/12/2009 np Bohmeyer, Soziale Arbeit und Religion 5/2009 postsäkulare Gesellschaft als ein historisches Entwicklungsstadium zu verstehen, also nach dem Schema verzauberte Gesellschaft – entzauberte Gesellschaft – wiederverzauberte Gesellschaft (vgl. Knapp, 2008; Höhn, 2006). Die Vorsilbe »post« meint nicht, dass die Säkularisierungsprozesse zu Ende sind. Der zeitdiagnostische Gehalt des Begriffspaars liegt in einer neuen Aufmerksamkeitsökonomie: Nicht nur im privaten Leben, sondern auch im öffentlichen Bereich ist Religion präsent. Eine postsäkulare Gesellschaft ist deshalb dadurch gekennzeichnet, dass sie »sich auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Umgebung einstellt« (Habermas, 2001: 13)9. Religiöse Gemeinschaften und säkulare Gemeinschaften werden in der Moderne nebeneinander existieren. Habermas spricht also nicht von einer Wiederkehr des Religiösen, sondern er versucht das Verhältnis von religiösen Gemeinschaften und säkularen Bürgern in der politischen Öffentlichkeit neu zu bestimmen. Der deskriptiv-prognostischen Zeitdiagnose liegt aber auch ein normativ relevanter Problemkomplex zu Grunde. Habermas befürchtet, dass die Modernisierungsprozesse aufgrund eines »säkularistisch beschränkten Bewusstseins« (Habermas, 2005: 146) entgleisen könnten, dass sie sich dialektisch umkehren und gegen sich selbst wenden – ein Gedanke, der Max Horkheimers und Theodor W. Adornos »Dialektik der Aufklärung« (Horkheimer/Adorno, 1997) nahesteht. Die Auswirkungen der Säkularisierungsprozesse sind für die modernen Gesellschaften also nicht uneingeschränkt positiv zu bewerten, sondern mit Verlusten und Gefährdungen verbunden. Angesichts der moralischen Herausforderungen der Biowissenschaften und ihrem Einfluss auf das gattungsethische Selbstverständnis der Menschen – der sich in einer Unterwanderung der conditio humana äußert – soll das semantische Potenzial der Religionen als Korrektiv zum Einsatz kommen. Darin ist für Habermas ein unverzichtbares Vernunftpotenzial eingelassen, auf das die säkularisierten Gesellschaften nicht verzichten können, wollen sie ihre moralischen Grundlagen nicht aufs Spiel setzen. Im Kontext der Biowissenschaften verweist Habermas auf die Idee der Gottbildlichkeit (vgl. Habermas, 2001: 30; Knapp, 2008: 277–279). Habermas fordert also einen Perspektivwechsel, der in einem Prozess des gegenseitigen Lernens zwischen säkularisierten und religiös grundierten Bürgern mündet. Insbesondere erstere können die Säkularisierung nicht (länger) aggressiv vorantreiben, wollen sie die semantischen Potenziale des Religiösen nicht aus der Öffentlichkeit verbannen. Die Säkularisierung darf normativ nicht so verstanden werden, dass religiöse Überzeugungen aus öffentlichen Diskursen ausgeschlossen werden dürften. »Die Suche nach Gründen, die auf allgemeine Akzeptabilität abzielen, würde aber nur dann nicht zu einem unfairen Ausschluss der Religion aus der Öffentlichkeit führen und die säkulare Gesellschaft nur dann nicht von wichtigen Ressourcen der Sinnstiftung abschneiden, wenn sich auch die säkulare Seite einen Sinn für die Artikulationskraft religiöser Sprachen bewahrt« (Habermas, 2001: 22). Nebeneinander von religiösen und säkularen Gemeinschaften 4 Lebensweltorientierte Soziale Arbeit Eine lebensweltorientierte Soziale Arbeit weiß, dass die Adressaten der Sozialen Arbeit sich immer schon in einem bestimmten Horizont bewegen, den es wahrzunehmen und zu interpretieren gilt. »Wir sind in den Netzen der Lebenswelt in 9 Vgl. zu Auseinandersetzung mit der Friedenspreisrede auch Langthaler/Nagl-Docekal, 2007. 443 01_5_2009_Beitrag Bohmeyer.indd 443 MedienServiceCenter Renda-Becker 16.12.2009 08:12:05 7 16/12/2009 np Bohmeyer, Soziale Arbeit und Religion 5/2009 Phänomenologischer Zugang zur konkreten Lebenswirklichkeit erheblichem Maße durch die schon längst vor unserer Zeit eingefädelten Regelungen determiniert und verstehen uns dennoch als mitverantwortliche Gestalter der Vernetzungen, die uns Handlungsspielräume eröffnen, welche es innovativ zu nutzen gilt« (Lesch, 2007: 89–90). Der Mensch wird also nicht als ein atomisiertes, isoliertes oder autarkes Individuum verstanden, sondern als ein sozial verankertes Wesen. Eingebunden in eine grundlegende Sozialität bzw. in vorfindliche gesellschaftliche Verhältnisse versucht der Mensch sich in dieser Wirklichkeit mit seinen eigenen Deutungen und Handlungsmustern zu behaupten. Das Konzept der Lebensweltorientierung wurde in der Sozialen Arbeit im Wesentlichen von Hans Thiersch theoretisch entwickelt und konsequent ausgebaut (vgl. Thiersch, 2000; Thiersch, 2002). Der Ansatz weiß um die sozialen Veränderungen der modernen Gesellschaft und fragt zugleich mit Blick auf das Individuum nach dessen Lebensbedingungen und seinem konkreten Lebensumfeld. Sozialprofessionelles Handeln zeichnet sich also dadurch aus, dass die Akteure der Sozialen Arbeit Kenntnis über die Lebenswelt bzw. den Alltag der Adressaten besitzen. Es geht also um einen phänomenologischen Zugang zur konkreten Lebenswirklichkeit der Menschen. Dieser soll in kritischer Absicht dazu bewegen, von Abstraktionen und vorschnellen Kategorisierungen abzusehen und die Eigensinnigkeit der lebensweltlichen Erfahrung der Adressaten der Sozialen Arbeit ernst zu nehmen. »Lebensweltorientierte Soziale Arbeit ist so zugleich auf den Respekt vor dem Eigensinn gegebener lebensweltlicher Ressourcen verpflichtet und auf die Anstrengung, neue, tragfähige lebensweltliche Verhältnisse – neue Handlungs- und Verständigungsmuster – zu schaffen, also auf die Erkenntnis und die Ermutigung zum Ausbau und zur Inszenierung lebensweltlich tragfähiger Ressourcen« (Thiersch, 1993: 14). Die in der Lebenswelt der Adressaten vorhandenen Ressourcen zur Lebensbewältigung sollen von der Sozialen Arbeit identifiziert und zur Bewältigung von Problemen eingebunden werden. Lebensweltorientierung erfordert deshalb ein strukturell offenes und situatives Handeln, »das im erziehenden Umgang, in der Beratung, in der Begleitung und in der Kooperation orientiert ist an der Eigensinnigkeit der Problemsicht der AdressatInnen im Lebensfeld, am ganzheitlichen Zusammenhang von Problemverständnis und Lösungsressourcen, an den in der Lebenswelt verfügbaren Ressourcen und Kompetenzen« (Thiersch, 1993: 22). Das Konzept der Lebensweltorientierung nähert sich der Lebenswirklichkeit der Menschen aber nicht nur phänomenologisch-deskriptiv, sondern hat auch eine normativ-kritische Perspektive. Denn auch wenn die Lebenswelt der Adressaten nicht per se als negativ gedeutet werden kann, sondern die Deutungen und Handlungsmuster der Menschen als Entlastungsstrategie verstanden werden müssen, so können diese Deutungen und Handlungsmuster jedoch auch als pathologisch, zumindest aber ambivalent erlebt werden. In der Lebenswelt lassen sich Bewältigungs- und Lernpotenziale, aber auch Probleme mit den vorhandenen Ressourcen auffinden. Deshalb versucht eine an der Lebenswelt orientierte Soziale Arbeit »in der Balance von Respekt und Veränderung, von Unterstützung und Provokation Hilfen im Medium der lebensweltlichen Möglichkeiten der AdressatInnen verhütend, gegenwirkend und fördernd zu inszenieren, Lernhilfen, Hilfen zum Empowerment, Hilfen zur Überwindung lebensweltlicher Enge und Ohnmacht und Hilfen zur Unterstützung, Förderung und Neugestaltung lebensweltlicher Ressourcen« (Thiersch, 1998: 85) zu aktivieren. Durch eine Auseinandersetzung mit der Lebenswelt der Menschen lässt sich ein 444 01_5_2009_Beitrag Bohmeyer.indd 444 MedienServiceCenter Renda-Becker 16.12.2009 08:12:05 8 16/12/2009 np Bohmeyer, Soziale Arbeit und Religion 5/2009 Zugang zum Sinnsystem Religion, zu den unterschiedlichen Erscheinungsformen des Religiösen gewinnen (vgl. Weyel, 2006; Failing, 1998).10 Dann zeigt sich nochmals sehr schnell: Religion verschwindet nicht, sondern wird individualisiert. Hierin zeigt sich das eigentlich Neue der religiösen conditio humana bzw. die Veränderungen, die der homo religiosus durchmacht. Der Ort der Religion bzw. des Religiösen verlagert sich von den Institutionen in das Subjekt hinein (vgl. Kaufmann, 2008). Diese Subjektivierung der Religion ist nicht total, denn auch der subjektivierte Umgang mit dem Religiösen ist – wie alle anderen subjektiven Erfahrungen – auf einen intersubjektiven Austausch angewiesen und findet somit immer im Kontext eines kulturell geprägten Vokabulars und weiterer unterschiedlicher kultureller Codierungen statt. Auch das religiöse Selbsterleben des Individuums ist wie alles Selbsterleben auf Gesellschaft angewiesen und deshalb niemals ausschließlich das Selbsterleben des Individuums. Das Sinnsystem Religion wird in der Regel über Praktiken, Rituale und Symbole erfahren und »über diese Formen der ästhetisch-rituellen (Selbst-)Darstellung ebnet sich auch ein direkter Zugang zu den Geltungsansprüchen, zum sozialen Ort und zur lebensweltlichen Bedeutung von Religion.« (Höhn, 2007: 22) Diese sind in der modernen Lebenswelt allerdings nicht übersichtlich und transparent, sondern bilden ein undurchsichtiges Dickicht. Dennoch zeigt sich anhand eines lebensweltlichen Zugangs zum Phänomen der Religion sehr schnell, dass die Säkularisierungstheorie – als Verschwinden der Religion in der Moderne verstanden – definitiv nicht zutrifft. Religion hat sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft eine enorme Bedeutung, wird in der Moderne aber ganz unterschiedlich gelebt. Dazu gehört auch die institutionell gebundene und kirchlich verfasste Religion. Doch die eigentliche Religionsproduktivität liegt in der Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit des Phänomens Religion (vgl. Luckmann, 1991). Wird Religion auf kirchlich verfasste Religion verengt, dann wird die religiöse Signatur der Moderne übersehen. Zwar taucht Religion in der Moderne auch immer wieder in kirchlich verfassten Zusammenhängen auf. Die biografischen Übergänge werden von den Kirchen immer noch begleitet, bzw. gerade bei biografischen Übergängen wird das rituelle Handeln der Kirchen angefragt. Die Nachfrage nach Riten, insbesondere bei Lebenswenden, bleibt – als ein Teil der religiösen Praxis – hoch. Hier zeigt sich, dass es auch einen kulturell geteilten Bestand an religiöser Praxis geben muss, der am besten von institutionalisierten Religionen »verwaltet« wird. Doch über diese spezifischen und hervorstehenden Lebensübergänge hinaus lässt sich Religion insbesondere in der Alltagskommunikation der Menschen auffinden.11 Religion wird im Alltag als ein Deutungsmuster verwendet, um sinnhafte Zusammenhänge zu konstituieren, um den Alltag in ein Sinngefüge einbetten zu können. Der Alltag selbst ist ein Generator (und somit Garant) für Religion. »Religion entsteht im Alltag, in Situationen, Momenten, die die Bewältigung des Alltags erforderlich machen: an Schnittstellen des Alltagslebens, Individualisierung der Religion Religion in der Alltagskommunikation 10 Es macht gute Theologie aus, dass sie diese lebensweltlich verortete Religion erkennt und sich auf einen Reflexionsprozess einlässt – dieser Reflexionsprozess ist oftmals komplexer und anspruchsvoller als die theologische Ausdeutung kirchlich verfasster Religion. Hinzuweisen ist neben der lebensweltlichen auch auf die anthropologische Wende der Theologie in den 1950er Jahren. 11 Vgl. beispielsweise die Präsenz des Religiösen in der Werbung. Diese Werbung kann nur funktionieren, wenn das hier verwendete und verfremdete religiöse Sprachspiel zumindest noch rudimentär verstanden wird. 445 01_5_2009_Beitrag Bohmeyer.indd 445 MedienServiceCenter Renda-Becker 16.12.2009 08:12:05 9 16/12/2009 np Bohmeyer, Soziale Arbeit und Religion 5/2009 an aktuellen Brüchen in der Lebensführung, angesichts plötzlich auftretender Risiken, Krankheit, drohender Arbeitslosigkeit, wenn Grenzen überschritten werden, eine neue Lebensphase beginnt, der einzelne sich mit besonderen Anforderungen, Zuschreibungen, Trennungen, Leiden, Unrechtserfahrungen konfrontiert sieht.« (Weyel, 2006: 18–19) 5 Soziale Arbeit und die Hermeneutik religiöser Lebenswelten Machtposition der christlichen Kirchen Anthropologischethnografische Sichtweise Die anthropologische Verortung des Phänomens der Religion und der lebensweltorientierte Zugang der Sozialen Arbeit unterstützen die Plausibilität der Analyse einer postsäkularen Gesellschaft. Somit ist auch in säkularisierten Gesellschaften dauerhaft mit Religion zu rechnen. Hans Thiersch weist nun darauf hin, dass die christlichen Kirchen weiterhin ein Monopol bzw. eine Machtposition in religiösen Fragen besitzen. Dieses Monopol stehe in pluralistischen Gesellschaften aber unter Umständen der Beantwortung wichtiger individueller Sinnfragen entgegen (vgl. Thiersch, 1995). Thiersch schließt sich mit Blick auf die Individualisierungsprozesse der These an, dass eine spezifisch dogmatisch-kirchlich geprägte Religion und Religiosität nur noch eine Form des Religiösen ist. Die moderne Gesellschaft bringt ein – im bereits oben erläuterten Verständnis – »vielfältiges, individualisiertes, buntes Bild religiöser Vorstellungen« (Thiersch, 1995: 66) hervor. Die immer noch hegemonialen Institutionen der Religion – die Kirchen – können laut Thiersch den Bedarf an Sinnstiftung bzw. Kontingenzbewältigungsstrategien aufgrund der pluralistischen gesellschaftlichen Situation nicht länger decken. Er folgert: »In unserer Zeit braucht es Deutungsangebote im weiten Spektrum der unterschiedlichen Säkularisierungskonzepte« (Thiersch, 1995: 69), ein offenes und freies pluralistisches Angebot von unterschiedlichen religiösen Deutungsmustern, um die Sinnfragen der Menschen beantworten zu können. Eine an der Lebenswelt der Adressaten orientierte Soziale Arbeit erzwingt eine Reflexion des Phänomens der Religion bzw. eine hermeneutische Sicht auf die religiöse Lebenswelt. Es geht um einen anthropologisch-ethnografischen Blick auf die Lebenswelt der Adressaten, der das dort vorfindliche Thema Religion aufnimmt. Anknüpfungspunkt der Sozialen Arbeit kann keine substantialistische Definition der Religion sein, sondern die Soziale Arbeit muss sich auf die Funktion(en) der Religion beziehen. Damit wird sie der Interpretation der Religion aus der Sicht des religiösen Menschen vielleicht nicht gerecht, doch es geht an dieser Stelle um die Möglichkeiten der Sozialen Arbeit, an die religiös geprägte Lebenswelt der Adressaten professionell anzuknüpfen. Ein für die Soziale Arbeit interessanter Bezugspunkt des funktionalistischen Religionsbegriffs ist das bereits im anthropologischen Kontext erläuterte Kontingenzproblem.12 Es zeigt sich, dass gerade die gesellschaftliche Modernisierung die Lebenslagen prekärer werden lässt, was das Gefühl der Verletzbarkeit erzeugt und den Wunsch nach existenzieller Sicherheit. Aus dieser Perspektive ist Religion für das Individuum von (steigender) Relevanz. 12 Franz-Xaver Kaufmann nennt neben der Kontingenzbewältigung noch die kosmierende, sozialintegrative, moralische und prophetische Funktion sowie die der Kontingenzbewältigung verwandte Funktion der Identitätsstiftung. Vgl. dazu Kaufmann, 2008: 25. 446 01_5_2009_Beitrag Bohmeyer.indd 446 MedienServiceCenter Renda-Becker 16.12.2009 08:12:05 10 16/12/2009 np Bohmeyer, Soziale Arbeit und Religion 5/2009 Die gesellschaftliche Differenzierung der Moderne erzeugt Religionsbedarf, um mit den Irritationen umgehen zu können. »Die gesellschaftliche Differenzierung, die als Zerrissenheit erlebt werden kann, wirft die Frage nach einem den Alltag und die Alltagserfahrung gleichsam überwölbenden »Himmel« auf.« (Weyel, 2006: 23; vgl. auch Freise, 2006). Mit Blick auf die mannigfaltigen religiösen Bezüge im Alltag ist die Religion ein Ressourcenspeicher für die Lebensführung und aus dieser Perspektive trifft dann Hermann Lübbes Definition von Religion als »Kontingenzbewältigungspraxis« (vgl. Lübbe, 2004) zu. Die Lebensführung soll mit Hilfe religiöser Rede bewältigt werden, die Menschen greifen auf religiöse Symbole und Deutungsmuster zurück, um den Alltag kommunikativ zu erschließen. Ein solcher Begriff von Religion macht es möglich, alle modernen lebensweltlichen Erscheinungsformen der Religion in den Blick zu nehmen, die »Integrationssuchbewegungen bereits in Ansätzen und das heißt tatsächlich auch als Suchbewegungen wahrzunehmen« (Weyel 2006, 25). Religion als Kontingenzbewältigungspraxis ist Kontingenzaber nicht als eine Praxis der Diesseitsvergessenheit zu verstehen, die die strukturell bewältigung erfahrenen prekären Lebenssituationen durch individuelle Transzendenzbezüge zu bekämpfen versucht. Beim Kontingenzbewältigungsprogramm Religion geht es nicht um ein affirmatives Konservierungsprogramm von Lebensverhältnissen. Auch für den religiösen Menschen stellt sich die provokative Frage nach dem »warum ist es nicht anders«13. 6 Soziale Arbeit und die Ambivalenzen religiöser Lebenswelten Religion ist äußerst lebendig und für Soziale Arbeit eine lebensweltlich relevante Größe. Zugleich präsentiert sich Religion seit Menschengedenken als ein ambivalentes Phänomen (vgl. Ratzinger, 2005; Beck, 2008). Ein lebensweltlicher bzw. kontextsensibler hermeneutischer Zugang könnte den Eindruck erwecken, dass es hierbei um eine Apologie des Besonderen bzw. Bestehenden geht und dass Soziale Arbeit somit unter das moralische Postulat der Nichteinmischung in die eigensinnigen Lebenspraxen und -praktiken gestellt wird (vgl. zur ethischen Analyse der Lebensweltorientierung Steckmann, 2004). Es geht aber nicht nur um eine bloße Wahrnehmung der Lebenswelt der Menschen, sondern auch um eine Veränderung dieser Lebenswelt, um Optionen für ein gelingendes Leben. Es geht keineswegs um eine naive bzw. unkritische Idealisierung der Lebenswelt der Menschen. Auch wenn an erster Stelle ein unvoreingenommener, beschreibender Zugang zur Wirklichkeit der Adressaten Sozialer Arbeit steht, das heißt die sensible Wahrnehmung der vorwissenschaftlichen bzw. vortheoretischen Deutungs- und Handlungsmustern, so bleibt dieser lebensweltorientierte Zugang doch nicht bei der Rekonstruktion stehen. Es geht darum, die Lebenswelt mit ihren unterschiedlichen Ressourcen respektvoll wahrzunehmen, aber sich zugleich auch widerständig gegenüber dieser eingespielten Lebenswelt zu verhalten. Grundsätzlich formuliert: »Lebensweltorientierte Soziale Arbeit ist ein Konzept, das versucht, die Aufgaben der Sozialen Arbeit im Horizont heutiger lebensweltlicher Verhältnisse, ihrer spezifischen 13 Gerade weil die meisten Religionen die Heilszeit mit einem eschatologischen Vorbehalt versehen, sind sie nicht unsensibel für die Verhältnisse der Welt und drängen auf ihre Veränderung. Vgl. zum Einspruch gegen ein affirmatives Verständnis von Kontingenzbewältigung auch: Lob-Hüdepohl, 2006. 447 01_5_2009_Beitrag Bohmeyer.indd 447 MedienServiceCenter Renda-Becker 16.12.2009 08:12:05 11 16/12/2009 np Bohmeyer, Soziale Arbeit und Religion 5/2009 Nicht nur deskriptives, sondern auch normatives Konzept Übersetzung lebensweltlich verankerter Deutungsmuster Strukturen, Ressourcen und Probleme zu bestimmen. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit bezieht sich auf zwei Dimensionen: Sie verbindet die allgemeinen Fragen nach den spezifischen politischen, sozialen und individuellen Konstituenten und Lebensmustern heutiger Lebensverhältnisse mit der spezifischen Frage nach Aufgaben, Schwierigkeiten und Möglichkeiten heutiger, angemessener Arrangements der Sozialen Arbeit« (Thiersch, 1998: 83). Weil es bei der Lebensweltorientierung immer auch um eine Identifizierung der Aufgaben der Sozialen Arbeit geht, weil es um Interventionen und Hilfestellungen geht, handelt es sich nicht nur um ein deskriptives, sondern immer auch um ein normatives Konzept, denn die Ausdeutung der Lebenswelt der Adressaten hat immer auch einen ethischen Bezugsrahmen (vgl. Thiersch, 1998: 84). Die Frage, ob »ein Sozialarbeiter das Recht haben [soll] zu versuchen, einen Jungen aus einer stark religiös geprägten Lebenswelt zum Besuch koedukativer Unterrichtsveranstaltungen zu motivieren, wenn er sich damit womöglich von seinem Herkunftskontext entfremdet« (Steckmann, 2004: 273), kann nicht ohne präzise Beachtung des Kontextes beantwortet werden. Aber natürlich kommt es durch die lebensweltliche bzw. anthropologische Verortung der Religion noch lange nicht zu einer bedingungslosen Akzeptanz der damit einhergehenden Deutungsmuster und partikularen moralischen Werte. Religiösen Überzeugungen kommt kein privilegierter Status zu. In der postsäkularen Gesellschaft kann es der Sozialen Arbeit weder um einen Denkmalschutz der Religion noch um einen Naturschutz des bedrohten religiösen Bürgers gehen, so als ob es sich um eine zu konservierende bzw. aussterbende Gattung handelte. Vielmehr müssen sich auch religiöse Überzeugungen im Konzert der Gründe in der öffentlichen Auseinandersetzung beweisen. Religiöse Menschen »müssen sich bemühen, ihre religiösen Überzeugungen in eine säkulare Sprache zu übersetzen, um sie auch für nichtreligiöse Bürger in ihrer Bedeutsamkeit verständlich zu machen. Und sie müssen dafür dann auch säkulare Gründe benennen, die diese semantischen Gehalte der Religion plausibel machen und stützen« (Knapp, 2008: 276). Mit Blick auf den komplementären Lernprozess, der sich in postsäkularen Gesellschaften zu vollziehen hat, müssten die Eltern des Jungen im oben skizzierten Problem ihre religiösen Überzeugungen zuerst einmal in eine säkulare Sprache übersetzen, damit die Weigerung der Teilnahme am koedukativen Unterricht auch für nichtreligiöse Bürger in ihrer (pädagogischen?) Bedeutsamkeit verständlich wird. Diese Übersetzungsleistung ihrer lebensweltlich verankerten Deutungsmuster kann religiösen Menschen abgefordert werden, auch wenn diese Deutung und Übersetzung Folgen haben wird, die religiöse Signatur der Lebenswelt bleibt nicht unbeeinflusst – wird sich verändern. Für eine solche Übersetzungsarbeit sind ein Bereitschaftspotenzial und eine Reflexionsfähigkeit von Nöten. Soziale Arbeit kann versuchen, die Fähigkeit zum Perspektivwechsel, zur Hermeneutik der eigenen Lebenswelt, zum Erwerb und Ausbau dieser kognitiven Voraussetzungen bei ihren Adressaten zu befördern. Diese Aufgabe ist sehr komplex, denn es geht letztlich um eine dreifache Reflexion der Gläubigen: »Das religiöse Bewusstsein muss erstens die kognitiv dissonante Begegnung mit anderen Konfessionen und anderen Religionen verarbeiten. Es muss sich zweitens auf die Autorität von Wissenschaften einstellen, die das gesellschaftliche Monopol an Weltwissen innehaben. Schließlich muss es sich auf die Prämissen des Verfassungsstaates einlassen, die sich aus einer profanen Moral begründen. Ohne diesen Reflexionsschub entfalten die Monotheismen in rücksichtslos modernisierten 448 01_5_2009_Beitrag Bohmeyer.indd 448 MedienServiceCenter Renda-Becker 16.12.2009 08:12:05 12 16/12/2009 np Bohmeyer, Soziale Arbeit und Religion 5/2009 Gesellschaften ein destruktives Potential« (Habermas, 2001: 14). Diese Fähigkeit zur Reflexion muss nicht erst grundständig erarbeitet werden, sondern liegt immer schon (zumindest rudimentär) vor: Der religiös grundierte Bürger »lebt nicht mehr als Mitglied einer religiös homogenen Bevölkerung in einer religiös legitimierten staatlichen Ordnung. Deshalb sind religiöse Glaubensgewissheiten mit falliblen Überzeugungen säkularer Natur vernetzt und haben – in der Art von »unmoved«, aber nicht »unmovable movers« – ihre vermeintliche Immunität gegenüber Zumutungen der Reflexion längst verloren« (Habermas, 2005: 135). Wo solche kognitiven Einstellungen nur rudimentär vorliegen, kann Soziale Arbeit einen Mentalitätswandel befördern. Es geht auch um die alltäglichen Herausforderungen einer verantwortlichen Lebensführung mit Blick auf die Religion. Zu einer religiösen Hermeneutik sind die Sozialprofessionellen aufgrund der Lebensweltorientierung der Sozialen Arbeit aufgefordert, müssen dazu aber auch befähigt werden. Soziale Arbeit hat die Wahrheitsfrage der Religion nicht zu entscheiden. Aber sie muss sich mit den Wahrheitsfragen der Religionen auseinandersetzen. Vor allem dann, wenn diese Wahrheitsfragen zu gesellschaftlichen Störungen oder sozialen Pathologien führen sollten. In diesem Sinne muss Soziale Arbeit religionskritisch sein. Dafür notwendig aber ist die Ausprägung einer basalen religiösen Kompetenz oder Religionssensibilität – als die Wahrnehmung und Bewertung der Religion. Auch für die Religionskritik bedarf Soziale Arbeit eines theologisch-anthropologischen Grundwissens.14 Auf diesem Grundwissen aufbauend geht es in einem ersten Schritt dann um eine sensible Wahrnehmung des Phänomens Religion. Diese wird in einem lebensweltlichen Verständnis dann in einem zweiten Schritt um eine respektvolle Würdigung der Ressourcen ergänzt und zudem in einem dritten Schritt auch mit einer kritischen Spiegelung verbunden. »unmoved« – nicht »unmovable movers« Literatur Casanova, J., 2007: Die religiöse Lage in Europa, in: Joas, Hans/Wiegandt, Klaus (Hrsg.), Säkularisierung und die Weltreligionen, Frankfurt/M.: 322–357 Beck, U., 2008: Der eigene Gott. Friedensfähigkeit und Gewaltmonopol der Religionen, Frankfurt/M. Dawkins, R., 2008: Der Gotteswahn, Berlin Ebertz, M. N.,2006 »Es muss doch etwas Höheres geben«. Transzendenzerfahrungen und Soziale Arbeit, in: Krockauer, Rainer/Bohlen, Stephanie/ Lehner, Markus (Hrsg.), Theologie und Soziale Arbeit. Handbuch für Studium, Weiterbildung und Beruf, München: 58-67 Failing, W.-E., 1998, Lebenswelt und Alltäglichkeit in der Praktischen Theologie, in: Failing, W.-E./Heimbrock, H.-G., Gelebte Religion wahrnehmen. 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Gesellschaft im Umbruch – Religion im Wandel, Paderborn/München/Wien/ Zürich 14 Ein Bezugspunkt der Kritik könnten die Religionen und die auch hier präsente Kritik an der Religion selbst sein. So weist gerade das Bilderverbot der monotheistischen Religionen auf das Gefährdungspotenzial hin, das mit ihnen verbunden ist. 449 01_5_2009_Beitrag Bohmeyer.indd 449 MedienServiceCenter Renda-Becker 16.12.2009 08:12:05 13 16/12/2009 np Bohmeyer, Soziale Arbeit und Religion 5/2009 Horkheimer, M./Adorno, Th. W., 1997: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. James, W., 1997: Die Vielfalt religiöser Erfahrungen. Eine Studie über die menschliche Natur, Frankfurt/M./ Leipzig Joas, H., 2007: Führt Modernisierung zu Säkularisierung?, in: Walter, Peter (Hrsg.), Gottesrede in postsäkularer Kultur, Freiburg i. Br./Base/Wien: 10–18 Kaufmann, F.-X., 2008: Religion zwischen Tradition, Selbsterfahrung und Dauerreflexion, in: Schmidt, Thomas M./Parker, Michael G. 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Vortrag anläßlich der Verleihung des Meister-Eckhart-Preises, in: Anthropologie statt Metaphysik, München: 176–190 Tugendhat, E., 2007b: Über Religion, in: Anthropologie statt Metaphysik, München: 191–204 Verf.: Prof. Dr. Axel Bohmeyer, Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin, Köpenicker Allee 39-57, 10318 Berlin E-Mail: [email protected] 450 01_5_2009_Beitrag Bohmeyer.indd 450 MedienServiceCenter Renda-Becker 16.12.2009 08:12:05 14 16/12/2009