Soziale Arbeit und Religion

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Kleinertnp-,
Soziale Arbeit im Bereich der Justiz
Beiträge
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Axel Bohmeyer
Soziale Arbeit und Religion –
sozialwissenschaftliche und anthropologische
Spurensuchen in postsäkularer Gesellschaft
Einleitung
Im stillschweigendem Einvernehmen mit der modernisierungstheoretischen Säkularisierungsthese – verstanden als das Verschwinden der Religion aus der Gesellschaft – geht auch der Mainstream der Sozialen Arbeit davon aus, dass Religion
in ihren unterschiedlichen Praxisfelder keine Rolle spielt. Das Thema Religion
stößt anscheinend auf ein tiefsitzendes Misstrauen. Doch ein lebensweltlicher bzw.
alltagsorientierter Blick belehrt uns eines Besseren. Verortet die Soziale Arbeit
ihren Ausgangspunkt konsequent in der Perspektive und subjektiven Sicht ihrer
Adressaten, dann wird sie sich dem Phänomen der Religion nicht entziehen können.
Religion taucht dann in ihrer subjektiven Seite als Religiosität in der individuellen
Lebensführung und alltäglichen Lebensbewältigung der Adressaten auf. Mit einem
solchen lebensweltorientierten Referenzpunkt hätte die Soziale Arbeit nicht erst
darauf warten müssen, dass die Sozialwissenschaften – diese lebensweltlichen
Phänomene ignorierend – in das Stadium einer erneuten Beschäftigung mit der
Religion und Religiosität treten. Denn innerhalb der unterschiedlichen Theoriediskurse der Sozialen Arbeit ist Hans Thierschs Konzept der Alltags- und Lebensweltorientierung eigentlich ein bedeutsamer und profilierter theoretischer Ansatz
(vgl. May, 2008: 41–68). Doch auch mit diesem theoretischen Rüstzeug im Gepäck
steht die Soziale Arbeit in einer Distanz zur Religion (eine Ausnahme ist: Grose,
2004).1 Das ist überraschend, denn das lebensweltorientierte Konzept insistiert
doch auf der Notwendigkeit, sich auf menschliche Erfahrungen und Praktiken zu
beziehen und steht so in Opposition zu einem voreingenommenen Blick. Gerade
mit Blick auf die Religion hat die Soziale Arbeit aber über die Köpfe der Betroffenen hinweg ein negatives Urteil gefällt.2 Für die lebensweltorientierte Soziale
Arbeit ist es wichtig, eben diese oftmals auch religiös formatierte Lebenswelt der
Subjekte zumindest wahrzunehmen, wobei ja mit dem lebensweltorientierten
Blick keinesfalls ein affirmatives Vorgehen impliziert wird, sondern im Gegenteil
eine kritische Perspektive etabliert werden soll. Wichtig aber ist: Soziale Arbeit in
postsäkularer Gesellschaft hat sich darauf einzustellen, dass in der sich weiterhin
säkularisierenden Moderne religiöse Gemeinschaften und religiöse Einstellungen
in der pluralistischen Öffentlichkeit präsent sein werden.
Im Weiteren geht es somit um theoretische Klärungen, die den Zusammenhang
1 Im erziehungswissenschaftlichen Diskurs hat es Anfang der 1990er eine ausführlichere Debatte
gegeben. Vgl. dazu das Schwerpunktthema »Religion und Pädagogik« in der Zeitschrift für Pädagogik, 38. Jg. (1992), Nr. 2.
2 Dieses Urteil bzw. dieser blinde Fleck der Sozialen Arbeit ist auch deshalb irritierend, findet doch
ein großer Teil der Sozialen Arbeit in der Verantwortung kirchlicher Träger statt.
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von Sozialer Arbeit und Religion aufzeigen. Zuerst wird ein sozialwissenschaftlicher
Zugang zum Phänomen der Religion eröffnet und die derzeit vorgenommenen
theoretischen Präzisierungen des Säkularisierungstheorems werden skizziert (1).
Im Anschluss an die sozialwissenschaftlichen Ausführungen wird das Phänomen
der Religion bzw. des Religiösen aus anthropologischer Perspektive ausgeleuchtet
(2) und dann der Entwurf einer postsäkularen Gesellschaft erläutert (3). Daran
anschließend wird das Konzept lebensweltorientierter Sozialer Arbeit dargelegt (4),
und in einem weiteren Schritt (5) werden die Konsequenzen für die Soziale Arbeit
aufgezeigt. Abschließend (6) sollen die Ambivalenzen nicht verschwiegen werden,
die mit dem Phänomen der Religion im Kontext der Sozialen Arbeit verbunden
sind und die ein großes Aufgabenfeld erschließen.
1 Religion im sozialwissenschaftlichen Diskurs
Mit Blick auf die Religion oder das Religiöse hat es in den letzten Jahren in den
Sozialwissenschaften einen wirkmächtigen Perspektivwechsel gegeben. Religion
hat Konjunktur. Mit der Kritik an der einstmals unantastbaren Theorie von der
fortschreitenden Säkularisierung moderner Gesellschaften werden auch – so jedenfalls scheint es – die klassischen soziologischen Denker infrage gestellt.
Säkularisierungstheorie
Zumindest auf Auguste Comte trifft das zu, ging
dieser doch von der säkularistischen Grundannahme aus, dass Religion in der Moderne verschwinden würde. Die Säkularisierungstheorie
von Max Weber und Emile Durkheim aber auch
neuere Säkularisierungstheorien gehen aber
gar nicht so weit, dass Religion in der Moderne
unausweichlich verschwinden wird. Es wird
zwar ein Bedeutungsrückgang der Religion bzw.
des Religiösen für die Gesellschaft konstatiert,
keinesfalls aber ihr Verschwinden. In dieser
Hinsicht kann man von der Mehrdeutigkeit des
Säkularisierungstheorems sprechen. Drei Bedeutungen des Begriffs der Säkularisierung lassen
sich insgesamt herausarbeiten. Erstens meint
Säkularisierung die Abnahme oder das Verschwinden der Religion, zweitens den Rückzug
der Religion aus der Öffentlichkeit und drittens
eine gesellschaftliche Ausdifferenzierung in
unterschiedliche Teilbereiche und damit deren
Ablösung von der Religion (vgl. Joas, 2007).3
Wenn nun der Soziologe Detlef Pollack der
Säkularisierungstheorie nach wie vor auch
eine breite empirische Grundlage zuspricht, so
»dass eine Bestreitung ihrer Gültigkeit auf eine
Ignoranz gegenüber der empirischen Datenlage
hinausläuft« (Pollack, 2006: 10), dann geht er
einerseits von einer sehr differenzierten Säkularisierungstheorie aus: Hiernach lautet die zentrale
Annahme, »dass in dem Maße, wie sich moderne
Lebensformen und Lebensstile ausbreiten und
Prozesse der Industrialisierung, Urbanisierung,
Wohlstandsanhebung, Pluralisierung und Individualisierung durchsetzen, die soziale Signifikanz
von Religion und Kirche abnimmt und religiöse
Weltsichten durch säkulare ersetzt werden. Die
Behauptung eines Spannungsverhältnisses von
Religion und Moderne macht den Kern der Säkularisierungsthese aus. Diese These besagt nicht,
dass der gesellschaftliche Bedeutungsrückgang
von Religion sich unausweichlich vollzieht, noch
dass er unumkehrbar ist und natürlich auch
nicht, dass es sich um einen wünschenswerten
Prozess handelt, wohl aber, dass er unter den
Bedingungen der Moderne wahrscheinlich ist.«
(Pollack, 2006: 19) Andererseits geht Pollack
aber auch von einem sehr engen Begriff der Religion und dem Religiösen aus. Die quantitative
empirische Forschung ist natürlich auf harte
Fakten angewiesen und greift deshalb insbesondere auf die Kirchlichkeit und religiöse Praxis
der Menschen zurück. Hier ist ohne Zweifel ein
Plausibilitätsverlust ehemals bedeutsamer religiöser Vermittlungsinstanzen und damit einhergehend deren Entmonopolisierung festzustellen.
Doch der religiöse Formwandel ist nicht so stark
mit dem Bedeutungsrückgang des Religiösen
verbunden, wie Pollack behauptet (vgl. Pollack,
2006; und auch Casanova, 2007).
3 Mit Blick auf das dritte Verständnis lohnt sich eine Auseinandersetzung mit Niklas Luhmanns
Theorie der Ausdifferenzierung der Gesellschaft in funktionale Systeme. Vgl. dazu Luhmann, 1996;
und Luhmann, 2002.
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Im Kontext der Individualisierungsprozesse kommt es nämlich zu einer Subjektivierung der Religion und der dort praktizierten dominanten Formen des Religiösen. Der Bedeutungsverlust der institutionalisierten Religion ist dann nicht mit
einem individuellen Bedeutungsverlust gleichzusetzen. Im Gegenteil: Durch die
Individualisierungsprozesse der modernen Gesellschaft kommt es zu einem Anstieg einer subjektivierten Religiosität, zu einer Pluralisierung der Religiosität und
der religiösen Formen, Inhalte und Verhaltensweisen. Eine solche subjektivierte Subjektivierte
Religiosität mit ihrer synkretistischen Gestalt des Religiösen ist methodisch viel Religiosität
schwieriger zu erfassen, als das bei institutionalisierter religiöser Zugehörigkeit
und institutionalisierter religiöser Praxis der Fall ist. Die empirische Analyse der
im Zuge der Individualisierung transformierten ehemaligen religiösen Praktiken
in religiöse Versatzstücke – im Modus der Erlebnisorientierung, Psychologisierung,
Spiritualisierung und Ästhetisierung – ist ein anspruchsvolles Unternehmen.4
2 Religion in anthropologischer Perspektive
Der deskriptive sozialwissenschaftliche Zugang zum Phänomen der Religion bzw.
des Religiösen lässt sich auf einer tiefer liegenden Ebene um eine anthropologische
Perspektive ergänzen. Religion bzw. Religiosität soll für das Selbstverständnis des
Menschen konstitutiv, als eine anthropologisch gegebene Disposition, entfaltet
werden.
Das Religions- oder Transzendenzbedürfnis ist
der anthropologische Bezugspunkt, der Mensch
wird als »homo religiosus« identifiziert. Religion
und Religiosität sind damit nicht stillzulegende
menschliche Phänomene, womit wir uns im
Kontext einer philosophisch-anthropologischen
Theoriebildung befinden – die von der Sozialen
Arbeit nicht ignoriert werden kann. Eine solche
anthropologische Perspektive findet sich schon
bei Ludwig Feuerbach, der die Existenz der Religion strukturell im Wesen des Menschen ansiedelt
(vgl. Feuerbach, 1969).5 Seine anthropologische
Analyse der Herkunft der Religion wird von ihm in
einem zweiten Schritt religionskritisch gewendet.
Religion entspringt demnach einem verzerrten
Selbstbewusstsein und produziert ein falsches
Selbstbild. Die Chiffre der Gottbildlichkeit aus
Gen 1,26 wird dialektisch gewendet: Es ist der
Mensch, der sich seinen Gott gemäß seinen
eigenen Bedürfnissen macht. Dieses Bedürfnis
unterscheidet den Menschen vom Tier. Doch es
gründet sich nicht in einem objektiven Wesen,
sondern im Gattungsbewusstsein des Menschen. Für Feuerbach bindet der Mensch sich
aus einer Schwäche bzw. aufgrund eines Selbstbetrugs an etwas Transzendentes außerhalb
seiner selbst zurück. Diese Rückbindung stellt
einen Zustand der Entfremdung dar, verharrt der
Mensch doch in einem Zustand, den er im aufgeklärten Bewusstsein nicht einnehmen müsste.
So verstanden führt die Feuerbachsche Anthropologie dann im Zusammenhang mit seiner Religionskritik zu der modernisierungstheoretisch
zugespitzten These, dass Religion innerhalb der
Menschheitsentwicklung ein primitives Stadium
darstellt.6 Insofern religiöse Praktiken weiterhin
zu beobachten sind, sind diese als ein Atavismus
bzw. als weiterhin existente Entfremdung des
Selbstbewusstseins zu deuten. In diese religionskritische Richtung bewegt sich auch der bri-
Feuerbachsche Anthropologie
4 Ein wichtiger Referenzautor für die Pluralisierung der religiösen Ausdrucksformen und die Entkirchlichung des Religiösen ist William James. Seines Erachtens hat die Religion ihren eigentlichen
Ort in der individuellen Erfahrung des Religiösen und nicht in den körperschaftlich verfassten
Religionsgemeinschaften. Vgl. James, 1997; und dazu Taylor, 2002.
5 Laut Feuerbach ist das Geheimnis der Theologie die Anthropologie. Streng genommen lässt eine
anthropologische Auseinandersetzung mit dem Religionsbedürfnis des Menschen – der Mensch
als homo religiosus – die Theologie außen vor. Die theologische Anthropologie kann aber mit ihren
spezifischen Problemen auch wieder thematisch werden. Vgl. zur theologischen Anthropologie
und ihrem spezifischen Gegenstandsbereich: Schoberth, 2006.
6 Im Übrigen betont Feuerbach damit die Geschichtlichkeit der Anthropologie und die Möglichkeit
der Veränderung der conditio humana.
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Existenzielle
Rückbindung
tische Biologe Richard Dawkins, der bei religiös
musikalischen Menschen einen »Gotteswahn«
diagnostiziert (vgl. Dawkins, 2008). Mit seiner
evolutionsbiologischen Kritik des religiösen
Glaubens ruft er einen neuen Atheismus aus,
der sich auf die Naturwissenschaften beruft und
Religion als eigentlich gefährliche Wahnvorstellung, höchstens aber als nützliche Illusion mit
evolutionärem Selektionsvorteil entlarvt. Zudem
tritt ein politisches Anliegen zu Tage: Ohne
den wahnhaften Gottesglauben würde es laut
Dawkins keinen politischen Fanatismus, keine
Intoleranz und keine Diskriminierung geben.
Nicht erst die Thesen dieses neuen Atheismus,
schon die religionskritische Spitze Feuerbachs,
seine These von einer Verblendung des menschlichen Selbstbewusstseins durch die Rückbindung an die Religion, verdeckt die eigentlich
vorgängige anthropologische These: In der
Religion geht es um eine existenzielle Rückbindung an eine andere – nicht empirische – letzte
Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit liegt außerhalb
der menschlichen Zugriffsmöglichkeiten, wirkt
aber auf die Lebenswirklichkeit der Menschen
ein. Durch bestimmte Weltdeutungsangebote,
praktische Handlungsorientierungen und rituelle
Praktiken strukturiert das Sinnsystem Religion
das Leben des religiösen Menschen. Eine solche
existenzielle Rückbindung ist als eine universellanthropologische Struktur zu interpretieren.
Religion bzw. Religiosität gehört in diesem
Sinne zur conditio humana. Man wird »davon
ausgehen können, dass der – theistische, deistische oder »spiritualistische« – Glaube an
etwas Höheres unausrottbar zum Menschen
gehört und auf einer innerweltlichen Erfahrung
aufruht, die jedermann und jede Frau hat:
auf der Erfahrung von Transzendenz« (Ebertz,
2006: 63). Auch bei einer anthropologischen
Verortung der Religion entzieht sich der Begriff
aufgrund der Komplexität des Phänomens einer
abschließenden Definition. So sind die Grenzen
zu anderen Begriffen (Magie, Numinoses, Kult,
Weltanschauung, Moral) nicht immer trennscharf
zu ziehen und die unterschiedlichen historischen
Ausprägungen erschweren eine präzise Definition ebenfalls. Ein anthropologischer Zugang
zur Religion kann aber herausarbeiten, dass
»Menschen, im Unterschied zu anderen Tieren,
sich Zwecke setzen, sie leben auf Ziele hin, und
ihnen erscheint sogar das Weiterleben selbst
als Ziel, und dies hat zur Folge, daß Menschen
mit dem Problem des Zufalls und der Kontingenz
konfrontiert sind, und dies hat überall in der
voraufgeklärten Geschichte der Menschheit dazu
geführt, das, was in seiner Auswirkung auf uns
kontingent ist, seinerseits zielhaft zu deuten als
Ausfluß mächtiger, übernatürlicher Wesen, die
dann auch personal, also als Götter gedeutet
wurden.« (Tugendhat, 2007a: 179) Auch nach der
Aufklärung bleibt für Ernst Tugendhat dieses Bedürfnis nach Religion bestehen und er will dieses
Bedürfnis nicht wie Feuerbach religionskritisch
mit einem falschen menschlichen Selbstbewusstsein in Verbindung bringen.7 Das Bedürfnis
nach Religion gründet in einer unhintergehbaren
Erfahrung von Kontingenz, wobei der eigene
Tod und der Tod der anderen Menschen die
größte Erfahrung menschlicher Kontingenz ist.8
Ein solcher funktionalistischer Religionsbegriff
deutet Religion als einen Lösungsansatz oder
als Bewältigungsstrategie von Kontingenzerfahrungen. »Kontingenz meint, dass etwas möglich,
aber nicht notwendig ist, dass es ist, was es ist,
aber auch ganz anders sein könnte. Kontingenz
ist also durch die gleichzeitige Negation von Notwendigkeit und Unmöglichkeit definiert und provoziert die Frage, warum etwas so ist, wie es ist,
und warum es nicht anders ist.« (Pollack, 2007:
24) Im Gegensatz zu anderen Lösungsansätzen
zur Überwindung der Kontingenz arbeitet die
religiöse Kontingenzbewältigung beim Umgang
mit Sinnproblemen mit dem Ausgriff auf das
Übernatürliche, Metaphysische oder Heilige.
Ein religiöser Mensch gründet seine Existenz letztlich nicht in sich selbst oder in
anderen Menschen oder diesseitigen Ideen, also nicht in der irdischen Wirklichkeit,
sondern im Transzendenten.
3 Die postsäkuläre Gesellschaft
Mithilfe dieser sozialwissenschaftlichen und anthropologischen Spurensuchen
nähern wir uns dem von Jürgen Habermas geprägten Begriff der postsäkularen
Gesellschaft. Es wäre nun gerade im Kontext der Säkularisierungstheorie falsch, die
7 Tugendhat behauptet aber, dass der Mensch diesem Bedürfnis aus intellektueller Redlichkeit nicht
nachgeben dürfe. Vgl. dazu Tugendhat, 2007b.
8 Tugendhat betont, dass er nicht theologisch argumentiert, sondern Religion »nur rein subjektiv
als Ausdruck eines anthropologischen Bedürfnisses verstehen« will (Tugendhat, 2007b: 200).
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postsäkulare Gesellschaft als ein historisches Entwicklungsstadium zu verstehen,
also nach dem Schema verzauberte Gesellschaft – entzauberte Gesellschaft – wiederverzauberte Gesellschaft (vgl. Knapp, 2008; Höhn, 2006). Die Vorsilbe »post«
meint nicht, dass die Säkularisierungsprozesse zu Ende sind. Der zeitdiagnostische
Gehalt des Begriffspaars liegt in einer neuen Aufmerksamkeitsökonomie: Nicht
nur im privaten Leben, sondern auch im öffentlichen Bereich ist Religion präsent.
Eine postsäkulare Gesellschaft ist deshalb dadurch gekennzeichnet, dass sie »sich
auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Umgebung einstellt« (Habermas, 2001: 13)9. Religiöse Gemeinschaften
und säkulare Gemeinschaften werden in der Moderne nebeneinander existieren.
Habermas spricht also nicht von einer Wiederkehr des Religiösen, sondern er
versucht das Verhältnis von religiösen Gemeinschaften und säkularen Bürgern in
der politischen Öffentlichkeit neu zu bestimmen.
Der deskriptiv-prognostischen Zeitdiagnose liegt aber auch ein normativ relevanter Problemkomplex zu Grunde. Habermas befürchtet, dass die Modernisierungsprozesse aufgrund eines »säkularistisch beschränkten Bewusstseins« (Habermas,
2005: 146) entgleisen könnten, dass sie sich dialektisch umkehren und gegen sich
selbst wenden – ein Gedanke, der Max Horkheimers und Theodor W. Adornos
»Dialektik der Aufklärung« (Horkheimer/Adorno, 1997) nahesteht. Die Auswirkungen der Säkularisierungsprozesse sind für die modernen Gesellschaften also nicht
uneingeschränkt positiv zu bewerten, sondern mit Verlusten und Gefährdungen
verbunden. Angesichts der moralischen Herausforderungen der Biowissenschaften
und ihrem Einfluss auf das gattungsethische Selbstverständnis der Menschen – der
sich in einer Unterwanderung der conditio humana äußert – soll das semantische
Potenzial der Religionen als Korrektiv zum Einsatz kommen. Darin ist für Habermas ein unverzichtbares Vernunftpotenzial eingelassen, auf das die säkularisierten
Gesellschaften nicht verzichten können, wollen sie ihre moralischen Grundlagen
nicht aufs Spiel setzen. Im Kontext der Biowissenschaften verweist Habermas auf
die Idee der Gottbildlichkeit (vgl. Habermas, 2001: 30; Knapp, 2008: 277–279).
Habermas fordert also einen Perspektivwechsel, der in einem Prozess des gegenseitigen Lernens zwischen säkularisierten und religiös grundierten Bürgern
mündet. Insbesondere erstere können die Säkularisierung nicht (länger) aggressiv
vorantreiben, wollen sie die semantischen Potenziale des Religiösen nicht aus der
Öffentlichkeit verbannen. Die Säkularisierung darf normativ nicht so verstanden
werden, dass religiöse Überzeugungen aus öffentlichen Diskursen ausgeschlossen
werden dürften. »Die Suche nach Gründen, die auf allgemeine Akzeptabilität abzielen, würde aber nur dann nicht zu einem unfairen Ausschluss der Religion aus der
Öffentlichkeit führen und die säkulare Gesellschaft nur dann nicht von wichtigen
Ressourcen der Sinnstiftung abschneiden, wenn sich auch die säkulare Seite einen
Sinn für die Artikulationskraft religiöser Sprachen bewahrt« (Habermas, 2001: 22).
Nebeneinander von
religiösen
und säkularen
Gemeinschaften
4 Lebensweltorientierte Soziale Arbeit
Eine lebensweltorientierte Soziale Arbeit weiß, dass die Adressaten der Sozialen
Arbeit sich immer schon in einem bestimmten Horizont bewegen, den es wahrzunehmen und zu interpretieren gilt. »Wir sind in den Netzen der Lebenswelt in
9 Vgl. zu Auseinandersetzung mit der Friedenspreisrede auch Langthaler/Nagl-Docekal, 2007.
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Phänomenologischer
Zugang zur
konkreten
Lebenswirklichkeit
erheblichem Maße durch die schon längst vor unserer Zeit eingefädelten Regelungen determiniert und verstehen uns dennoch als mitverantwortliche Gestalter
der Vernetzungen, die uns Handlungsspielräume eröffnen, welche es innovativ zu
nutzen gilt« (Lesch, 2007: 89–90). Der Mensch wird also nicht als ein atomisiertes,
isoliertes oder autarkes Individuum verstanden, sondern als ein sozial verankertes
Wesen. Eingebunden in eine grundlegende Sozialität bzw. in vorfindliche gesellschaftliche Verhältnisse versucht der Mensch sich in dieser Wirklichkeit mit seinen
eigenen Deutungen und Handlungsmustern zu behaupten.
Das Konzept der Lebensweltorientierung wurde in der Sozialen Arbeit im Wesentlichen von Hans Thiersch theoretisch entwickelt und konsequent ausgebaut (vgl.
Thiersch, 2000; Thiersch, 2002). Der Ansatz weiß um die sozialen Veränderungen
der modernen Gesellschaft und fragt zugleich mit Blick auf das Individuum nach
dessen Lebensbedingungen und seinem konkreten Lebensumfeld. Sozialprofessionelles Handeln zeichnet sich also dadurch aus, dass die Akteure der Sozialen Arbeit
Kenntnis über die Lebenswelt bzw. den Alltag der Adressaten besitzen. Es geht
also um einen phänomenologischen Zugang zur konkreten Lebenswirklichkeit der
Menschen. Dieser soll in kritischer Absicht dazu bewegen, von Abstraktionen und
vorschnellen Kategorisierungen abzusehen und die Eigensinnigkeit der lebensweltlichen Erfahrung der Adressaten der Sozialen Arbeit ernst zu nehmen. »Lebensweltorientierte Soziale Arbeit ist so zugleich auf den Respekt vor dem Eigensinn
gegebener lebensweltlicher Ressourcen verpflichtet und auf die Anstrengung, neue,
tragfähige lebensweltliche Verhältnisse – neue Handlungs- und Verständigungsmuster – zu schaffen, also auf die Erkenntnis und die Ermutigung zum Ausbau und zur
Inszenierung lebensweltlich tragfähiger Ressourcen« (Thiersch, 1993: 14). Die in
der Lebenswelt der Adressaten vorhandenen Ressourcen zur Lebensbewältigung
sollen von der Sozialen Arbeit identifiziert und zur Bewältigung von Problemen
eingebunden werden. Lebensweltorientierung erfordert deshalb ein strukturell
offenes und situatives Handeln, »das im erziehenden Umgang, in der Beratung, in
der Begleitung und in der Kooperation orientiert ist an der Eigensinnigkeit der
Problemsicht der AdressatInnen im Lebensfeld, am ganzheitlichen Zusammenhang von Problemverständnis und Lösungsressourcen, an den in der Lebenswelt
verfügbaren Ressourcen und Kompetenzen« (Thiersch, 1993: 22).
Das Konzept der Lebensweltorientierung nähert sich der Lebenswirklichkeit
der Menschen aber nicht nur phänomenologisch-deskriptiv, sondern hat auch eine
normativ-kritische Perspektive. Denn auch wenn die Lebenswelt der Adressaten
nicht per se als negativ gedeutet werden kann, sondern die Deutungen und Handlungsmuster der Menschen als Entlastungsstrategie verstanden werden müssen,
so können diese Deutungen und Handlungsmuster jedoch auch als pathologisch,
zumindest aber ambivalent erlebt werden. In der Lebenswelt lassen sich Bewältigungs- und Lernpotenziale, aber auch Probleme mit den vorhandenen Ressourcen
auffinden. Deshalb versucht eine an der Lebenswelt orientierte Soziale Arbeit »in
der Balance von Respekt und Veränderung, von Unterstützung und Provokation
Hilfen im Medium der lebensweltlichen Möglichkeiten der AdressatInnen verhütend, gegenwirkend und fördernd zu inszenieren, Lernhilfen, Hilfen zum Empowerment, Hilfen zur Überwindung lebensweltlicher Enge und Ohnmacht und Hilfen
zur Unterstützung, Förderung und Neugestaltung lebensweltlicher Ressourcen«
(Thiersch, 1998: 85) zu aktivieren.
Durch eine Auseinandersetzung mit der Lebenswelt der Menschen lässt sich ein
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Zugang zum Sinnsystem Religion, zu den unterschiedlichen Erscheinungsformen
des Religiösen gewinnen (vgl. Weyel, 2006; Failing, 1998).10 Dann zeigt sich nochmals
sehr schnell: Religion verschwindet nicht, sondern wird individualisiert. Hierin zeigt
sich das eigentlich Neue der religiösen conditio humana bzw. die Veränderungen,
die der homo religiosus durchmacht. Der Ort der Religion bzw. des Religiösen
verlagert sich von den Institutionen in das Subjekt hinein (vgl. Kaufmann, 2008).
Diese Subjektivierung der Religion ist nicht total, denn auch der subjektivierte
Umgang mit dem Religiösen ist – wie alle anderen subjektiven Erfahrungen – auf
einen intersubjektiven Austausch angewiesen und findet somit immer im Kontext
eines kulturell geprägten Vokabulars und weiterer unterschiedlicher kultureller
Codierungen statt. Auch das religiöse Selbsterleben des Individuums ist wie alles
Selbsterleben auf Gesellschaft angewiesen und deshalb niemals ausschließlich
das Selbsterleben des Individuums. Das Sinnsystem Religion wird in der Regel
über Praktiken, Rituale und Symbole erfahren und »über diese Formen der
ästhetisch-rituellen (Selbst-)Darstellung ebnet sich auch ein direkter Zugang zu
den Geltungsansprüchen, zum sozialen Ort und zur lebensweltlichen Bedeutung
von Religion.« (Höhn, 2007: 22) Diese sind in der modernen Lebenswelt allerdings
nicht übersichtlich und transparent, sondern bilden ein undurchsichtiges Dickicht.
Dennoch zeigt sich anhand eines lebensweltlichen Zugangs zum Phänomen der
Religion sehr schnell, dass die Säkularisierungstheorie – als Verschwinden der
Religion in der Moderne verstanden – definitiv nicht zutrifft. Religion hat sowohl
für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft eine enorme Bedeutung, wird in
der Moderne aber ganz unterschiedlich gelebt. Dazu gehört auch die institutionell
gebundene und kirchlich verfasste Religion. Doch die eigentliche Religionsproduktivität liegt in der Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit des Phänomens Religion
(vgl. Luckmann, 1991). Wird Religion auf kirchlich verfasste Religion verengt, dann
wird die religiöse Signatur der Moderne übersehen. Zwar taucht Religion in der
Moderne auch immer wieder in kirchlich verfassten Zusammenhängen auf. Die
biografischen Übergänge werden von den Kirchen immer noch begleitet, bzw. gerade bei biografischen Übergängen wird das rituelle Handeln der Kirchen angefragt.
Die Nachfrage nach Riten, insbesondere bei Lebenswenden, bleibt – als ein Teil
der religiösen Praxis – hoch. Hier zeigt sich, dass es auch einen kulturell geteilten
Bestand an religiöser Praxis geben muss, der am besten von institutionalisierten
Religionen »verwaltet« wird. Doch über diese spezifischen und hervorstehenden
Lebensübergänge hinaus lässt sich Religion insbesondere in der Alltagskommunikation der Menschen auffinden.11 Religion wird im Alltag als ein Deutungsmuster
verwendet, um sinnhafte Zusammenhänge zu konstituieren, um den Alltag in ein
Sinngefüge einbetten zu können. Der Alltag selbst ist ein Generator (und somit Garant) für Religion. »Religion entsteht im Alltag, in Situationen, Momenten, die die
Bewältigung des Alltags erforderlich machen: an Schnittstellen des Alltagslebens,
Individualisierung der
Religion
Religion in
der Alltagskommunikation
10 Es macht gute Theologie aus, dass sie diese lebensweltlich verortete Religion erkennt und sich
auf einen Reflexionsprozess einlässt – dieser Reflexionsprozess ist oftmals komplexer und
anspruchsvoller als die theologische Ausdeutung kirchlich verfasster Religion. Hinzuweisen ist
neben der lebensweltlichen auch auf die anthropologische Wende der Theologie in den 1950er
Jahren.
11 Vgl. beispielsweise die Präsenz des Religiösen in der Werbung. Diese Werbung kann nur funktionieren, wenn das hier verwendete und verfremdete religiöse Sprachspiel zumindest noch
rudimentär verstanden wird.
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an aktuellen Brüchen in der Lebensführung, angesichts plötzlich auftretender Risiken, Krankheit, drohender Arbeitslosigkeit, wenn Grenzen überschritten werden,
eine neue Lebensphase beginnt, der einzelne sich mit besonderen Anforderungen,
Zuschreibungen, Trennungen, Leiden, Unrechtserfahrungen konfrontiert sieht.«
(Weyel, 2006: 18–19)
5 Soziale Arbeit und die Hermeneutik religiöser
Lebenswelten
Machtposition der
christlichen
Kirchen
Anthropologischethnografische
Sichtweise
Die anthropologische Verortung des Phänomens der Religion und der lebensweltorientierte Zugang der Sozialen Arbeit unterstützen die Plausibilität der Analyse
einer postsäkularen Gesellschaft. Somit ist auch in säkularisierten Gesellschaften
dauerhaft mit Religion zu rechnen. Hans Thiersch weist nun darauf hin, dass die
christlichen Kirchen weiterhin ein Monopol bzw. eine Machtposition in religiösen
Fragen besitzen. Dieses Monopol stehe in pluralistischen Gesellschaften aber
unter Umständen der Beantwortung wichtiger individueller Sinnfragen entgegen
(vgl. Thiersch, 1995). Thiersch schließt sich mit Blick auf die Individualisierungsprozesse der These an, dass eine spezifisch dogmatisch-kirchlich geprägte Religion
und Religiosität nur noch eine Form des Religiösen ist. Die moderne Gesellschaft
bringt ein – im bereits oben erläuterten Verständnis – »vielfältiges, individualisiertes, buntes Bild religiöser Vorstellungen« (Thiersch, 1995: 66) hervor. Die
immer noch hegemonialen Institutionen der Religion – die Kirchen – können
laut Thiersch den Bedarf an Sinnstiftung bzw. Kontingenzbewältigungsstrategien
aufgrund der pluralistischen gesellschaftlichen Situation nicht länger decken. Er
folgert: »In unserer Zeit braucht es Deutungsangebote im weiten Spektrum der
unterschiedlichen Säkularisierungskonzepte« (Thiersch, 1995: 69), ein offenes und
freies pluralistisches Angebot von unterschiedlichen religiösen Deutungsmustern,
um die Sinnfragen der Menschen beantworten zu können.
Eine an der Lebenswelt der Adressaten orientierte Soziale Arbeit erzwingt eine
Reflexion des Phänomens der Religion bzw. eine hermeneutische Sicht auf die
religiöse Lebenswelt. Es geht um einen anthropologisch-ethnografischen Blick auf
die Lebenswelt der Adressaten, der das dort vorfindliche Thema Religion aufnimmt.
Anknüpfungspunkt der Sozialen Arbeit kann keine substantialistische Definition
der Religion sein, sondern die Soziale Arbeit muss sich auf die Funktion(en) der
Religion beziehen. Damit wird sie der Interpretation der Religion aus der Sicht
des religiösen Menschen vielleicht nicht gerecht, doch es geht an dieser Stelle um
die Möglichkeiten der Sozialen Arbeit, an die religiös geprägte Lebenswelt der
Adressaten professionell anzuknüpfen. Ein für die Soziale Arbeit interessanter
Bezugspunkt des funktionalistischen Religionsbegriffs ist das bereits im anthropologischen Kontext erläuterte Kontingenzproblem.12 Es zeigt sich, dass gerade die
gesellschaftliche Modernisierung die Lebenslagen prekärer werden lässt, was das
Gefühl der Verletzbarkeit erzeugt und den Wunsch nach existenzieller Sicherheit.
Aus dieser Perspektive ist Religion für das Individuum von (steigender) Relevanz.
12 Franz-Xaver Kaufmann nennt neben der Kontingenzbewältigung noch die kosmierende, sozialintegrative, moralische und prophetische Funktion sowie die der Kontingenzbewältigung verwandte
Funktion der Identitätsstiftung. Vgl. dazu Kaufmann, 2008: 25.
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Die gesellschaftliche Differenzierung der Moderne erzeugt Religionsbedarf, um
mit den Irritationen umgehen zu können. »Die gesellschaftliche Differenzierung,
die als Zerrissenheit erlebt werden kann, wirft die Frage nach einem den Alltag
und die Alltagserfahrung gleichsam überwölbenden »Himmel« auf.« (Weyel, 2006:
23; vgl. auch Freise, 2006). Mit Blick auf die mannigfaltigen religiösen Bezüge im
Alltag ist die Religion ein Ressourcenspeicher für die Lebensführung und aus
dieser Perspektive trifft dann Hermann Lübbes Definition von Religion als »Kontingenzbewältigungspraxis« (vgl. Lübbe, 2004) zu. Die Lebensführung soll mit Hilfe
religiöser Rede bewältigt werden, die Menschen greifen auf religiöse Symbole
und Deutungsmuster zurück, um den Alltag kommunikativ zu erschließen. Ein
solcher Begriff von Religion macht es möglich, alle modernen lebensweltlichen
Erscheinungsformen der Religion in den Blick zu nehmen, die »Integrationssuchbewegungen bereits in Ansätzen und das heißt tatsächlich auch als Suchbewegungen
wahrzunehmen« (Weyel 2006, 25). Religion als Kontingenzbewältigungspraxis ist Kontingenzaber nicht als eine Praxis der Diesseitsvergessenheit zu verstehen, die die strukturell bewältigung
erfahrenen prekären Lebenssituationen durch individuelle Transzendenzbezüge
zu bekämpfen versucht. Beim Kontingenzbewältigungsprogramm Religion geht
es nicht um ein affirmatives Konservierungsprogramm von Lebensverhältnissen.
Auch für den religiösen Menschen stellt sich die provokative Frage nach dem
»warum ist es nicht anders«13.
6 Soziale Arbeit und die Ambivalenzen religiöser
Lebenswelten
Religion ist äußerst lebendig und für Soziale Arbeit eine lebensweltlich relevante
Größe. Zugleich präsentiert sich Religion seit Menschengedenken als ein ambivalentes Phänomen (vgl. Ratzinger, 2005; Beck, 2008). Ein lebensweltlicher bzw.
kontextsensibler hermeneutischer Zugang könnte den Eindruck erwecken, dass es
hierbei um eine Apologie des Besonderen bzw. Bestehenden geht und dass Soziale
Arbeit somit unter das moralische Postulat der Nichteinmischung in die eigensinnigen Lebenspraxen und -praktiken gestellt wird (vgl. zur ethischen Analyse der
Lebensweltorientierung Steckmann, 2004). Es geht aber nicht nur um eine bloße
Wahrnehmung der Lebenswelt der Menschen, sondern auch um eine Veränderung
dieser Lebenswelt, um Optionen für ein gelingendes Leben. Es geht keineswegs um
eine naive bzw. unkritische Idealisierung der Lebenswelt der Menschen. Auch wenn
an erster Stelle ein unvoreingenommener, beschreibender Zugang zur Wirklichkeit
der Adressaten Sozialer Arbeit steht, das heißt die sensible Wahrnehmung der
vorwissenschaftlichen bzw. vortheoretischen Deutungs- und Handlungsmustern,
so bleibt dieser lebensweltorientierte Zugang doch nicht bei der Rekonstruktion
stehen. Es geht darum, die Lebenswelt mit ihren unterschiedlichen Ressourcen
respektvoll wahrzunehmen, aber sich zugleich auch widerständig gegenüber dieser
eingespielten Lebenswelt zu verhalten. Grundsätzlich formuliert: »Lebensweltorientierte Soziale Arbeit ist ein Konzept, das versucht, die Aufgaben der Sozialen
Arbeit im Horizont heutiger lebensweltlicher Verhältnisse, ihrer spezifischen
13 Gerade weil die meisten Religionen die Heilszeit mit einem eschatologischen Vorbehalt versehen,
sind sie nicht unsensibel für die Verhältnisse der Welt und drängen auf ihre Veränderung. Vgl. zum
Einspruch gegen ein affirmatives Verständnis von Kontingenzbewältigung auch: Lob-Hüdepohl,
2006.
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Nicht nur
deskriptives,
sondern auch
normatives
Konzept
Übersetzung
lebensweltlich verankerter Deutungsmuster
Strukturen, Ressourcen und Probleme zu bestimmen. Lebensweltorientierte Soziale
Arbeit bezieht sich auf zwei Dimensionen: Sie verbindet die allgemeinen Fragen
nach den spezifischen politischen, sozialen und individuellen Konstituenten und
Lebensmustern heutiger Lebensverhältnisse mit der spezifischen Frage nach Aufgaben, Schwierigkeiten und Möglichkeiten heutiger, angemessener Arrangements
der Sozialen Arbeit« (Thiersch, 1998: 83). Weil es bei der Lebensweltorientierung
immer auch um eine Identifizierung der Aufgaben der Sozialen Arbeit geht, weil
es um Interventionen und Hilfestellungen geht, handelt es sich nicht nur um ein
deskriptives, sondern immer auch um ein normatives Konzept, denn die Ausdeutung
der Lebenswelt der Adressaten hat immer auch einen ethischen Bezugsrahmen
(vgl. Thiersch, 1998: 84).
Die Frage, ob »ein Sozialarbeiter das Recht haben [soll] zu versuchen, einen
Jungen aus einer stark religiös geprägten Lebenswelt zum Besuch koedukativer
Unterrichtsveranstaltungen zu motivieren, wenn er sich damit womöglich von
seinem Herkunftskontext entfremdet« (Steckmann, 2004: 273), kann nicht ohne
präzise Beachtung des Kontextes beantwortet werden. Aber natürlich kommt es
durch die lebensweltliche bzw. anthropologische Verortung der Religion noch lange
nicht zu einer bedingungslosen Akzeptanz der damit einhergehenden Deutungsmuster und partikularen moralischen Werte. Religiösen Überzeugungen kommt
kein privilegierter Status zu. In der postsäkularen Gesellschaft kann es der Sozialen
Arbeit weder um einen Denkmalschutz der Religion noch um einen Naturschutz
des bedrohten religiösen Bürgers gehen, so als ob es sich um eine zu konservierende
bzw. aussterbende Gattung handelte. Vielmehr müssen sich auch religiöse Überzeugungen im Konzert der Gründe in der öffentlichen Auseinandersetzung beweisen.
Religiöse Menschen »müssen sich bemühen, ihre religiösen Überzeugungen in
eine säkulare Sprache zu übersetzen, um sie auch für nichtreligiöse Bürger in ihrer
Bedeutsamkeit verständlich zu machen. Und sie müssen dafür dann auch säkulare
Gründe benennen, die diese semantischen Gehalte der Religion plausibel machen
und stützen« (Knapp, 2008: 276). Mit Blick auf den komplementären Lernprozess,
der sich in postsäkularen Gesellschaften zu vollziehen hat, müssten die Eltern des
Jungen im oben skizzierten Problem ihre religiösen Überzeugungen zuerst einmal
in eine säkulare Sprache übersetzen, damit die Weigerung der Teilnahme am koedukativen Unterricht auch für nichtreligiöse Bürger in ihrer (pädagogischen?)
Bedeutsamkeit verständlich wird. Diese Übersetzungsleistung ihrer lebensweltlich
verankerten Deutungsmuster kann religiösen Menschen abgefordert werden, auch
wenn diese Deutung und Übersetzung Folgen haben wird, die religiöse Signatur
der Lebenswelt bleibt nicht unbeeinflusst – wird sich verändern. Für eine solche
Übersetzungsarbeit sind ein Bereitschaftspotenzial und eine Reflexionsfähigkeit
von Nöten. Soziale Arbeit kann versuchen, die Fähigkeit zum Perspektivwechsel,
zur Hermeneutik der eigenen Lebenswelt, zum Erwerb und Ausbau dieser kognitiven Voraussetzungen bei ihren Adressaten zu befördern. Diese Aufgabe ist
sehr komplex, denn es geht letztlich um eine dreifache Reflexion der Gläubigen:
»Das religiöse Bewusstsein muss erstens die kognitiv dissonante Begegnung mit
anderen Konfessionen und anderen Religionen verarbeiten. Es muss sich zweitens
auf die Autorität von Wissenschaften einstellen, die das gesellschaftliche Monopol
an Weltwissen innehaben. Schließlich muss es sich auf die Prämissen des Verfassungsstaates einlassen, die sich aus einer profanen Moral begründen. Ohne diesen
Reflexionsschub entfalten die Monotheismen in rücksichtslos modernisierten
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Gesellschaften ein destruktives Potential« (Habermas, 2001: 14). Diese Fähigkeit
zur Reflexion muss nicht erst grundständig erarbeitet werden, sondern liegt immer
schon (zumindest rudimentär) vor: Der religiös grundierte Bürger »lebt nicht mehr
als Mitglied einer religiös homogenen Bevölkerung in einer religiös legitimierten
staatlichen Ordnung. Deshalb sind religiöse Glaubensgewissheiten mit falliblen
Überzeugungen säkularer Natur vernetzt und haben – in der Art von »unmoved«,
aber nicht »unmovable movers« – ihre vermeintliche Immunität gegenüber Zumutungen der Reflexion längst verloren« (Habermas, 2005: 135). Wo solche kognitiven
Einstellungen nur rudimentär vorliegen, kann Soziale Arbeit einen Mentalitätswandel befördern. Es geht auch um die alltäglichen Herausforderungen einer
verantwortlichen Lebensführung mit Blick auf die Religion. Zu einer religiösen
Hermeneutik sind die Sozialprofessionellen aufgrund der Lebensweltorientierung
der Sozialen Arbeit aufgefordert, müssen dazu aber auch befähigt werden. Soziale
Arbeit hat die Wahrheitsfrage der Religion nicht zu entscheiden. Aber sie muss
sich mit den Wahrheitsfragen der Religionen auseinandersetzen. Vor allem dann,
wenn diese Wahrheitsfragen zu gesellschaftlichen Störungen oder sozialen Pathologien führen sollten. In diesem Sinne muss Soziale Arbeit religionskritisch sein.
Dafür notwendig aber ist die Ausprägung einer basalen religiösen Kompetenz oder
Religionssensibilität – als die Wahrnehmung und Bewertung der Religion. Auch
für die Religionskritik bedarf Soziale Arbeit eines theologisch-anthropologischen
Grundwissens.14 Auf diesem Grundwissen aufbauend geht es in einem ersten Schritt
dann um eine sensible Wahrnehmung des Phänomens Religion. Diese wird in einem
lebensweltlichen Verständnis dann in einem zweiten Schritt um eine respektvolle
Würdigung der Ressourcen ergänzt und zudem in einem dritten Schritt auch mit
einer kritischen Spiegelung verbunden.
»unmoved«
– nicht
»unmovable
movers«
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14 Ein Bezugspunkt der Kritik könnten die Religionen und die auch hier präsente Kritik an der Religion selbst sein. So
weist gerade das Bilderverbot der monotheistischen Religionen auf das Gefährdungspotenzial hin, das mit ihnen
verbunden ist.
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Verf.: Prof. Dr. Axel Bohmeyer, Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin,
Köpenicker Allee 39-57, 10318 Berlin
E-Mail: [email protected]
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