Phänomenologische Hermeneutik der Faktizität in „Sein und Zeit“

Werbung
DAS WAHRHEITSVERSTÄNDNIS
MARTIN HEIDEGGERS UND HANS URS VON BALTHASARS
INAUGURALDISSERTATION
ZUR
ERLANGUNG DER DOKTORWÜRDE
VORGELEGT DER
THEOLOGISCHEN FAKULTÄT
DER
PHILOSOPHISCH-THEOLOGISCHE HOCHSCHULE SVD
ST. AUGUSTIN
VON
GERHARD POLLMEIER
AUS
FRANKFURT
2015
1
ERSTGUTACHTER:
ZWEITGUTACHTER:
DATUM DER RIGOROSA:
Prof. Dr. Peter Ramers, Sankt Augustin
Dr. Fidelis Regi Waton, Sankt Augustin
17.11.2015; 07.12.2015; 14.12.2015
2
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis ....................................................................................................................... 3
1
Einleitung ........................................................................................................................... 6
2
Die phänomenologischen Methoden Martin Heideggers und Hans Urs von Balthasars ... 9
2.1
Hermeneutische Phänomenologie Martin Heideggers ............................................... 9
2.1.1 Die phänomenologische Hermeneutik der Faktizität des Daseins in Sein und
Zeit
10
2.1.2 Hermeneutische Phänomenologie nach der sogenannten „Kehre“ .................... 13
2.1.3 Exkurs: Heidegger und Husserl.......................................................................... 15
2.1.4 Husserls Philosophie .......................................................................................... 15
2.1.4.1
Heideggers Kritik an Husserl ...................................................................... 17
2.1.5 Fazit .................................................................................................................... 19
2.2
Phänomenologie Hans Urs von Balthasars .............................................................. 20
2.2.1 Schau von Gestalten in Hinblick auf Goethes Morphologie .............................. 21
2.2.2 Der seinsphilosophische Aspekt der Phänomenologie von Balthasars .............. 22
2.2.3 „Orphische Erkenntnisform“ im Hinblick auf Rilke und Trakl ......................... 24
2.2.4 „Symphonie der Wahrheit“ im Hinblick auf Bach und Mozart ......................... 26
2.2.5 Exkurs: Hans Urs von Balthasar und Romano Guardini.................................... 28
2.2.6 Fazit .................................................................................................................... 31
3
Die Ontologie Martin Heideggers und Hans Urs von Balthasars .................................... 33
3.1
Grundbegriffe der Fundamentalontologie Heideggers in Sein und Zeit .................. 33
3.1.1 Der Sinn von Sein und Dasein als Existenz ....................................................... 33
3.1.2 Die ontologische Differenz ................................................................................ 34
3.1.3 Das Dasein und die Frage nach dem Sein .......................................................... 36
3.1.4 Darstellung der wichtigen Existenzialien des Daseins ....................................... 37
3.1.4.1
Das In- der- Welt-sein ................................................................................. 37
3.1.4.2
Das Mitsein und das Man ........................................................................... 38
3.1.4.3
Die Erschlossenheit ..................................................................................... 39
3.1.4.3.1 Die Befindlichkeit................................................................................... 40
3.1.4.3.2 Das Verstehen ......................................................................................... 41
3.1.4.3.3 Die Rede ................................................................................................. 43
3.1.4.4
Das Verfallen als Uneigentlichkeit ............................................................. 44
3.1.4.5
Die Entschlossenheit ................................................................................... 45
3.1.4.5.1 Die Angst ................................................................................................ 46
3.1.4.5.2 Das Sein zum Tode und die Sorge.......................................................... 46
3.1.4.5.3 Der Ruf des Gewissens ........................................................................... 48
3.1.4.6
Fazit............................................................................................................. 49
3.2
Die Seinsphilosophie Hans Urs von Balthasars ....................................................... 52
3.2.1 Das Sein.............................................................................................................. 52
3.2.2 Die Realdistinktion ............................................................................................. 53
3.2.2.1
Realdistinktion und Zeit .............................................................................. 55
3.2.2.2
Realdistinktion und Gottesbeweis............................................................... 56
3.2.3 Metaphysik der Singularität ............................................................................... 57
3.2.4 Der analoge Charakter des Seins ........................................................................ 59
3.2.5 Die transzendentalen Bestimmungen des Seins ................................................. 61
3.2.6 Subjekt-Objekt ................................................................................................... 63
3.2.7 Fazit .................................................................................................................... 64
4
Das Wahrheitsverständnis Martin Heideggers und Hans Urs von Balthasars ................. 67
4.1
Martin Heideggers philosophische Denkwege von der „Neuscholastik“ zum
hermeneutischen Wahrheitsverständnis ............................................................................... 67
3
4.1.1 Wahrheit in Sein und Zeit .................................................................................. 69
4.1.2 Anknüpfung beim traditionellen Wahrheitsbegriff ............................................ 70
4.1.3 Wahrheit als Erschlossenheit ............................................................................. 71
4.1.4 Die ontologische Abkünftigkeit des traditionellen Wahrheitsbegriffes ............. 72
4.1.5 Zwei äquivoke Wahrheitsbegriffe in Sein und Zeit ............................................ 72
4.1.6 Vom Wesen der Wahrheit .................................................................................. 73
4.1.7 Blick auf das Wesen der Wahrheit ..................................................................... 74
4.1.8 Wahrheit und Freiheit......................................................................................... 78
4.1.8.1
Wahrheit und Un-Wahrheit......................................................................... 81
4.1.8.2
Die Wahrheit des Wesens ........................................................................... 84
4.1.8.3
Die „Kehre“ und der Wandel in Heideggers Wahrheitsverständnis ........... 85
4.1.9 Wahrheit des Seyns als Ereignis ........................................................................ 86
4.1.10 Wahrheit als Überwindung der Ästhetik ............................................................ 89
4.1.11 Die Wahrheit und das Göttliche ......................................................................... 92
4.1.12 Fazit .................................................................................................................... 95
4.2
Wahrheitsverständnis Hans Urs von Balthasars....................................................... 98
4.2.1 Wahrheit als Natur ............................................................................................. 99
4.2.2 Wahrheit als Freiheit ........................................................................................ 105
4.2.3 Wahrheit als Geheimnis ................................................................................... 108
4.2.4 Wahrheit als Teilnahme ................................................................................... 110
4.2.5 Wahrheit und Person ........................................................................................ 112
4.2.6 Fazit .................................................................................................................. 115
5
Das Wahrheitsverständnis der beiden Denker – eine kritische Gegenüberstellung ....... 118
5.1
Grundsätzliches zur Position Hans Urs von Balthasars im Hinblick auf Martin
Heidegger ........................................................................................................................... 119
5.2
Phänomenologie ..................................................................................................... 120
5.3
Metaphysik ............................................................................................................. 124
5.4
Wahrheit als Offenheit und als Geheimnis ............................................................ 128
5.5
Wahrheit als Freiheit .............................................................................................. 133
5.6
Wahrheit-Zeit-Geschichte ...................................................................................... 135
5.7
Wahrheit und Logik ............................................................................................... 139
5.8
Wahrheit und Singularität ...................................................................................... 141
5.9
Wahrheit und Gewissen ......................................................................................... 141
5.10 Wahrheit und Ästhetik ........................................................................................... 143
5.11 Wahrheit und die Frage nach dem Göttlichen ........................................................ 145
5.12 Fazit ........................................................................................................................ 148
6
Kritik von Seiten der Philosophie und Theologie an Martin Heideggers und Hans Urs
von Balthasars Wahrheitsverständnis..................................................................................... 152
6.1
Kritische Stimmen zu Martin Heidegger ............................................................... 152
6.1.1 Theologische Kritik .......................................................................................... 152
6.1.2 Philosophische Kritik ....................................................................................... 158
6.1.2.1
Die „Frankfurter Schule“ am Beispiel Jürgen Habermas ......................... 158
6.1.2.2
Emmanuel Levinas.................................................................................... 165
6.2
Kritische Stimmen zu Hans Urs von Balthasar ...................................................... 173
6.2.1 Kritik von Seiten der Metaphysik am Beispiel des Philosophen und Theologen
Jörg Disse ....................................................................................................................... 174
6.2.2 Literaturtheologie ............................................................................................. 176
6.2.3 Bach und Mozart .............................................................................................. 180
6.2.4 Literatur, Musik und Heilige (Spiritualität)- loci theologici? .......................... 181
6.2.5 Die Transzendentalphilosophie und Transzendentaltheologie Karl Rahners .. 182
7
Resümee: Beiträge Heideggers und Balthasars zum Wahrheitsverständnis .................. 189
4
7.1
Beiträge Heideggers zum Wahrheitsverständnis.................................................... 189
7.2
Beiträge von Balthasars zum Wahrheitsverständnis .............................................. 193
8
Abkürzungsverzeichnis Heidegger Balthasar ................................................................ 197
8.1
Martin Heidegger ................................................................................................... 197
8.2
Hans Urs von Balthasar .......................................................................................... 197
9
Literaturverzeichnis ........................................................................................................ 198
9.1
Primärliteratur ........................................................................................................ 198
9.1.1 Heidegger, Martin ( Gesamtausgabe und Einzelschriften) .............................. 198
9.1.2 Hans Urs von Balthasar .................................................................................... 198
9.1.3 Primärliteratur (Jürgen Habermas, Emmanuel Levinas, Bernhard Welte) ...... 199
9.1.3.1
Habermas, Jürgen ...................................................................................... 199
9.1.3.2
Levinas, Emmanuel................................................................................... 199
9.1.3.3
Welte, Bernhard ........................................................................................ 199
9.2
Sekundärliteratur .................................................................................................... 200
5
1 Einleitung
In der vorliegenden Dissertation geht es um zwei Denkwege auf der Suche nach der Wahrheit.
Den einen hat Martin Heidegger (1889–1976) beschritten, den anderen der katholische
„Literaturtheologe“ Hans Urs von Balthasar (1905–1988).
Gerade Martin Heidegger und Hans Urs von Balthasar haben sich zeitlebens mit ihrer ganzen
intellektuellen Kraft der Wahrheitsfrage gewidmet und bis in unsere Tage weltweit mir ihren
Denkanstößen großen Einfluss ausgeübt.
Heidegger versuchte nichts Geringeres als eine Revolution der Philosophie, eine Destruktion
der überkommenen Metaphysik („Verwindung“ der Metaphysik, wie er es ausdrückte) und
vollzog dabei den Bruch mit dem „System des Katholizismus“. Trotz seiner zum Teil
despektierlichen Beschreibung der „Onto-Theologie“ übte er großen Einfluss auf katholische
Philosophen und Theologen aus; zu nennen sind neben Hans Urs von Balthasar vor allem
Bernard Welte, Gustav Siewerth, Johann Baptist Lotz und Karl Rahner. Aber auch auf andere
Philosophen verfehlte sein Denken hinsichtlich seiner (religions-)philosophischen und
theologischen Implikationen ihre Wirkung nicht; man denke an Max Müller, Emmanuel
Levinas, Richard Rotry, Jürgen Habermas u.a.
Von Balthasar hingegen reiht sich ein in die Schar der Philosophen und Theologen vor ihm.
Sein Ziel ist nicht die Zertrümmerung von Philosophie und Theologie. Sein Anliegen ist es,
die Schultheologie grundsätzlich vor Schaden zu bewahren, sie jedoch gleichsam zu
entrümpeln und aus der Erstarrung in einem neuscholastischen Denkkorsett zu befreien.
Ob sich Heidegger mit von Balthasar auseinandergesetzt hat, ist nicht bekannt. Von H.U. von
Balthasar wissen wir jedoch, das sein Mentor Erich Przywara S.J. (1889–1972) ihm
vorschlug, das Studium der Neuscholastik mit Gelassenheit zu betreiben und „Augustin und
Thomas mit Hegel, Scheler und Heidegger zu konfrontieren“.1 Frucht der daraus
erwachsenden „Theologie aus dem Dialog“, wie sie für Balthasar charakteristisch ist – nicht
zuletzt auf Grund seines Seinsverständnisses, nach dem das Sein nicht als Bei-sich-sein,
sondern als Gespräch und Begegnung zu denken ist – sind wichtige Beiträge, in denen der
Theologe von Balthasar von der Philosophie Heideggers inspirieren lässt, wie vor allem der
dritte Band seiner Apokalypse der deutschen Seele zeigt.2
Ähnlich wie Heidegger favorisiert von Balthasar ein Wahrheitsverständnis, das Wahrheit
wesentlich auf einer anderen Ebene als der aussagenlogischen ansiedelt: Wahrheit gehört zum
„Wesen des Seins“, das nur aus sich selbst in unmittelbarer Evidenz erfahren werden kann.3
Eine genauere Untersuchung des Einflusses des Heideggerschen Denkens auf das Verständnis
von Wahrheit, wie es von Balthasar entwickelt hat, stellt nach wie vor ein Desideratum dar.
1
Hans Urs von Balthasar: Prüfet alles, das Gute behaltet (Ostfildern 1986), S. 9.
Hans Urs von Balthasar: Apokalypse der deutschen Seele. Bd. 3: Die Vergöttlichung des Todes (Salzburg –
Leipzig 1939).
3
Vgl. Hans Urs von Balthasar: Theologik. Bd. 1: Wahrheit der Welt (Einsiedeln 1985), S. 25.
2
6
Diesem Mangel abzuhelfen, möchte vorliegendes Dissertationsprojekt einen kleinen Beitrag
leisten.
1. Ausgehend von der auf einer kritischen Rezeption Husserls beruhenden hermeneutischen
Phänomenologie Heideggers ist es in einem ersten Schritt notwendig, die für die Frage nach
der Wahrheit zentrale phänomenologisch ausgerichtete Grundhaltung („theologische
Phänomenologie“) von Balthasars genauer in den Blick zu nehmen – eine Grundhaltung, die
wesentlich in einer „vollen, indifferenten Aufnahmebereitschaft [besteht], die zunächst nichts
anderes wünscht, als das Phänomen so rein wie möglich aufzunehmen“.4 Schon in jungen
Jahren prägte sich durch die Begegnung mit der Welt der Musik (Mozart, Bach u.a.) und der
Dichtung (Goethe, Rilke, Trakl, Hölderlin) bei von Balthasar die Sensibilität für die Kategorie
„Gestalt“ aus und die damit verbundene Grundhaltung des aus dem wahrnehmenden Sehen
und Hören erwachsenden Staunens angesichts der sich zeigenden „Gestalten“.
2. In einem zweiten Schritt soll sodann das Wahrheitsverständnis Heideggers und von
Balthasars entfaltet werden. Ausgangspunkt der Beschäftigung mit Heidegger ist sein Werk
Sein und Zeit (1927), in dem er die Frage nach der Wahrheit eng mit seiner Analyse dessen,
was er „Dasein“ nennt, verbindet. In diesem Zusammenhang wird es unerlässlich sein, die
Grundbegriffe der Heideggerschen Daseinsanalyse noch einmal näher in den Blick zu
nehmen. Seit Heideggers Schrift Vom Wesen der Wahrheit (1930) umkreist sein Denken bis
in sein Spätwerk hinein besonderes die Frage nach der „Unverborgenheit der Wahrheit“
(aletheia), der ein besonderes Augenmerk gelten wird. In den Beiträgen zur Philosophie (Vom
Ereignis) (verfasst zwischen 1936 und 1938, posthum 1989 veröffentlicht) bedenkt Heidegger
das Problem der Wahrheit in Bezug zur Geschichtlichkeit („Seynsgeschichte“). In diesem
Zusammenhang spielt der Begriff des „Ereignisses“ eine herausragende Rolle. Seit 1935
nähert sich Heidegger dem Thema Wahrheit auch von Seiten der Dichtung her; hier wurde
vor allem Hölderlin sein zentraler Gesprächspartner.
Was das Verständnis von Wahrheit bei von Balthasar angeht, so werden sich die Analysenneben den für die Thematik relevanten Passagen seiner Werke – vor allem auf sein Opus
Wahrheit der Welt (1947) konzentrieren müssen, das er später unverändert im Rahmen der
Theologik I in sein Hauptwerk, die Trilogie aus Herrlichkeit, Theodramatik und Theologik,
aufgenommen hat.5
3. Im Zentrum des dritten Teils der These steht die Gegenüberstellung der Positionen der
beiden Protagonisten. Dabei wird es zunächst noch einmal um die von beiden favorisierte
„phänomenologische Methode“ gehen. Sodann werden die Parallelen der von ihnen jeweils
vertretenen Seinsphilosophie herauszuarbeiten sein. Besondere Aufmerksamkeit muss sodann
4
Ebd., S. 74.
Vgl. dazu ausführlich Gerhard Pollmeier: „Wahrheit der Welt“ als erste Skizze der Trilogie (Frankfurt a.M.
2008).
5
7
der für Heidegger wie für von Balthasar bedeutsamen Frage nach der Zeit, näherhin nach
„Wahrheit und Geschichte“ und „Wahrheit und Situation“ („Einmaligkeit“), gewidmet
werden. In einem weiteren Schritt wird es darum gehen, die Beziehung von Freiheit und
Wahrheit (Gewissen) und das Verhältnis von Wahrheit und Ästhetik (Dichtung) genauer in
den Blick zu nehmen. Des Weiteren gilt es, die bei beiden Denkern untrennbare Verbindung
von Wahrheit und Singularität herauszuarbeiten; beide vertreten ja im Gegensatz zu Kant und
der abendländischen Philosophie den Primat des Individuellen vor dem Allgemeinen.
Schließlich gilt es, den von beiden Denkern unterschiedlich gebrauchten Schlüsselbegriff des
„Geheimnisses“, der im Zusammenhang mit dem Wahrheitsverständnis von zentraler
Bedeutung ist, zu entfalten.
4. Die Positionen Heideggers und von Balthasars haben zum Teil recht heftigen Widerspruch
erfahren. In einem vierten Durchgang soll deshalb das Wahrheitsverständnis beider Denker
noch einmal aus einer philosophischen und theologischen Perspektive kritisch in den Blick
genommen werde. Außerdem soll in der Zusammenschau versucht werden, ihren nach wie
vor unverzichtbaren Beitrag für eine verantwortliche philosophische wie theologische
Urteilbildung im Hinblick auf die Frage nach der Wahrheit zu würdigen.
8
2 Die phänomenologischen Methoden Martin Heideggers
und Hans Urs von Balthasars
Sowohl H.U. von Balthasar als auch M. Heidegger sehen einen Zusammenhang zwischen
Sein und Wahrheit.6 Man kann beider Seins- und Wahrheitsverständnis nur verstehen, wenn
man sich zuerst mit ihrer jeweiligen phänomenologischen Methode befasst, der
Behandlungsart und Zugangsmethode zum Phänomen der Wahrheit. Heideggers
Ausgangspunkt ist die Phänomenologie Edmund Husserls, von Balthasar beruft sich als
Doktor der Germanistik auf Goethes Morphologie der Pflanzen. Heidegger trennt sich nach
dem Abbruch des Studiums der katholischen Theologie in einer längeren Übergangsphase bis
zu seiner Vorlesung im Wintersemester 1919 in einem Prozess der Auseinandersetzung mit
diversen Philosophen und Theologen (Husserl, Scheler, Lask; Dilthey, Paulus, Luther,
Pasqual etc.) vom „System des Katholizismus“, in dem es um ewige und unveränderliche
Wahrheiten geht.
2.1 Hermeneutische Phänomenologie Martin Heideggers
Heidegger übernimmt zunächst die Philosophie in Form der Phänomenologie Husserls. In
„Mein Weg in die Phänomenologie“ beschreibt er den mühsamen Weg zum Verständnis der
Logische[n] Untersuchungen (Halle a.d.S. – Tübingen 1913) Husserls“7. Trotz aller
Schwierigkeiten, die Phänomenologie als „Verfahrensweise“ zu verstehen, beschäftigte er
sich nach bestimmten Zeitabschnitten immer wieder mit den Logische[n] Untersuchungen. So
griff er beispielsweise nach dem Studium der beiden Bücher Emil Lasks Die Logik der
Philosophie und die Kategorienlehre. Eine Studie über den Herrschaftsbereich der logischen
Form (Tübingen 1911) und Die Lehre vom Urteil (Tübingen 1912) erneut auf die Logische[n]
Untersuchungen zurück, um Antworten auf Fragen zu finden, die beim Studium Lasks
aufgetaucht waren. Auch diesmal verlief die Lektüre unbefriedigend.8 Trotzdem hielt die
Faszination, die dieses Buch auf ihn ausübte auch nach der Veröffentlichung des neuen
Werkes Husserls Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen
Philosophie (Halle a.d.S. 1913) an. Erst nachdem Heidegger ab 1916 Husserl in Freiburg
persönlich kennen lernte und Schritt für Schritt in das phänomenologische Sehen eingeführt
wurde, erkannte er, wie die Auseinandersetzung mit Husserl sein Verständnis der Philosophie
des Aristoteles beförderte.9 Trotz des großen Einflusses Husserls und der Bestrebungen
Husserls, ihn zu seinem Nachfolger aufzubauen, entwickelte Heidegger die Phänomenologie
weiter zu einer „hermeneutischen“ durch die Entdeckung des Hermeneutischen und
Geschichtlichen beim Studium der Geschichtsphilosophie Diltheys.
6
Vgl. SuZ (GA 2), S. 282, und Hans Urs von Balthasar: W, S 18f.; S. 246-255.
Vgl. Martin Heidegger: „Mein Weg in die Phänomenologie“. In: ZSD, S. 81-90, hier S. 82ff.
8
Vgl. ebd., S. 83.
9
Ebd., S. 86.
7
9
2.1.1 Die phänomenologische Hermeneutik der Faktizität des Daseins in
Sein und Zeit
Aus der Verbindung der Phänomenologie mit der Hermeneutik entwickelt Heidegger die
phänomenologische Hermeneutik der Faktizität. Sie ist das Grundthema der frühen Freiburger
Vorlesungen. Im Sommersemester 1923 liest Heidegger „Ontologie“ (Hermeneutik der
Faktizität).10 In dieser Vorlesung wird deutlich, was Heidegger unter der phänomenologischen
Hermeneutik der Faktizität versteht. In Sein und Zeit wird zwar auf diese „»Hermeneutik der
Faktizität« des Daseins“ in einer Fußnote (S. 72) hingewiesen11, aber sie lässt sich besser
verstehen, wenn man die frühen Freiburger Vorlesungen studiert.
Beginnen möchte ich in einem ersten Schritt mit dem Begriff der Phänomenologie, mit dem
sich Heidegger sehr intensiv seit 1909 auseinandergesetzt hat. Der Phänomenologiebegriff,
wie er insbesondere in Sein und Zeit und in der Marburger Vorlesung Sommersemester 1927
„Die Grundprobleme der Phänomenologie“ vorkommt12, soll als Behandlungsart (erstes
methodisches Prinzip) und als Zugangsmethode zum thematischen Untersuchungsfeld
(zweites methodisches Prinzip) sowie als Bestimmungsart des Themas der
Fundamentalontologie dargestellt werden13. Am Anfang des Methoden-Paragraphen § 714
weist Heidegger darauf hin, dass Phänomenologie in erster Linie ein Methodenbegriff sei. „Er
charakterisiert nicht das sachhaltige Was der Gegenstände, sondern das Wie dieser.“15 Die
Phänomenologie übernehme weder einen Standpunkt noch eine Richtung.16 In Sein und Zeit
stellt Heidegger zunächst den formalen Begriff der Phänomenologie vor. Er erklärt den
formalen Phänomenologie-Begriff durch die Übersetzung und Erklärung des Sinngehaltes des
aus zwei griechischen Wörtern zusammengesetzten Wortes Phänomenologie. Phänomen von
φαινόμενον übersetzt er mit: das Sich-an-ihm-selbst-Zeigende. „Das, als was sich die Sache
zeigt, ist solches, was die Sache in Wahrheit ist.“17 Der zweite Teil des Wortes
Phänomenologie leitet sich von dem griechischen Wort λόγος ab, dessen Grundbedeutung für
Heidegger die Rede, das Offenbarmachen von etwas, das aufweisende Sehenlassen ist.18 In
diesem Phänomenologie-Begriff ist das zusammengefasst, was in der Maxime: »zu den
Sachen selbst!«19 zum Ausdruck kommt. Vom formalen Phänomenologiebegriff leitet
Heidegger sowohl den vulgären als auch den phänomenologischen Phänomenologie-Begriff
durch Entformalisieren ab. „Die Entformalisierung ist das Problem des Bezuges der Methode
10
O (GA 63).
Vgl. Ben Vedder: „Die Faktizität der Hermeneutik. Ein Vorschlag.“ In: Heidegger Studies 12 (1996), S. 95107, hier S. 95.
12
GP (GA 24).
13
Vgl. Friedrich-Wilhelm von Hermann: Der Begriff der Phänomenologie bei Heidegger und Husserl. Wissenschaft und Gegenwart. Geisteswissenschaftliche Reihe, Heft 63. (Frankfurt a.M. 1981), und ders.: Weg und Methode. Zur hermeneutischen Phänomenologie des seinsgeschichtlichen Denkens. Wissenschaft und Gegenwart:
Geisteswissenschaftliche Reihe, 66. (Frankfurt am Main 1990).
14
Vgl. SuZ (GA 2), S. 27.
15
Ebd., S. 37.
16
Ebd.
17
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Der Begriff der Phänomenologie, S. 17.
18
Vgl. SuZ (GA 2), S. 44.
19
Ebd., S. 37.
11
10
zu ihrem Gegenstand, ohne dass dadurch die Scheidung zwischen Methode und thematischem
Gegenstand wieder rückgängig gemacht würde.“20 Der vulgäre Phänomenologie-Begriff
bezieht sich auf Seiendes wie es Gegenstand der positiven Wissenschaften ist und nicht wie es
sich in vorwissenschaftlicher Hinsicht zeigt.21. Auch beim vulgären Phänomenologie-Begriff
handelt es sich um eine Methode. Insofern kann die wissenschaftliche Forschung sich in
methodischer Hinsicht als phänomenologisch ansehen lassen.22 Anders im
vorwissenschaftlichen Bereich: „Im vorwissenschaftlichen Alltag bedarf es keiner Methode,
keiner methodischen Aufweisung, um die Dinge unserer natürlich-alltäglichen Lebenspraxis
allererst zum Sichzeigen zu bringen.“23
Im Methoden-Paragraphen von Sein und Zeit geht es aber ausschließlich um den
phänomenologischen Phänomenologie-Begriff, um die Behandlungsart, die Zugangsmethode
und die Bestimmungsart des Themas der Fundamentalontologie zu ihrem thematischen
Gegenstand, dem Sein des Seienden. „Wird der formale Phänomenbegriff entformalisiert in
Richtung auf das Sein des Seienden und dessen Sinn, dann gewinnen wir den
philosophischen, den eigentlichen und deshalb phänomenologischen Phänomen- und
Phänomenologie-Begriff.“24 Heidegger schreibt in diesem Zusammenhang: „Was ist das, was
die Phänomenologie »sehen lassen« soll? Was ist es, was in einem ausgezeichneten Sinne
»Phänomen« genannt werden muß? Was ist seinem Wesen nach notwendig Thema einer
ausdrücklichen Aufweisung? Offenbar solches, was sich zunächst und zumeist gerade nicht
zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist, aber zugleich
etwas ist, was wesenhaft zu dem, was sich zunächst zeigt, gehört, so zwar, dass es seinen Sinn
und Grund ausmacht.“25 Ausdrückliche Aufweisung eines phänomenologischen Phänomens
bedeutet demnach, dass es sich um ein Phänomen handelt, dass im Gegensatz zu den
Phänomenen im außerwissenschaftlichen- und positiv-wissenschaftlichen Bereich verborgen
ist, nämlich das Sein des Seienden. Für Heidegger ist zunächst das faktische Leben und seit
dem SS 192O das Dasein26 „das entscheidende Seiende, weil nur aus ihm und nur ‚für‘ es
entschieden werden soll, ob und wie das Sein selbst sich bekundet“.27 Zu diesem verborgenen
Sein des Seienden führt eine Zugangsmethode in drei Schritten, die auf die Schwierigkeit
dieses Weges hinweist. „Die Begegnisart des Seins und der Seinsstrukturen im Modus des
Phänomens muß den Gegenständen der Phänomenologie allererst abgewonnen werden.“28 Ein
erster Schritt auf dem Weg (erstes Grundstück) ist die phänomenologische Reduktion, die den
20
Friedrich-Wilhelm von. Herrmann: Der Begriff der Phänomenologie, S. 20.
Vgl. ebd., S. 21.
22
Vgl. ebd., S. 22f.
23
Ebd., S. 22.
24
Ebd., S. 23
25
SuZ (GA 2), S. 47.
26
Vgl. Helmuth Vetter: „Dasein“. In: Helmuth Vetter (Hrsg): Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe
(Hamburg 2004), S. 99.
27
Ilya Inishev: „Von der Lebenswelt zur Seinsgeschichte. Verwandlungen des Philosophiebegriffes Martin Heideggers“. In: Emmanuel Mejia – Ingeborg Schüßler (Hrsg.): Heideggers Beiträge zur Philosophie (Frankfurt
2009), S. 134.
28
SuZ (GA 2), S. 49.
21
11
untersuchenden Blick vom naiv erfassten Seienden zurückführt zum Sein.29 Aber diese
Reduktion reicht als Grundstück der phänomenologischen Methode nicht aus, um das
Verborgene des Seins zu entbergen, denn man kann das Sein, auf das das Seiende in der
phänomenologischen Reduktion zurückgeführt wird, nicht ohne weiteres finden. Deshalb
fordert Heidegger als zweites Grundstück der phänomenologischen Methode, die
phänomenologische Konstruktion. Das Sein muss „jeweils in einem freien Entwurf in den
Blick gebracht werden. Dieses Entwerfen des vorgegebenen Seienden auf sein Sein und
dessen Strukturen bezeichnen wir als phänomenologische Konstruktion“.30 Das dritte
Grundstück der phänomenologischen Zugangsmethode (die Destruktion) ist wohl am besten
beschrieben in § 6 von Sein und Zeit: „Die Aufgabe einer Destruktion der Geschichte der
Ontologie.“31 Die Destruktion der Geschichte der Ontologie soll den kritischen Blick schärfen
für das eigene Dasein und seine geschichtliche Verfasstheit. Vor allem der Seinsbegriff muss
in seiner Entwicklungsgeschichte von den Anfängen an genau in den Blick genommen und
jeweils auf seine Bedeutung hinterfragt und überprüft werden. Heidegger sagt: „Soll für die
Seinsfrage selbst die Durchsichtigkeit ihrer eigenen Geschichte gewonnen werden, dann
bedarf es der Auflockerung der verhärteten Tradition und der Ablösung der durch sie
gezeitigten Verdeckungen.“32 Die kritische Funktion der Destruktion wird zwar an dritter
Stelle genannt, kommt aber als kritische sowohl bei der Reduktion als auch bei der
Konstruktion zur Anwendung.33
Für Heidegger ist spätestens in den frühen Freiburger Vorlesungen die Seinsfrage offen
gehalten durch die phänomenologische Hermeneutik der Faktizität des Daseins. Was
Hermeneutik bedeutet, war Heidegger klar durch das Studium der Hermeneutik Friedrich
D.E. Schleiermachers im Rahmen seines Theologiestudiums. Dazu kam die
Auseinandersetzung mit der Geschichtsphilosophie Wilhelm Diltheys. Aber er versteht die
Hermeneutik anders als Schleiermacher und Dilthey. Es geht ihm um eine Bestimmung der
Hermeneutik als eine Hermeneutik der Faktizität oder auch Hermeneutik des Daseins.34.
Faktizität ist Gelebtes und Erlebtes, kurz das Leben, die Lebenswelt selbst. Es geht in der
Hermeneutik der Faktizität darum, „das je eigene Dasein in seinem Seinscharakter diesem
Dasein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der Selbstentfremdung, mit der das Dasein
geschlagen ist, nachzugehen. In der Hermeneutik bildet sich für das Dasein eine Möglichkeit
aus, für sich verstehend zu werden und zu sein.“35. Das griechische Wort ἑρμηνεύειν bedeutet
nicht nur „auslegen“, sondern auch „kundgeben“. Der erste Sinn der phänomenologischen
Hermeneutik besteht darin, dass das Dasein im „entwerfend-auslegenden Verstehen“36 sich
29
GP (GA 24), S. 29.
Ebd., S. 29f.
31
SuZ (GA 2), S. 31-36.
32
Ebd., S. 30.
33
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Der Begriff der Phänomenologie, S. 44.
34
Vgl. O (GA 63), § 3 „Hermeneutik als Selbstauslegung der Faktizität“, S. 14ff.
35
Ebd., S. 15.
36
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Weg und Methode, S. 17.
30
12
selbst kundgibt. „Dieses gibt sich in der Phänomenologie des Daseins aus seinem je schon im
Vollzug stehenden unthematischen Seinsverständnis durch das von ihm vollzogene
ausdrückliche ἑρμηνεύειν die in seinem Seinsverständnis verhüllten Grundstrukturen seines
eigenen Seins, die Seinsweisen des Seienden und den Sinn von Sein überhaupt kund.“37
Bei der phänomenologischen Hermeneutik im zweiten Sinn geht es um den dienenden
Charakter der Hermeneutik des Daseins im ersten Sinn für die regionalen Ontologien.38
Hermeneutik wird verstanden als Ausarbeitung „im Sinne der Ausarbeitung der Bedingungen
der Möglichkeit jeder ontologischen Untersuchung“39. Hermeneutik im dritten Sinn heißt
„Analytik der Existenzialität“.40 „Und sofern schließlich das Dasein den ontologischen
Vorrang hat vor allem Seienden – als Seiendes in der Möglichkeit der Existenz, erhält die
Hermeneutik als Auslegung des Seins des Daseins einen spezifischen dritten – den,
philosophisch verstandenen, primären Sinn einer Analytik der Existenzialität der Existenz.“41
Primärer Sinn bedeutet, nur über diesen Sinn kann die Fundamentalontologie die Frage nach
dem Sinn von Sein erreichen.42
Über die Vollzugsbedingungen der phänomenologischen Hermeneutik (der Vorhabe, der
Vorsicht, des Vorgriffs) und dem hermeneutischen Zirkel werden wir im Rahmen der
Daseinsanalyse vordringen bei der Frage nach dem Verstehen.
Zum Schluss muss noch kurz auf den Unterschied zwischen Phänomen, Erscheinung und
Schein eingegangen werden, um Begriffsverwirrung zu vermeiden. Erscheinungen und
Schein sind immer im Phänomen fundiert. Ein Phänomen als das „Sich-an-ihm-selbstzeigende“43 ist nie eine Erscheinung oder ein Schein. Nur ein Schein kann sich im Gegensatz
zum Phänomen so zeigen, wie es nicht ist (Schein). Der Zahnschmerz kann als Erscheinung
einer Entzündung angesehen werden. Dann wäre die Entzündung das eigentliche Phänomen,
um das es in diesem Beispiel geht. Erscheinung kann sich auch als Schein herausstellen.
„Sofern für »Erscheinung« in der Bedeutung von Sichmelden durch ein Sichzeigendes ein
Phänomen konstitutiv ist, dieses sich aber privativ abwandeln kann zum Schein, so kann auch
Erscheinung zum bloßen Schein werden.“44
2.1.2 Hermeneutische Phänomenologie nach der sogenannten „Kehre“
Martin Heidegger vollzieht zwischen 1930 und 1938 eine Wende in seinem Denken von der
fundamentalontologisch angesetzten Seinsfrage zur seinsgeschichtlich angesetzten Seinsfrage,
die durch eine „gewandelte Struktur des Hermeneutisch-Phänomenologischen“45
ausgezeichnet ist. Das bedeutet, dass Heidegger auch nach der Wende bis in sein Spätwerk
37
Ebd., S. 17.
Ebd., S. 18.
39
SuZ (GA 2), S. 50.
40
Ebd., S. 50.
41
Ebd.
42
Vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Weg und Methode, S. 18.
43
SuZ (GA 2), S. 38.
44
Ebd., S. 41.
45
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Weg und Methode, S. 22.
38
13
die hermeneutisch-phänomenologische Methode als Denkweg beibehalten hat, aber im Sinne
des hermeneutisch-phänomenologischen Ereignis-Denkens als Zugangsweg zum Sein als
Ereignis.46
Zunächst muss nachvollzogen werden, welche Denkerfahrung dem Wandel im Denken
(Kehre) Heideggers zugrunde liegt. Es handelt sich um eine Kehre des Blickpunktes in der
phänomenologischen Erfahrung. Es ist „die phänomenologische Erfahrung von der Herkunft
der Geworfenheit aus dem Wurf als dem Zuwurf der Wahrheit des Seins, die den Weg des
seinsgeschichtlichen Denkens der Seinsfrage eröffnet“.47 Nach der Kehre wendet sich der
Blick zur Wahrheit des Seyns. Zu dieser Wahrheit des Seins gehört, dass das Seyn sich von
sich selbst her entbirgt als auch verbirgt. Warum erwies sich demnach die transzendentalhorizontale Blickbahn von Sein und Zeit als nicht hinreichend? In Sein und Zeit bleibt die
„Geschichtlichkeit der Erschlossenheit vom Sein im Ganzen“48 unbeachtet. Es ist aber
notwendig, über die Geschichtlichkeit nachzudenken, wenn man phänomenologisch erfährt,
„dass sich die Anwesenheitsweise des Seienden geschichtlich wandelt“.49
Heidegger sah die Wahrheit in Sein und Zeit als Unverborgenheit, aber das Dasein (der
Mensch) ist nicht in der Lage, diese Unverborgenheit des Seins aus sich herzustellen.50 In
diesem Zusammenhang spielt der Begriff des Ereignisses, wie er vor allem in den Beiträgen
zur Philosophie51 herausgearbeitet wird, eine zentrale Rolle. „Hier wird unüberhörbar gesagt,
dass das Geworfensein des Entwurfs sein Er-eignetsein durch das Seyn für die Wesung des
Seyns ist. Er-eignen heißt, dass der Mensch aus dem Bezug des Seyns zu ihm »zum Eigentum
des Seyns« bestimmt wird.“52. Eigentum des Seyns bedeutet in hermeneutischer Hinsicht,
dass der Mensch Kunde zu bringen hat von der gehörten Botschaft als »Botengänger«53.
Botschaft heißt, den „Zuwurf der Wahrheit des Seins denken, der den Menschen als Da-sein
eröffnet und in das Da-sein wirft, so, dass es als geworfen existiert.“54
Nach der Kehre kommt der Ausdruck „Hermeneutik“ nur noch an wenigen Stellen vor, dann
aber im Sinne von „Botschaft und Kunde“ bringen. Ebenso ist es mit dem Begriff der
„Methode“. In den Naturwissenschaften hat für ihn der Begriff der Methode einen
„Herrschaftscharakter“.55 Herrschaftscharakter bezeichnet hier, dass die Methode den
Gegenstand der Forschung bestimmt. „Nicht ist es das Seiende selbst, das den Zugangsweg zu
ihm vorzeichnet, sondern die Methode zwingt das Seiende, nach ihrer Vorgabe sich zu
zeigen.“56 Anstelle der Methode setzt Heidegger die »Gegend« und den »Weg«57. „Im
46
Vgl. ebd., S. 31.
Ebd., S. 23.
48
Ebd., S. 26.
49
Ebd.
50
Vgl. Seminar in Le Thor 1969 ( GA 15), S. 345
51
BP (GA 65).
52
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Weg und Methode, S. 24. Vgl. BP (GA 65), S. 263.
53
Ebd., S. 26. Vgl. US (GA 12), S. 129.
54
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Weg und Methode, S. 25.
55
Ebd., S. 28.
56
Ebd.
57
Ebd., S. 29.
47
14
Gegnen der Gegend kommt das Zudenkende für das Denken entgegen. Es begegnet ihm. Im
Gegnen gibt die Gegend das Zudenkende für das Denken frei.“58
2.1.3 Exkurs: Heidegger und Husserl
Um Heideggers Kritik an seinem Lehrer und Förderer, dem Begründer der Phänomenologie,
Edmund Husserl verstehen zu können, ist es notwendig, sich Husserls Philosophie kurz und
vor allem hinsichtlich der Punkte, die für Heideggers Kritik bedeutsam sind. anzuschauen.
Das ist auch deshalb von Relevanz, da es häufig zu Missverständnissen gekommen ist, da
viele Forscher sich nicht die Mühe gemacht haben, eine differenzierte Analyse der
Heideggerschen Phänomenologie durchzuführen.
2.1.4 Husserls Philosophie
Worum ging es eigentlich in Husserls Philosophie? Erstens sollte die Philosophie neu
begründet werden als Grundlage der Natur-und Geisteswissenschaften.59 Zweitens intendierte
der wissenschaftstheoretische Cartesianer Husserl60 „eine streng wissenschaftliche,
unpersönliche, Wesensforschung betreibende, systematische, universale, anti-relativistische,
anti-skeptische, den ‚Stempel Ewigkeit‘ tragende und sachlich orientierte Philosophie, die als
erste, selbst voraussetzungslose Philosophie“.61 Der Kenner Heideggers weiß nach dieser
kurzen Definition bereits, wo Heideggers Kritik ansetzen wird. Die Frage nach der Wahrheit
stand dabei im Mittelpunkt des Husserlschen Forschungsinteresses.62. Auf Husserls
Wahrheitsbegriff kann hier nicht ausführlich eingegangen werden, aber es soll eine kurze
Zusammenfassung folgen, um Heideggers Wahrheitsverständnis im Laufe der Arbeit umso
deutlicher als Kontrastfolie abheben zu können. Man kann zwischen dem (enger logischen)
Wahrheitsbegriff der Logische[n] Untersuchungen und dem (umfassenderen metaphysischen)
der Cartesianische[n] Meditationen unterscheiden.63 Im Zusammenhang der Logische[n]
Untersuchungen spielen die Begriffe „Intentionalität“ und „Evidenz“ im Rahmen einer
phänomenologischen Korrespondenztheorie eine zentrale Rolle. „Das Anliegen der in den
Logische[n] Untersuchungen entwickelten deskriptiven Phänomenologie ist daher eine
Untersuchung der verschiedenen Weisen von Intentionalität und damit auch der
verschiedenen, auf bestimmte Intentionalitätsweisen korrelativ bezogenen Weisen der
Gegebenheit von Gegenständen.“64 Vor allem der Begriff der Intentionalität wird noch
genauer bei der Beschreibung der Besonderheiten der Husserlschen Phänomenologie
58
Ebd.
Vgl. Holger Zaborowski: „Wahrheit und die Sachen selbst. Der philosophische Wahrheitsbegriff in der phänomenologischen und hermeneutischen Tradition der Philosophie des 20. Jahrhunderts: Edmund Husserl, Martin
Heidegger und Hans Georg Gadamer“. In: Markus Enders – Jan Szaif (Hrsg): Die Geschichte des philosophischen Begriffs der Wahrheit (Berlin – New York 2006) S. 340.
60
Vgl. Michael Großheim:„Phänomenologie des Bewusstseins oder Phänomenologie des ‚Lebens‘? Husserl und
Heidegger in Freiburg“. In: Günter Figal (Hrsg.): Heidegger und Husserl (Frankfurt a.M. 2009), S. 106.
61
Holger Zaborowski: „Wahrheit und die Sachen selbst“, S. 340.
62
Vgl. ebd.
63
Vgl. ebd.
64
Ebd., S. 341.
59
15
besprochen, denn Heidegger setzt hier mit seiner Kritik der phänomenologischen Methode
Husserls an, obwohl er selbst den Begriff in seine eigene Phänomenologie neuinterpretierend
übernimmt. Husserl geht im Paragraphen 39 der Logische[n] Untersuchungen von vier
verschiedenen Wahrheitsbegriffen auf der Grundlage der Interpretation der Wahrheit als
adaequatio rei et intellectus aus65. Husserl entwickelt vor allem in den Cartesianische[n]
Meditationen in phänomenologischer Reduktion auf das „transzendentale Ego“ die
Phänomenologie zu einer idealistischen transzendentalen Phänomenologie weiter.66 Wir
wissen bereits, dass Husserls und Heideggers formale Phänomenologiebegriffe inhaltlich
übereinstimmen. Beim Entformalisieren der formalen Phänomenologiebegriffe ergeben sich
jedoch deutliche Differenzen, denn Husserl
entformalisiert
den formalen
Phänomenologiebegriff in Richtung auf das Bewusstseinsleben, anstatt wie Heidegger auf das
Dasein. „Der thematische Gegenstand der Husserlschen Phänomenologie ist das
Bewusstseinsleben mit seinen Erlebnissen bzw. Akten und demjenigen, was in den
Bewusstseinsakten gegenständlich bewusst ist.“67 Dabei ist zu beachten, dass es nicht um die
Bewusstseinsakte im naiven Sich-an-ihm-selbst-zeigen geht, sozusagen ohne ausdrückliche
Aufweisung, sondern um die Bewusstseinsakte, reflektiert in der phänomenologischen
Analyse. Sie sollen so reflektiert werden, dass sie enthüllt werden können, um zum reinen
Wesen der Akte (immanenten Sinngehalt) und ihrer wesensmäßigen Beziehung auf die
Gegenstände zu gelangen.68 „Das, was die phänomenologische Reflexion zum Aufweis
bringt, was als Verhülltes des naiven Aktvollzuges nunmehr durch die phänomenologische
Denkhaltung sich an ihm selbst zeigt und somit zum Phänomen wird, ist das reine Wesen der
Akte und ihre wesensmäßige Beziehung auf die Gegenstände.“69
Es handelt sich bei den Phänomenen im Verständnis Husserls immer um intentionale
Bewusstseinsakte.70 Intentionalität bedeutet bei Husserl, „dass jeder Bewusstseinsakt
wesensmäßig und nicht erst aufgrund des zufälligen Auftauchens von Gegenständen ein Sichbeziehen-auf etwas ist“.71 Die Intentionalität ist für Husserl die wichtigste Entdeckung der
Phänomenologie, weil durch sie die nachfolgenden Entdeckungen erst möglich sind72. Husserl
selbst schreibt: „Der Problemtitel, der die ganze Phänomenologie umspannt, heißt
Intentionalität.“73 Die Gegenstände sind bewusst in der intentionalen Immanenz des
Bewusstseins. D.h. Husserl unterscheidet zwischen dem generellen Wesen der
Bewußtseinsakte (Intentionalität) und dem speziellen Wesen, d.h. „dass jede Aktart sich
65
Ebd., S. 342.
Vgl. ebd. S. 343.
67
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Der Begriff der Phänomenologie, S. 34.
68
Vgl. ebd., S. 35.
69
Ebd., S. 36.
70
Vgl. ebd., S. 39.
71
Ebd., S. 36.
72
Vgl. Celeszine Chibueze Uzondo: Die Fundierung des Erkennens im „Verstehen“ in Heideggers Sein und Zeit
und danach. Europäische Hochschulschriften, Reihe XX, Philosophie, Bd./Vol. 705 (Frankfurt a.M. 2007) S.
136.
73
Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie I (Halle a.d.S. 1913), S. 337.
66
16
gemäß ihrem artmäßigen Wesen auf ihren Gegenstand bezieht, der wahrnehmende Akt
gegenwärtigend auf ein leibhaft Anwesendes, der wiedererinnernde Akt vergegenwärtigend
auf ein leibhaftig Gegenwärtig-Gewesenes“.74
2.1.4.1 Heideggers Kritik an Husserl
Zwar ist Sein und Zeit Edmund Husserl in Verehrung und Freundschaft zugeeignet, aber es
lässt sich nicht verbergen, dass es in diesem Buch auch um eine Auseinandersetzung mit
Husserls Philosophie geht, ja man sogar von einem Bruch mit Husserl sprechen kann.75 Schon
in seiner ersten Vorlesung als Assistent Husserls in Freiburg (1919) treten Differenzen zu
Husserl zu Tage. Auch in den frühen Freiburger Vorlesungen erarbeitet sich Heidegger immer
deutlicher eine eigenständige philosophische Position. „So entwickelt er in den Vorlesungen
der zwanziger Jahre eine an die Wurzel gehende Kritik an Husserls theoretisierender
Auffassung der Phänomenologie, die im gescheiterten Versuch einer gemeinsamen Abfassung
des »Phänomenologie«-Artikels für die Encyklopedia Britannica deutlich zum Ausdruck
kam.“76 Trotzdem hält Husserl an ihm als seinen Nachfolger auf dem Freiburger
Philosophenstuhl auch nach den Querelen um den Artikel für die Encyclopedia Britannica
(1927–1928) und nach Sein und Zeit fest, denn er hoffte immer noch, dass Heidegger die
Phänomenologie in seinem Sinn fortführen würde. Nach Heideggers Freiburger
Antrittsvorlesung zum Thema „Was ist Metaphysik“ kam es dann zum endgültigen Bruch mit
Husserl.77
Drei wichtige Kritikpunkte Heideggers sollen hervorgehoben werden, die begreiflich machen,
wie es zu einem unterschiedlichen Wahrheitsverständis kommen musste:
1. Heideggers Kritik des Husserlschen Bewusstseinsbegriffes;
2. die unterschiedliche Auffassung über das, was Philosophie als Wissenschaft bedeutet;
3. das faktische Selbst (Ich) im Lebensvollzug.
Zu 1. Heidegger benutzt seine Darstellung von Husserls Bewusstseinsbegriff zur
grundsätzlichen Kritik an dessen Phänomenologie. Laut Heidegger sei in der Grundstellung
des Daseins die Grundstellung des Bewusstseins verlassen.78 Nach Husserl ist, so Heidegger,
die phänomenologische Reduktion „die Methode der Rückführung des phänomenologischen
Blickes von der natürlichen Einstellung des in die Welt der Dinge und Personen hinlebenden
Menschen auf das transzendentale Bewusstseinsleben und dessen noetisch-noematische
Erlebnisse, in dem sich die Objekte als Bewusstseinskorrelate konstituieren.“79 Für Heidegger
74
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Der Begriff der Phänomenologie, S. 36
Vgl. Thomas Rentsch: „»Sein und Zeit«. Fundamentalontologie als Hermeneutik der Endlichkeit“. In: Dieter
Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (Stuttgart – Weimar 2003), S. 54.
76
Christoph Jamme: „Phänomenologie, Heidegger und Husserl“. In: Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch, S. 44.
77
Vgl. ebd., S. 45.
78
Vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Der Begriff der Phänomenologie, S. 50.
79
GP (GA 24) S. 29.
75
17
hingegen „ist das reduktiv eröffnete absolute Sein des Bewusstseins nicht die genuine
Seinsweise des ‚Subjekts‘. Vielmehr gründet sich im reduktiven Zugang zur absoluten
Seinssphäre das ,Subjekt‘ in sich selbst als dem transzendentalen ego-cogito-cogitatum und
verschließt sich endgültig gegen die Möglichkeit phänomenologischer Enthüllung seiner
existenzialen Seinsverfassung und der selbsthaft-ekstatisch-horizontalen Erschlossenheit von
Sein überhaupt“80. D.h. Heidegger nimmt eine Neuinterpretation der „Epochē“
(Einklammerung) vor. Husserl versteht darunter die Einklammerung des faktischen
Vorkommens von etwas, „damit statt der zufälligen jeweiligen Gegebenheit das Wesen einer
Sache sich zeigen und in den Blick kommen kann. […] Sie ist im Wortsinne eine
»Enthaltung« vom Realismus der natürlichen Einstellung, derart, daß die Aufmerksamkeit
nicht mehr bei den Dingen, sondern bei ihrer reinen Gegebenheit im Erscheinen ist.“81 So
kann man, indem die Gegebenheit der Dinge im Bewusstsein sichtbar wird, ihren inneren
Aufbau bzw. ihre innere Struktur erkennen.82 Heideggers Begriff der Epochē „setzt nicht die
alltägliche Orientierung an den »tatsächlich« gegebenen Dingen außer Kraft, sondern die
wissenschaftliche Einstellung nicht, sofern sie noch in einer natürlichen Einstellung befangen
ist, sondern als wissenschaftliche Einstellung.“83
Husserl ist für Heidegger ein Innenweltdenker84, dem im Wesentlichen nur die Sphäre des
Bewusstseins wichtig erscheint. Wenn Heidegger von „Immanenz“ und „Transzendenz“
spricht, ist immer Husserl gemeint.85 In Sein und Zeit sagt Heidegger in § 13 über das
Verhältnis von Immanenz und Transzendenz: „Im Sichaufrichten auf …und Erfassen geht das
Dasein nicht etwa erst aus seiner Innensphäre hinaus, in die es zunächst verkapselt ist,
sondern es ist seiner primären Seinsart nach immer schon »draußen« bei einem begegnenden
Seienden der je entdeckten Welt. Und das bestimmende Sichaufhalten bei dem zu
erkennenden Seienden ist nicht etwa ein Verlassen der inneren Sphäre, sondern auch in
diesem »Draußen-sein« beim Gegenstand ist das Dasein im rechtverstandenen Sinne
»drinnen«, d.h. es selbst ist es als In-der-Welt-sein, das erkennt.“86
Zu 2. Heidegger gilt wissenschaftstheoretisch als Aristoteliker, obgleich er gleichzeitig auch
kritisch Aristoteles gegenübersteht. Husserl orientiert sich wissenschaftstheoretisch an
Descartes87, d.h. er wendet sich vom „naiven Objektivismus zum transzendentalen
Subjektivismus“.88 Heidegger hält Descartes für einen Philosophen, der sich nicht an den
80
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Der Begriff der Phänomenologie, S. 47.
Günter Figal: Heidegger Lesebuch (Frankfurt a.M. 2007), S. 12.
82
Vgl. ebd.
83
Ebd., S. 12.
84
Michael Großheim „Phänomenologie des Bewusstseins oder Phänomenologie des ‚Lebens‘? Husserl und
Heidegger in Freiburg“. In: Günter Figal – Hans-Helmut Gander (Hrsg.): Heidegger und Husserl. Neue Perspektiven (Frankfurt a.M. 2009), S. 101-136, hier S. 111.
85
Vgl. ebd., S. 115.
86
SuZ (GA 2), S. 83.
87
Vgl. Michael Großmann: Phänomenologie des Bewusstseins, S. 106.
88
Ebd., S. 107.
81
18
Sachen orientiert, sondern an vorgefassten formalen Ansprüchen. In den Paragraphen 19-21
von Sein und Zeit beschäftigt sich Heidegger eingehend mit diesem Problem. Für Heidegger
ist Aristoteles der eigentliche Phänomenologe. Aus diesem Grund übernimmt er im Gegensatz
zu Husserls theoretisch orientierten Subjektauffassung viele Elemente aus dem Bereich der
Aristotelischen Anthropologie.89 Für den Metaphysiker Aristoteles war es selbstverständlich,
„dass zuerst das, was erkannt wird, als das Bestimmende anerkannt wird“.90
Zu 3. Heidegger verwirft den egologischen Ansatz Husserls als metaphysisch, d.h. eine
Trennung zwischen dem transzendentalen Ego und dem faktischen Ich91. Er entwickelt
stattdessen einen Erfahrungsbegriff, der bei der Faktizität des konkreten Lebensvollzugs
ansetzt (lebensphilosophische Phase). Später ab der „Ontologie“ (1923) wird aus dem
faktischen Ich oder Selbst das Dasein. Gemeint ist, dass „[d]as Selbst des faktischen Lebens
[…] kein neutraler Beobachter [ist], sondern eingelassen in die Bedeutungszusammenhänge
einer holistisch verflochtenen Lebenswelt, in denen es sich »bekümmernd« und »sorgend«,
also praktisch handelnd, bewegt“.92 Dieses Selbst bzw. Dasein existiert auslegend-verstehend
in seiner Lebenswelt.93
2.1.5 Fazit
Man kann Heideggers Wahrheitsverständnis nur erfassen und mit dem Wahrheitsverständnis
anderer Denker vergleichen, wenn man sich zuerst mit dem phänomenologischen
Phänomenologie-Begriff auseinandersetzt, der Behandlungsart und Zugangsmethode zum
Phänomen der Wahrheit. Dabei handelt es sich um einen mühsamen Weg, wie man aus „Mein
Weg in die Phänomenologie“ (GA 14) entnehmen kann. Heidegger trennt sich bei der
Entwicklung seiner phänomenologischen Methode nicht nur vom „System des
Katholizismus“, sondern auch von seinem Lehrer und Förderer Edmund Husserl. Aus der
Verbindung der Phänomenologie mit der Hermeneutik erarbeitet Heidegger die
phänomenologische Hermeneutik der Faktizität. Im Methodenparagraphen von Sein und Zeit
zeigt Heidegger auf, was unter der Maxime, zu den Sachen selbst, zu verstehen ist. Er
beantwortet die Frage danach, was in einem ausgezeichneten Sinn Phänomen genannt werden
muss. Es geht um die Aufweisung dessen, was sich zunächst und gerade nicht zeigt, um das
Sein des Seienden. Durch die Entformalisierung des formalen Phänomenologie-Begriffes in
Richtung auf das faktische Ich (Selbst), später Dasein, wird der Weg eröffnet für die
89
Vgl. Franco Volpi: „Der Rückgang auf die Griechen in den zwanziger Jahren. Eine hermeneutische Perspektive auf Aristoteles, Platon und die Vorsokratiker im Dienst der Seinsfrage“. In: Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger
Handbuch, S. 26-37, hier 31.
90
Martin Heidegger: Einführung in die phänomenologische Forschung (GA 17), S. 103.
91
Christoph Jamme: „Phänomenologie, Heidegger und Husserl“, S. 44.
92
Matthias Jung: „Die frühen Freiburger Vorlesungen und andere Schriften 1919–1923, Aufbau einer eigenen
Philosophie im historischen Kontext“. In: Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch, S. 13-22, hier S. 17.
93
Vgl. ebd., S. 20.
19
ontologische Analytik in Sein und Zeit „als Freilegung des Horizontes für eine Interpretation
des Sinnes von Sein überhaupt“.94
Die sogenannte Kehre bedeutet keineswegs, dass Heidegger Abschied nimmt von der
Hermeneutischen Phänomenologie, sondern nach der Kehre wendet sich der Blick zur
Wahrheit des Seyns. Wegen des Herrschaftscharakters des Methodenbegriffs in den
Naturwissenschaften ersetzt Heidegger den Begriff Methode durch die Begriffe Gegend und
Weg.
An seinem Lehrer Husserl bemängelt er vor allem den egologischen Ansatz in der Trennung
von Immanenz und Transzendenz. Außerdem kritisiert Heidegger den wissenschaftstheoretischen Ansatz Husserls, der sich von Descartes herleitet. Heideggers
Wissenschaftskritik richtet sich gegen die Herrschaft des Theoretischen. Wissenschaft ist für
Heidegger nicht ein „System von Sätzen und Begründungszusammenhängen“. In der
Philosophie gehe es vielmehr um etwas, „worin sich das faktische Dasein mit sich selbst
auseinandersetzt“.95
2.2 Phänomenologie Hans Urs von Balthasars
Wie von Balthasar die Maxime: „Zu den Sachen selbst!“, umgesetzt und in seinem
grundlegenden Buch Wahrheit der Welt (1947) gebraucht hat, ist nicht einfach zu
beantworten. Fest steht, dass der Ausdruck „Phänomenologie der Wahrheit“ in Wahrheit der
Welt, das später im Rahmen der „Trilogie“ den Titel Theologik I erhält, mehrfach auftaucht.
Von Balthasar schreibt: „So bleibt uns nur der dritte Weg offen: die Wahrheit der Welt in
ihrer prävalenten Welthaftigkeit zu beschreiben, ohne jedoch die Möglichkeit auszuschließen,
dass die so beschriebene Wahrheit gewiß Elemente in sich schließt, die unmittelbar göttlicher,
übernatürlicher Herkunft sind. Eine solche Methode ist augenscheinlich vorurteilsloser als
jene, die apriori mit der Unmöglichkeit göttlicher Offenbarung rechnet. Unsere erste
Untersuchung über die Wahrheit in der Welt wird also eine Art Phänomenologie der uns
bekannten und begegnenden Wahrheit enthalten, und damit vorwiegend das beschreiben, was
als natürliche Wahrheit anzusprechen ist.“96 In Wahrheit der Welt gibt es sicherlich Anklänge
an Heidegger und Husserl, aber das Problem bezüglich der Herkunft seiner Ideen besteht
darin, dass er nur Thomas von Aquin zitiert, und zwar aus dem Grund, „[…] um den Leser
unabgelenkt durch geschichtliche Seitenblicke ursprünglich vor das Thema zu stellen und ihn
durch unvoreingenommene Schau eine neue Anpassung des geistigen Auges an das in der
Überlieferung enthaltene Gut gewinnen zu lassen“.97 »Eine Art Phänomenologie« bedeutet,
dass er sich mit seiner Phänomenologie der Wahrheit nicht direkt auf eine bestehende
Phänomenologie (Husserl, Heidegger etc.) bezieht, sondern eher, wie auch das Studium seiner
94
Andreas Luckner: Martin Heidegger: »Sein und Zeit«. Ein einführender Kommentar. Studienkommentar zur
Philosophie. 2., korr. Auflage (Paderborn [u.a.] 2007), S. 20.
95
O (GA 63), S.72.
96
Hans Urs von Balthasar: W, S. 21f.
97
Ebd., S. 9.
20
Werke nahe legt, selektiv, eklektisch zu seiner Seinsphilosophie (Transzendentalien) und
Theologie passende Elemente aus der Literatur, Philosophie und Musik auswählt und sich auf
diese Weise eine eigene Methode des Zugangs zur Wahrheit erarbeitet. Manfred Lochbrunner
spricht bei von Balthasars Entwurf der „Wahrheit“ von einer objektbetonten,
phänomenologischen Grundorientierung: „Der objektorientierten Denkhaltung entspricht der
phänomenologische Duktus der Wahrheitsstudie. Deshalb ist der Gestus des Auf-weisens
vorherrschend, weniger des Be-weisens. Das Staunen über die daseienden Dinge ist stärker
als die kritische Vergewisserung und Begründung im erkennenden Ich. Die Beweiskraft des
zwingenden Arguments wird in die gewährende, sich-schenkende Evidenz des Sachaufweises
überstiegen.“98Welchen Einfluss Goethes Schau der Gestalten auf von Balthasars
phänomenologischen Ansatz gehabt hat, soll an erster Stelle dargestellt werden.
2.2.1 Schau von Gestalten in Hinblick auf Goethes Morphologie
Von Balthasar befasste sich als Germanist, Philosoph und Theologe zeitlebens mit Johann
Wolfgang von Goethe. Goethe mit seiner phänomenologischen Vorgehensweise, die an
Gestalten orientiert war, stand ihm näher als die Transzendentalphilosophie Kants. 99 Zwei
eigene Texte über Goethe sind für von Balthasar als Philosoph und Theologe bezeichnend,
und zwar der Text über Goethe im ersten Band der Apokalypse der deutschen Seele100 und
zweitens der Text in Herrlichkeit III/1101. Werner Löser greift aus den Texten Goethes die
Wahrnehmungslehre, die sich aus der Farbenlehre ableiten lasse, heraus und schreibt:
„Entscheidend ist, dass Goethe sich jedem reduktionistischen Programm verweigerte, im
Gegenteil: er vereinte die analysierende Erforschung der Phänomene mit der synthetischen
Wahrnehmung ihrer Gestalt, und er vereinte gleichzeitig seine Hinwendung zur ganzen
irdischen Natur mit seiner Aufmerksamkeit auf die Gegenwart des Göttlichen in ihr.“102 Das
bedeutet, der Begriff der Gestalt ist eine Abstraktion, die Goethe als Naturforscher aus der
Natur entnimmt.103 Zweitens bezieht sich die Gestalt als formgebendes Prinzip der Dinge „auf
deren geistigen Ursprung im Göttlichen, das in der Natur anwesend ist“.104 Von Balthasar
wehrte sich gegen die „Zerlegung des Lebendigen“, wie sie in der Psychoanalyse und den
meisten Schulen der Psychologie durchgeführt werde105. Er geht von Ganzheiten aus, von
Gestalten, mehr von der Synthese als von der Analyse derselben. Deshalb kann er in Wahrheit
der Welt schreiben: „Jede Blume, die wir sehen, ist ein Ausdruck, jede Landschaft hat ihre
Bedeutung. Es wäre völlig vergeblich, diese Sprache in Begriffe umsetzen zu wollen. Diese
98
Manfred Lochbrunner: Analogia Caritatis. Freiburger Theologische Studien, Bd. 120 (Freiburg 1981), S. 105.
Vgl. Werner Löser: Kleine Hinführung zu Hans Urs von Balthasar (Freiburg 2005), S. 40f.
100
(Einsiedeln 1998), S. 407-514.
101
Hans Urs von Balthasar: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik. III/1: Im Raum der Metaphysik (Einsiedeln
1965), S. 682-748. Vgl. Werner Löser: Kleine Hinführung zu Hans Urs von Balthasar, S. 42
102
Ebd.
103
Vgl. Peter Legnowski: „Die letzte »säkulare Verwirklichung der Herrlichkeit«. Zur Goetherezeption Hans
Urs von Balthasars“. In: Walter Kardinal Kasper (Hrsg.): Logik der Liebe und Herrlichkeit Gottes, Hans Urs von
Balthasar im Gespräch (Ostfildern 2006), S. 134-145, hier S. 141.
104
Ebd., S. 141.
105
Hans Urs von Balthasar: W, S. 126.
99
21
Ausdruckssprache wendet sich nicht primär an das begriffliche Denken; sondern an das
verstehende, das gestaltende Denken.“106 Das Gestaltverständnis der Berliner
Gestaltpsychologie war ein anderes. Sie lehnte den zentralen Gedanken Goethes und von
Balthasars ab, dass nämlich das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Die
Gestaltpsychologen in Berlin gingen von der Messbarkeit der seelischen Funktionen aus. Für
sie korrelieren die seelischen Funktionen miteinander.107 Von Balthasar geht es beim Erfassen
von Gestalten nicht um das Messen, die Analyse oder die Ursachenforschung, wie in den
modernen Naturwissenschaften, sondern um eine Synthese der „Vielfalt der Daten“.108
Während Goethe sich mit dem Gestaltbegriff mehr unter dem Aspekt der Erscheinung
auseinandersetzte, „die auf etwas diese Erscheinung hervorbringendes verweist, steht bei von
Balthasar bei der Verwendung des Gestaltbegriffes der Schwerpunkt auf der Frage nach dem
Wesen, das die Erscheinung der Gestalt hervorbringt“.109 Es ist kein leichtes Unterfangen, die
Gestalt der Wahrheit zu erfassen, zumal es bei der Wahrheit nicht um eine Gestalt der
Geistesgeschichte oder der Heilsgeschichte geht. Man kann sagen, dass seine Methode eher
der hermeneutischen Phänomenologie als der transzendentalen Phänomenologie nahe steht.
Das ergibt sich aus dem Bemühen von Balthasars „um eine sachgerechte Erschließung der
Sinngestalten“.110
An zweiter Stelle möchte ich kurz auf den seinsphilosophischen Aspekt der Phänomenologie
von Balthasars eingehen.
2.2.2 Der seinsphilosophische Aspekt der Phänomenologie von Balthasars
Die Metaphysik der Transzendentalien ist die ontologische Grundlage für das, was im
vorherigen Abschnitt über die Schau der Gestalten gesagt worden ist. Die Transzendentalien,
„die alles einzelne Seiende überschreitenden Eigenschaften“111, werden in Wahrheit der Welt
noch in der Reihenfolge wahr, gut, schön beschrieben. In seinem großen theologischen
Hauptwerk der „Trilogie“, das nach den Transzendentalien gegliedert ist, kann man von einer
umgekehrten Reihenfolge sprechen: „Ästhetik“, „Dramatik“ und „Logik“. Wie sich ein
Vergleich der Transzendentalien mit dem „Verfahren der Phänomenologie“112 aufzeigen lässt,
ist gut zu erkennen im Epilog, in dem von Balthasar in einer Rückschau begründet, warum er
nicht der „traditionellen Traktaten oder Loci-Theologie“113 folgt, sondern von den
Transzendentalien ausgeht“. Im II. Teil des Epilogs „Schwelle“ genannt, spricht er vom Sichzeigen, Sich-geben und Sich-sagen des Wahren, Guten und Schönen. Was bedeutet das Sich106
Ebd. S. 154.
Vgl. Hans Urs von Balthasar: H III.1, S. 31.
108
Werner Löser: Kleine Hinführung zu Hans Urs von Balthasar, S. 40.
109
Peter Legnowski: „Die letzte »säkulare Verwirklichung der Herrlichkeit«, S. 142.
110
Jean Greisch: „Eine phänomenologische Wende der Theologie“. In: Walter Kardinal Kasper (Hrsg.): Logik
der Liebe und Herrlichkeit Gottes (Ostfildern 2006), S. 371-358, hier S. 382.
111
Hans Urs von Balthasar: Epilog (Einsiedeln 1987), S. 37.
112
Jean Greisch: „Eine phänomenologische Wende der Theologie“, S. 379f.
113
Hans Urs von Balthasar: Epilog, S. 7.
107
22
zeigen im phänomenologischen Sinn? Das Sich-zeigen bezieht sich auf das Schöne als
Urphänomen. Für von Balthasar ist alles Schöne »epiphan« in einer Doppelheit. „In dieser
Doppelheit von in sich ruhender lichter Form und von Über-sich-Hinausweisen der Form auf
ein sich in ihr lichtendes (wirkliches) Wesen liegt die innere Polarität der transzendenten
Seinseigenschaft Schönheit.“114 Es fällt auf, dass Balthasar bei der Beschreibung der Gestalt
der Schönheit in Wahrheit der Welt mehr Begriffe aus seinem reichen Sprachschatz als bei
der Beschreibung der beiden anderen transzendentalen Bestimmungen des Seins benutzt. So
spricht er von Neidlosigkeit oder Selbstpreisgabe der Schönheit, Preisgegebenheit,
Wehrlosigkeit und Selbstschutz der Schönheit, um zu beschreiben, was die Gestalt der
Schönheit ausmacht.115 Diese Reichhaltigkeit der Begriffe und dieses Ringen um den Begriff
der Schönheit deuten auf die besondere Bedeutung der Schönheit für von Balthasars
Philosophie und Theologie hin.
Wie verweist zweitens das Sich-geben als zweite phänomenologische Komponente
(entspricht der transzendentalen Idee des Guten) auf die Gestalt des Guten? Zunächst muss
darauf hingewiesen werden, dass die transzendentalen Bestimmungen nicht isoliert
beschrieben werden dürfen. „Sie erbringen in ihrer Gemeinsamkeit den Beweis für die
unerschöpfliche Tiefe und den überbordenden Reichtums des Seins.“116 D.h. das Gute ist mit
dem Schönen verbunden und umgekehrt, so dass sich zusammen mit der Gestalt des Guten
auch die Gestalt des Schönen zeigt. Das Sich-geben verweist also auch auf das Sich-zeigen,
auf die klassische Maxime, der Phänomenologie, nämlich auf die Sache selbst. Auf diese
Weise ist also die Ästhetik die Brücke zur Ethik und umgekehrt.
Das Sich-sagen ist die dritte phänomenologische Komponente und entspricht der
transzendentalen Idee des Wahren. Auch hier können wir festhalten, dass sich die
Transzendentalien gegenseitig durchdringen und aufeinander verweisen. „Insofern das Schöne
und das Gute das Wahre präfigurieren, kann man in ihnen Vorformen des Sichsagens
erkennen.“117.
Am Ende des Epilogs wird noch einmal auf das Prinzip der „circumincessio der
Transzendentalien“ verwiesen. Das bedeutet, dass es sich beim Sich-zeigen, Sich-geben und
Sich-sagen „um ein einziges »epiphanes« Urphänomen“ handelt.118
114
Ebd., S. 46.
Vgl. Hans Urs von Balthasar: W, S. 255.
116
Ebd.
117
Jean Greisch: „Eine phänomenologische Wende der Theologie“, S. 384. – Da es sich in dieser Arbeit hauptsächlich um die philosophischen Aspekte des von Baltarsarschen Wahrheitsverständnisses handelt, möchte ich
nicht versäumen darauf hinzuweisen, dass von Balthasar seinen philosophischen Ansatz nach seiner Kehre
(1947) in seinem Hauptwerk („Trilogie“) mit dem Theologischen verzahnt. Er bemerkt zum Verhältnis von
Philosophie und Theologie in der Einleitung zur Wahrheit der Welt: „Versäumt man diese philosophische Vorarbeit, so leidet darunter am meisten die Theologie, die sich dann auf nichts anderes stützen kann, als auf einige
trockene abstrakte Begriffe, und dadurch in Gefahr gerät, ihren Eigengehalt aus Mangel an zubereitetem Material nicht allseitig genug entfalten zu können“ (W, S. 22).
118
Vgl. Jean Greisch: „Eine phänomenologische Wende der Theologie“, S. 384.
115
23
2.2.3 „Orphische Erkenntnisform“ im Hinblick auf Rilke und Trakl
Von Balthasar verdankt Goethe das Wahrnehmen von Gestalten, den Dichtern Georg Trakl
und Rainer Maria Rilke, wie die neuere Forschung zeigt, maßgebliche Inspiration für seine
Denk- oder Wahrheitsform, die Krenski als „orphische Erkenntnisform“ beschreibt.119
Orpheus steht als Symbol für den, „der das göttliche Geheimnis als Ganzes wahrnimmt
(Poesie des Hörens) und besingt“.120 Balthasar war als Germanist sehr gut mit den beiden
Dichtern vertraut, war aber auch offen für alle logoi spermatikoi, die er bei Philosophen,
Dichtern und Theologen in der Geistesgeschichte suchte. 121. Er verfasste über Rilke wichtige
Essays122 und unterhielt Kontakte zu den Kreisen um Rilke und Trakl. Auch von Balthasars
Doktorvater Robert Faesi stand in direktem Kontakt mit Rilke123.
Am Beispiel des Sonetts „Wolle die Wandlung“ versucht Krenski, lyrische Motive Rilkes mit
Motivketten der Theologie von Balthasars zu verknüpfen.124
Wolle die Wandlung. O sei für die Flamme begeistert,
drin sich ein Ding dir entzieht, das mit Verwandlungen prunkt;
jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert,
liebt in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden Punkt.
Was sich ins Bleiben verschließt, schon ists das Erstarrte;
Wähnt es sich sicher im Schutz des unscheinbaren Grau`s?
Warte, ein Härtestes warnt aus der Ferne das Harte.
Wehe-: abwesender Hammer holt aus!
Wer sich als Quelle ergießt, den erkennt die Erkennung;
und sie führt ihn entzückt durch das heiter Geschaffene,
das mit Anfang oft schließt und mit Ende beginnt.
Jeder glückliche Raum ist Kind oder Enkel von Trennung,
den sie staunend durchgehn. Und die verwandelte Daphne
119
Thomas Krenski: „‚Kind oder Enkel von Trennung‘. Zur Wahrheits-Form der trinitarischen Gottes- und Erlösungslehre Hans Urs von Balthasars“. In: Magnus Striet – Jan Tück (Hrsg.): Die Kunst Gottes verstehen (Freiburg i.Br. 2005), S. 181-219, hier S. 216.
120
Ebd.
121
Dieser von den Stoikern und Vätern benutzte Ausdruck, war von Balthasar geläufig (vgl. z.B. Epilog 1987, S.
11). Krenski nennt von Balthasar „Katalysator der in der Poesie seiner Zeit schlummernden logoi spermatikoi“
(Thomas Krenski: „‚Kind oder Enkel von Trennung‘“, S. 216).
122
Vgl. Apokalypse der deutschen Seele III, S. 193-315.
123
Vgl. Thomas Krenski: „‚Kind oder Enkel von Trennung‘“, S. 185.
124
Vgl. ebd. S. 197ff. Dabei ist zu berücksichtigen, was Romano Guardini zur Gedichtsinterpretation gesagt hat,
nämlich dass „das Gedicht größer [sei] als sein Urheber, so dass „die Aufgabe des Interpreten auch darauf [gehe], dieses Größere herauszuholen“ (Romano Guardini: „Bemerkungen über Sinn und Weise des Interpretierens“. In: Ders.: Sprache – Dichtung – Deutung. Gegenwart und Geheimnis (Mainz – Paderborn 1992), S. 231234, hier 242f.
24
will, seit sie lorbeern fühlt, dass du dich wandelst im Wind.
Bei seinem Versuch, die lyrischen Motive Rilkes mit den Motivketten der Philosophie und
Theologie von Balthasars zu verbinden, bietet Krenski keine Interpretation im Sinne der
Germanistik (Strophe für Strophe, Versmaß, Inhalt und Form), sondern er sucht nach den
logoi spermatikoi, die von Balthasar in seine Wahrheitsform (Denkform) integriert. Das
Gedicht fordert dazu auf, dass Harte und Erstarrte zu zertrümmern, um eine Wandlung
herbeizuführen. Für von Balthasar ist das Harte und Erstarrte der statische Seinsbegriff der
Theo-Ontologie der Neuscholastik. Hier fordert er eine Wende hin zu einer Seinsphilosophie,
die Sein als Liebe auslegt. Krenski stellt heraus, das Rilke „[…] das Sein, das sich ins Bleiben
verschließt, mit den Worten ‚Wandlung‘, ‚Verwandlung‘, ‚Schwung‘ und ‚Wenden‘
[kontrastiert], in denen Gott die immerwährende Bewegung des innergöttlichen Kreislaufes
angesprochen sieht,“125 und er vermutet, dass von Balthasar „neben patristischen Impulsen
von Rilkes Werde-Metaphysik beeinflusst ist“, wenn er von einer „Metaphysik des Werdens“
spricht.126
Die Rilke-Interpretation der 1920er und 1930er Jahre zeigt, dass auch die
Literaturwissenschaft durchaus die Werde-Metaphysik bei der Interpretation der Rilkesonette
im Blick hat.127
Von großer Bedeutung in Bezug auf von Balthasars Ontologie bzw. Theologie ist der Vers
„Wer sich als Quelle ergießt, den erkennt die Erkennung“, ist doch von Balthasars Ontologie
eine Ontologie von einem „theologischen Apriori“128 her. Von Balthasars Theologie geht aus
von der innertrinitarischen Dynamik des göttlichen Lebens129 und interpretiert die Quelle im
Sinne des klassischen Terminus als „fons totius trinitatis“ (D 490).130 Der Vater (Gott) ist die
Quelle, die sich ergießt. Mit dieser Metapher ist für von Balthasar die erste radikale Kenose
verbunden. Diese Kenose (Selbstpreisgabe) bezieht sich auf die Beziehungen (Relationen) der
göttlichen Personen im innertrinitarischen Bereich. Von Balthasar bemerkt dazu: „[…] nur in
der Preisgabe des Eigenen, die die Trennung ernst nimmt (der Andere soll ja Er und nicht Ich
sein!), in diesem »unter«-gehen, damit der Andere in sich selber »auf«-geht, ereignet sich die
absolute Liebe, in der die Weseneinheit verbürgt ist [...].“131 Hier wird die Liebe Gottes
125
Thomas Krenski: „‚Kind oder Enkel von Trennung‘“, S. 200. Nach dem Rilke Herausgeber Manfred Engel
deutet das Sonett darauf hin, dass „Rilke Gott nicht als seiend, sondern als werdend versteht“ (Manfred Engel:
„Mit Nietzsche auf der Suche nach Gott“. In: Ders. [Hrsg,]: Rilke, Gedichte 1895–1910 I, S. 735-740, hier 736.
126
Thomas Krenski: „‚Kind oder Enkel von Trennung‘“, S. 201. Ähnlich interpretiere auch der Heideggerschüler
Hermann Mörchen („Sonette an Orpheus“) das Wesen des Seins gleichbedeutend mit dem Wandel (vgl. ebd.).
127
Krenski verweist in diesem Zusammenhang auf Jakob Henry Wilds Monographie über Rainer Maria Rilke
(ebd., S. 201), in der dieser ausführt, dass Rilke in Gott „die sich verwandelnde Gestalt“ erblicke (Jakob Henry
Wild: Rainer Maria Rilke. Sein Weg zu Gott [Zürich – Leipzig 1936], S. 49). Solche Interpretamente findet
Krenski auch bei Gertrud Höhler: Niemandes Sohn. Zur Poetologie Maria Rilkes (München 1979), S. 245, und
Adrienne von Speyer: Die Welt des Gebetes (Einsiedeln 1951) S. 22.
128
Manfred Lochbrunner: Analogia Caritatis. Freiburger Theologische Studien, Bd. 120. (Freiburg i.Br. 1981),
S. 244.
129
Vgl. Thomas Krenski: „‚Kind oder Enkel von Trennung‘“, S. 200.
130
Vgl. ebd., S. 202.
131
Hans Urs von Balthasar: TD IV, S. 74.
25
sichtbar, die „[…] nicht vor allem Transzendenz, und vor allem nicht Sich-Verlieren, SichEntwerfen, sondern ebenso sehr Einwohnen des Geliebten in uns“ ist.132 Für von Balthasar ist
mit Erkennung der Sohn gemeint. In Theologik III drückt er es in seiner ihm üblichen
Bildsprache so aus: „So bleibt nur übrig, die väterliche Hingabe als Akt unvordenklicher
Liebe zu verstehen, die der Sohn als solche empfängt, und zwar nicht »passiv« als Geliebter,
sondern da er die substantia des Vaters als dessen Liebe empfängt, zugleich als Mitliebender,
Rückliebender, dem All der väterlichen Liebe Antwortender, zu allem in Liebe bereit.“133
Von Balthasar übernimmt den Sonettverses „Jeder glückliche Raum ist Kind oder Enkel von
Trennung“ – ohne diese Metapher kenntlich zu machen – in seiner Trinitätstheologie. Er
spricht im Blick auf die Zeugung des Sohnes von einer Trennung in Gott. Durch diese
Trennung entstehe ein unendlicher Abstand in Gott, so „dass der Ganz-Andere entsteht“.134
2.2.4 „Symphonie der Wahrheit“ im Hinblick auf Bach und Mozart
Was hat Musik mit Philosophie und Theologie zu tun? Bei von Balthasar lohnt es sich,
diesem Zusammenhang nachzuspüren, denn schon in seinen Kinder- und Jugendjahren
beschäftigte er sich mit keinem Bereich der Kultur mehr als mit Musik.135 Seine
Klavierlehrerin führte ihn, der selbst über ein absolutes Gehör verfügte, ein in die
Musikliteratur des 19. Jahrhunderts.136 Nach seinem Abitur in Feldkirch begann er ein
Germanistikstudium in Wien, der Stadt, die nach dem 1. Weltkrieg im Wagner-Fieber lag.137
Er besuchte die musikalischen Aufführungen, die Wien als Stadt der Musik bot. Er wohnte
bei dem Psychologen Rudolf Allers, einem hervorragenden Pianisten, mit dem er oft abends
Mahlersymphonien spielte, die er vierbändig gesetzt hatte. Dieses Interesse für Musik hielt bis
ins hohe Alter an. Am 22. Mai 1987 erhielt er in Innsbruck den „Mozart-Preis“.138 Anlässlich
der Preisverleihung sagte von Balthasar: „Die Jugend war bestimmt durch Musik, ich hatte als
Klavierlehrerin eine alte Dame, die Schülerin von Clara Schuhmann gewesen war, die mich in
die Romantik einführte, deren letzte Ausläufer ich in Wien auskostete: Wagner, Strauß und
besonders Mahler. Das alles nahm ein Ende, als ich Mozart ins Ohr bekam, der dieses Ohr bis
heute nicht mehr verließ; so teuer mir in den reifen Jahren Bach und Schubert blieben, Mozart
war der unverrückte Polarstern, um den die zwei anderen ( der Große und der kleine Bär)
kreisten.“139 Man kann nicht genau sagen, wann er, um bei der bildhaften Redeweise zu
132
Hans Urs von Balthasar: „Rilke und die religiöse Dichtung“. In: Stimmen der Zeit 63 (1932), S. 183-192, hier
S. 183f. In diesem Zitat zeigt sich eine Bildsprache, die von Fachtheologen häufig kritisiert worden ist (dazu
später mehr).
133
Hans Urs von Balthasar: TL III, S. 145.
134
Hans Urs von Balthasar: TD IV, S. 7. –Diese Interpretation von Balthasars hat im Bereich der Dogmatik zu
erheblicher Kritik geführt. Darüber wird noch ausführlicher bei der Kritik von Balthasars von Seiten der Theologen hingewiesen.
135
Vgl. Werner Löser: Kleine Hinführung zu Hans Urs von Balthasar, S. 43.
136
Vgl. Thomas Krenski: Hans Urs von Balthasar. Das Gottesdrama (Mainz 1995), S. 15.
137
Vgl. ebd.
138
Vgl. Werner Löser: Kleine Hinführung zu Hans Urs von Balthasar, S. 43.
139
Hans Urs von Balthasar: „Dank des Preisträgers an der Verleihung des Wolfgang Amadeus Mozart-Preises
am 22. Mai 1987 in Innsbruck“. In: Elio Guerriero: Hans Urs von Balthasar. Eine Monographie (Einsiedeln –
Freiburg 1993), S. 419-424. hier 420.
26
bleiben, Mozart ins Ohr bekam, aber es gilt als historisch gesichert, dass es in den ersten
Baseler Jahren war, als er die Gelegenheit hatte, über Adrienne von Speyer Karl Barth
kennenzulernen.140 Es kam zu einer Freundschaft, in der neben der Philosophie (Analogia
entis, Transzendentalien) und der Theologie Mozart eine entscheidende Rolle spielte. Karl
Barth äußerte sich im dritten Teil der Kirchliche[n] Dogmatik141 in einem „Sonderexkurs über
Mozart“ zu Mozarts Musik. Darin weist er darauf hin, dass eine wichtige Eigenschaft der
Musik Mozarts ihre „große freie Sachlichkeit“ sei, die „das Subjektive nie Thema“ werden
ließe. Mozart sei frei „von dem Krampfe, selber durchaus etwas sagen zu müssen und zu
wollen. Er war selber nur Ohr für jenes Klingen und sein Vermittler für andere Ohren“.142
Sowohl von Balthasar als auch Karl Barth verstehen seine Musik als ein absichtsloses
Spiel.143 „Dieses absichtlose Spiel begreifen beide als ein Gleichnis jenes Gottes, dessen
hypostasierte Weisheit von Anbeginn vor seinem Thron spielt und in Jesus von Nazareth
Mensch wurde.“144 Karl Barth sieht in Mozarts Musik zwar nicht das Evangelium, aber doch
sieht er in ihr „Gleichnisse des im Evangelium von Gottes freier Gnade geoffenbarten
Reiches“.145
Von Balthasar erkennt in der Zauberflöte und in der Jupitersymphonie „ein Gleichnis der
absichtlosen Schönheit Gottes“146 selbst, bei dem es nicht um die Vertonung subjektiver
Gefühle ( Abschiedsschmerz )147, nicht um einen Mythos geht, sondern um einen
unsichtbaren jenseitigen offenen Raum.148 Dieser Raum könne, so von Balthasar, das irdische
Spiel aufnehmen: „Dieses wird in diesem Raum nicht erst nachträglich gerechtfertigt oder
umgewertet, es wird auch nicht zerfällt in eine vergängliche Spreu und einen ewigen Kern,
der allein in die himmlischen Scheunen eingeheimst würde, vielmehr spielt sich das
unverkürzte Irdische jeweils schon im raumgebenden Medium des Jenseitigen ab. Keine
Transposition findet statt: die Welt ist im Raum der Erlösung, die Erde befindet sich im
Himmel in ihrer wahren und eigentlichen Position.“149 Demnach könne man Mozarts Musik
nicht als etwas rein Irdisches deuten, da sie umschlossen werde vom Raum der Gnade. Eine
„natura pura“ gebe es nicht. Alles Geschaffene befinde sich im Raum der Gnade. In diesem
„Raum der Gnade“, so Werner Löser, „kann sich das Irdische in seiner weltlichen Gestalt und
in all seinen Schattierungen spielerisch entfalten. So deutet sich an, dass von Balthasar
Mozarts Werk, dessen Dimensionen am Zauberflöten-Abschiedsterzett exemplarisch
abgetastet werden, als Entsprechung zu seiner Theologie versteht, in der es darum geht, die
140
Vgl. Thomas Krenski: Hans Urs von Balthasar. Das Gottesdrama, S. 20.
Karl Barth: Kirchliche Dogmatik III/3. Die Lehre von der Schöpfung (Zürich 1950).
142
Ebd., S. 330.
143
Vgl. Thomas Krenski: Hans Urs von Balthasar. Das Gottesdrama, S. 21.
144
Ebd. S. 21.
145
Karl Barth: Der Götze wackelt (Basel 1961). S. 209.
146
Thomas Krenski: Hans Urs von Balthasar. Das Gottesdrama, S. 222.
147
Vgl. Werner Löser: Kleine Hinführung zu Hans Urs von Balthasar, S. 45.
148
Hans Urs von Balthasar: „Das Abschiedsterzett“. In: Jahrbuch der Renaissance 13 (1943), o. S. (Abgedruckt
in: ders.: Spiritus Creator (Einsiedeln 1967), S. 467-468.
149
Ebd.
141
27
Welt aus ihrer Beheimatung in Gott und seiner Gnade zu begreifen.“150 Wahrheit wird hier
gleichsam „symphonisch“ wahrgenommen, besteht sie doch wie eine Symphonie aus
verschiedenen und doch in Harmonie zusammenklingenden Teilen.
2.2.5 Exkurs: Hans Urs von Balthasar und Romano Guardini
Romano Guardini (1885–1968) spielt in der Religionsphilosophie eine bedeutende Rolle.
Medard Kehl nennt ihn in seiner Schöpfungstheologie in einer Reihe mit Irenäus, Augustinus
und Thomas von Aquin.151 Zwischen von Balthasar und seinem Lehrer Romano Guardini
(beide Literaturtheologen) bestehen nicht nur wissenschaftliche, sondern auch persönliche
Übereinstimmungen. Die Denk- oder Wahrheitsformen Guardinis üben von ihrer ersten Begegnung an eine solche Faszination auf von Balthasar aus, dass er sich immer wieder mit ihm
(auch kritisch) auseinandersetzt. Von Balthasar hatte sich zum Wintersemester 1926/27 an der
Berliner Friedrich-Wilhelm Universität (heute Humboldt Universität) immatrikuliert.152 Zu
dieser Zeit war Romano Guardini Lehrstuhlinhaber des im April 1923 neu gegründeten
Lehrstuhls (ad personam) für »Katholische Weltanschauung und Religionsphilosophie«. Von
großer Bedeutung für von Balthasar wurde vor allem die Teilnahme an einem Seminar Guardinis über Sören Kierkegaard, das ihm das Denken dieses großen Philosophen erschloss. Gerade die Auseinandersetzung mit Kierkegaard sollte für von Balthasar von großer Bedeutung
werden. Schon in seiner Dissertation stellt von Balthasar Kierkegaard und Nietzsche
gegenüber – eine Gegenüberstellung die fortgesetzt wird in seiner Apokalypse der deutschen
Seele.153 Das Studium Kierkegaards hat viele weitere Spuren hinterlassen bis hinein in sein
theologisches Hauptwerk der „Trilogie“ (Herrlichkeit). Aus der Beschäftigung mit und in
Absetzung von Kierkegaard erwuchs für von Balthasar eine besondere Beziehung zu Gottes
Schöpfung, die prägenden Einfluss auf seine Schöpfungstheologie ausüben sollte, nämlich die
aus dem Herzen kommende Bejahung der geschaffenen Welt.154 Von Balthasar setzte sich
dabei von der antiästhetischen Haltung des Dänen ab, standen sich doch in Kierkegaards Sicht
das Ästhetische und das Ethisch-Religiöse gegenüber. Verständlich, dass für ihn Mozart als
Inbegriff des Ästhetischen mit Religion unvereinbar war.155
150
Werner Löser: Kleine Hinführung zu Hans Urs von Balthasar, S. 46.
Wenn auch mit einer gewissen Einschränkung „Während diese drei unbestritten als prägende Gestalten ihrer
Epoche gelten, lässt sich dies von Romano Guardini so einhellig (noch ?) nicht sagen“ (Medard Kehl: „Herausgefordert vom neuzeitlichen Denken:Romano Guardini“. In: Ders.: Und Gott sah, dass es gut war. Eine Theologie der Schöpfung [Freiburg – Basel – Wien 2006], S. 218-236. hier 218).
152
Vgl. Manfred Lochbrunner: „Guardini und Balthasar. Auf der Spur einer geistigen Wahlverwandtschaft“. In:
Forum katholische Theologie 12 (1996), S. 229-246, hier S. 230.
153
Vgl. Hans Urs von Balthasar: Apokalypse der deutschen Seele. Bd.1: Der deutsche Idealismus (Salzburg
1937), S. 695-735.
154
Vgl. Werner Löser: „Der herrliche Gott. Hans Urs von Balthasars ‚theologische Ästhetik‘“. In: Rainer
Kampling (Hrsg.): Herrlichkeit. Zur Deutung einer theologischen Kategorie (Paderborn 2008), S. 269-293, hier
270.
155
Vgl. Thomas Krenski: „La Muse qui est la Grace. Theologische Ästhetik“. In: Ders.: Haus Urs von
Balthasars Literaturtheologie. THEOS. Studienreihe Theologischer Forschungsergebnisse, Bd. 76 (Hamburg
2007), S. 123-153, hier S. 149.
151
28
Am besten kann man die Wahlverwandtschaft zwischen beiden Theologen erkennen, wenn
man sich mit von Balthasars Buch über Romano Guardini beschäftigt, das nach dem Tod Guardinis erschienen ist und von der bleibenden Wertschätzung Guardinis durch von Balthasar
ein beredtes Zeugnis ablegt. 156 Von Balthasar weist in diesem aufschlussreichen Buch auf die
für unseren Zusammenhang wichtige Tatsache hin, dass Guardini die Frage beantworten
musste, mit welchem »Wahrheitsbereich« es sein Lehrstuhl zu tun haben sollte.157 Von
Balthasar bemerkt hierzu: „Guardini hat die Frage mit einer genial zu nennenden Einfachheit
für sich und sein Auditorium gelöst“,158 indem er zwischen drei Bereichen unterscheidet: Der
erste Bereich ist der Bereich der Schöpfung, wobei es die Aufgabe der Philosophie ist, nach
dem letzten Sinn der Schöpfung zu fragen. Die biblische Offenbarung ist als zweiter Bereich
Gegenstand der Theologie. Den dritten, für von Balthasar bedeutsamsten Bereich159, „der
durch das christliche Anschauen der Welt entsteht, erachtete Guardini als seine Domäne, als
ein beinah noch unentdecktes Land, weshalb er seine Streifzüge darin fast immer als
‚Versuche‘ bezeichnet und die Ergebnisse sorgsam gegenüber der Philosophie und der
Theologie (als »zünftigen Wissenschaften«) abgrenzt“.160 Guardini entwickelt in Distanz zur
wissenschaftlich-systematischen Theologie bzw. Philosophie ein neuzeitliches Profil des
Katholischen161 in Abgrenzung zur Ambivalenz des neuzeitlichen Bewusstseins, wobei er
unter „Neuzeit“, so Medard Kehl, „nicht primär eine bestimmte, mehr oder weniger genau
einzugrenzende historische Epoche [versteht], sondern eher einen Typos von
Weltanschauung, eine typische Mentalität oder Denkform, die in der Geschichte der
europäischen Neuzeit in großem Stil aufgetreten ist und sich gesamtkulturell durchgesetzt
hat“.162 Guardini konstatiert einen Bruch zwischen Kultur und Theologie.163 Dieser Bruch
besteht darin, dass der Mensch sich in der Neuzeit vom mittelalterlichen Weltbild gelöst habe.
„Die geschaffene Person setzt sich absolut als Subjekt schlechthin, das die objektive Welt und
die Kultur (die hominisierte Welt) als ihr Produkt einfordert.“164 Das bedeutet, dass der
Mensch eine unbedingte Autonomie für sich in Anspruch nimmt.165. Der Mensch begreift die
Natur als ein Werk, ein Faktum, ein nicht „Notwendig-Seiendes“, als ein Produkt.166
Aber Guardini wie von Balthasar erkennen auch Positives am Wirklichkeitsverständnis der zu
Ende gehenden Neuzeit. Die Natur, die personale Lebenswelt des Menschen und die Kultur
156
Hans Urs von Balthasar: Romano Guardini. Reform aus dem Ursprung. Münchener Akademie-Schriften, Bd.
53 (München 1970).
157
Vgl. ebd., S. 22.
158
Ebd.
159
Vgl. Manfred Lochbrunner: „Guardini und Balthasar“, S. 241.
160
Hans Urs von Balthasar: Romano Guardini, S. 22.
161
Vgl. Medard Kehl: Und Gott sah, dass es gut war, S. 218f.
162
Ebd., S. 219.
163
Vgl. Manfred Lochbrunner: „Romano Guardini und Hans Urs von Balthasar. Integration von Theologie und
Literatur“. In: Internationale katholische Zeitschrift »Communio« 34 (Freiburg 2005), S. 168-185, hier S. 177.
164
Hans Urs von Balthasar: Romano Guardini, S. 39.
165
Vgl. ebd.
166
Vgl. ebd., S. 40f.
29
erhalten ihren eigenen Wert167. Diese neue Erfahrung der Positivität und Bejahbarkeit des
Endlichen führte bei Balthasar während seines Studiums der Philosophie Erich Przywaras
(Analogia entis) in Auseinandersetzung mit dem univoken Seinsbegriff der Neuscholastik und
in Anknüpfung an das Studium bei Guardini auch physisch zu einem Gefühl der Befreiung
und Ermutigung.168
Die Zugangsmethode zum dritten Bereich ist die Interpretation von Literatur. Hier kommen
hermeneutische Fragen ins Spiel, die an dieser Stelle nicht im Einzelnen ausgeführt werden
können.169 Guardini versuchte den Bruch zwischen Kultur und Theologie durch die
Begegnung mit der Literatur zu überwinden, indem er hinarbeitet auf eine Integration von
Theologie und Literatur.170 Im Gegensatz zu von Balthasar beginnt Guardini nach einer
längeren Zeit des Suchens als Theologe und nähert sich als Universitätslehrer aus inhaltlichen
Erfordernissen seines „Faches“ mit Hilfe der Ratschläge Max Schelers 171 der Literatur, während von Balthasar mit dem Studium der deutschen Literatur beginnt und dabei wie
selbstverständlich zur Theologie findet, wobei „[d]as Zueinander von Literatur und Theologie
auf der dritten Ebene […] unter dem Zeichen der Interpretation [steht].“172 Sowohl Guardini
wie von Balthasar sind fasziniert von Gestalten wie Sokrates, Platon, Augustinus,
Bonaventura, Hölderlin, Mörike und Rilke und vielen anderen mehr.173 Bei von Balthasar
kommt noch hinzu die Beschäftigung mit den Dichtern und Schriftstellern des »Renouveau
catholique«: Paul Claudel (1868–1955), Charles Peguy (1873–1914) und Georges Bernanos
(1888–1948).174
Das eigentlich Neue bei von Balthasar ist die vierte Ebene).175 In der Theodramatik, die wie
bei einem Triptychon in der Mitte der „Trilogie“ steht hat von Balthasar das Theologische in
einer ganz eigenen Weise mit dem Dramatischen – beispielhaft sei hier genannt El gran teatro
del mundo, von Calderón de la Barca (1600–1681) – verbunden. Lochbrunner führt dazu aus:
„Auf der vierten Ebene der Integration steht nicht mehr die Verkündigung im Vordergrund,
sondern die Theologie selbst, nämlich ihre Neustrukturierung unter dem Prinzip des
Dramatischen. Zu dieser vierten Ebene ist Guardini nicht vorgedrungen; er hat sich
vornehmlich auf der dritten Ebene bewegt.“176
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass beide Theologen eine Affinität zur Literatur,
Philosophie und Kunst hatten.177 Bei beiden gibt es Analogien in Bezug auf „Weite des
167
Medard Kehl: Und Gott sah, dass es gut war, S. 221.
Vgl. Eva-Maria Faber: „Hans Urs von Balthasar und sein ‚Mentor‘ Erich Przywara“. In: Magnus Striet – JanHeiner-Tück (Hrsg.): Die Kunst Gottes verstehen, S. 384-409.
169
Vgl. Romano Guardini: „Bemerkungen über Sinn und Weise des Interpretierens“. In: Ders.: Sprache – Dichtung – Deutung. Gegenwart und Geheimnis (Mainz – Paderborn 1992), S. 231-234.
170
Vgl. Manfred Lochbrunner: „Romano Guardini und Hans Urs von Balthasar“, S. 177.
171
Vgl. ebd., S. 173.
172
Ebd., S. 178.
173
Vgl. ebd., S. 179.
174
Vgl. ebd., S. 179.
175
Vgl. ebd., S. 178.
176
Ebd.
177
Vgl. Manfred Lochbrunner: „Guardini und Balthasar“, S. 238.
168
30
Geistes, Interpretation der Wirklichkeit, Unterscheidung des Christlichen 178. Erkennen
bedeutet Sehen von Gestalten179: „Der Erkenntnisprozeß wird mit solchen Metaphern wie
Sehen, Erblicken, Auge, Licht u.ä. umschrieben. Die erschaute Gestalt wird dann in einem
dem künstlerischen Schaffensvorgang analogen Prozeß dem Hörer, bzw. dem Leser
objektivierend vor Augen gestellt.“180 Beide wenden sich ab vom Spezialistentum und öffnen
sich für das Ganze der Wirklichkeit.181 Während Guardini oft darunter litt, kein Fachtheologe
zu sein und sich selbst den Vorwurf des Dilettantismus machte, bewegte sich von Balthasar
unabhängig und frei „im Kosmos der Katholizität.“182
Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass auch im persönlichen Bereich eine hohe Wertschätzung
zwischen beiden Theologen vorhanden war. Davon zeugen drei wichtige Begebenheiten: So
bot Guardini 1949 von Balthasar an, nach München zu kommen, um sich dort zu habilitieren.
Von Balthasar befand sich zu dieser Zeit in einer schwierigen persönlichen Lage, weil er
entscheiden musste, ob er sich vom Jesuitenorden trennen oder auf die Leitung der
Johannesgemeinschaft verzichten sollte.183 – Am 2. Oktober 1953 besucht Guardini Adrienne
von Speyer und von Balthasar.184 Bei diesem Gespräch stimmten beide darin überein, dass die
„Synthesis“ nicht herausgebracht werden sollte. Guardini befürchtete, dass eine systematische
Zusammenfassung seines Werkes noch nicht die Letztgestalt sein könnte und zog es vor, noch
frei bleiben zu können.185 – Ein Jahr nach dem Tod von Guardini (1.10.1969) hatte von
Balthasar beim ersten Jahresgedächtnis die Ehre, Guardini mit dem (unveröffentlichten)
Vortrag „Romano Guardini in dieser Stunde“ zu würdigen. Aus diesem Vortrag entstand das
Buch Romano Guardini. Reform aus dem Ursprung, dass man als „Guardini-Synthesis“
ansehen kann.186
2.2.6 Fazit
Von Balthasars Phänomenologie ist nach seiner eigenen Interpretation eine „Art von
Phänomenologie“. Sie ist nicht einfach eine Kopie der Phänomenologie Husserls, Schelers,
Heideggers u.a., sondern eine sehr komplexe Synthese eklektisch und passgenau ausgewählter
Bausteine aus Literatur, Philosophie, Theologie und Musik. Die Schau der Gestalten steht im
Mittelpunkt dieser Art von Phänomenologie, wobei sich von Balthasar im Besonderen auf
Goethe beruft. Wie Goethe geht es ihm um die synthetische Wahrnehmung von Gestalten, das
analytische Zerlegen des Lebendigen lehnt er ab. Er verwirft eine Philosophie und Theologie,
die bestrebt sind, alles auf den Begriff zu bringen. Seinsphilosophisch verankert er seine
178
Vgl. ebd., S. 238.
Vgl. ebd., S. 239.
180
Ebd.
181
Vgl. ebd.
182
Ebd., S. 240.
183
Vgl. ebd., S. 234.
184
Vgl. Manfred Lochbrunner: „Romano Guardini und Hans Urs von Balthasar“. In: Ders.: Hans Urs von
Balthasar und seine Philosophenfreunde (Würzburg 2005), S. 55-89, hier S. 65.
185
Vgl. ebd., S. 67.
186
Vgl. ebd., S. 76.
179
31
Schau der Gestalten in der Lehre von den Transzendentalien. Im II. Teil des Epilogs
analysiert er die drei phänomenologischen Komponenten entsprechend der Maxime der
Phänomenologie: „Zu den Sachen selbst!“ Es geht um das Sich-zeigen (entspricht der Gestalt
des Schönen), das Sich-geben (entspricht der Gestalt des Guten) und das Sich-Sagen
(entspricht der Gestalt des Wahren). Es herrscht das Prinzip der „circumincessio der
Transzendentalien. Es handelt sich beim Sich-zeigen, Sich-geben, Sich-sagen um nur ein
„Urphänomen“.187
Blickt man auf von Balthasar, ist man erstaunt über die außerordentliche Sprachbegabung, die
sich in den vielen Sprachbildern und Metaphern äußert, die er gleichsam spielerisch zur
Beschreibung philosophischer bzw. theologischer Sachverhalte verwendet. Seine Denk- oder
Wahrheitsform war maßgeblich durch Literatur geprägt, so dass er auch „Literaturtheologe“
genannt worden ist. Sein Denken wurde beispielsweise durch Rilkes Sonette an Orpheus
beeinflusst, was exemplarisch an Rilkes Gedicht „Wolle die Wandlung“ nachgewiesen
werden konnte. Darüber hinaus versuchte er eine Integration zwischen Drama und Theologie
im Rahmen der von ihm entwickelten Theodramatik. Auf diese Weise gelang ihm eine
Neustrukturierung der Theologie unter dem Prinzip des Dramatischen. Charakteristisch dafür
ist die Hinordnung der Ästhetik und der Logik auf die Dramatik, die wie bei einem
Triptychon in der Mitte steht.188
Von Balthasars Leben war von Jugend an von der klassischen Musik geprägt. Gleichsam der
„Polarstern“ wurde für ihn vor allem Mozart, der in von Balthasars Freundschaft mit Karl
Barth neben und in der Theologie eine wichtige Rolle spielte. Beide sehen in Mozarts Musik
ein absichtsloses Spiel: „Dieses absichtslose Spiel begreifen beide als ein Gleichnis jenes
Gottes, dessen hypostasierte Weisheit von Anbeginn vor seinem Thron spielt und in Jesus von
Nazareth Mensch wurde.“189
Für das Wahrheitsverständnis von Balthasars von unschätzbarem Wert war seine Begegnung
mit dem Religionsphilosophen Guardini in Berlin. Durch ihn wurde er vertraut vor allem mit
Kierkegaard und Nietzsche, was ihn lebenslang bei seiner Suche nach der Integration aller
Wahrheiten in der „Weite des Wahrheitsraumes“190 inspirierte. Mit Guardini verband ihn
besonders die sogenannte dritte Ebene der Integration, das Zueinander von Literatur und
Theologie.
187
Vgl. Jean Greisch: „Eine phänomenologische Wende der Theologie“, S. 384.
Peter Henrici: „Die Trilogie Hans Urs von Balthasars. Eine Theologie der europäischen Kultur“. In: Internationale katholische Zeitschrift »Communio« 34 (2005), S. 117-127, hier S. 118.
189
Thomas Krenski: Hans Urs von Balthasar. Das Gottesdrama, S. 21.
190
Hans Urs von Balthasar: Von den Aufgaben der Katholischen Philosophie in der Zeit (Freiburg i.Br. 1998), S.
35.
188
32
3 Die Ontologie Martin Heideggers und Hans Urs von
Balthasars
3.1 Grundbegriffe der Fundamentalontologie Heideggers in Sein
und Zeit
Ein Verständnis der Wahrheitskonzeption Heideggers ist ohne die Darstellung der
Grundbegriffe seiner Fundamentalontologie nicht möglich. Deutlich wird der Zusammenhang
zwischen der Frage nach der Wahrheit und der Frage nach dem Sinn von Sein dadurch, dass
Heidegger sein Wahrheitsverständnis in Sein und Zeit (§ 44) einbettet in seine Daseinsanalyse.
Ziel der folgenden Darstellung der Grundbegriffe der Fundamentalontologie ist die
Hinführung zum Zentrum der Fragestellung dieser Arbeit. – Gleiches gilt dann mutatis
mutandis für von Balthasar. – Dabei geht es darum, das Wesentliche der Ontologie beider
Autoren zur Sprache zu bringen, um auf diese Weise die Bedeutung der Ontologie für die
Wahrheitsfrage herauszuarbeiten. Christof Landmesser schreibt in einer vergleichbaren
Hinführung zum existential-ontologischen Wahrheitsbegriff Heideggers: „Die Darstellung
einiger Grundbegriffe aus Sein und Zeit ist […] deshalb notwendig, weil jeder ausdrückliche,
unausdrückliche und sogar unbewusste Anknüpfungsversuch an Heideggers existentialontologischen Wahrheitsbegriff von diesem Kontext geprägt ist.“191 Die Frage nach dem Sinn
des Seins steht im Fokus von Sein und Zeit und soll als erste behandelt werden.
3.1.1 Der Sinn von Sein und Dasein als Existenz
Heidegger wirft der philosophischen Tradition seit Platon und Aristoteles vor, das Sein und
die Wahrheit vergessen zu haben. Er spricht von „Seins-“ bzw. „Wahrheitsvergessenheit“.
Die Tradition habe die Seinsfrage nicht mehr radikal gestellt, sondern zu einem „Dogma“
erstarren lassen.192 „Dieses Dogma erklärt die Frage nach dem Sein für ‚überflüssig‘, mehr
noch, es ‚sanktioniert‘, es erklärt das ‚Versäumnis‘ einer Wiederholung der Seinsfrage als
rechtmäßig.“193 Heute gebe es laut Heidegger kein Verständnis mehr für die Grundfrage der
Ontologie nach dem Sinn von Sein. Zur Zeit Heideggers waren im Bereich der Philosophie
folgende Richtungen maßgebend: Neukantianismus, Lebensphilosophie, Neupositivismus und
die Phänomenologie des Bewusstseins.194 „Und selbst dort, wo sich die philosophische Arbeit
als Ontologie bezeichnete, bei Nicolai Hartmann, stand Ontologie gerade nicht unter der
191
Christof Landmesser: „Der existential-ontologische Wahrheitsbegriff Martin Heideggers“. In: Ders.: Wahrheit als Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft. Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, Bd. 113 (Tübingen 1999), S. 111-168, hier S. 111.
192
Vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Hermeneutische Phänomenologie des Daseins. Eine Erläuterung von
„Sein und Zeit“. Band 1. „Einleitung: die Exposition der Frage nach dem Sinn von Sein“ (Frankfurt a.M. 1987),
S. 27.
193
Ebd., S. 27.
194
Vgl. ebd., S. 12.
33
Führung der Grundfrage nach dem Sinn von Sein.“195 Heidegger nimmt sich vor, die Frage
„nach dem Sinn von Sein neu und radikal zu stellen“.196
Die Frage nach dem Sinn von Sein hat für Heidegger ontischen (sich auf die faktische
Existenz beziehend) und ontologischen (sich auf die selbstreflexive Existenz beziehend)
Vorrang vor allen anderen Fragen.197 Sie setzt voraus, dass das Sein Sinn hat und dass dieser
Sinn erschlossen werden kann.198 Die Frage nach dem Sinn von Sein ist die Frage danach, wie
überhaupt Sein verstanden wird. Heidegger versucht nachzuzeichnen, wie dieses Sein immer
schon verstanden worden ist und in Zukunft verstanden werden kann.199 Die Notwendigkeit
der Frage nach dem Sinn von Sein ergebe sich auch aus der Krise des ontologischen
Fundamentes der Wissenschaften, die trotz ihrer Bedeutung für unser Leben immer weniger
Orientierungsmöglichkeiten geben könnten.200 Um die Voraussetzungen für eine solche Frage
zu erarbeiten, fragt Heidegger zunächst nach der Form einer solchen Frage und bestimmt das
Gefragte, das Befragte und das Erfragte als die Strukturmomente der Frage nach dem Sinn
von Sein.201 Beim Gefragten handelt es sich um das Sein, „von dem wir ein vages
Vorverständnis besitzen, das unsere Frage anleitet“.202 Das Erfragte ist das, wonach wir
fragen, nämlich der „bestimmte Sinn von Sein“.203 Beim Befragten geht es um ein Seiendes,
dessen spezifische Seinsweise für uns erschließbar ist. Das sei nur bei uns selbst der Fall.
Heidegger „führt hierfür definitorisch einen Begriff ein, der dasjenige, was wir selbst sind und
was zugleich die Möglichkeit des Fragens besitzt, bezeichnet: das Dasein“.204 Sein bzw. der
Sinn von Sein sei angewiesen auf ein verstehendes Dasein. Heidegger bemerkt in diesem
Zusammenhang. „Wenn innerweltliches Seiendes mit dem Sein des Daseins entdeckt, das
heißt zu Verständnis gekommen ist, sagen wir, es hat Sinn. Verstanden aber ist, streng
genommen nicht der Sinn, sondern das Seiende, bzw. das Sein. Sinn ist das, worin sich
Verständlichkeit von etwas hält. Was im verstehenden Erschließen artikulierbar ist, nennen
wir Sinn.“205
3.1.2 Die ontologische Differenz
Heidegger geht nach seinem Verständnis der Philosophiegeschichte im Gegensatz zu
Aristoteles nicht vom Seienden, sondern vom Sein aus. Das Seiende scheint ihm nur in
Hinsicht auf das Dasein von Interesse zu sein. In Sein und Zeit bemerkt Heidegger zum
Seienden: „Aber »seiend« nennen wir vieles und in verschiedenem Sinne. Seiend ist alles,
wovon wir reden, was wir meinen, warum wir uns so und so verhalten, seiend ist auch, was
195
Ebd.
SuZ (GA2), S. 1.
197
Vgl. ebd., S. 13-20.
198
Vgl. Oliver Jahraus: Martin Heidegger. Eine Einführung (Stuttgart 2004), S. 12.
199
Ebd.
200
Vgl. Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 17.
201
Vgl. ebd., S. 14.
202
Ebd. S. 15.
203
Ebd.
204
Ebd., S. 16.
205
SuZ (GA 2), S. 201.
196
34
und wie wir selbst sind.“206 Hingegen sagt er vom Sein: Sein liegt im Daß- und Sosein, in
Realität, Vorhandenheit, Bestand, Geltung, Dasein, im »es gibt«.“207 Sein ist demnach Sein
von Seiendem.208 D.h.: „Das Sein des Seienden »ist« nicht selbst ein Seiendes.“209 Es „ist
keine Gattung eines Seienden. […] Sein ist das transcendens schlechthin. 210“ Was das Sein
ist, kann man demnach nicht durch eine Erforschung des Seienden erkennen.211 Im Hinblick
auf die Unterscheidung von Sein und Seiendem spricht Heidegger von der „ontologischen
Differenz“,212 die „für Heideggers Denken der Grund [ist], weil alles, was ist, und die
Möglichkeit, dieses zu verstehen, diesem Unterschied zu verdanken ist. Abgrund ist die
ontologische Differenz, weil alles Seiende und dessen Verständnis wesentlich auf die
Möglichkeit des Nicht-Seins und Nicht-Verstehens bezogen ist […].“213 Worin ist nun der
Unterschied zwischen Sein und Seiendem begründet? Die Antwort auf diese Frage ist
schwierig und selbst für Heidegger, wie wir später bei einer Kritik seines metaphysischen
Ansatzes sehen werden, nicht eindeutig zu beantworten, denn er richtet im Laufe seines
Denkweges immer mehr den Blick von der Differenz auf die Identität.
Ausgehend von der Differenz zwischen Sein und Seiendem sieht er nach der sogenannten
Wende immer mehr die Identität zwischen Sein und Seiendem. „Das heißt, dass nicht mehr
vom Seienden aus nach dem Sein gefragt werden kann, sondern das nunmehr vom Seyn her
nach dem Seyn gefragt wird. Das Selbstwidersprüchliche transformiert sich ins
Selbstreferenzielle:“214 Nach der Kehre spricht Heidegger nicht mehr wie in Sein und Zeit
davon, dass das Sein jeweils das Sein von Seiendem ist, „sondern vom ‚Sein als Sein‘ oder
‚Sein selbst‘ oder ‚Seyn‘, falls diese Ausdrücke als mehr oder minder äquivalent genommen
werden dürfen“.215 In Sein und Zeit werden Sein und Seiendes mehr als different und getrennt
aufgefasst, dagegen denkt Heidegger später die beiden Gegensätze mehr als Einheit.
„Entsprechend werden Wahrheit, Seyn und Geschichte als Einheit betrachtet.“ 216 In den
Beiträgen äußert er sich zu dieser wie folgt: „Diese Wahrheit des Seyns ist gar nichts vom
Seyn Verschiedenes, sondern sein eigenstes Wesen, und deshalb liegt es an der Geschichte
des Seyns, ob es diese Wahrheit und sich selbst verschenkt oder verweigert und so erst
eigentlich in seine Geschichte das Abgründige bringt.“217 An dieser Stelle wird erneut der
Zusammenhang zwischen Seins- und Wahrheitsverständnis erkennbar.
206
SuZ (GA 2), S. 9.
Ebd., S. 9.
208
Vgl. ebd.
209
Ebd., S. 8.
210
Vgl. ebd. S. 51.
211
Ebd.
212
Vgl. GP (GA 24), S. 322ff.
213
Willem van Reijen: Martin Heidegger (Paderborn 2009), S. 29.
214
Ebd. S. 30.
215
Gerd Haeffner: „Heideggers ‚Seins‘-Frage. Beitrag zu einer Klärung“. In: Theologie und Philosophie, 85
(2010) 2, S. 161-184, hier S. 181.
216
Willem van Reijen: Martin Heidegger, S. 34.
217
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (GA 65) S. 93.
207
35
Auch bei Hans Urs von Balthasar spielt die ontologische Differenz eine wichtige Rolle für
sein Wahrheitsverständnis. Im weiteren Verlauf der Untersuchung wird ein Vergleich beider
Denker im Hinblick auf diese Thematik Ähnlichkeiten und Differenzen aufzeigen.
3.1.3 Das Dasein und die Frage nach dem Sein
Im Rahmen unserer Überlegungen zur phänomenologischen Hermeneutik der Faktizität des
Daseins in Sein und Zeit wurde schon Wichtiges zur Bedeutung des Begriffes Dasein für
Heideggers Fundamentalontologie gesagt. Für Heidegger war das Dasein das Seiende, das in
der Lage ist, nach dem Sinn seines eigenen Daseins zu fragen bzw. sich selbst auch im
„entwerfend-auslegenden Verstehen“ kundgeben zu können. Für das nicht daseinsmäßige
Seiende interessierte er sich kaum. Heidegger war überzeugt, durch eine ontologische
Analytik des Daseins den Horizont für eine Interpretation des Sinnes von Sein zu eröffnen.218
In seinem Spätwerk allerdings ist das Sein nicht mehr im Dasein zu finden, sondern nimmt
Einfluss auf das Verstehen von außen.219 In Sein und Zeit fasst Heidegger den mehrfachen
Vorrang des Daseins kurz und präzise zusammen:
„Das Dasein hat sonach einen mehrfachen Vorrang vor allem anderen Seienden. Der erste
Vorrang ist ein ontischer: dieses Seiende ist in seinem Sein durch Existenz bestimmt. Der
zweite Vorrang ist ein ontologischer: Dasein ist auf dem Grunde seiner Existenzbestimmung
an ihm selbst »ontologisch«. Dem Dasein gehört nun aber gleichursprünglich – als
Konstituens des Existenzverständnisses – zu: ein Verstehen des Seins alles nicht
daseinsmäßigen Seienden. Das Dasein hat daher den dritten Vorrang als ontisch-ontologische
Bedingung der Möglichkeit aller Ontologien. Das Dasein hat sich so als das vor allem
anderen Seienden ontologisch primär zu Befragende erwiesen.“220
Einige Begriffe aus dieser Definition sollen erklärt werden, um das, was Dasein heißt, genauer verstehen zu können. Existenz ist nicht einfach das Dasein (ein Seiendes), sondern die
Seinsweise des Daseins, d.h. die Bestimmung des Daseins durch die Existenz. Ontischer
Vorrang heißt: seinsmäßiger Vorrang des Daseins als Gegenstand einer Ontologie, dass das
Dasein als ontologisches Wesen nach seinem Sein fragt. 221 Die ontische Auszeichnung des
Daseins liegt darin, das es ontologisch ist.222 Das Dasein als ontisch-ontologische Bedingung
der Möglichkeit aller Ontologien bedeutet, dass die Ontologien, die sich mit nicht
daseinsmäßigem Seienden befassen in der ontischen Struktur des Daseins selbst begründet
sind.223 Die Existenz eines Daseins ist, das ergibt sich aus dem Vorhergehenden, nicht zu
verwechseln mit der Existenz eines x-beliebigen Gegenstandes. Das, was üblicherweise
Existenz genannt wird, nennt Heidegger „Vorhandenheit“.224 Von Bedeutung ist, dass jeder
218
Vgl. Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 20.
Vgl. Dorothea Frede: „Zum Sinn von Sein und Seinsverstehen“. In: Dieter Thomä (Hrsg): Heidegger Handbuch, S. 84.
220
SuZ (GA 2), S. 18.
221
Vgl. Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 19.
222
SuZ (GA 2), S. 16.
223
Vgl. ebd., S. 18.
224
Vgl. Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 30.
219
36
nur über sich selbst sprechen kann, d.h., dass die „Jemeinigkeit“ ein Strukturelement des
Daseins ist.225 Das bedeutet in der Sprache Heideggers: „Im Sein dieses Seienden verhält sich
dieses selbst zu seinem Sein. Als Seiendes dieses Seins ist es sich selbst überantwortet.“226
Der Ausdruck „Jemeinigkeit“ verweist nicht auf einen „privilegierten Zugang“ zu uns selbst,
denn Heidegger geht in seiner Philosophie nicht von einem Subjekt aus, dem in der
Außenwelt Objekte gegenüberstehen.“ Für das Dasein gibt es weder „Introspektion“ noch
eine „Außenwelt.“227 Das Dasein ist schließlich nicht in seine Eigenschaften zerlegbar. Es
muss in seinen Möglichkeiten betrachtet werden. Diese Möglichkeiten sind nicht als
Eigenschaften einer Substanz mit Namen Dasein anzusehen, sondern wir haben es
hinsichtlich der Möglichkeiten des Daseins schon mit diesem selbst zu tun.228 Es gibt zwei
Modi des Daseins, nämlich »eigentliches Dasein« und »uneigentliches Dasein«, d.h. das
Dasein lebt entweder entsprechend den Möglichkeiten des Daseins oder aber es verpasst
sie.229
3.1.4 Darstellung der wichtigen Existenzialien des Daseins
Bei der Analyse der Seinsstrukturen des Daseins geht es um eine ontologische
Fragestellung.230 Heidegger nennt diese Seinsstrukturen Existenzialien.231 „Diese Seinsbestimmungen des Daseins müssen nun aber a priori auf dem Grunde der Seinsverfassung
gesehen und verstanden werden, die wir das In-der-Welt-sein nennen.232
3.1.4.1 Das In- der- Welt-sein
Dieser Begriff bezeichnet ein einheitliches Phänomen. Aber wie können wir diese Welt als
einheitliches Phänomen beschreiben, da wir nur „innerweltlichen“ Phänomenen begegnen,
aber doch nie der Welt als ganzer?233 Phänomenologisch zugänglich ist nur die Weltlichkeit
des Daseins.234 Deshalb: „Ohne Dasein keine Weltlichkeit, aber auch: kein Dasein ohne
Weltlichkeit.“235 „Welt“ ist nach Heidegger kein Raum im Sinne des französischen
Philosophen Descartes, der das Wesen (die Substanz) des Raumes als Ausdehnung begreift
(res extensa). Heidegger lehnt den Begriff der Substanz, wie ihn Aristoteles, die Scholastik
oder Descartes verstanden haben, ab und wirft Descartes eine Reduktion des Seins auf
Substanz vor. Descartes überspringe damit das Phänomen der Weltlichkeit, das als Existenzial
des Daseins in Erscheinung trete. So könne der Seinscharakter der Zuhandenheit nicht
225
Vgl. ebd. S. 30.
SuZ (GA 2), S. 56 f.
227
Vgl. Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 30.
228
Vgl. ebd.
229
Vgl. ebd., S. 31.
230
Vgl. Christof Landmesser: „Der existential-ontologische Wahrheitsbegriff Martin Heideggers“, S. 111-186,
hier S. 145.
231
SuZ (GA 2), S. 59.
232
Ebd., S. 53.
233
Vgl. Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 37.
234
Vgl. ebd., S. 39.
235
Ebd.
226
37
gedacht werden.236 Heidegger hingegen strebt danach, die Weltlichkeit der Welt als
Phänomen darzustellen. Er unterscheidet zwischen der Räumlichkeit des Zuhandenen und der
Räumlichkeit des Vorhandenen. Bei der Räumlichkeit des Vorhandenen geht es um den
dreidimensionalen Raum (res extensa).237 Sie ist gegründet als abkünftiges Phänomen in der
Räumlichkeit des Daseins.238 „Das In-sein bedeutet nicht ein räumliches Verhältnis des
Daseins zu anderem Seienden, sondern meint die Vertrautheit des Daseins mit anderem
Seienden, mit dem das Dasein schon immer umgeht, weshalb das Dasein nicht als isoliertes
Subjekt verstanden bzw. phänomenologisch beschrieben werden kann.239 Der vertraute
Umgang des Daseins mit nicht daseinsgemäßen Seienden ist selbst eine Struktur des Daseins
und heißt das Besorgen.240 Für Heidegger haben folgende Weisen des In-Seins die Seinsart
des Besorgens: „zutunhaben mit etwas, herstellen von etwas, bestellen und pflegen von etwas,
unternehmen, durchsetzen, erkunden, befragen, betrachten, besprechen, bestimmen … Weisen
des Besorgens sind auch die defizienten Modi des Unterlassens, Versäumens, Verzichtens,
Ausruhens […]“.241Alles dreht sich um das alltägliche Dasein, dessen Raum die Umwelt ist.
Das Dasein hat es in seiner Umwelt nicht mit dem Vorhandenen, sondern mit dem
Zuhandenen (im Besorgen) zu tun. Das Zuhandene wird Zeug genannt. „Zeug ist wesenhaft
»etwas, um zu« …“242. Die Struktur „Um-zu“ nennt Heidegger Verweisung, denn Zeug
verweist auf ein Zeugganzes.243 Deshalb „[…] kann sich das Erkennen nicht mehr nur als
Vorstellen eines ständig Vorhandenen verstehen, sondern muß sich an der Umsicht des
praktischen Besorgens messen, sich auskennen in den Bewandtnisbezügen und
Verweisungszusammenhängen der Welt.“244
3.1.4.2 Das Mitsein und das Man
Auch das von Heidegger so genannte »Mitsein« ist phänomenologisch ein Existenzial des
Daseins. Mitsein bezieht sich auf das Verhältnis des jeweiligen Daseins zu anderem Dasein.
Die Anderen sind laut Heidegger „auch und mit da“.245 Dabei sind „»Mit« und »Auch« […]
existential und nicht kategorial zu verstehen. Auf dem Grunde dieses mithaften In-der-Weltseins ist die Welt je schon immer die, die ich mit anderen teile“.246Deshalb läuft die Kritik
derer, die Heideggers Dasein individualistisch missverstehen, ins Leere.247 Selbst dann, wenn
das jeweilige Dasein anderes Dasein in autistischer oder andere Weise nicht wahrnimmt, kann
unser jeweiliges Dasein nicht isoliert von anderem Dasein beschrieben werden. „Im
236
Vgl. ebd., S. 46ff.
Vgl. ebd., S. 50.
238
Vgl. SuZ (GA 2), § 22f.
239
Vgl. Christof Landmesser: „Der existential-ontologische Wahrheitsbegriff Martin Heideggers“, S. 117.
240
Vgl. ebd., S. 18.
241
SuZ (GA 2), S. 75f.
242
Ebd., S. 92.
243
Vgl. ebd.
244
Otto Pöggler: Der Denkweg Martin Heideggers (Pfullingen 1963), S. 55.
245
SuZ (GA 2), S. 158.
246
Ebd., S 158 f.
247
Vgl. Christof Landmesser: „Der existential-ontologische Wahrheitsbegriff Martin Heideggers“, S. 120.
237
38
umweltlich Besorgten begegnen die Anderen als das, was sie sind; sie sind das, was sie
betreiben.“248
Auch die Fürsorge „gründet in der Seinsverfassung des Daseins als Mitsein“.249 Heidegger
unterscheidet die einspringend-beherrschende Fürsorge, die den anderen entmündigt von der
vorspringend-befreienden Fürsorge („wahre Fürsorge“), die dem anderen dessen Seinsmöglichkeiten eröffnet und auf diese Weise befreit.250
Vom Mitdasein ist es nur ein kleiner Schritt zum »Man«. Das Man ist nicht einfach
vorhanden, sondern es handelt sich auch in diesem Fall um ein nicht wegzudenkendes
Existenzial, das immer und alltäglich vorhanden ist, – wenn auch nicht im Bewusstsein.251
„Man ist die Seinsweise des alltäglichen Daseins, das sich über allgemein verfügbare Normen
und Werte identifiziert. Die institutionelle Seinsweise besteht in einer Nivellierung bzw.
Einebnung aller spezifischen Seinsmöglichkeiten auf die Durchschnittlichkeit von abstraktallgemeinen, gar nicht zu personifizierenden Standards.“252 Mit dem Begriff des Man hängen
die Begriffe „Man-Selbst“ und das „eigentliche Selbst“ zusammen.253 Unter „Man-Selbst“
versteht Heidegger, das alltäglich-durchschnittliche im Man aufgehende Selbst. Dem steht das
„eigentliche Selbst“ gegenüber, das sich dem von Gerede, Neugier und Zweideutigkeit
bestimmten Raum der Öffentlichkeit, dem Mitsein mit Anderen entzogen hat. 254 Das Man
kann sich sowohl positiv als auch negativ auswirken. Positiv übernimmt das Man eine
Entlastungsfunktion, so dass das Dasein nicht erdrückt wird durch Entscheidungen zu den
Daseinsfragen.255 Negativ wird von der „Diktatur des Man“ gesprochen, denn es hindert das
Dasein daran, die Frage nach dem Sinn des Seins selbstreflexiv zu stellen. Das „Man“ stellt
keine Fragen, denn es ist einverstanden mit den Antworten des Geredes.256 Es ist das
»Fremde« an und in uns.
3.1.4.3 Die Erschlossenheit
Ein weiteres Existenzial ist die Erschlossenheit. Heidegger schreibt apodiktisch: „Das Dasein
ist seine Erschlossenheit.“257 Dem Dasein ist sein eigenes Da in der Welt und einschlussweise
die Welt erschlossen.258 Dies erfordert eine existenziale Analyse des In-Seins.259 Das Dasein
erstreckt sich in der „selbsthaft-ekstatischen“ Erschlossenheit seiner Existenz „in die
horizontale Erschlossenheit der Seinsweise des nichtdaseinsmäßigen Seienden“.260 Zur
248
SuZ (GA 2), S. 168.
Vgl. SuZ (GA 2), S. 162.
250
Vgl. Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 57 (vgl. dazu SuZ [GA 2], S. 122).
251
Vgl. ebd., S. 60.
252
Ebd.
253
Vgl. ebd., S. 59
254
Vgl. SuZ (GA 2), § 35-38.
255
Vgl. Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 60
256
Vgl. Willem van Reijen: Martin Heidegger, S. 23.
257
SuZ (GA 2), S. 177.
258
Vgl. Christof Landmesser: „Der existential-ontologische Wahrheitsbegriff Martin Heideggers“, S. 122.
259
Vgl. Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 62.
260
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Der Begriff der Phänomenologie, S. 33.
249
39
Erschlossenheit des In-der-Welt-seins gehört auch das Mitsein, das Zuhandene und das
Vorhandene. Dabei ist dem Dasein in erster Linie das Möglichsein erschlossen und erst in
zweiter Linie die Wirklichkeit.261 „Das Dasein realisiert sich also nicht in ihm mitangelegte
Möglichkeiten, sondern es ist in der Weise des Möglichseins.“262
Die Erschlossenheit des Daseins konstituiert sich in verschiedenen Weisen, und zwar in den
gleichursprünglichen Weisen der Befindlichkeit und des Verstehens.263 „Diese beiden Weisen
der Erschlossenheit sind ihrerseits bestimmt durch die Rede.“264 Was meint hier „Befindlichkeit“?
3.1.4.3.1 Die Befindlichkeit
Am besten lässt sich erkennen, was Heidegger unter dem Begriff „Befindlichkeit“ versteht,
wenn man den ontologischen Wesenscharakter der Befindlichkeit in drei Schritten
nachvollzieht.: 1. „Die Befindlichkeit erschließt das Dasein in seiner Geworfenheit und
zunächst in der Weise der ausweichenden Abkehr.“265 Unter Befindlichkeit ist eine Stimmung
zu verstehen, ohne die der Mensch seine Existenz nicht erfahren könnte.266 Diese Stimmung
ist kein Gegenstand der Psychologie, sondern der Ontologie. Es handelt sich um die
Seinsstruktur, die die alltägliche Stimmung bzw. das Gestimmtsein des Daseins ermöglicht.
Der Begriff „Geworfenheit“ bezieht sich auf die Faktizität des Daseins. Das Dasein wird in
sein Da überantwortet.267 Unter ausweichender Abkehr versteht Heidegger das Verschließen
des Da. „Die »bloße Stimmung« erschließt das Da ursprünglich, sie verschließt es aber
hartnäckiger als jedes Nicht-Wahrnehmen.“ In diesem Zusammenhang spricht Heidegger von
„Verstimmung“.268 2. Die Befindlichkeit „ist eine existenziale Grundart der
gleichursprünglichen Erschlossenheit von Welt, Mitdasein und Existenz, weil diese selbst
wesenhaft In-der-Welt-sein ist.“269 Das Wort Existenz deutet auf den Entwurf des Daseins
hin. Damit wird deutlich, dass das Dasein zwischen Geworfenheit (Passivität) und Entwurf
(Aktivität) pendelt.270Der dritte ontologische Wesenscharakter der Befindlichkeit ist für
Heidegger die Weltoffenheit des Daseins: „Die Gestimmtheit der Befindlichkeit konstituiert
existenzial die Weltoffenheit des Daseins.“271 D.h. die Weltoffenheit ist die Voraussetzung
dafür, dass das Dasein von der Welt und Innerweltlichem betroffen werden kann.272
261
Vgl. SuZ (GA 2), S. 51.
Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 67.
263
Vgl. Christof Landmesser: Der existenzial- ontologische Wahrheitsbegriff Martin Heideggers, S. 123.
264
Ebd., S. 123.
265
SuZ. (GA 2), S. 181.
266
Vgl. Oliver Jahraus: Martin Heidegger. Eine Einführung (Stuttgart 2004), S. 113
267
Vgl. Christof Landmesser: „Der existential-ontologische Wahrheitsbegriff Martin Heideggers“, S. 123.
268
Vgl. SuZ (GA 2), S. 182.
269
Ebd.
270
Vgl. Oliver Jahraus: Martin Heidegger. Eine Einführung, S. 115.
271
SuZ (GA 2), S. 183.
272
Vgl. Celestine Chibueza Uzondu: Die Fundierung des Erkennens im „Verstehen“ Heideggers Sein und Zeit
und danach. Europäische Hochschulschriften, Reihe XX, Philosophie, Bd. 705 (Frankfurt a.M. [u.a.] 2007), S.
130.
262
40
Die „Furcht“ ist ein Modus der Befindlichkeit.273 Auch hier geht es um ein Phänomen der
Phänomenologie und nicht der Psychologie. Für Heidegger hat die Furcht drei konstitutive
Momente: 1. das „Wovor“, 2. das „Fürchten selbst“ und 3. das „Worum“.274 Beim „Wovor“
geht es um „innerweltlich Begegnendes von der Seinsart des Zuhandenen, des Vorhandenen
oder des Mitdaseins.“275 Das „Fürchten selbst“ ist eine Möglichkeit des Daseins.276 Das
Dasein erschließt aus seinem In-der-Welt-sein, „dass aus ihr so etwas wie Furchtbares nahen
kann.“277 Das Worum des Fürchtens selbst deutet darauf hin, dass nur das Dasein zum
Fürchten fähig ist, denn „[n]ur Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht, kann
sich überhaupt fürchten.“278
3.1.4.3.2 Das Verstehen
Das Verstehen ist gleichursprünglich mit der Befindlichkeit.279Wie bei der Befindlichkeit ist
dem Dasein beim Verstehen das In-der-Welt-sein erschlossen. Dabei geht es beim Verstehen
nicht in erster Linie um einen Akt des Intellekts (Ratio), sondern um ein Seinkönnen
(Praxis).280 Das Dasein versteht sich auf das Seinkönnen, indem es sich zu sich selbst verhält
und handelt. Heidegger formuliert in Sein und Zeit: „Das Dasein ist die Möglichkeit des
Freiseins für das eigene Seinkönnen.“281 Das Dasein hat die Möglichkeit, sein eigenes Selbst
zu entwerfen oder aber zu scheitern, indem es dem Man verfällt. Der Entwurf des eigenen
Selbst ist nicht als ausgefeilter Plan misszuverstehen, „sondern als Dasein hat es sich je schon
entworfen und ist, solange es ist, entwerfend.“282
Um die Bedeutung des Verstehens für das Dasein besser abschätzen zu können, kann ein
Blick auf das Fundierungsverhältnis in der Heideggerschen Ontologie wertvolle Hinweise
bieten. Nach der Heideggerschen Ontologie in Sein und Zeit ist das Fundierende die
Möglichkeitsbedingung (conditio sine qua non) für das Fundierte.283 Das bedeutet, dass
Erkennen, Anschauung, Denken fundiert sind im existenzialen Verstehen. 284 In diesem
Zusammenhang übt Heidegger Kritik an der Kantschen Erkenntnistheorie: „Durch die
Fundierung aller Erkenntnisweisen im Verstehen ,ist dem puren Anschauen sein Vorrang
genommen, der noetisch dem traditionellen ontologischen Vorrang des Vorhandenen
entspricht‘ [SuZ (GA 2), S. 196].“285
273
Vgl. SuZ (GA 2), § 30
Vgl. Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 65.
275
SuZ (GA 2), S. 186.
276
Vgl. ebd., S. 187.
277
Ebd., S. 186f.
278
Vgl. ebd., S. 188.
279
Vgl. Christof Landmesser: „Der existential-ontologische Wahrheitsbegriff Martin Heideggers“, S. 125.
280
Vgl. ebd., S. 125.
281
SuZ (GA 2), S. 191.
282
Ebd., S. 193.
283
Celestine Chibueza Uzondo: Die Fundierung des Erkennens im „Verstehen“ Heideggers Sein und Zeit und
danach, S. 107.
284
Vgl. SuZ (GA 2), S. 196.
285
Vgl. Celestine Chibueza Uzondo: Die Fundierung des Erkennens im „Verstehen“ Heideggers Sein und Zeit
und danach, S. 135.
274
41
Verstehen ist im Tiefsten ein Verstehen des Sinns des Daseins. Heidegger schreibt in Sein und
Zeit: „Der Seinssinn des Daseins ist nicht ein freischwebendes Anderes und »Außerhalb«
seiner selbst, sondern das verstehende Dasein selbst.“286 Und weiter heißt es dort zur
Sinnfrage: „Das Seiende »hat« nur Sinn, weil es als Sein im vornhinein erschlossen, im
Entwurf des Seins, d.h. aus dessen Woraufhin verständlich wird. Der primäre Entwurf des
Verstehens von Sein »gibt« den Sinn.“287
Auch die Auslegung ist fundiert im Verstehen. „Alle Auslegung, die Verständnis bereitstellen
soll, muß schon das Auszulegende verstanden haben.“288 Dieser Zirkel im Verstehen ist kein
circulus vitiosus. Es handelt sich um einen Zirkel, der mit jedem Verstehen gegeben ist, der
unvermeidbar ist und auch nicht vermieden werden soll.289 „Das Entscheidende ist nicht, aus
dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen.“290 Jedes
Verstehen ist mit Auslegung verbunden. „Die Auslegung ist nicht die Kenntnisnahme des
Verstandenen, sondern die Ausarbeitung der im Verstehen entworfenen Möglichkeiten.“291
Die Auslegung ist als Prozess zu verstehen: 1. In der „Vorsicht“ macht sie sich das
Auszulegende in einer bestimmten Hinsicht zu eigen. 2. In der „Vorhabe“ zielt sie auf eine
bestimmte Auslegbarkeit des Auszulegenden. 3. Im „Vorgriff“ entschließt sie sich für eine
bestimmte Begrifflichkeit.“292 Das, was im Verstehen erschlossen ist (das Verstandene), ist
„als etwas“ erschlossen. Um zu differenzieren, unterscheidet Heidegger das „hermeneutische
Als“ vom „apophantischen Als“. Das hermeneutische Als bezieht sich auf die Auslegung, das
apophantische Als auf die Aussage. Die Aussage gründet in der Auslegung, d.h. das
apophantische Als gründet im hermeneutischen Als. „Während die Auslegung des Verstehens
das Auszulegende im Ganzen seiner Welt aneignet (im hermen. Als), bringt die Aussage eine
Modifikation der existenzialen Fundamente der Auslegung und des Verstehens (d.h. von
Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff) in Ausblendung der Weltzugehörigkeit des
Begegnenden.“293
Die Aussage wird von Heidegger deutlich von der Auslegung und dem Verstehen abgehoben
und fundiert in Auslegung und Verstehen, um seine Kritik an der Logik phänomenologisch
abzusichern und sein Seins- und Wahrheitsverständnis darzulegen:
„Sodann hat die Analyse der Aussage innerhalb der fundamentalontologischen Problematik
eine ausgezeichnete Stelle, weil in den entscheidenden Anfängen der antiken Ontologie der
λόγος als einziger Zugang zum eigentlichen Seienden und für die Bestimmung des Seins
286
SuZ (GA 2), S. 430.
Ebd.
288
Ebd., S. 202.
289
Ebd., S. 203.
290
Ebd.
291
Ebd., S. 197.
292
Helmuth Vetter: „Verstehen“. In: Ders. (Hrsg): Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe (Hamburg
2004), S. 591.
293
Ebd.
287
42
dieses Seienden fungierte. Schließlich gilt die Aussage von alters her als der primäre und
eigentliche »Ort« der Wahrheit.“294
Nach Heidegger hat die Aussage drei umgrenzende Bedeutungen:
1. „Aussage bedeutet primär Aufzeigung.“295 Aufzeigung heißt, das Seiende von ihm selbst
her sehen lassen.
2. „Aussage besagt soviel wie Prädikation.“296 D.h., ein Subjekt wird durch ein Prädikat
bestimmt.
3. „Aussage bedeutet Mitteilung, Heraussage.“297
3.1.4.3.3 Die Rede
Heidegger lehnt die Aristotelische Definition des Menschen als vernünftiges Wesen (ζῷον
λόγον ἔχον) ab. Für Heidegger ist der Mensch das Seiende, das im Miteinander redet.298
Befindlichkeit, Verstehen und Rede erschließen dem Dasein das In-der-Welt-sein. Sie sind als
Existenziale gleichursprünglich.299 „Die befindliche Verständlichkeit des In-der-Welt-seins
spricht sich als Rede aus.“300 Zwischen Rede und Sprache besteht terminologisch und
sachlich ein Unterschied. Sprache bezeichnet die Verlautbarkeit, während das Reden das
existenziale Wesen der verlautenden Sprache bezeichnet.301 Sprache ist demnach fundiert in
der Rede. Voraussetzung für das Miteinanderreden ist das Dasein als Mitsein.
Zu den Seinsmodi des Redens gehört auch das Schweigen, das sich vom Stummsein durch
Beredsamkeit (beredtes Schweigen) abhebt.302 Auch im Modus des Schweigens zeigt es sich,
dass das Dasein versteht und auf stille Weise das Gerede bezwingt.303 Das Gerede steht der
Eigentlichkeit des Selbst im Wege. „Nur im echten Reden ist eigentliches Schweigen
möglich.“304 Auch das Hören ist eine Seinsweise der existenzialen Rede. 305 Was das
Fundierungsverhältnis betrifft, steht an erster Stelle das Verstehen, dann erst kommt das
Hören. Allerdings beschäftigt sich Heidegger in Sein und Zeit viel mehr mit dem Verstehen
als mit dem Hören. Erst in Heideggers Spätphilosophie gerät der Begriff des Hörens in den
Fokus seines philosophischen Denkens.306
In seinem Bestreben, die Grammatik von der Logik zu befreien, zeigt sich Heidegger kritisch
gegenüber jeder Sprachphilosophie bzw. Sprachwissenschaft, die mit der Sprache wie mit
294
SuZ (GA 2), S. 204f.
Ebd., S. 205.
296
Ebd.
297
Ebd., S. 206.
298
Vgl. Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 75.
299
Vgl. SuZ (GA 2), S. 213.
300
Ebd. S. 214.
301
Celestine Chibueza Uzondo: Die Fundierung des Erkennens im „Verstehen“ Heideggers Sein und Zeit und
danach, S. 145.
302
Vgl. Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 74.
303
Vgl. SuZ (GA 2), S. 219.
304
Ebd.
305
Vgl. ebd., S. 217.
306
Vgl. Celestine Chibueza Uzondo: Die Fundierung des Erkennens im „Verstehen“ Heideggers Sein und Zeit
und danach, S. 149.
295
43
einem Objekt umgehen. Gegen ein Vorhandenheitsmodell der Sprache macht er die
Zeitlichkeit der Rede geltend. „Aus der Zeitlichkeit der Rede, d.h. des Daseins überhaupt,
kann erst die »Entstehung« der »Bedeutung« aufgeklärt und die Möglichkeit einer
Begriffsbildung ontologisch verständlich gemacht werden.“307 Über das Verhältnis von Sein
und Zeit wird im Rahmen der Analyse der Sorge als Sein des Daseins nachzudenken sein, um
verstehen zu können, warum für Heidegger Sein und Zeit identisch sind.
Am Ende von § 34 (SuZ) fragt Heidegger nach der Seinsart der Sprache . „Am Ende muß sich
die philosophische Forschung einmal entschließen zu fragen, welche Seinsart der Sprache
überhaupt zukommt. Ist sie ein innerweltlich zuhandenes Zeug, oder hat sie die Seinsart des
Daseins oder keines von beiden?“308 Diese Frage wird in Sein und Zeit nicht geklärt, sondern
wird wieder aufgeworfen im Brief über den Humanismus bzw. in der Abhandlung Unterwegs
zur Sprache.309
3.1.4.4 Das Verfallen als Uneigentlichkeit
Das Dasein ist es selbst, wenn es als geworfener Entwurf sich selbst entwirft. Allerdings steht
dem eigentlichen Seinkönnen ein uneigentliches gegenüber. „Uneigentlichkeit meint so wenig
dergleichen wie Nicht-mehr-in-der-Welt-sein, als sie gerade ein ausgezeichnetes In-der-Weltsein ausmacht, das von der »Welt« und dem Mitsein Anderer im Man völlig benommen
ist.“310 D.h. das Verfallen gehört zum Lebensvollzug des Daseins in seiner Alltäglichkeit.311
Deshalb wird der Abfall auch nicht als eine schlechte und beklagenswerte ontische
Eigenschaft betrachtet oder als ein „»Fall aus einem reinerem und höheren »Urstand«.“312Es
ist also kein Abfall von Gott gemeint und daraus resultierend eine Erlösungsbedüftigkeit,
sondern eine Grundart des Seins der Alltäglichkeit. Heidegger sieht im Gerede, in der Neugier
und in der Zweideutigkeit die Kennzeichen der Uneigentlichkeit. Gerede betrifft das, was im
öffentlichen Raum gesprochen wird bzw. alle institutionalisierten Redeweisen im
Miteinandersein. Dazu gehören beispielsweise Schlagwörter, Modethemen, Floskeln usw. Es
handelt sich um das, was weitergesagt und nachgeredet wird.313 Es wird mit
Selbstverständlichkeit weitergegeben und setzt dabei im Gegensatz zur Rede kein eigenes
Verständnis voraus.314 Heidegger wirft Parmenides, Aristoteles, Augustinus und Hegel vor,
die Wahrheit und das Sein nur durch anschauendes Vernehmen zu erkennen.315 Ebenso sei die
Neugier nur noch auf das bloße „Ansehen“ aus. Die Neugier ist bestrebt, „die Last des In-derWelt-seins abzuschütteln: sie ist ein Unverweilen in der Welt“316 und sucht nach Zerstreuung.
307
SuZ ( GA 2), S. 462.
Ebd., S. 221.
309
Vgl. Celestine Chibueza Uzondo: Die Fundierung des Erkennens im „Verstehen“ Heideggers Sein und Zeit
und danach, S. 150.
310
SuZ (GA 2), S. 233.
311
Vgl. ebd., S. 171.
312
Ebd., S. 233.
313
Vgl. Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 76.
314
Ebd.
315
Ebd.
316
Ebd., S. 76f.
308
44
Sie ist durch Aufenthaltslosigkeit charakterisiert: sie ist überall und nirgends. „Die Neugier ist
damit das Gegenteil des philosophischen Staunens, das gerade bei einer Sache bleibt, weil sie
nicht verstanden wird.“317 Bedenkenswert im Zusammenhang mit dem Thema
Wahrheitsverständnis ist auch, welche Merkmale der Zweideutigkeit zugeordnet werden.
Durch die Zweideutigkeit entsteht der falsche Eindruck, als hätte man etwas verstanden. „Es
hört sich an und sieht so aus, als wenn es ein echtes Verstehen wäre, ist es aber nicht.318
Durch Gerede und Neugier wird das Erschlossene zweideutig.319
3.1.4.5 Die Entschlossenheit
Den drei Formen der Erschlossenheit (Befindlichkeit, Verstehen, Rede) stehen die drei
Formen der Entschlossenheit (Stimmung der Angst, Verstehen des Todes, Ruf des Gewissens) zur Seite.320 Die Entschlossenheit ist die Möglichkeitsbedingung für die
Eigentlichkeit.321Sie darf aber nicht mit einer Form des Solipsismus verwechselt werden,
denn Dasein heißt: apriori verbunden zu sein mit der Umwelt und ausgerichtet zu sein auf
„das fürsorgende Mitsein mit den Anderen“.322 Unter Entschlossenheit ist auch kein „Akt der
Willensanstrengung“ gemeint.323 Entschlossenheit bezeichnet also nicht eine existenzielle
Entscheidung, sondern: „Die Entschlossenheit ist ein ausgezeichneter Modus der
Erschlossenheit des Daseins.“324 Das Dasein widersetzt sich in diesem ausgezeichneten
Modus der Erschlossenheit entschlossen der Verschlossenheit und dem Verfallen.325
Allerdings ist die Entschlossenheit inhaltlich unbestimmt, was Karsten Harries zu folgender
Kritik veranlasst: „Entschlossen, so heißt es in Sein und Zeit, weiß der Mensch, was zu tun
ist. Aber solche Entschlossenheit lässt sich so wenig verstehen wie Satres verwandter
Versuch, den Grund aller Wertung in einer abstrakten Freiheit zu suchen.“326 Andererseits
verteidigt Celestine Chibueza Uzondo die Unbestimmtheit der existenzial-ontologischen
Entschlossenheit und stellt einen Bezug zu Kants Pflichtbegriff her, der auch nicht eine
bestimmte Verpflichtung zum Ausdruck bringt.327 Die erste Form der Entschlossenheit ist die
Angst.
317
Ebd., S. 77.
Ebd.
319
Vgl. ebd.
320
Vgl. Celestine Chibueza Uzondo: Die Fundierung des Erkennens im „Verstehen“ Heideggers Sein und Zeit
und danach, S. 101f.
321
Vgl. SuZ (GA 2), S. 394
322
Ebd. S. 395.
323
Vgl. Günter Figal: Heidegger zur Einführung (Hamburg 1996), S. 75.
324
SuZ (GA 2), S. 393.
325
Vgl. Günter Figal: Heidegger zur Einführung, S.75.
326
Karsten Harries: „Das Geviert“. In : Dieter Thomä (Hrsg.) Heidegger Handbuch, S. 296.
327
Vgl. Celestine Chibueza Uzondo: Die Fundierung des Erkennens im „Verstehen“ Heideggers Sein und Zeit
und danach, S. 101f.
318
45
3.1.4.5.1 Die Angst
Die Angst ist der Modus der Befindlichkeit, in der sich das Dasein als individuelles und
ungeteiltes erschließt in seiner Ganzheit.328 „Wenn die Ganzheit des Daseins als Phänomen in
der Welt aufdeckbar sein soll, muß sie uns auf jeden Fall in einer besonderen Befindlichkeit
zugänglich sein. In dieser Grundbefindlichkeit müsste uns unsere Ganzheit erschlossen
sein.“329 Diese Grundbefindlichkeit ist die Angst. In der Angst ängstigt sich das Dasein vor
dem Nichts, nicht vor dem totalen Nichts, sondern vor dem Nichts an Zuhandenheit. 330 „Das
Nichts von Zuhandenheit gründet im ursprünglichsten »Etwas«, in der Welt.“331 Das Wovor
der Angst ist nirgends und unbestimmt und weder im Vorhandenen noch im Zuhandenen zu
verorten. Die Angst ängstigt sich vor dem „In-der-Welt-sein selbst“.332 Die Furcht fürchtet
sich hingegen vor innerweltlich Zuhandenem. Wir können sagen, wovor wir uns fürchten.
Wovor wir uns ängstigen, können wir nicht sagen. Die Angst ist das Fundamentalere und die
Möglichkeitsbedingung für die Furcht.333 Weil die Angst unbestimmt und nirgends
festzumachen ist, ist es dem Dasein unheimlich in der Welt. Heidegger spricht vom „Nichtzuhause-sein“334, vom „existentiellen »Modus« des Un-zuhause“.335 Warum ängstigt sich das
Dasein, wenn das Wovor unbestimmt und nirgends ist? Es ängstigt sich um seine
Möglichkeiten, um seinen Entwurf.336 Ein im ersten Hinschauen irritierendes Merkmal der
Angst ist die Vereinzelung des Daseins. Mehrmals wurde darauf hingewiesen, dass das
Dasein Mitsein miteinschließt. Was bedeutet also Vereinzelung? Heidegger antwortet: „Diese
Vereinzelung holt das Dasein aus seinem Verfallen zurück und macht die Eigentlichkeit und
Uneigentlichkeit als Möglichkeiten seines Seins offenbar.“337
3.1.4.5.2 Das Sein zum Tode und die Sorge
Der Tod ist ein bedeutsamer Bestandteil der Daseinsanalyse. Er gehört wie die Angst
existenzial-ontologisch zum Dasein selbst. „Der Tod ist eigenste Möglichkeit des Daseins.“338
Es geht beim Sein zum Tode also nicht um Verwirklichung, denn „das eigentliche Sein zum
Tode ist nicht im Sinne einer ‚Verwirklichung‘ denkbar“.339Heidegger bestimmt das Sein zum
Tode als ein „Vorlaufen in ein Seinkönnen des Seienden, dessen Seinsart das Vorlaufen selbst
ist“.340 Es handelt sich um die „Möglichkeit des Verstehens des eigensten äußersten
328
Vgl.Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 82.
Ebd., S. 80.
330
Vgl. SuZ. (GA 2), S. 248.
331
Ebd. S. 248 f.
332
Ebd. S. 249.
333
Vgl. Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 83.
334
SuZ (GA 2), S. 250.
335
Ebd., S. 251.
336
Vgl. Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, 82.
337
SuZ (GA 2), S. 253.
338
Ebd., S. 349.
339
Vgl. Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 111.
340
SuZ (GA 2), S. 348.
329
46
Seinkönnens, das heißt als Möglichkeit eigentlicher Existenz“.341 Wie sieht das Vorlaufen in
ein Seinkönnen des Seienden aus? Um diese Frage beantworten zu können, ist es hilfreich,
sich die Merkmale, die Heidegger dem Sein zum Tode beimisst, genauer anzusehen.
Der Tod ist für Heidegger als eigenste Möglichkeit unbezüglich, unüberholbar, gewiß und
unbestimmt.342 Der Tod als eigenste Möglichkeit des Daseins bedeutet, dass kein Dasein das
je andere Dasein im Tod vertreten kann.343 Die Aussage, der Tod sei unbezüglich, weist auf
die Vereinzelung des Daseins hin. Kein anderes Dasein kann dem jeweiligen Dasein das Sein
zum Tode abnehmen. Im Vorlaufen auf den Tod kann das Dasein, das als In-der-Welt-sein
definiert wurde, nicht zurückgreifen auf das Besorgen oder die Fürsorge.344 Der Tod ist
unüberholbar, heißt, das Dasein ist zeitlich immer vor der Möglichkeit des Todes und das
Dasein wird durch den Tod begrenzt.345 Der Tod ist gewiß meint nicht „Gewißheit bezüglich
eines innerweltlich begegnenden Seienden oder der formalen Gegenstände,346 heißt nicht
empirische Gewissheit, Erfahrungstatsache, oder biologisches Ableben.347 Gewissheit
bedeutet im existenzial-ontologischen Zusammenhang des Seins zum Tode die „strukturell
dem Dasein eingeschriebene Gewissheit des je eigenen Todes“.348Schließlich ist die eigenste
Möglichkeit des Daseins zum Tode unbestimmt. D.h.: „Das Sein zum Tode ist wesenhaft
Angst.“349 Das Dasein ängstigt sich „vor dem Nichts der möglichen Unmöglichkeit seiner
Existenz.“350 Wenn das Sein zum Tode wesentlich Angst ist, dann gilt auch, was schon bei
der Analyse der Angst deutlich wurde, nämlich dass sich das Dasein im Sein zum Tode als
individuelles und ungeteiltes erschließt in seiner Ganzheit. „Das Sein zum Tode bzw. Sein
zum Ende ist die gesuchte Bedingung der Möglichkeit des Ganzseinkönnens.“351 Bei der
ontologischen Analyse der Angst ist darauf zu achten, dass alle Fragen, die sich in diesem
Zusammenhang auf nicht-daseinsmäßiges Sein beziehen, außen vorgehalten werden müssen.
Beispielsweise ist die Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, im Rahmen der
Daseinsanalyse nicht zu beantworten, da sich die Daseinsanalyse strikt auf das In-der-Weltsein bezieht.352
Mit der Frage nach dem Sein zum Tode hängt der Seinsmodus der Sorge zusammen, bei der
keinesfalls an die alltägliche Sorge zu denken ist. Auch und gerade bei der Analyse der
Seinsstruktur der Sorge geht es um den Bezug des Daseins zu seinem Ganzsein. Die Sorge ist
als Grundphänomen des Daseins komplex und in sich gegliedert.353 Heidegger entwickelt eine
341
Ebd., S. 349.
Ebd., S. 349ff.
343
Vgl. ebd.
344
Vgl. Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 112.
345
Vgl. SuZ. (GA 2), S. 350.
346
Vgl. ebd., S. 351.
347
Vgl. Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 110.
348
Ebd.
349
SuZ (GA 2), S. 353.
350
Ebd. S. 352.
351
Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 101.
352
Ebd., S. 107.
353
Ebd., S. 85.
342
47
komplexe Bindestrichformel, um die Strukturganzheit des Daseins, die er Sorge nennt,
auszudrücken: „Das Sein des Daseins besagt: Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt-) als
Sein-bei (innerweltlich begegnenden Seienden).“354 Sich-vorweg-sein deutet hin auf die
Existenzialität des Daseins als verstehend-entwerfendes Sich-vorweg. Das Schon-sein-in der
Welt verweist auf die Faktizität des Daseins als befindlich-geworfenes Schon-sein-in- derWelt. Das Sein bei innerweltlich Begegnenden zeigt an die Verfallenheit des Daseins.355In
dieser Bindestrichformel sind alle Strukturen enthalten, die wir in der Daseinsanalyse kennen
gelernt haben.356 Auch die Zeitlichkeit des Daseins ist enthalten, auf die schon im
Zusammenhang mit der Rede hingewiesen wurde. Mit dem Sich-vorweg-sein als sich
entwerfender Entwurf wird auf die Zukunft hingewiesen. Das Schon-sein hat den zeitlichen
Aspekt der Gewesenheit. Das Sein-bei verweist auf das Gegenwärtige.357 „Die
Daseinsanalyse hat die Fundamentalontologie zur Räumlichkeit des In-der-Welt-seins und
dieses wiederum zur Sorge geführt, in der sich der Umschlag zur Zeitlichkeit ergeben hat.“358
Heideggers Frage nach dem Sinn von Sein läuft durch den Raum zur Zeit. „Dieser Sinn wird
durch den Durchgang durch den Raum – das Da des Daseins – gesucht und vor dem Horizont
der Zeit gefunden.359
3.1.4.5.3 Der Ruf des Gewissens
Die dritte Form der Entschlossenheit ist der Ruf des Gewissens. Es handelt sich bei diesem
Ruf um ein Seinsphänomen, einen Ruf, der uns dazu aufruft, sich zu stemmen gegen das
Gerede, die Neugier und die Zweideutigkeit. Das Dasein ruft sich selbst dazu auf, sich zu
wehren gegen das „Man-selbst“, das Verfallen in die Uneigentlichkeit. Beim Ruf des
Gewissens handelt es sich um einen Seinsmodus der Rede. Das Dasein, das auf diesen Ruf
hört, versteht sich auf sein eigenstes Seinkönnen.360 „Festzuhalten gilt es: der Ruf, als
welchen wir das Gewissen kennzeichnen, ist Anruf des Man-selbst in seinem Selbst; als
dieser Anruf der Aufruf des Selbst zu seinem Selbstseinkönnen und damit ein Vorrufen des
Daseins in seine Möglichkeiten.“361
Inhaltlich bedeutet der Ruf des Gewissens nichts Bestimmtes, keine konkrete Anweisung,
auch ist der Rufer nicht ein anderes Dasein, sondern „[d]er Ruf redet im unheimlichen Modus
des Schweigens“.362 Der Ruf offenbart sich als Anruf der Sorge zum Schuldigsein. „Das
Gewissen ist der Ruf der Sorge aus der Unheimlichkeit des In-der-Welt-seins, der das Dasein
zum eigensten Schuldigsein aufruft.“363 Das Dasein versteht diesen Ruf als Aufruf zur Wahl:
354
SuZ (GA 2), S. 256.
Vgl. Matthias Flatscher: „Sorge“. In: Helmuth Vetter (Hrsg.): Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe,
S. 494.
356
Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 85.
357
Vgl. Christof Landmesser: „Der existenzial-ontologische Wahrheitsbegriff Martin Heideggers“, S. 136.
358
Oliver Jahraus: Martin Heidegger. Eine Einführung, S. 142.
359
Ebd., S.142.
360
Vgl. Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 115ff.
361
SuZ (GA 2), S. 364.
362
Ebd., S. 368.
363
Ebd., S. 383.
355
48
„Gewählt wird das Gewissen-haben als Freisein für das eigenste Schuldigsein.
Anrufverstehen besagt: Gewissen-haben-wollen.“364 Die Stimmung, die dem Gewissenhabenwollen entspricht, ist die Angst, die sich ergibt durch die Unheimlichkeit der Vereinzelung. 365
Das Dasein ruft sich selbst auf, bereit zur Angst zu sein.366 Alle Gewissenstheorien stimmen
darin überein, das Gewissen mit Schuld verbunden ist. Auch in der heideggerschen
Konzeption ist das Gewissenhabenwollen an die Bereitschaft zur Übernahme von Schuld
gekoppelt.367 Schuldsein ist allerdings im existenzialen Sinn gemeint und hat nichts damit zu
tun, dass das Dasein sich hat etwas zu Schulden kommen lassen oder gegen die Regeln der
Moral verstoßen hätte bzw. sich gegen das Gute entscheidet.368 Schuldsein heißt
Verantwortung zu übernehmen für die Wahl bestimmter Daseinsmöglichkeiten unter Verzicht
auf andere.369Die Frage erhebt sich, was kann das Dasein für sein Geworfensein in sein
Dasein und weshalb kann es dann schuldig genannt werden? Die Antwort liegt in der
existenzialen Daseinsanalyse, die zu dem Ergebnis kommt, dass jeder existentielle Entwurf
nichtig ist und eo ipso bestimmte Seinsmöglichkeiten ausschließt. „In der Struktur der
Geworfenheit sowohl wie in der des Entwurfes liegt wesenhaft eine Nichtigkeit.“ 370 Aus
diesem Grund ist das Dasein schuldig, auch wenn wir davon ausgehen, dass wir in einer
bestimmten Weise handeln mussten.371Zusammenfassend kann man sagen, dass sich das
heideggersche Gewissenskonzept von allen anderen Gewissenskonzepten unterscheidet, seien
es theologische, philosophische, soziologische oder psychologische. Auch das Konzept des
freudschen Über-Ichs ist nicht kompatibel mit der Daseinsanalyse.372
3.1.4.6 Fazit
Das Kapitel 3.1. beabsichtigte eine Einführung in die Ontologie Heideggers. Die Begriffe
Sein, Existenz, Dasein und die mit dem Dasein verknüpften Existenzialien standen im
Zentrum. Es zeigt sich, dass das Sein das transcendens schlechthin ist. Sein ist nicht wie in
der traditionellen Philosophie etwas Unveränderliches, Starres, „für Heidegger ist es die Zeit,
die das Sein und damit den Sinn von Sein konstituiert.“373 Sinn ist wesentlich, was im
verstehenden Erschließen im Sein-zum-Tode (Zeitlichkeit) vom Dasein erschlossen wird.374
Im Zentrum des heideggerschen Denkens steht der Unterschied zwischen Sein und Seiendem
(ontologische Differenz). Worin dieser Unterschied liegt, bleibt für Heidegger selbst
zeitlebens eine schwierige Frage. In späteren Jahren denkt Heidegger die Gegensätze als
Einheit. Aufschlussreich wird an entsprechender Stelle der Vergleich zwischen der
364
Ebd., S. 382.
Vgl. ebd., S. 295.
366
Vgl. ebd., S. 392.
367
Vgl. ebd., S. 371 ff.
368
Vgl. Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 118 f.
369
Vgl. ebd., S. 119.
370
SuZ. (GA 2), S. 378.
371
Vgl. Andres Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 115.
372
Vgl. ebd., S. 114.
373
Willem van Reijen: Martin Heidegger, S. 14.
374
Vgl. SuZ (GA 2), S. 200f.
365
49
ontologischen Differenz in der heideggerschen Variante und der Realdistinktion bei Hans Urs
von Balthasar. Dasein ist als einziges Seiende fähig, die Bedingungen der Möglichkeit seiner
Existenz zu erschließen. Existenz ist nicht mit der Existenz x-beliebiger Gegenstände zu
verwechseln, sondern: „Das Sein selbst, zu dem das Dasein sich so oder so verhalten kann
und immer irgendwie verhält, nennen wir Existenz.“375 Nur das Dasein kann in der Frage nach
dem Sinn von Sein auf sich selbst (selbstreflexiv) zurückgreifen. Zu beachten ist, dass das
Dasein nicht in seiner theoretischen, sondern in seiner praktischen Befähigung dazu in der
Lage ist nach dem Sinn von Sein zu fragen.376 Schon früh wurde auf den Zusammenhang
zwischen Sein und Wahrheit hingewiesen: „Die Philosophie hat von alters her Wahrheit mit
Sein zusammengestellt.“377 Auch das Dasein ist eng mit der Wahrheit verbunden: „Die
ursprünglichste und zwar eigentlichste Erschlossenheit in der das Dasein als Seinkönnen sein
kann, ist die Wahrheit der Existenz. Sie erhält erst im Zusammenhang einer Analyse der
Eigentlichkeit des Daseins ihre existenzial-ontologische Bestimmtheit.“378 Es zeigt sich, dass
ohne eine ordentliche, wenn auch nicht bis in die letzten Verzweigungen reichende
Daseinsanalyse, dem Wahrheitsverständnis bei Heidegger nicht beizukommen ist.
Ausgangspunkt war die Frage nach dem Sein bzw. nach dem Sinn von Sein. Die Sinnfrage
setzt ein Sein voraus, dass in der Lage ist selbstreflexiv nach seinem Sein zu fragen, eben das
Dasein. Man kann das Dasein nicht in seine Eigenschaften zerlegen, sondern das jemeinige
Dasein mit seinen Möglichkeiten steht im Mittelpunkt. „Dasein ist vor allem Möglichsein.“379
Heideggers Bindestrichformel, den er im Zusammenhang mit der Sorgestruktur des Daseins
entwickelt, fasst das Ergebnis der Daseinsanalyse kurz zusammen und soll noch einmal zitiert
werden, um das Wesentliche der Daseinsanalyse zusammenzufassen und ins Gedächtnis
zurückzurufen: „Das Sein des Daseins besagt: Sich-vorweg-schon-sein-in-(der Welt-) als
Sein-bei (innerweltlich begegnenden Seienden)“380 Heidegger nennt diese Seinsstrukturen
Existenzialien. In diesem Begriff ist Raum und Zeit enthalten. Raum drückt ein Vertrautsein
des Daseins mit anderem Seienden aus (Zuhandenheit). Mit Zeitlichkeit ist ein Horizont
gemeint: „Welt muss einen Horizont haben, aber dieser Horizont ist ein Horizont der Zeit
[…].“381Raum und Zeit hängen zusammen: Dies „ist über das Dasein vermittelt, das im Raum
da ist, aber erst in der Zeit seinen Sinn erhält, also sich zeitlich – in der Zeit und mit der Zeit –
konstituiert.“382 – Über den Begriff der Zeit wird noch zu reden sein beim Vergleich mit dem
Zeitbegriff bei Urs von Balthasar. – Das In-der-Welt-sein schließt Begriffe wie Subjekt und
Objekt aus. Es geht um eine holistische Betrachtungsweise, was besagt, dass das Dasein ein
In-sein und Mitsein ist, fähig sich sein Sein zu erschließen. Es ist ein Sein-zum-Tode, das im
375
Ebd., S. 16.
Vgl. Willem van Rejen: Martin Heidegger, S. 14.
377
SuZ (GA 2)., S. 282.
378
Ebd., S. 293.
379
Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 31.
380
SuZ (GA 2), S. 256.
381
Oliver Jahraus: Martin Heidegger. Eine Einführung, S. 137.
382
Ebd., S. 137.
376
50
Ruf des Gewissens aufgerufen ist zur Eigentlichkeit und zur Angstbereitschaft. Das Sichvorweg-sein verweist auf die Existenzialität des Daseins, das sein Seinkönnen versteht und
sich entschlossen auf den Tod hin entwirft. Das Schon-sein deutet hin auf die Faktizität des
Daseins, d.h. auf die Geworfenheit, für die das Daseins nichts kann.
51
3.2 Die Seinsphilosophie Hans Urs von Balthasars
Auch für Hans Urs von Balthasar gilt, dass man sein Wahrheitsverständnis nur verstehen
kann, wenn man sich zunächst mit seiner Seinsphilosophie beschäftigt. Von herausragender
Bedeutung für die Entwicklung seines Seinsbegriffes war die Begegnung mit seinem Mentor
Erich Przywara SJ, der das Seins- und Wahrheitsverständnis Balthasars zutiefst beeinflusste.
Mit ihm führte er viele Gespräche, die „für den jungen Philosophiestudenten von einzigartiger
Bedeutung [waren] und dies sicherlich auch darum, weil die (philosophische und dann auch
theologische) Lehre von der Analogie des Seins auch eine tragfähige Metaphysik des endlich
Seienden in sich barg: die Lehre von der Realdistinktion von Sein und Wesen und damit
verbunden von der Positivität und Bejahbarkeit des Endlichen.“383 Um die Komplexität der
Balthasarschen Metaphysik verstehen zu können, ist zunächst ein Blick auf den Seinsbegriff
sinnvoll.
3.2.1 Das Sein
Der Seinsbegriff ist der Ausgangspunkt von Balthasars Denken. Die Neuscholastik vertrat
einen univoken Seinsbegriff und viele neuscholastische Theologen stützten sich dabei auf
Franz Suarez, für den auch Gott unter diesen univoken Seinsbegriff fallen muss. 384 Das hatte
für Balthasar persönliche Konsequenzen negativer Art, was die Positivität und Bejahbarkeit
des Endlichen angeht. Deshalb war er froh, dass ihm Erich Przywara einen philosophischen
Ausweg aufzeigen konnte durch das Nachdenken über die Analogie des Seins (analogia
entis). Balthasar empfand nach diesen Gesprächen ein Gefühl der Befreiung, denn der univoke
Seinsbegriff widersprach dem dialogischen Ansatz der Heiligen Schrift, wie sie Balthasar
verstand. Er konnte an den Erkenntnissen anknüpfen, zu denen er schon bei der
Beschäftigung mit Platon, Kierkegaard und Nietzsche gelangt war.385 Balthasar erkannte, dass
mit dem Analogieprinzip, wie es von seinem Mentor entwickelt worden war, die Einheit von
Gott und Welt trotz bleibender Verschiedenheit gewahrt werden kann. Erich Przywara stellte
mit seinem Neuansatz die Seinslehre der Neuscholastik als ideologieanfällig dar und
versuchte „Vernunft und Religion, Sein und Seiendes dialektisch und geschichtlich in ein
Verhältnis zu bringen“.386
Balthasar unterscheidet zwischen weltlichem Sein (endliches Sein) und dem Sein selbst
(unendliches Sein). Das endliche Sein tritt auseinander in Dasein und Wesen. Das Dasein
kann nur sein im konkreten Sosein. Das endliche Sein existiert nicht aus sich („esse
accidens“).387 Es existiert durch einen Akt, der das Sein gibt („actus essendi“). Das Sein selbst
383
Werner Löser: Kleine Hinführung zu Hans Urs von Balthasar, S. 71.
Vgl. ebd.
385
Vgl. ebd.
386
Wolfgang W. Müller: „Hans Urs von Balthasar im Gespräch mit Karl Barth“. In: Wolfgang W. Müller
(Hrsg.): Karl Barth-Hans Urs von Balthasar. Eine theologische Zwiesprache (Zürich 2006). S. 11-26, hier: S.
17.
387
Vgl. Thomas Krenski: Hans Urs von Balthasar. Das Gottesdrama, S. 47.
384
52
(unendliches Sein) existiert aus sich selbst („esse ipse subsistens“).388Die Einheit zwischen
Gott und der Welt ist in analoger Weise zu verstehen. Die Analogie zwischen dem „Sein
selbst“ und dem „endlichen Sein“ besteht darin, dass das „Sein selbst“ und auch die
„endlichen Dinge“ sind. Für Balthasar ist das endliche Sein ein „strukturelles Abbild des
dreieinigen Seins“.389 Er vergleicht das dreieinige Sein mit der Polarität, die zwischen Dasein
und Sosein im Bereich des Seienden besteht. „Wie das ‚Dasein‘ nicht jenseits eines konkreten
‚So-seins‘ existiert, subsistiert das göttliche Sein nicht jenseits der Personen.“390 Jedes
endliche Sein besitzt das ganze „Dasein“. Ebenso besitzen die göttlichen Personen das
Gottsein. Während das endliche Sein das „Dasein“ zwar ganz, aber im Fragment besitzt,
besitzen die göttlichen Personen das ganze Gottsein, und zwar in Fülle und nicht im
Fragment.391 Balthasar fasst Im Raum der Metaphysik seine Metaphysik, in vier Regeln
zusammen,392 die schon grundgelegt sind in Wahrheit der Welt. Elio Gerriero fasst diese
Regeln wie folgt zusammen: 1. „Die Seinserfahrung ist etwas für alles späteres Bewusstsein
Unüberholbares.“ 2. „Alle Seienden nehmen am Sein teil, erschöpfen es aber nie.“ 3. „Das
Sein kommt im Seienden zur Existenz. Dabei ist aber eine Verplanung des Seins, um sich
selber in den Seienden auszudrücken, wie auch eine Beziehung der Indifferenz zwischen Sein
und Seiendem auszuschließen.“ 4. „Die Differenz zwischen Sein und Seiendem ist keine
letzte, in sich abgeschlossene Wirklichkeit. Die ontologische Differenz verweist über sich
hinaus auf die Differenz zwischen Gott und Welt, worin Gott der einzig zureichende Grund
sowohl für das Sein wie für das Seiende in seiner Gestalthaftigkeit ist.“393
Es zeigt sich, dass Balthasars Seinsphilosophie wesentlich von Heideggers Daseinsanalyse
abweicht.394 Obwohl Balthasar Heideggers Beschreibung der ontologischen Differenz als zu
verschwommen und unbestimmt ansieht, begrüßt er doch Heideggers Staunen über das Sein
und sieht in Heideggers Philosophie einen positiven Ansatz für eine Philosophie der
Herrlichkeit.395
3.2.2 Die Realdistinktion
Schon in der Einleitung zu „Wahrheit der Welt“ betont Balthasar, dass die Frage nach der
Realdistinktion, die Frage nach dem Unterschied zwischen Sein und Wesen, nicht endgültig
beantwortet werden könne, sondern immer wieder neu gestellt werden müsse.396 Die
Realdistinktion ist für ihn der eigentliche Punkt, „an welchem das Je-mehr- und Je-reicher388
Vgl. ebd., S. 47.
Vgl. Hans Urs von Balthasar: Epilog, S. 38.
390
Thomas Krenski: Hans Urs von Balthasar. Das Gottesdrama, S. 47.
391
Vgl. ebd., S. 49.
392
Hans Urs von Balthasar: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik. III/1: Im Raum der Metaphysik (Einsiedeln
1965), S. 946.
393
Elio Guerriero: Hans Urs von Balthasar. Eine Monographie, S. 315.
394
Dasein ist bei Heidegger nicht das Subjekt der Tradition, „sondern die Möglichkeit einer Selbstreflexion, die
das Befragte, das Erfragte und das Fragen als Einheit fasst und diese nicht in abstrakten und generalisierenden
Kategorien (Urteilen) fixiert“ (Willem van Reijen: Martin Heidegger, S. 17f.).
395
Vgl. ebd., S. 313f.
396
Hans Urs von Balthasar: W, S. 12.
389
53
sein des Seins aufleuchtet“.397 Die Tiefsten und aussagekräftigsten Versuche, das, was mit
Realdistinktion gemeint ist, in seiner Denkform zu erfassen, bieten die Abschnitte
„Geheimnis des Seins“ (S. 107-113) und „Situation“ (S. 217-221). Balthasar nennt Dasein
und Sosein die zwei Pole des Seins, wobei jeder Pol für sich geheimnisvoll und
bestaunenswert ist. Die Pole seien aufeinander bezogen. Sie seien nicht wie bei einer
Komposition zusammengesetzt, sondern es herrsche ein „strenges Durcheinander der
Spannungspole“.398 Deshalb könne es nicht gelingen, die beiden Pole gedanklich so zu
trennen, dass man das Geheimnis des Seins lösen kann. Der Zusammenhang zwischen
Existenz und Essenz sei seinsmäßig so eng, dass man allein vom Geheimnischarakter von
Existenz und Essenz sprechen kann. Man müsse feststellen, dass das Sein als solches das
Geheimnis hinter den Geheimnissen der beiden Pole ist.399 Jeder der beiden Pole könne nicht
auf Kosten des anderen als geheimnisvoll erklärt werden, denn schon allein, dass ein Ding
oder eine Person existiert, ist wunderbar und im höchsten Maße geheimnisvoll. Sobald man
den Eindruck habe, entweder das Dasein oder das Sosein begriffen zu haben, würde man
erkennen, dass sofort auf den anderen Pol als Geheimnis verwiesen wird.400 Balthasar
bemerkt: „Mag das Denken sich so klug gebärden, wie es will, mag es die höchsten Türme
der Spekulation über Wesen und Sein errichtet haben, immer wird es durch die schlichte
Tatsache, dass überhaupt etwas ist, dass ein Ding auftaucht aus dem Nichts, dass es Dasein
dem Nichtsein vorzieht, dass es die unfassliche Gnade hat, vorhanden zu sein und sich als
unerschöpflicher Gegenstand einer Erkenntnis darzubieten, wie von höchster Offenbarung zu
Boden geschleudert zu werden.“401 In diesem Kontext verweist Balthasar auf die menschliche
Existenz. Auch die Existentialphilosophie müsse feststellen, dass man die Existenz des
Menschen nicht von seinem Wesen trennen könne.402 Er schreibt: „Den Intimitätscharakter
eines einzelnen Wesens erforschen, die Frage seiner Einmaligkeit, seiner Personalität
aufwerfen, heißt zugleich nach seiner Essenz und Existenz fragen.“403
Im Abschnitt „Situation“ wird der Gedankengang vertieft und erweitert. Balthasar weist noch
einmal darauf hin, wie Dasein und Sosein aufeinander bezogen sind. Er nennt diese
Beziehung „innerseinshafte Bewegung,“404 die er in dreifacher Weise entfaltet.405 Erstens:
„Dasein erscheint (als existentia) als jenes Moment am Seienden, das wesenhaft außerhalb der
Reihe der Soseins-Eigenschaften steht, das ihnen »zukommt« (esse accidens) oder, wenn das
Wesen ein nur gedachtes, nur mögliches ist, jetzt nicht, oder überhaupt nicht zukommt.“406
397
Ebd., S. 220.
Ebd., S. 110.
399
Vgl. ebd., S. 110.
400
Vgl. ebd., S. 112.
401
Ebd., S. 111.
402
Vgl. ebd., S. 111.
403
Ebd.
404
Vgl. ebd., S. 218..
405
Vgl. Werner Löser: Im Geiste des Origenes: Hans Urs von Balthasar als Interpret der Theologie der Kirchenväter. Frankfurter Theologische Studien, Bd. 23 (Frankfurt a.M. 1976) , S.19 ff.
406
Hans Urs von Balthasar: W, S. 218.
398
54
Zweitens: „Das, was es in irgendeinem Querschnitt seines Lebens gerade ist, ist nur ein
verschwindender Teil seines gesamten Wesens und verhält sich zu diesem wie der
mikroskopische Schnitt zur ganzen Fülle. Das Wesen ist also weit davon entfernt, jeweils
verwirklicht zu sein, es ist wie eine überzeitliche Idee, die sich als einheitlicher Plan während
des ganzen Ablaufs eines Daseins durchhält, aber auch wie eine plastische Potenz, die sich in
diesem Dasein fortschreitend entwickelt und darstellt.“407 Bei den ersten beiden
„innerseinshaften Bewegungen“ erscheint das Sosein als der bedeutendere, reichere Pol. Bei
der dritten der „innerseinshaften Bewegungen“ erscheint das Dasein als einer der beiden Pole
in seiner unbegrenzten Fülle. Balthasar führt dazu aus: „Es kann endlich das weltliche Dasein
betrachtet werden als die gleichsam aus der Fülle des Seins herausgetretene Form des Seins
(Existentia im wörtlichen Sinn), deren Außenseite sich kundgibt an dem diese Fülle
beschränkenden Umriß des Wesens (quidditas als limitatio des esse), das doch im Bestreben,
an der Fülle Anteil zu behalten und sich dadurch im Sein zu halten, von der ewigen Ganzheit
das Sein, das jeweils-jetzt-sein zugemessen bekommt.“408
3.2.2.1 Realdistinktion und Zeit
Im Abschnitt „Situation“ beschreibt Balthasar den Zeitcharakter des Seins und der Wahrheit
in Anlehnung an Heidegger als ontologischen Sachverhalt: „Wie immer man die Bewegung
des geschöpflichen Seins betrachten mag, soviel wird klar, dass sich die geheimnisvolle
Nichtidentität zwischen Wesen und Dasein innig berührt mit dem Phänomen der Zeit, ja, mit
diesem, soweit die Zeit ein ontologisch grundlegender Sachverhalt ist, sogar deckt.“ 409 Sein
und Zeit seien zwar nicht identisch, aber Zeit sei eine fundamentale Eigenschaft der
Schöpfung und ihre Analyse könne zu einer Erhellung der Polarität zwischen Dasein und
Sosein beitragen. Werner Löser weist darauf hin, dass sich die Scholastik zu wenig mit dem
Phänomen der Zeit auseinandergesetzt habe.410 Obwohl die Zeit zwar der Welt und der
Schöpfung zugeordnet werden müsse und vergänglich sei, wehrt sich Balthasar gegen eine
negative Kritik der Zeit. Sie verfüge über „Wesensmomente“, „welche auch positiv einen
Abglanz, eine Ähnlichkeit und Nachahmung des ewigen Seins darbieten.“411 Man dürfe in der
Zeit nicht nur negative Eigenschaften erkennen, die sie von der Ewigkeit trennen.412 Über
diese positiven Eigenschaften der Zeit sinnt Balthasar nach im Kontext des Begriffs
„Situation“. Das Sein als Enthülltheit des Seins zeige sich zunächst in der konkreten Situation
als Gegenwart. Das gegenwärtige Dasein habe die Seinsform des Inchoativen, d.h. in der
Gegenwart sei der Beginn von etwas Zukünftigen angelegt. 413 „Zukunft ist keine neben der
Gegenwart liegende, von ihr trennbare Zuständlichkeit des Seins oder der Zeit, sondern eine
407
Ebd., S. 218f.
Ebd., S. 219.
409
Ebd.
410
Werner Löser: Im Geiste des Origenes, S. 27.
411
Hans Urs von Balthasar:W, S. 220f.
412
Vgl. ebd.
413
Vgl. ebd., S. 221.
408
55
Richtung der Gegenwart oder und des Daseins selbst. Kraft dieser immanenten Zukünftigkeit
ist das Dasein wesentlich unabgeschlossen, mehr: es ist wesentlich Anfang, Verheißung,
Hoffnung, Entspringen, es hat die Seinsform des jeweils gerade Beginnens, des Inchoativen,
oder, was dasselbe besagt, die Richtung auf Sein hin, also auf mehr Sein als was jeweils ist; es
hat somit komparativen Charakter.“414 Was bedeutet das für den Menschen? In jeder
einzelnen Situation erkenne der Mensch den überzeitlichen und allgemeingültigen Anspruch
der Wahrheit. Dadurch erhalte jede Situation, die als solche vergänglich ist und sich nicht
wiederholt, ein „unendliches, ewiges Gewicht“.415 Geschichte sei die Summe aller Situationen
der Wahrheit.416 Die Geschichtlichkeit der Wahrheit bringe es mit sich, dass das Suchen und
Finden der Wahrheit nie zu einem Ende kommen könne. Das Individuum entscheide sich in
jeder Situation nicht nur im Sinne seiner privaten Wahrheit, sondern im Dialog mit anderen
Individuen im Lichte der Gesamtwahrheit, die nur in Gott gefunden werden könne. Balthasar
plädiert für eine identische Wahrheit und ein identisches Wesen, d.h. er lehnt den
„historischen Relativismus“417 ab. Wir könnten im Sinne Leopold von Rankes von einer
»Unmittelbarkeit jeder Epoche zu Gott« sprechen, d.h. die großen Denker der Weltgeschichte
hätten im Rahmen ihrer Epoche über den jeweiligen Anspruch der Wahrheit für ihr Leben
nachgedacht und entsprechend gehandelt.418 Diese Analyse passt zu Balthasars Verständnis
zwischen Partikulärem und Allgemeinen, d.h., dass das Einmalige jeder historischen Situation
bei jeder Reflexion mitberücksichtigt werden müsse.419 Festzuhalten bleibt, dass Balthasar die
Schöpfung und damit auch die Zeit in einem positiven Licht sieht.
3.2.2.2 Realdistinktion und Gottesbeweis
Die Unterscheidung zwischen Existenz und Essenz weist auf die Endlichkeit des
geschaffenen Seins als dessen wichtigste Eigenschaft hin.420 Die Endlichkeit des Seins liegt
im geschöpflichen Sein selbst, wo eine Spannung herrscht zwischen universaler und
individueller Einheit, zwischen Existenz und Essenz, zwischen Faktizität und Nezessität.421
Nur Gott erweist sich als unendlich. Die Kontingenz des geschöpflichen Seins deutet hin auf
den Grund allen Seins, auf Gott. Die menschliche Vernunft transzendiert die Endlichkeit des
weltlichen Seins auf Gottes unendliches Sein hin.422 Ebenso wie das geschaffene Sein ist auch
die weltliche Wahrheit geschöpflich und folglich kontingent. „Kontingenz ist eine innere
Qualität der weltlichen Wahrheit [...].“423Auch bei der geschaffenen Wahrheit gilt der „Schluß
vom Kontingenten auf das Unbedingte“.424 Es handelt sich dabei um ein zentrales Element
414
Ebd.
Ebd., S. 223.
416
Vgl. ebd., S. 230.
417
Vgl. ebd., S. 223.
418
Vgl. ebd.
419
Vgl. ebd., S. 223f.
420
Vgl. Werner Löser: Im Geiste des Origenes, S. 28; Hans Urs von Balthasar: W, S. 278.
421
Vgl. Hans Urs von Balthasar: W, S. 283ff.
422
Vgl. ebd., S. 288.
423
Ebd., S. 260.
424
Werner Löser: Im Geiste des Origenes, S. 28.
415
56
der Lehre von der Analogia entis,425 über die noch ausführlicher zu sprechen sein wird.
Balthasar hat sich nach der Erschließung der Seinsphilosophie mit Hilfe seines Mentors
Przywaras lange Zeit immer wieder neu mit der Lehre von der Realdistinktion zwischen Sein
und Wesen befasst. Sie war für ihn der wichtigste Baustein, „den eine ihre scholastische
Tradition nicht verleugnende christliche Philosophie zum philosophischen Gespräch
beisteuern kann“426 – dies vor allem im Dialog mit der Lebens- und Existentialphilosophie.427
Darauf detaillierter einzugehen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.
3.2.3 Metaphysik der Singularität
Die „Metaphysik der Singularität“ ist ein zentrales Thema in Balthasars Seinsphilosophie. Er
beschäftigte sich intensiv mit dieser Thematik in Auseinandersetzung mit dem Faschismus,
der das Individuum zu zerstören trachtete.428Im Gegensatz zur Geschichte des
abendländischen Denkens steht für ihn die Vorrangigkeit des Singulären vor dem
Allgemeinen – sowohl seins- als auch erkenntnismäßig – fest.429 „Kants kopernikanische
Wende ist in gewisser Hinsicht nichts anderes als eine Verstärkung des die
Philosophiegeschichte bereits bestimmenden Primats des Allgemeinen.“430 Balthasar
begründet seinen Standpunkt auch theologisch, indem er sich auf die Einmaligkeit des
Personseins Gottes beruft. Aufgrund der Schöpfungsanalogie müsse es einen Vorrang des
Individuellen vor dem Allgemeinen geben.431 Inwiefern diese Umkehrung der Prioritäten
auch im Zusammenhang mit der thomanisch-thomistischen Lehre von der Realdistinktion
steht, soll hier nicht herausgearbeitet werden. Aber eines ist klar: Balthasar sieht ein
gegenseitiges Verhältnis zwischen Dasein und Sosein, „[…] ein gegenseitiges Verhältnis des
Allgemeinen und Besonderen, das dem früher beschriebenen zwischen Wesen und Dasein
analog ist […].“432
In Wahrheit der Welt setzt sich Balthasar auf verschiedenen Ebenen mit der „Metaphysik der
Singularität“ auseinander433 und zeigt am Beispiel des Menschen eindrucksvoll, wie er sich
das Verhältnis zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen vorstellt.434
Das Bewusstsein erfasse zunächst etwas Partikuläres, nämlich einen einzelnen Menschen mit
seinem individuellen Charakter und Schicksal. „Was Mensch im Wesen ist, was er im
Umfang vermag, was seine Tiefe und Breite ist, das kann allein der Einzelne zeigen. Und so
enthält er jeweils das Ganze in sich (denn es fehlt ihm nichts an der Menschennatur), obwohl
das Ganze ihn unendlich übersteigt (da es sich in einer unendlichen Zahl anderer
425
Vgl. Hans Urs von Balthasar: W, S. 288.
Werner Löser: Im Geiste des Origenes, S. 28.
427
Vgl. ebd., S. 22f.
428
Vgl. Jörg Disse: Metaphysik der Singularität. Eine Hinführung am Leitfaden der Philosophie Hans Urs von
Balthasars (Freiburg i.Br. 1994), S. 11.
429
Vgl. ebd., S. 6.
430
Ebd., S. 2.
431
Vgl. ebd., S. 11.
432
Hans Urs von Balthasar: W, S. 172.
433
Vgl. ebd., S. 53; 55; 81f; 92; 169f.; 186f.; 202f.; 209f; 212f.
434
Ebd., S. 169f.
426
57
Erscheinungen manifestiert).“435 Nur durch das Erfassen des Partikulären könne der Mensch
erfahren, was das Allgemeine ist, denn das Besondere enthalte das Allgemeine in sich wie das
Allgemeine das Besondere.436 „Das Allgemeine ist im Individuellen allein verwirklicht, und
zwar so, dass dieses jeweils einen unerklärlichen Überschuß über das Allgemeine
bedeutet.“437 Aber Balthasar sieht in diesem Kontext auch eine Demütigung für die geistige
Person, denn auch in ihrer Einmaligkeit, in allen ihren Äußerungen wird immer das zu sehen
sein, was dem Menschen zugeordnet werden müsse.438 Er unterscheidet zwischen zwei
Einheitszentren, nämlich dem Individuum (Wesen) und der Person (Sein). „Indem nun jeder
Mensch sowohl Individuum seiner Gattung wie unverwechselbare Person ist, wird in der
geheimnisvollsten Weise nach zwei Zentren hin polarisiert. Er ist die Einheit, die er ist, auf
eine völlig unerklärliche Weise. Denn wird er als Individuum betrachtet, so bildet sein Wesen
seine Einheit, also das, was ihn mit den anderen Individuen seiner Gattung verbindet. Seine
individuellen Merkmale nehmen sich diesem Wesen nur wie akzidentelle Unterscheidungen
aus. Wird er aber als Person betrachtet, so bildet diese seine Einheit, also gerade das, was ihn
gegenüber allen anderen Wesen nicht nur quantitativ sondern auch qualitativ unterscheidet,
und die gemeinsamen Merkmale, die ihn mit anderen verbinden, erscheinen dieser
unauflöslichen Einheit gegenüber als akzidentelle Ähnlichkeiten.“439
An anderer Stelle in „Welt der Bilder“ spürt Balthasar den Auswirkungen dieser Sachverhalte
auf die Erkenntnisebene nach. Auf der Erkenntnisebene befasse sich der Mensch bewusst mit
der Polarität zwischen dem allgemeinen und dem Besonderen und dem Problem der beiden
Formen der Einheit.440 Er erkenne, dass beide Formen der Einheit reale ontologische Formen
der Einheit sind.441 Indem er die arthafte Einheit betrachtet, verstehe er, dass der Mensch auf
ein „Du“ hin angelegt ist, indem er die individuelle Einheit betrachtet, erkenne er sich als
Individuum.442 „Ebenso ursprünglich, wie ein Mensch weiß, dass er Mensch ist, weiß er auch,
dass er ein Mensch unter Menschen ist.“443 Das bedeutet, dass der Mensch nicht nur zum
Bewusstsein seiner eigenen Identität gelangt, sondern auch zum Bewusstsein eines
menschlichen Gegenüber. Der Gedanke an ein „Du“, an einen Dialogpartner durchzieht
Balthasars Philosophie und Theologie. Vor allem in seiner „Trilogie“ tritt er ein in einen
Dialog mit allen bedeutenden Philosophen und Theologen der abendländischen Geschichte. In
diesem Dialog erscheint die Wahrheit in subjektiver Form, denn jede Person vertritt zunächst
ihre eigene persönliche Wahrheit in einer individuell einmaligen Situation des eigenen Lebens
in einer bestimmten historischen Epoche.
435
Ebd., S. 171.
Vgl. ebd., S. 169f.
437
Ebd., S. 172.
438
Vgl. ebd., S. 171.
439
Ebd., S. 173.
440
Vgl. ebd., S. 187.
441
Vgl. ebd.
442
Vgl. ebd.
443
Ebd.
436
58
3.2.4 Der analoge Charakter des Seins
„Balthasars Metaphysik ist eine Metaphysik der Seinsanalogie.“444 Wie sein Mentor Przywara
ist von Balthasar davon überzeugt, dass der Analogiesatz am klarsten in der Formel des IV.
Laterankonzils (1215) zum Ausdruck kommt. Dort heißt es: „[…] inter creaturam et
creatorem non potest tanta similitudo notari, quin inter eos maior sit dissimilitudo notanda“
(DS 432).445 Diese Strukturformel umreißt jede mögliche Beziehung zwischen Gott und
Welt.”446 Der Analogiesatz enthält in der Formulierung des IV. Laterankonzils einen
negativen Komparativ („maior dissimilitudo“). Der größeren Unähnlichkeit zwischen
Geschöpf und Schöpfer korreliert eine gewisse Ähnlichkeit. In der Ähnlichkeit zeigt der
Komparativ sein positives Gesicht.“447
In Wahrheit der Welt spielt der Komparativ an mehreren Stellen eine wichtige Rolle. 448 Als
erstes möchte ich auf den positiven Aspekt des Seins und der Wahrheit zu sprechen kommen,
um dann auf die Schöpfer-Geschöpf-Relation einzugehen.
Was versteht Balthasar unter Positivität bzw. Fülle des Seins und der Wahrheit? Zunächst
bedeutet Fülle des Seins ein „ewiges Mehr“. Man kann diese Fülle nicht in Begriffe fassen.
Man kann sich keinen »Über-blick« darüber verschaffen, was mit Sein und Wahrheit gemeint
ist.449 Das hängt mit dem geheimnisvollen Charakter des Seins und der Wahrheit zusammen,
die jeweils reicher sind, als was der Mensch zu erkennen in der Lage ist. Auch das, was schon
bei der Beschreibung der Realdistinktion von Dasein und Sosein über den inchoativen
Charakter der Gegenwart gesagt wurde, also über die Richtung des Seins und der Wahrheit
auf die Zukunft, auf ein Mehr hin, gilt Balthasar als „einer der positivsten, unüberholbarsten
Aspekte des Seins“.450 Ganz besonders erstrahlt das Positive des Seins und der Wahrheit aber
in der Schönheit der geschaffenen Welt. – Zum Charakter der Schönheit wird noch Genaueres
im Abschnitt über die Transzendentalien gesagt werden müssen. – Die Haltung des Menschen
gegenüber dem positiven Charakter des Seins und der Wahrheit ist die Haltung der Demut
und nicht „eine unbekümmerte existentialphilosophische Pose“.451
An zweiter Stelle möchte ich die Schöpfer-Geschöpf-Relation vorstellen, die im Zentrum der
Formel des IV. Laterankonzils steht. Balthasar greift dieses Thema im letzten Kapitel seines
Buches Wahrheit der Welt auf.452 Er geht nicht von einer Definition der Seinsanalogie aus,
wie man sie in philosophischen Wörterbüchern finden kann.453 Vielmehr umschreibt er, seiner
phänomenologischen Methode folgend, facettenreich und nicht einfach zu verstehen, auf
444
Manfred Lochbrunner: Analogia Caritatis, S. 108.
Vgl. Werner Löser: Im Geiste des Origenes, S. 29.
446
Ebd., S. 29.
447
Manfred Lochbrunner: Analogia Caritatis, S. 108.
448
Hans Urs von Balthasar: W, S. 15; 112-113; 156-157; 214; 221; 254; 261; 267-268; 298.
449
Vgl. ebd., S. 156.
450
Ebd., S. 157.
451
Ebd., S. 214.
452
Vgl. ebd., S. 261; 263; 264; 69-274; 277-278; 291-292; 297; 306.
453
Z.B. Johannes B. Lotz: „Analogie“. In: Walter Brugger (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. 10., verbesserte
Auflage (Freiburg 1963) S. 9.
445
59
mehr als 40 Seiten, wie er sich dem Thema der Analogie annähert. Man kann das Bemühen
erkennen, fast allen möglichen Beziehungen zwischen Gott und seiner Schöpfung
nachzuspüren. Auf der einen Seite versucht er den Weg zur Erkenntnis Gottes über die
Schöpfung offenzuhalten (gegen den Agnostizismus), andererseits ein Ineinanderfallen von
Gott und Welt auszuschließen (gegen den Pantheismus). Er erforscht die Schöpfungsanalogie
und die Beziehungen der innerweltlichen Analogie zur Schöpfungsanalogie und schreibt:
„Die durch die Schöpfung hergestellte Analogie zwischen Gott und Geschöpf ist so
beschaffen, dass sie mit jeder anderen Analogie nur analog übereinkommt. Daß nun dennoch
eine solche Analogie der Analogie tatsächlich besteht, das folgt aus dem Wesen der jede
innerweltliche Analogie begründenden Analogie der Schöpfungsoffenbarung Gottes.“454 Das
bedeutet, dass die innerweltlichen Analogien ihr Maß in der Schöpfungsanalogie haben, dass
also die Schöpfungsanalogie einzigartig gegenüber allen anderen Analogien ist. Die
innerweltlichen Analogien können hilfreich sein, das Wesen der Schöpfungsanalogie zu
verstehen, „zumal dabei in letzter Instanz doch wieder das Innerweltliche durch das
Zwischen-Gott-Weltliche seine entscheidende Deutung erhält.“455
Die Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf kann nicht auf einen univoken Nenner
gebracht werden. Das hängt mit den besonderen Eigenschaften der Analogate (SchöpferGeschöpf) zusammen. Denn Gott ist im Gegensatz zum geschöpflichen Sein nicht kontingent.
Gott erfasst das Wesen der Geschöpfe unmittelbar. Das Geschöpf ist in allem, auch in seiner
Erkenntnis kontingent. Geschöpfliche Erkenntnis ist an die Zeichensprache der Dinge
gebunden.456 Das gilt auch für die Erkenntnis Gottes, die ohne Deutung menschlicher Zeichen
undenkbar ist. Das Verhältnis zwischen Gott und Geschöpf hängt vollständig von Gott ab,
d.h. der Mensch ist in seinem ganzen Sein an Gott und Gottes Wahrheit gebunden.
„Eine analoge Vermittlung zwischen der göttlichen und weltlichen Wahrheit scheint in der
transzendenten Analogie die Sphäre der »Ideen« oder »Urbilder« anzunehmen.“457 Balthasar
warnt aber gleichzeitig vor der Annahme einer Ideensphäre zwischen Gott und der Welt.458
Sie hätte die Verneinung der Willensfreiheit Gottes zur Folge und würde zu einer „Art Gnosis
oder Pantheismus“459 führen. Urbilder der Schöpfung können nur von Gott selbst in freier
Entscheidung hervorgebracht werden. „Stünde die Freiheit in Gott den Ideen so gegenüber
wie der platonische Demiurg seiner Ideenwelt, so hätte das Geschöpf an diesen Ideen
(possibilia) eine Appellationsinstanz, die von der Souveränität der göttlichen Verfügung
unabhängig wäre.“460 Von der Realdistinktion von Dasein und Sosein her gesehen, wäre allein
das Dasein ein Zeichen dafür, dass die Geschöpfe geschaffen sind, „während ihr Wesen sich
454
Hans Urs von Balthasar: W, S. 263.
Ebd.
456
Ebd., S. 265.
457
Ebd., S. 270.
458
Vgl. ebd., S. 271.
459
Ebd.
460
Ebd., S. 274.
455
60
in einer Art mystischen Einheit mit den notwendigen »Ideen« und naturgegebenen
Nachahmungsmöglichkeiten Gottes befinden würde.“461
Von Bedeutung ist auch der Gedanke der „Analogie der Situation“. Von dem Zeitcharakter
der „Situation“ war schon im Rahmen der Realdistinktion die Rede. Bei der Analyse der
„Analogie der Situation“ kommt ein neuer Gesichtspunkt hinzu. Die Wahrheit trifft den
Menschen in einer bestimmten Situation, an einem bestimmten Punkt seiner Existenz, in einer
bestimmten historischen Epoche. Jede Situation des menschlichen Lebens ist einmalig und
unwiederholbar und damit von existentieller Bedeutung. Die existentielle Bedeutung wird
umso deutlicher, je mehr wir erkennen, dass hinter der weltlichen die göttliche Wahrheit
erkennbar wird. Hier, wo weltliche und göttliche Wahrheit aufeinander treffen, kommt der
analoge Charakter der Situation zum Vorschein.462 Balthasar formuliert diesen Sachverhalt
folgendermaßen: „So wird auch eine Analogie der Situation deutlich: die Vergänglichkeit des
weltlichen Augenblicks, die als solche die betonte Nicht-Ewigkeit der irdischen Daseinsform
anzeigt, wird zum Ort und Mittel, dessen die Ewigkeit sich bedient, um ihre unvergängliche
Intensität anzuzeigen. Gerade weil hinter dem vergänglichen Augenblick die unvergängliche
Ewigkeit steht, ist die Vergänglichkeit so aufregend, so kostbar, so fordernd.“463
3.2.5 Die transzendentalen Bestimmungen des Seins
Die Auseinandersetzung mit der Seinsphilosophie hatte Balthasar dazu geführt, die
Transzendentalien als koextensive Eigenschaften des Seins zu erfassen (siehe 1.2.2.).
„Wahrheit, Gutheit und Schönheit sind so sehr transzendente Eigenschaften des Seins, dass
sie nur ineinander und durcheinander begriffen werden können.“464 Schon in der Einleitung
zur ersten Ausgabe von Wahrheit der Welt heißt es: „So stellt sich die die ganze elementare
Forderung einer Ethik und Ästhetik der Wahrheit und der Wahrheitserkenntnis aus der
Einsicht heraus, dass nur die drei transzendentalen Bestimmungen des Seins dessen inneren
Reichtum offenbaren, wie er ist, d.h. seine Wahrheit enthüllen, dass folglich auch nur eine
dauernde lebendige Einheit der theoretischen, ethischen und ästhetischen Haltung wahre
Erkenntnis des Seins vermitteln kann.“465 Zwar lassen sich die transzendentalen
Bestimmungen des Seins formal trennen, aber eine isolierte Betrachtungsweise der Wahrheit
auf rein theoretische Sachverhalte führt zum Rationalismus. Dann wäre das Gute und das
Schöne rational nicht mehr überprüfbar und würde zu einer Angelegenheit des privaten
Geschmacks, der persönlichen Willkür.466 Wenn die Wahrheit von der persönlichen
Entscheidung (Ethik) getrennt wird, kann der persönlichen Entscheidung keine Wahrheit
zugesprochen werden.467 Balthasar verweist zur Untermauerung seiner Seinsphilosophie auf
461
Ebd., S. 274.
Vgl. ebd., S. 276.
463
Ebd., S. 277.
464
Ebd., S. 255
465
Ebd., S. 18.
466
Vgl. ebd., S. 19.
467
Vgl. ebd.
462
61
den englischen Theologen Henry Newman, der schon vor ihm auf die Gefahren einer
Trennung von theoretischer und ethischer Haltung hingewiesen hat. Eine solche Trennung
hätte Auswirkungen auf „das theologische Problem von Glauben und Wissen“468; d.h.
Glauben und Wissen hätten nichts mehr miteinander zu tun. Fundamentaltheologie und
Seinsphilosophie wären hinfällig.
Im Abschnitt „Wahr, Gut, Schön“ versucht Balthasar eine zusammenhängende Darstellung
der transzendentalen Bestimmungen des Seins, um den Geheimnischarakter der weltlichen
Wahrheit in Bezug zur göttlichen Wahrheit deutlicher darstellen zu können. 469 Die Wahrheit
als „Erschlossenheit des Seins“ (siehe Heideggers Begrifflichkeit) setzt die Seinsbewegung
des Sicherschließens voraus.470 Bei der Erschließung des Seins geht es um einen Akt, an
dessen Ursprung der Seinsgrund steht. „Am Ziel und Ende des Aktes steht die Erscheinung
als das Ausgedrückte.471 Grundlegend bei dieser Seinsbewegung sind Lichtung und Maß; man
beachte hier die Parallele zu Heideggers Begriff der „Lichtung des Seins“. Der Seinsgrund
wird, indem er erscheint „für sich und andere Licht; er ist in der Bewegung der Mitteilung
begriffen, in der er sich und Anderen erfassbar wird. Aber er ist nur, sofern er darin sein
eigenes Maß erhält: als Bild sich selber seinen Grund gegenübergestellt und im Bild als
Grund sich erfasst.“472 Auf diese Weise tritt das Wesen der Dinge hervor, d.h. das Sein
erschließt sich als Wahrheit473; auch hier zeigt sich eine Parallele zu Heidegger. Die
Bewegung könne auch gegenläufig dargestellt werden: als Bewegung vom An-sich-sein
(bloße Erscheinung) in den Seinsgrund hinein.474
Beim Guten handelt es sich um einen Wert, der über das Wahre hinausgeht, da die bloße
formale Entsprechung zwischen Grund und Bild noch keinen Wert darstellt.475 Das Sein
erhält seinen Wert durch die Mitteilung des inneren Gehaltes des Seinsgrundes. Indem das
Sein seinen inneren Gehalt mitteilt, wird es zu einem „gehaltvollen Sein“. 476 „Sofern also der
Grund des Seins die Mitteilung selbst ist, ist er unmittelbar eins mit dem Guten; das heißt mit
der sich grundlos schenkenden Liebe.“477 Das Gute erschließt sich entsprechend dem Wahren
im bewegten Verhältnis zwischen Grund und Erscheinung.478 Es entspricht
1. das Mitteilende dem Seinsgrund,
2. das Mitgeteilte dem Sein als Erscheinung,
468
Ebd., S. 19.
Vgl. ebd., S. 246-255.
470
Ebd., S. 247.
471
Ebd.
472
Vgl. ebd., S. 248.
473
Vgl. ebd., S. 249.
474
Vgl. ebd., S. 247.
475
Vgl. ebd., S. 251
476
Vgl. ebd., S. 249.
477
Ebd., S. 250.
478
Vgl. ebd., S. 249.
469
62
3. die Mitteilung selbst der Bewegung vom Grund zu Erscheinung.479
In dieser Bewegung geht das Sein über das „Für-sich-allein-sein“ hinaus, teilt sich öffnend
mit und so wächst ihm ein einmaliger Wert zu.480 Balthasar macht an dieser Stelle auf die
Gefahren von Subjektivismus und Relativismus aufmerksam, die drohen, wenn man dem
Missverständnis erliegen würde, als Begründung für das Gute nur das persönliche Bedürfnis
des je einzelnen Menschen gelten zu lassen.481 Die Befriedigung des je persönlichen
Bedürfnisses ist nicht der entscheidende Grund des Guten, denn das Gute ist im angestrebtenund nicht im strebenden Sein grundgelegt („bonum est principaliter in re“)482
Die Vollendung des Begriffs des Guten sieht Balthasar im Zusammenklang zwischen dem
Sein, das sich „neidlos“ mitteilt und der „Entsprechung zwischen Grund und Erscheinung“.483
Die Schönheit ist die dritte transzendentale Bestimmung des Seins. Auch sie kann man –
ebenso wie Wahrheit und Gutheit – nicht einfach definieren. Das liegt an dem
Geheimnischarakter ihres Daseins und ihres Wesens, an dem Je-mehr-sein, das nicht durch
Worte ausgedrückt werden kann. Denn „Schönheit“, so Balthasar, „ist […] nichts anderes als
das unmittelbare Hervortreten der Grundlosigkeit des Grundes aus allem Begründeten. Sie ist
die Transparenz durch alle Erscheinungen hindurch des geheimnisvollen Hintergrundes des
Seins. Darin ist sie zunächst unmittelbare Offenbarung des nicht zu bewältigenden
Überschusses an Offenbarung in allem Geoffenbarten, des ewigen Je-mehr, das im Wesen des
Seienden selbst liegt. Es ist nicht nur die einfache Entsprechung zwischen Wesen und
Erscheinung, die das ästhetische Wohlgefallen erregt, sondern die völlig unbegreifliche
Feststellung, dass das Wesen wirklich in der Erscheinung (die doch das Wesen nicht ist)
erscheint als ein Wesen, das ewig mehr ist als es selbst, das also nie endgültig erscheinen
kann.“484 In diesem Erscheinen erstrahle das Wahre und Gute „um seiner selbst willen.“485 –
Auf die Transzendentalien wurde schon kurz unter 2.2.2 („Der seinphilosophische Aspekt der
Phänomenologie von Balthasars“) eingegangen.
3.2.6 Subjekt-Objekt
Balthasar nennt das Seiende Subjekt, das reflektierend, rezeptiv und spontan im Horizont des
Seins sich selber und das Sein im Ganzen als seiend erkennt: „Indem es sich […] als seiend
erkennt, begreift es zugleich, was Sein im ganzen ist […].“486 Balthasar spricht von der
Seinserschlossenheit487 als einer objektiven Eigenschaft des Subjekts.488 Auch die folgende
479
Vgl. ebd.
Vgl. ebd., S. 250.
481
Vgl. ebd. S. 252.
482
Ebd.
483
Ebd., S. 251.
484
Ebd., S. 253f.
485
Ebd., S. 254.
486
Ebd., S. 35.
487
„Seinserschlossenheit“ bezieht sich bei Heidegger auf das Dasein in seinem In-der-Welt-sein, das nach dem
Sinn von Sein fragt. Seinserschlossenheit bei Balthasar umfasst auch in analoger Weise das unendliche Sein.
488
Vgl. ebd., S. 32.
480
63
Feststellung Balthasars über das Wesen des Subjekts zeigt eine große Nähe zu Heideggers
Begriffswelt in Sein und Zeit: „Sofern es sich selber enthüllt und nicht länger verborgen ist, ist
es ein inwendig lichtes, sich selber erhelltes und durchsichtiges Sein; sein Sein hat die Form
des Selbstbewusstseins.489 „Selbstbewusstsein“ meint, dass das Subjekt ein Seiendes ist, das
sich seiner selbst bewusst ist, indem es sich als Seiendes erkennt. Bewusstsein bezieht sich
intentional auch auf andere Subjekte und auf, wie Heidegger sagen würde, nicht
daseinsmäßiges Sein. Balthasar nennt die Dinge, die dem Subjekt zugleich gegenüberstehen
und innerlich sind, Objekte. Das Subjekt braucht die Objekte, um sich selbst zu erkennen:
„Die Selbsterkenntnis des Subjekts bedarf zu ihrer Verwirklichung des Umweges über die
Fremderkenntnis; erst in seinem Ausgehen aus sich selbst, in seiner schöpferischen
Dienstleistung an der Welt, erfährt das Subjekt seinen Sinn und damit sein Wesen.“490
Erkenntnis setzt bei den geschaffenen Subjekten die Objekte voraus. „Das Objekt tritt als
sinnenhaftes Bild in den Wahrnehmungsraum des sinnlich-geistigen Subjekts. Die
Spontaneität des intellectus agens verwandelt die species impressa in eine species
expressa.“491 In welchem Verhältnis steht nun das Erkennen eines Subjektes (geschaffenes
Sein) zum Erkennen Gottes, dem Schöpfer aller Dinge? Beim menschlichen Subjekt ist die
Entdeckung eines leeren, grenzenlosen Horizonts von Sein Ausgangspunkt „zur
Ermöglichung jeder beliebigen Erkenntnis von Objekten.“492 Menschliche Erkenntnis des
Seins – und damit der Wahrheit der Dinge – ist kontingent. Dem endlichen Sein wird mit
Evidenz bewusst, dass das eigene Sein und alle anderen endlichen Seienden mit
Notwendigkeit kontingent sind. Ebenso wird ihm mit Evidenz klar, dass endliches und
unendliches Sein nicht identisch sind.493 Dagegen sind das Sein und die Wahrheit Gottes
transzendent und nicht geschaffen. Gott und Mensch unterscheiden sich letztendlich dadurch,
dass Gott (das Sein selbst) aus sich heraus existiert, „während das Seiende durch Teilhabe am
Sein ist.“494
3.2.7 Fazit
Im Jahre 1947 veröffentlichte Balthasar sein wichtigstes philosophisches Werk Wahrheit der
Welt, dass er Jahre später als Theologik I vollständig und unverändert in seine Summe der
Theologie, die „Trilogie“ übernahm. Wahrheit ist ein Bekenntnis zu den Fähigkeiten der
menschlichen Vernunft, Sein und Wahrheit zu erkennen. Dabei ist die Wahrheit eine
transzendentale Eigenschaft des Seins. Da wo das Sein ist, ist auch die Wahrheit und
umgekehrt. Wie Thomas von Aquin ist Balthasar davon überzeugt, dass Glaube und Vernunft
zusammengehören. Dabei beschränkt sich von Balthasars Liebe zur Philosophie nicht auf eine
Schule der Philosophie, obwohl man eine gewisse Bevorzugung des Aquinaten herauszulesen
489
Ebd., S. 35.
Ebd., S. 58.
491
Martin Lochbrunner: Analogia Caritatis, S. 87f.
492
Hans Urs von Balthasar: W, S. 258.
493
Ebd., S. 258f.
494
Thomas Krenski: Hans Urs von Balthasar. Das Gottesdrama, S. 47.
490
64
geneigt ist: Erstens, weil er nur Thomas von Aquin zitiert und zweitens sich in seiner
Seinslehre (Realdistinktion) an Thomas anlehnt. Er präsentiert sein Denken über das Sein und
die Wahrheit nicht in trockenen Lehrsätzen, sondern in Gestalten. Man ist als Leser
gezwungen, seine Philosophie in mühseliger Kleinstarbeit zu eruieren. Beeinflusst durch
seinen Mentor Przywara (Analogia entis) und später durch seinen Freund Gustav Siewerth
(Realdistinktion), einem Schüler Heideggers, entwickelt er ein positives Seinsverständnis,
indem er sich klar vom univoken Seinsbegriff des Franz Suarez löst und in der thomanischthomistischen Lehre von der Realdistinktion (distinctio realis) einen „wichtigen Baustein“
einer mit der Tradition (philosophia perennis) verbundenen Philosophie für einen Dialog mit
der Lebens- und Existentialphilosophie erblickt. Die Auseinandersetzung mit der
Seinsphilosophie führte Balthasar dazu, die Transzendentalien als koextensive Eigenschaften
des Seins zu erfassen. Schon in der Einleitung zur ersten Ausgabe von Wahrheit der Welt
(1947) hebt er die Bedeutung der Transzendentalien hervor: „So stellt sich die ganze
elementare Forderung einer Ethik und Ästhetik der Wahrheit und der Wahrheitserkenntnis aus
der Einsicht heraus, dass nur die transzendentalen Bestimmungen des Seins dessen inneren
Reichtum offenbaren, wie er ist, d.h. seine Wahrheit enthüllen, das folglich auch nur eine
lebendige Einheit der theoretischen, ethischen und ästhetischen Haltung wahre Erkenntnis des
Seins vermitteln kann.“495
Balthasar setzte den Dialog, den Przywara seit 1921 mit Karl Barth über die Seinsanalogie
geführt hatte, fort. In diesem Dialog ging es letztendlich um eine Zuordnung von Gottes- und
Schöpfungsordnung.496 Balthasar bestand gegenüber Karl Barth auf der Analogia-entis-Lehre,
entwickelte sie aber weiter in Richtung Analogia libertatis und Analogia caritatis. Auch Karl
Barth bewegte sich von einer totalen Ablehnung der Seinsanalogie – denn dafür war in seiner
Offenbarungstheologie keine Stelle frei497 – in Richtung einer Analogia-fidei-Lehre: „Sie
erschließt sich nur im Glauben, nicht aber ist sie der natürlichen Vernunft zugänglich; zum
anderen ist diese »Analogie« ursprünglich nur in Jesus Christus verwirklicht.“498 Balthasar
interpretiert Karl Barth so, dass die Analogia fidei die Analogia entis einschlussweise
erfasst.499
Die Frage nach der Erkenntnis von Sein und Wahrheit löste Balthasar im Sinne des
erkenntnistheoretischen Realismus. Balthasar spricht von Erschlossenheit des Seins und
beklagt wie sein Freund Siewerth die Seinsvergessenheit nach Thomas von Aquin.500 Dabei
495
Hans Urs von Balthasar: W, S. 18.
Vgl. Hans-Anton Drewes: „Karl Barth und Hans Urs von Balthasar – ein Baseler Zwiegespräch“. In: Magnus
Striet – Jan-Heiner Tück (Hrsg.): Die Kunst Gottes verstehen, S. 368.
497
Vgl. Werner Löser: Kleine Hinführung zu Hans Urs von Balthasar, S. 65.
498
Werner Löser: „Von Balthasars Karl-Barth-Buch – eine theologische Würdigung“. In: Wolfgang W.Müller
(Hrsg.): Karl Barth – Hans Urs von Balthasar. Eine theologische Zwiesprache. Schriften ökumenisches Institut
Luzern 3 (Zürich 2006), S. 79.
499
Vgl. ebd.
500
Während Heidegger den Philosophen von Plato bis Nietzsche vorwirft, dass „bei den sog. Vorsokratikern,
sich gelichtet habende Sein selbst vergessen und durch das Sein des Seienden ersetzt zu haben, wirft Gustav
Siewerth der nachthomanischen Philosophie vor, das wahre Sein als die erste Wirkweise und damit als größtes
und bestes Bild und Gleichnis des göttlichen Seinsgrundes vergessen und durch dessen Verkehrung in einen
496
65
distanzierte er sich sowohl vom „naiven Realismus“ (W, 61f.) als auch vom „Kritizismus“
(W, 62f.).501 Das menschliche Subjekt erkennt im Horizont des Seins sowohl das eigene
Selbst als auch das Sein im Ganzen, und zwar in evidenter Weise. Dem Subjekt ist auch
evident, dass Gott das unendliche Sein ist, das unerschaffene Sein, an dessen Sein und
Wahrheit der Mensch durch Gottes Schöpfung Anteil erhält. Trotz aller Liebe zur
Seinsphilosophie ist festzuhalten, dass Balthasar auch als Metaphysiker von einem
theologischen Apriori ausgeht.502 „Die Ontologie ist letztlich von Christus her bestimmt.“503
Begriff des menschlichen Intellekts verfälscht zu haben“ (Markus Enders: „Die Schönheit der Seinsordnung im
Lichte der Herrlichkeit Gottes“. In: Walter Kardinal Kasper [Hrsg.]: Logik der Liebe und Herrlichkeit Gottes.
Hans Urs von Balthasar im Gespräch. [Ostfildern 2006], S. 85).
501
Vgl. Manfred Lochbrunner: Analogia Caritatis, S. 87.
502
Vgl. ebd., S. 110.
503
Ebd., S. 111.
66
4 Das Wahrheitsverständnis Martin Heideggers und Hans
Urs von Balthasars
In diesem Kapitel kommt das zentrale Thema der Dissertation in den Blick: das
Wahrheitsverständnis Martin Heideggers und Hans Urs von Balthasars. Beide Denker waren
mit ganzer Kraft darum bemüht, das Thema Wahrheit im Lichte ihrer Seinsphilosophie zu
analysieren und zu beschreiben. Sie waren ursprünglich Studenten der Neuscholastik, mit der
sie sich später dann kritisch auseinandersetzten. Heideggers Weg führte über die Begegnung
mit der Phänomenologie Edmund Husserls zur Daseinsanalyse in Sein und Zeit und weiter
nach der Kehre zur seinsgeschichtlich angesetzten Seinsfrage, zum Sein als Ereignis. Von
Balthasar, der offen war für alle logoi spermatikoi, die er in der abendländischen Philosophie,
Theologie- und Literaturgeschichte entdecken konnte, und der sich auch intensiv mit Sein und
Zeit beschäftigte und dazu wichtige Beiträge veröffentlichte, erarbeitete sich in Anlehnung an
die philosophia perennis und in Auseinandersetzung mit ihr, im Ausgang von der Gestalt der
Wahrheit in Wahrheit der Welt ein philosophisches Fundament für sein theologisches
Hauptwerk, der Trilogie.
Heideggers Wahrheitsverständnis soll als erstes zur Sprache kommen. Dabei liegt der
Hauptakzent auf Sein und Zeit, Vom Wesen der Wahrheit und den Beiträge[n] zur
Philosophie (Vom Ereignis). Thematisiert werden muss auch das Verhältnis von Wahrheit
und Ästhetik, Wahrheit und Sprache. 1935 nähert sich Heidegger dem Thema von Seiten der
Dichtung her; vor allem Hölderlin wurde eine Inspirationsquelle für seine Wahrheitssuche,
auch wegen dessen Nähe zu den Griechen.
4.1 Martin Heideggers philosophische Denkwege von der „Neuscholastik“ zum hermeneutischen Wahrheitsverständnis
Um dem Denkweg Heideggers gerecht werden zu können, ist es sinnvoll, die Entwicklung
des Wahrheitsverständnisses bei Heidegger von den Anfängen an zu verfolgen, um dann
anhand seines frühen Hauptwerkes Sein und Zeit verstehen zu können, welch gewaltiger
Wandel von einem traditionellen Wahrheitsbegriff auf dem Weg zum hermeneutischen
Seinsverständnis und darüber hinaus die Bewunderung seiner Zeitgenossen hervorgerufen hat.
Am Beginn des Heideggerschen Denkens steht der Wahrheitsbegriff der Neuscholastik.
Heidegger selbst weist auf seine theologischen Wurzeln hin. „Ohne diese theologische
Herkunft wäre ich nie auf den Weg des Denkens gelangt. Herkunft aber bleibt stets
Zukunft.“504 Demnach ging Heidegger zu Beginn seines Denkweges von ewigen und
unabänderlichen Wahrheiten aus. Die Philosophie hatte in seiner neuscholastischen Phase die
Aufgabe – und das brachte er in seinen frühen Schriften eindeutig zum Ausdruck – die
Wahrheit, wie sie durch die katholische Theologie und Kirche dargestellt wurde, zu
504
Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache [GA 12] (Frankfurt am Main 1985). S. 96.
67
bewahren. Selbst in seiner Dissertation Die Lehre vom Urteil im Psychologismus505 ging es
auch um eine Verteidigung der unveränderlichen Wahrheit.506 Als dezidierter Verteidiger des
Anti-Modernismus geht es kritisch ins Gericht mit Relativismus, Individualismus,
Naturalismus, Subjektivismus und Psychologismus.507 Auf der Suche nach Bestätigung für
seine philosophische Grundeinstellung zur Wahrheit befasst er sich beispielsweise wiederholt
mit den Logische[n] Untersuchungen Edmund Husserls, mit dem Neukantianismus Heinrich
Rickerts und mit Emil Lasks. „Dieses im weitesten Sinne apologetische und
antimodernistische Interesse Heideggers erklärt […] (wenn auch nicht ausschließlich) seine
frühe Annäherung an die Phänomenologie Edmund Husserls – vor allem seine intensive
Auseinandersetzung mit den Logischen Untersuchungen – und an den Neukantianismus
Heinrich Rickerts und Emil Lasks.“508 Wir erinnern uns, dass die Frage nach der Wahrheit im
Zentrum des Husserlschen Denkens stand, der eine systematische, universale, antirelativistische, anti-skeptische Philosophie (vgl. 1.1.4.1) anstrebte. Das klingt vorläufig
zunächst wie Neuscholastik. Aber auf dem langen Weg zum Verständnis der Philosophie
Husserls in Rückkoppelung mit Rickert, Lasks und Dilthey und wiederum Rückkehr zu
Husserl zeigen sich schon in seinen ersten Vorlesungen als Assistent Husserls in Freiburg
1919 Unterschiede zu Husserls theoretisierender Auffassung der Philosophie (vgl.1.1.4.1).
Heidegger trennt sich bei der Entwicklung seiner phänomenologischen Methode schließlich
nicht nur von dem „System des Katholizismus“, sondern auch von seinem Lehrer Husserl
(vgl. 1.1.5). Er verbindet in den frühen Freiburger Vorlesungen Phänomenologie mit
Hermeneutik zur phänomenologischen Hermeneutik der Faktizität (vgl. 2.1.1).
Was heißt das für das neue hermeneutische Wahrheitsverständnis Heideggers? Es handelt sich
um die Wahrheit des Verstehens, sowohl im Sinne des genitivus objectivus als auch im Sinne
des genitivus subjectivus. Unter Wahrheit des Verstehens im Sinne des genitivus objectivus ist
die „Angemessenheit, die Adäquatheit des Verstehens“509 gemeint. Unter Wahrheit des
Verstehens im Sinne des genitivus subjectivus ist die Wahrheit gemeint, „die dem Verstehen
als solchem eignet“510. Dieses Verstehen ist nicht zu verwechseln mit dem traditionellen
Wahrheitsbegriff im Sinne einer veritas est adaequatio rei et intellectus (Thomas von Aquin).
Von jetzt an wehrt sich Heidegger gegen das Ausweichen „in den Bereich einer ewigen,
zeitlos gültigen Wahrheit theoretischer Sätze und entwickelt ein radikales Verständnis des
Historischen und des zeitlichen Vollzugs des faktischen Lebens, in dem der Wahrheitsbegriff
letztlich nur noch im Sinne der individuellen Wahrheit bzw. Wahrhaftigkeit des faktischen
505
Martin Heidegger: Die Lehre vom Urteil im Psychologismus. Ein kritisch-positiver Beitrag zur Logik (Leipzig
1914) ( = ders.: Frühe Schriften [GA 1] [Frankfurt am Main], S. 59-188.
506
Vgl. Holger Zaborowski: „Der hermeneutisch-phänomenologische Wahrheitsbegriff Martin Heideggers:
Wahrheit als Unverborgenheit“. In: Markus Enders – Jan Szaif (Hrsg.): Die Geschichte des philosophischen
Begriffs der Wahrheit, S. 347.
507
Vgl. ebd., S. 346.
508
Ebd., S. 347.
509
Jean Grondin: „Heidegger und Augustin. Zur hermeneutischen Wahrheit“. In: Ewald Richter (Hrsg.): Die
Frage nach der Wahrheit (Frankfurt a.M. 1997), S. 165-177, hier S. 165.
510
Ebd.
68
Lebensvollzuges oder „jeweiligen Daseins“ eine Rolle zu spielen vermag“.511 Diese Wahrheit
muss nicht unbedingt passen oder nützlich sein. Auch die schmerzliche Wahrheit gehört zur
hermeneutischen Erfahrung.512 Diese Wahrheit geht mich an, auch wenn sie sonst niemand
verstehen kann.513 Diese Verbundenheit der Wahrheit mit dem jeweiligen Dasein bringt
Heidegger kurz und prägnant wie folgt auf den Punkt: „Wahrheit »gibt es« nur, sofern und
solange Dasein ist.“514 Im Vorfeld von Sein und Zeit findet sich in den Beilagen zur
Vorlesung Ontologie (Hermeneutik der Faktizität) (GA 63) skizzenhaft Andeutungen auf eine
Weiterentwicklung an: „Griechen. (Wahrheit (Falschheit)- Entdecktheit.)“ […] „Entdecktheit
– Dasein usf. ergreifen.“515 Diese Notizen weisen schon auf einen Zusammenhang zwischen
Dasein und Entdecktheit und Wahrheit als Unverborgenheit hin.516 Von hier aus ist es kein
weiter Schritt zum Wahrheitsverständnis in Sein und Zeit.
4.1.1 Wahrheit in Sein und Zeit
In Sein und Zeit (1927) macht Heidegger in § 7 und § 44 deutlich, welch zentralen Rang das
Thema Wahrheit in seiner Daseinsanalyse hat. Im Folgenden geht es vornehmlich um § 44, da
das in §7 zu diesem Thema Gesagte inhaltlich schon im Abschnitt 2 vorliegender Untersuchung zur Sprache gebracht worden. Obwohl es von wissenschaftlichem Interesse wäre, das
Wahrheitsverständnis in Sein und Zeit mit dem Wahrheitsverständnis der, was das Thema
Wahrheit betrifft ausführlicheren Marburger Vorlesung Wintersemester 1925/26, Logik. Die
Frage nach der Wahrheit (GA 21) zu vergleichen (GA 21), da sie Heidegger beim Verfassen
von Sein und Zeit vorlag, soll hier darauf verzichtet werden; dies würde hier zu weit führen.
Der § 44 trägt die Überschrift: „Dasein, Erschlossenheit und Wahrheit“. „In diesem längsten
Paragraphen von Sein und Zeit, der als Abschluss des ersten Abschnittes – und Überleitung
zum zweiten – eine textarchitektonisch tragende Funktion besitzt, geht es um den
Zusammenhang von Dasein und Wahrheit.“517 Das Dasein sucht nach der Wahrheit des Seins.
Schon Aristoteles beschrieb die Philosophie in zweifacher Weise, nämlich als „Wissenschaft
von der Wahrheit“ und auch als „Wissenschaft vom Seienden“.518 Heidegger stellt deshalb die
Frage: „Was bedeutet dann aber der Ausdruck »Wahrheit«, wenn er terminologisch als
»Seiendes« und »Sein» gebraucht werden kann?519
511
Holger Zaborowski: „Der hermeneutisch-phänomenologische Wahrheitsbegriff Martin Heideggers“, S. 349.
Vgl. Jean Grondin: „Heidegger und Augustin. Zur hermeneutischen Wahrheit“, S. 165.
513
Ebd.
514
SuZ (GA 2), S. 299.
515
Ebd.
516
Holger Zaborowski: „Der hermeneutisch-phänomenologische Wahrheitsbegriff Martin Heideggers“, S. 349.
517
Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 91.
518
Vgl. ebd.
519
SuZ (GA 2), S. 282f.
512
69
4.1.2 Anknüpfung beim traditionellen Wahrheitsbegriff
Mit dem traditionellen Wahrheitsbegriff ist der korrespondenz- bzw. adäquationstheoretische
Wahrheitsbegriff gemeint.520 „Die Analyse geht vom traditionellen Wahrheitsbegriff aus und
versucht dessen ontologisches Fundament freizulegen.“521 Dies deutet auf Heideggers Suche
nach dem Fundierungsverhältnis hin, auf die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit für
den traditionellen Wahrheitsbegriff. Der traditionelle Wahrheitsbegriff erscheint ontischfaktisch als das Erste, ist aber im existenzial-ontologischen Fundierungszusammenhang das
Letzte.522 Zunächst verweist Heidegger auf den Wahrheitsbegriff bei Thomas von Aquin
(adaequatio intellectus et rei),523 Avicenna und Isaak Israeli.524 Was sind die wesentlichen
Merkmale dieses Begriffes? Es geht erstens um adaequatio, das mit »Übereinstimmung« oder
»Angleichung« wiedergeben wird. Was meint »Übereinstimmung«? „Übereinstimmung von
etwas mit etwas hat formalen Charakter der Beziehung von etwas. Jede Übereinstimmung und
somit auch »Wahrheit« ist eine Beziehung. Aber nicht jede Beziehung ist Übereinstimmung.
Ein Zeichen zeigt auf das Gezeigte.“525 Im Urteil bzw. der Aussage kommt es zu einer
Übereinstimmung zwischen Verstand (Urteilsgehalt) und Gegenstand (Realität). Die Frage
nach der Möglichkeit des wahren Erkennens bleibt für Heidegger nach den traditionellen
Erklärungsversuchen offen. Deshalb fragt er nach der Seinsart und Seinsweise dieser
Übereinstimmung zwischen intellectus und res.526 Es genügt ihm nicht, „[…] dieses
Beziehungsganze einfach vorauszusetzen, sondern es muß in den Seinszusammenhang
zurückgefragt werden, der dieses Ganze als solches trägt.“527 Für Heidegger ist Wahrheit ein
Phänomen. „Erkenntnis soll die Sache so »geben«, wie sie ist.“528 Ferner gilt: „Die Aussage
ist wahr, bedeutet: sie entdeckt das Seiende an ihm selbst.“529 In beiden Formen der
Darstellung der Wahrheitsaussage stimmt Heidegger mit Husserl überein. Erst in der dritten
Formulierung, in der Heidegger nicht nur das „So-Wie“ streicht, sondern auch das „an ihm
selbst“ und formuliert: „Wahrsein (Wahrheit) muß verstanden werden als entdeckend sein“530,
verlässt Heidegger den transzendental-phänomenologischen Ansatz Husserls.531 In dieser
letzten Formulierung wird klar, dass „Wahrheit im Aufzeigen, Entdecken als solchem
besteht“532 Heidegger sieht die Wahrheit einer Aussage nicht statisch als ein Vorstellen und
520
Vgl. Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 91.
SuZ (GA 2), S. 283.
522
Vgl. Celestine Chibueza Uzondo: Die Fundierung des Erkennens im „Verstehen“ in Heideggers Sein und
Zeit und danach, S. 181.
523
Martin Heidegger (GA 2), S. 284, Fußnote 11(Vgl. Quaest. Disp. De veritate qu. 1, art. 1.).
524
SuZ (GA 2), S. 284.
525
SuZ (GA 2), S. 285f.
526
Vgl. ebd., S. 286.
527
Ebd., S. 286.
528
Ebd.
529
Ebd., S. 289.
530
Ebd., S. 290.
531
Vgl. Celestine Chibueza Uzondo: Die Fundierung des Erkennens im „Verstehen“ in Heideggers Sein und
Zeit und danach, S. 182ff.
532
Ebd.
521
70
Meinen wie Husserl, sondern aktiv als ein Entdecken und Aufzeigen.533 Zusammenfassend
lässt sich feststellen: Erkennen der Wahrheit als eine Seinsweise des Daseins hat zur
Voraussetzung das In-der-Welt-sein des Daseins. Demnach ist die Wahrheit einer Aussage
keine Angleichung an ein außerhalb des Daseins befindliches Seiendes, vielmehr geht es um
das Entdecken und Aufdecken des innerweltlich Seienden.534
4.1.3 Wahrheit als Erschlossenheit
Da das Dasein über die Möglichkeit des Entdeckens verfügt, ist zugleich nach der Bedingung
der Möglichkeit für die Entdecktheit des innerweltlich Seienden zu fragen. Sie liegt laut
Heidegger in der Erschlossenheit des Daseins begründet. Die Erschlossenheit konstituiert sich
in verschiedenen Weisen (Befindlichkeit, Verstehen und Rede). „Sofern das Dasein wesenhaft
seine Erschlossenheit ist, als erschlossenes erschließt und entdeckt ist es wesenhaft »wahr«.
Dasein ist »in der Wahrheit«.“535 Charakteristisch für die Seinsverfassung des Daseins ist
seine Geworfenheit und der Entwurf.536 In der Geworfenheit kommt die Faktizität des
Daseins zum Ausdruck. Der Entwurf bedeutet die eigentliche Erschlossenheit, in der sich dem
Dasein die Möglichkeit zu seinem eigentlichen Seinkönnen erschließt. „Diese eigentliche
Erschlossenheit zeigt das Phänomen der ursprünglichen Wahrheit im Modus der
Eigentlichkeit. Die ursprünglichste und zwar eigentlichste Erschlossenheit, in der das Dasein
als Seinkönnen sein kann, ist die Wahrheit der Existenz.“537 Ebenso gilt, dass dem
eigentlichen Dasein ein uneigentliches gegenübersteht, dessen Seinsverfassung Heidegger mit
dem Ausdruck „Verfallen“ bezeichnet.538 Verfallensein heißt, dass das Dasein auch in der
Unwahrheit ist. „Zur Faktizität des Daseins gehören Verschlossenheit und Verdecktheit.“539
„Das Seiende ist verborgen und verdeckt und nur da, wo etwas verborgen und verdeckt ist,
kann das Dasein das Verborgene entdecken, so dass es unverborgen ist (Aletheia als
Unverborgenheit).“540 „Der volle existenzial-ontologische Sinn des Satzes »Dasein ist in der
Wahrheit« sagt gleichursprünglich mit: »Dasein ist in der Unwahrheit«. Aber nur sofern
Dasein erschlossen ist, ist es auch verschlossen.“541 Für Heidegger besteht die Herausforderung darin, die Möglichkeiten des eigenen Seinkönnens zu ergreifen, denn es droht immer die
Uneigentlichkeit. „Ohne in der Unwahrheit, der scheinhaften ‚Pseudo‘-Erschlossenheit des
Man zu sein, kann das Dasein auch nicht in der Wahrheit sein“542, denn: „Die Wahrheit
(Entdecktheit) muß dem Seienden immer erst abgerungen werden.“543
533
Ebd., S. 184.
Vgl. Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 94. Ergänzende Bemerkungen zur Aussage
finden sich in 3.1.4.3.2.
535
SuZ (GA 2), S. 292.
536
Ebd.
537
Ebd., S. 293.
538
Vgl. ebd.
539
Ebd., S. 294.
540
Vgl. Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 94.
541
SuZ (GA 2), S. 294.
542
Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 95.
543
SuZ (GA 2), S. 294.
534
71
Als Ergebnis kann mit Heidegger festgehalten werden: „1. Wahrheit im ursprünglichsten
Sinne ist die Erschlossenheit des Daseins, zu der die Entdecktheit des innerweltlichen
Seienden gehört. 2. Das Dasein ist gleichursprünglich in der Wahrheit und Unwahrheit.“544
Damit steht auch fest, dass die Wahrheit für Heidgger zur Grundverfassung des Daseins zählt
und deshalb als Existenzial gedeutet wird.545
4.1.4 Die ontologische Abkünftigkeit des traditionellen Wahrheitsbegriffes
Wenn Wahrheit im ursprünglichen Sinn Erschlossenheit des Daseins ist, kann gefolgert
werden, dass der traditionelle Wahrheitsbegriff ontologisch abkünftig ist von der Wahrheit
der Existenz. Erschlossenheit des Daseins als Möglichkeit des In-der-Welt-seins ist das
Fundament der Wahrheit der Aussage. „Die Aussage und ihre Struktur, das apophantische
Als, sind in der Auslegung und deren Struktur, dem hermeneutischen Als, und weiterhin im
Verstehen, der Erschlossenheit des Daseins, fundiert“546. Es genügt aber nicht, die
Abkünftigkeit der Aussagewahrheit auszuweisen, sondern es muss auch das Phänomen der
Abkünftigkeit der Übereinstimmung aufgezeigt werden.547 Heidegger setzt an bei der Rede, in
der sich das Dasein in Aussagen über das innerweltlich Seiende ausspricht. Aussagen gehören
zur Seinsweise des Zuhandenen. Sie dienen der Erkenntnis der Wahrheit. Die
Übereinstimmung zwischen idealem Urteilsgehalt und Gegenstand ist nach Heidegger keine
Übereinstimmung zwischen Psychischem und Physischem und besteht nicht in Vorstellungen
oder Bewusstseinsinhalten. „Übereinstimmung ist schlicht die Weise, in der die Wahrheit in
der Welt zuhanden, d.h. zu gebrauchen ist.“548 Die Wahrheit lässt sich nur mitteilen im
Ausgesprochenen, in der Aussage, in der Rede, in der Seinsweise des Zuhandenen. „Auf diese
Weise wird die Wahrheit, die ursprünglich als Erschlossenheit im Sinne der Beziehung
zwischen entdeckendem Sein und entdecktem Seienden zu verstehen ist, mittels der Aussage
zu einer Wahrheit im Sinne einer Übereinstimmung von intellectus und res.“549
4.1.5 Zwei äquivoke Wahrheitsbegriffe in Sein und Zeit
Heidegger legt in Sein und Zeit einen doppelten Wahrheitsbegriff vor: 1. Wahrheit im Sinne
des traditionellen Wahrheitsbegriffes, und 2. Wahrheit als Existenzial. Mit einer
Neuinterpretation korrigiert er sich selbst in einem Vortrag „Das Ende der Philosophie und
die Aufgabe des Denkens“ (Paris 1964)550 Er bezieht den Begriff Wahrheit nun nur noch auf
die Aussagewahrheit, während er die Erschlossenheit des Daseins als Unverborgenheit im
Sinne seiner Deutung des griechischen Begriffes a-letheia interpretiert. „Der griechische
544
Ebd., S. 295.
Vgl. ebd., S. 299.
546
Ebd., S. 295. Vgl. auch Abschnitt 2.1.4.3. der vorliegenden Untersuchung.
547
Vgl. ebd., S. 296.
548
Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 96.
549
Christof Landmesser: „Der existential-ontologische Wahrheitsbegriff Martin Heideggers“.. S. 156.
550
Vgl. ebd., S. 159.
545
72
Ausdruck Aletheia kann dann nicht mehr mit ‚Wahrheit’ übersetzt werden.“551 Obwohl
Heidegger jetzt die Identität des traditionellen Wahrheitsbegriffes mit dem Begriff a-letheia
bestreitet und die Frage nach der Unverborgenheit von der Frage nach der Wahrheit trennt,
besteht für ihn auch weiterhin das Fundierungsverhältnis, d.h. Wahrheit ist in der
Erschlossenheit des Daseins fundiert.
Diese Erschlossenheit des Daseins im Sinne der a-letheia ist an das Dasein gebunden und
existiert nur, solange es Dasein gibt. Das gilt beispielsweise auch für die Gesetze Newtons,
denn mit diesen Gesetzen hat Newton (Dasein) Seiendes entdeckt. „Die Gesetze Newtons
waren vor ihm weder wahr noch falsch, kann nicht bedeuten, das Seiende, das sie entdeckend
aufzeigen, sei vordem nicht gewesen. Die Gesetze wurden durch Newton wahr, mit ihnen
wurde für das Dasein Seiendes an ihm zugänglich.“552 Das bedeutet für die a-letheia nicht
Beliebigkeit oder Subjektivismus, denn das Dasein ist nicht in der Lage, subjektiv über die
Welt zu verfügen, sondern ist in der Seinsweise des In-der-Welt-seins und Mitseins mit
Anderen.553 Wir setzen immer schon das Dasein als Erschlossenheit des Daseins voraus. Sie
ist als Existenzial die Voraussetzung überhaupt. „Ohne Wahrheit als Entdeckendsein ist
überhaupt nichts.“554 Auch der Skeptiker muss als Voraussetzung seines Skeptizismus von der
Wahrheit ausgehen, denn sonst könnte er seinen Skeptizismus nicht voraussetzen. „So wenig
erwiesen ist, dass es »ewige Wahrheiten« gibt, so wenig ist es erwiesen, daß es je, was die
Widerlegungen des Skeptizismus trotz ihres Unternehmens im Grunde glauben – einen
»wirklichen« Skeptiker »gegeben« hat.“555 Heidegger kann zum Schluss des Paragraphen 44
deshalb feststellen: „Sein und Wahrheit »sind« gleichursprünglich.“556 In den Jahren nach
Sein und Zeit (1928–1932) findet in Heideggers Denken eine „Kehre“ statt. Ausdruck dafür
ist die Wiederaufnahme der Wahrheitsfrage in seinem mehrfach überarbeiteten Vortrag „Vom
Wesen der Wahrheit“ (1930).
4.1.6 Vom Wesen der Wahrheit
In seinem Vortrag „Vom Wesen der Wahrheit“, der zuerst 1930 in Bremen, Marburg und
Freiburg gehalten und erst 1943 in einer überarbeiteten Fassung gedruckt wurde, kreist
Heideggers Denken weiterhin zentral um den Begriff der a-letheia. Außerdem setzt er sich
wieder kritisch mit dem abkünftigen Korrespondenzbegriff der Wahrheit auseinander.557
Ferner philosophiert Heidegger über das Verhältnis von „Wahrheit und Freiheit“ und zum
Schluss seines Vortrages über das Thema „Wahrheit und Unwahrheit“. Beim Thema
„Wahrheit und Unwahrheit“ kommen auch zwei wichtige Begriffe zur Sprache, die bei einem
Vergleich zwischen Heidegger und von Balthasar von Bedeutung sind, nämlich „Irrtum“ und
551
Ebd.
SuZ (GA 2), S. 300.
553
Vgl. Andreas Luckner: Martin Heidegger. »Sein und Zeit«, S. 96 f.
554
Ebd., S. 97.
555
SuZ (GA 2), S. 303.
556
Ebd., S. 304.
557
Vgl. Dorothea Frede: „Wahrheit: Vom aufdeckenden Erschließen zur Offenheit der Lichtung“. In: Dieter
Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch (Stuttgart – Weimar 2003), S. 130.
552
73
„Geheimnis“. „Vom Wesen der Wahrheit“ ist kein Gelegenheitswerk. „Wie in den Vorträgen
»Was ist Metaphysik?« (1929) und »Der Ursprung des Kunstwerkes« (1935/36) wird auch in
»Vom Wesen der Wahrheit« der gewonnene Stand des Wesensdenkens in eine verdichtete
und streng gefügte Textgestalt gebracht. Der Text „Vom Wesen der Wahrheit zeigt, wie
Heidegger die Wahrheitsfrage nach ihrer ersten, fundamental-ontologischen Ausarbeitung in
einer Weise weitergeführt hat, die sich schon im Übergang zur seinsgeschichtlichen
Fragebahn befindet.“558 Das, was auf eine Kehre in Heideggers „Denk-Bewegung und DenkRichtung“559 hinweist, sind neue Begriffe und die Interpretation der Freiheit als Wesen der
Wahrheit. Die „Kehre“ wird von Heidegger so kommentiert: „Ich habe einen früheren
Standort verlassen, nicht um dagegen einen anderen einzutauschen, sondern weil auch der
vormalige Standort nur ein Aufenthalt war in einem Unterwegs. Das Bleibende im Denken ist
der Weg. Und Denkwege bergen in sich das Geheimnisvolle, dass wir sie vorwärts und
rückwärts gehen können, dass sogar der Weg zurück erst vorwärts führt.“ 560 Deshalb
verändern sich Begriffe bzw. werden durch neue ersetzt. Beispielsweise wird der Begriff „Inder-Welt-sein“ ersetzt durch den Begriff der „Ek-sistenz“, um den transzendentalen Charakter
des In-der- Welt-seins hervorzuheben.561 Die Schreibweise „Ek-sistenz“ statt „Existenz“
deutet auf eine Weiterentwicklung in der Denk-Bewegung hin. Es findet ein Wechsel der
Perspektive im Hinblick auf das Seiende statt: vom Besorgen hin zu einer gewissen
Eigenständigkeit, was dadurch zum Ausdruck kommt, dass der Begriff des „Entwurfs“ durch
„Offenständigkeit“ ersetzt wird. Das, was unter „Entwurf des Daseins“ zu verstehen ist, wird
dem „Sichunterwerfen unter das Seiende“ untergeordnet.562 Für das „Sichunterwerfen unter
das Seiende“ gebraucht Heidegger den Ausdruck das Sein-lassen.563 „Seinlassen – das
Seiende nämlich als das Seiende, das es ist- bedeutet, sich einlassen auf das Offene und
dessen Offenheit, in die jegliches Seiende hereinsteht, das jene gleichsam mit sich bringt.“564
Im Rahmen der Textanalyse der Freiheit als Wesen der Wahrheit und beim Thema „Wahrheit
und Unwahrheit“ wird genauer auf die Veränderungen in Heideggers Denk-Bewegung
eingegangen werden.
4.1.7 Blick auf das Wesen der Wahrheit
In der Hinführung zum Thema seines Vortrages verweist Heidegger darauf, dass es ihm
einzig um das Wesen der Wahrheit gehe und nicht um das Wesen irgendeines Teilbereiches
der Wahrheit: „Die Frage nach dem Wesen der Wahrheit kümmert sich nicht darum, ob die
558
Friedrich-Wilhelm v. Herrmann: Wahrheit, Freiheit, Geschichte. Eine systematische Untersuchung zu Heideggers Schrift Vom Wesen der Wahrheit (Frankfurt a.M. 2002), S. 44.
559
Hans Hübner: „Wahrheit und Wort: Heideggers ‚Vom Wesen der Wahrheit‘ und Wahrheit im Johannesevangelium“. In: Mrázek Jirí – Jan roskovec (Hrsg.): Testimony and Interpretation. Early Christology in its JudeoHellenistic Milieu. Studies in Honor of Petr Pokoruý (London [u.a.] 2004), S. 202-222, hier S. 206.
560
US (GA 12), S. 94.
561
Vgl. Celestine Chibueza Uzondo: Die Fundierung des Erkennens im „Verstehen“ in Heideggers Sein und
Zeit und danach, S. 198.
562
Vgl. ebd., S. 199.
563
Martin Heidegger: WdW in WM (GA 9), S. 188.
564
Ebd.
74
Wahrheit jeweils eine Wahrheit der praktischen Lebenserfahrung oder einer wirtschaftlichen
Berechnung, je die Wahrheit einer technischen Überlegung oder der politischen Klugheit, im
besonderen eine Wahrheit der wissenschaftlichen Forschung oder einer künstlerischen
Gestaltung, oder gar die Wahrheit einer denkenden Besinnung oder eines kultischen Glaubens
ist.“565
Zunächst setzt sich Heidegger – ähnlich wie in Sein und Zeit – mit dem traditionellen
Wahrheitsbegriff, der durch die Idee der Übereinstimmung erklärt wird (veritas est
adaequatio rei et intellectus), auseinander. Dazu bemerkt er: „Das Wahre, sei es eine wahre
Sache oder ein wahrer Satz, ist das was stimmt, das Stimmende. Wahrsein und Wahrheit
bedeuten hier Stimmen, und zwar in der gedoppelten Weise: einmal die Einstimmigkeit einer
Sache mit dem über sie Vorgemeinten und zum anderen die Übereinstimmung des in der
Aussage Gemeinten mit der Sache.“566 Bei Heidegger geht diese Struktur auf das
mittelalterlich-thomanische Wahrheitsverständnis zurück. „Die Möglichkeit der Wahrheit
menschlicher Erkenntnis gründet, wenn alles Seiende ein »geschöpfliches« ist, darin, dass
Sache und Satz in gleicher Weise ideegerecht und deshalb aus der Einheit des göttlichen
Schöpfungsplanes aufeinander zugerichtet sind. Die veritas als adaequatio rei (creandae) ad
intellectum (divinum) gibt die Gewähr für die veritas als adaequatio intellectus (humani) ad
rem (creatam).“567 D.h., dass Verstand und die Dinge, die er erfasst, gemäß der göttlichen
Idee beschaffen sind. Das ist auch, so Josef Pieper, die Lehre des Thomas von Aquin.568 Doch
Pieper moniert zwei „charakteristische Fehldeutungen und Missdeutungen“, die Heidegger
bei seiner Interpretation der mittelalterlichen Seinslehre unterlaufen.569 Vor allem die zweite
Fehldeutung ist für unseren Zusammenhang von Interesse, weil es hier um die zentrale These
im Heideggerschen Wahrheitsverständnis geht, nämlich um die These vom Wahrsein als
Entdeckendsein. Heidegger übersehe in seiner These, so Pieper, eine gleichlautende
mittelalterliche These. „Der Satz des Hilarius von Poitier, verum est manifestum esse- das
Wahre ist Sein enthüllend, und der andere Satz Augustins »veritas est qua ostenditur id quod
est« – Wahrheit ist, wodurch sich zeigt, was ist, stehen zeitlich am Beginn der
mittelalterlichen Reflexion über das Wesen der Wahrheit, und beide Sätze – vermutlich beide
in gleicher Weise Übersetzungen antiker Formulierungen wie auch Heideggers eigene
Wendung – beide Sätze gehören zum Grundbestand der in den mittelalterlichen Quaestiones
immer wieder angeführten auctoritates.“570 Auch Heidegger weist auf die Antike hin, nämlich
auf Aristoteles und vor Aristoteles auf die Vorsokratiker Anaximander, Heraklit und
Parmenides. Aristoteles habe als erster die Aussagewahrheit als Übereinstimmung von
565
Ebd., S. 177.
Ebd., S. 179f.
567
Ebd., S. 180f.
568
Josef Pieper: „Heideggers Wahrheitsbegriff“. In: Berthold Wald (Hrsg.) Schriften zum Philosophiebegriff
(Hamburg 1995), S. 186-198, hier S. 188f.
569
Vgl. ebd.
570
Ebd., S. 189 f.
566
75
Aussage und Sache (ὁμοίωσις) auf den Begriff gebracht.571 Die Vorsokratiker hätten als erste
in der Überlieferungsgeschichte die Wahrheit (a-letheia) „als die Unverborgenheit des
Seienden in seinem Sein“572 erfahren.
Nachdem Heidegger das mittelalterliche Wahrheitsverständnis analysiert hat und ihm eine
Darstellung nach der Schöpfungsordnung attestiert hat, wendet er sich dem
Wahrheitsverständnis zu, das im säkularen Verständnis der Wahrheit, in der sogenannten
vernünftigen Weltordnung, in der es um die Beachtung der Gesetze der Logik geht, zum
Tragen gekommen ist. Man übernehme auch im säkularen Verständnis der Wahrheit, so Heidegger, „[d]aß das Wesen der Satzwahrheit in der Richtigkeit der Aussage besteht […].“573
Man setze auch das Wesen der Wahrheit im Sinne der adaequatio intellectus ad rem als
selbstverständlich voraus. Auch tradiere man die Überzeugung, dass „die Sachwahrheit
immer die Einstimmigkeit des vorhandenen Dinges mit seinem »vernünftigen«
Wesensbegriff“574 ist. Damit zusammenhängend nehme man auch selbstverständlich an, dass
es ein Gegenteil der Wahrheit gäbe, nämlich die Unwahrheit. Die Unwahrheit werde immer
als ein Nichtstimmen dargestellt. Und so stellt Heidegger die Frage nach dem Wesen der
Wahrheit neu, nachdem es selbstverständlich geworden war, Wahrheit losgelöst von der
Frage nach dem Wesen des Seins alles Seienden, zu denken. Für Heidegger kann das Wesen
der Wahrheit nicht erkannt werden, wenn man die Frage nach dem Wesen des Menschen
außen vor lässt.575
Im zweiten Abschnitt steht die Frage nach dem Grund, der es ermöglicht, dass man von einer
Übereinstimmung sprechen könne, im Zentrum des Gedankenganges. Es geht um zwei Arten
der Übereinstimmung, um die Übereinstimmung zwischen zwei und mehreren Dingen und
um die Übereinstimmung zwischen Aussage und Ding. Zwei Sachen können übereinstimmen,
wenn sie in Einem übereinstimmen. Es handelt sich bei diesem Einen um dingliche
Eigenschaften (Aussehen, Gestalt, Material, Zweck).“576 In dieser Weise können Aussage und
Ding nicht übereinstimmen: „Die Ungleichheit von Aussage und Ding ist so groß, dass sie
keine Gleichheit, keine Übereinstimmung zuzulassen scheint.“577 Um das Problem der
Übereinstimmung bzw. der Angleichung zwischen Aussage und Ding erklären zu können, ist
es notwendig, die Weise der Beziehung zwischen Aussage und Ding zu betrachten. Aber es
reicht nicht aus, die Art der Beziehung zu erklären, sondern es darf das Wesen der Beziehung
nicht „unbestimmt“ und „ungegründet bleiben“578 D.h., man muss nach dem Grund suchen,
nach der Bedingung der Möglichkeit, „worin die Beziehung von Aussage und Sache
gründet.“579 Beispielsweise bezieht sich die Aussage über ein Geldstück, dass es rund ist oder
571
Vgl. Friedrich- Wilhelm v. Herrmann: Wahrheit, Freiheit, Geschichte, S. 71.
Ebd.
573
Martin Heidegger: WdW in WM (GA 9), S. 181.
574
Ebd.
575
Vgl. ebd.
576
Vgl. Friedrich Wilhelm von Herrmann: Wahrheit, Freiheit, Geschichte, S. 74.
577
Ebd., S. 74.
578
Martin Heidegger: WM (GA 9), S. 183.
579
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Wahrheit, Freiheit, Geschichte, S. 75.
572
76
dass es aus Metall ist, „auf dieses Ding, indem sie es vor-stellt und vom Vor-gestellten sagt,
wie es mit ihm selbst nach der je leitenden Hinsicht bestellt sei.“580 „Vor-stellen“ mit
Bindestrich bedeutet bei Heidegger nichts Psychologisches oder Bewusstseinstheoretisches,
sondern das „Vor-gestellte“ ist das Ding selbst. „Vor-stellen“ bedeutet, „das Entgegenstehenlassen des Dinges als Gegenstand“.581 Hier erweist sich Heidegger – wie in Sein und Zeit – als
Phänomenologe, dem es um das Sich-an-ihm-selbst-zeigende geht. Das Sich-an-ihm-selbstzeigende steht entgegen als Gegenstand heißt, der Gegenstand steht in einem Bereich, der von
Heidegger jetzt als etwas Offenes, nicht Verschlossenes beschrieben wird. Aber das Offene
des Offenen ist keine Kreation des Menschen, das durch das menschliche Vor-stellen
zustande käme, „sondern der Mensch ist Mensch durch seinen Bezug zum Offenen.“ 582 Er
steht in Bezug zum Entgegenstehenden, denn das Entgegenstehende könnte als gänzlich
Unbekanntes, gänzlich Verschlossenes nicht im Bereich des Offenen stehen. 583 Heidegger
nennt diesen Bezug zum Offenen, diesen Bezug des Vor-stellenden zur Lichtung des Offenen
die „Offenständigkeit“. Aus diesem Grund ist das Verhalten des Menschen dem Sein
gegenüber offenständig. Heidegger scheint hier den Begriff des Entwurfes durch den Begriff
der Offenständigkeit zu ersetzen, was nicht heißt, dass der Entwurfscharakter des Daseins
gänzlich geleugnet würde, „aber der Entwurf selbst wird im Sinne des Freilegens des
Seienden verstanden, das im offenständigen Verhalten vollzogen wird“.584 Verhalten als ein
zentraler Begriff in Heideggers Philosophie bedeutet „in Bezug stehen zu“ (Bezugssinn). Die
Offenständigkeit des Menschen ist unterschiedlich, da sie abhängt von „der Art des Seienden
und der Weise des Verhaltens […].“585.
Wie ist nun das Verhältnis der Aussage zur Sache im Urteil? Durch seine Offenständigkeit ist
es dem Menschen möglich, sich nach der Sache auszurichten, das Seiende auszusagen, so wie
es ist. Nur so kann der Vor-stellende sich das Entgegenstellende vor-stellen und eine Aussage
darüber machen, wie es beschaffen ist. „Das Wahre als das Richtige ist so zurückgeführt auf
das, was es als Richtiges ermöglicht: die Offenständigkeit.“586 Nur durch die Offenständigkeit
des Verhaltens „kann überhaupt Offenbares zum Richtmaß werden für die vor-stellende
Angleichung“.587 Damit ist aber noch nicht beantwortet, was der Grund für die Ermöglichung
der Richtigkeit ist. Heidegger gibt im 3.Abschnitt seines Vortrages eine Antwort.
580
Martin Heidegger: WM (GA 9), S. 183 f.
Ebd., S. 184.
582
Celestine Chibueza Uzondo: Die Fundierung des Erkennens im „Verstehen“ in Heideggers Sein und Zeit und
danach, S. 208.
583
Vgl. ebd.
584
Ebd., S. 199.
585
Martin Heidegger: WdW in WM (GA 9), S. 184.
586
Celestine Chibueza Vgl. Uzondo: Die Fundierung des Erkennens im „Verstehen“ in Heideggers Sein und
Zeit und danach, S. 209.
587
Martin Heidegger: WdW in WM (GA 9), S. 185.
581
77
4.1.8 Wahrheit und Freiheit
Die dritte Frage Heideggers zu Beginn des 3. Abschnittes fragt nach dem Grund für die
Ermöglichung der Richtigkeit der Wahrheit der Aussage: „Wie allein kann dergleichen wie
die Leistung der Vorgabe einer Richte und die Einweisung in ein Stimmen geschehen?“588
Die Antwort darauf gibt er einige Zeilen später: „Die Offenständigkeit des Verhaltens als
innere Ermöglichung der Richtigkeit gründet in der Freiheit.“589 Das ist eine gewagte
Behauptung, und so sieht es Heidegger selbst, denn ohne Erklärung klingt seine Behauptung
keineswegs plausibel. Deswegen bringt Heidegger zunächst die Einwände, die im
traditionellen Freiheitsverständnis gegen seine These sprechen, vor, „[d]enn im Begriff der
Freiheit denken wir aber doch nicht die Wahrheit und schon gar nicht ihr Wesen. Der Satz,
das Wesen der Wahrheit (Richtigkeit der Aussage) sei die Freiheit, muß daher befremden.“590
Es handelt sich bei diesem Einwand nicht um einen rhetorischen Einwand, sondern um einen
Einwand derer, die das Wesen der Freiheit im traditionellen Sinn verstehen. Im traditionellen
Verständnis der Wahrheit klingt die Behauptung, das Wesen der Wahrheit ist die Freiheit,
nach Beliebigkeit, nach Subjektivität, nach Willkür.591 Der zweite Einwand der Gegner seiner
These besteht in der Behauptung der Unvergänglichkeit und Ewigkeit der Wahrheit. Unter
Voraussetzung dieser These, könne man nicht erkennen, wie das Wesen der Wahrheit in der
Freiheit des Menschen gründen könne.592 Die Denker des traditionellen Wahrheitsverständnisses sind zudem davon überzeugt, dass alle Formen der Unwahrheit nur dem
Menschen aufgelastet werden dürften. Um Heideggers These, dass die Freiheit das Wesen der
Wahrheit sei, verstehen zu können, ist es nötig, alle Vormeinungen, also vor allem diejenigen,
die als selbstverständlich in der Tradition galten, zu hinterfragen. Für Heidegger ist die
hartnäckigste dieser Vormeinungen: „die Freiheit ist eine Eigenschaft des Menschen. Das
Wesen der Freiheit braucht und duldet keine weitere Befragung. Was der Mensch sei, weiß
jedermann.“593
Im vierten Abschnitt seiner Ausführungen zum „Wesen der Wahrheit“ erklärt Heidegger, wie
es um den Zusammenhang zwischen der Aussagewahrheit und der Freiheit in
phänomenologischer Sicht steht, um so die Vormeinungen zu widerlegen. Voraussetzung dafür ist eine Bereitschaft zu einer Änderung des Denkens.594 Erinnert sei hier an Platos Kampf
gegen die Meinung (δόξα).595 Erinnert sei an Kant: „Wenn man sich vergegenwärtigt, dass
z.B. Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“ die Urteilswahrheit in der transzendentalen
Wahrheit fundiert sein lässt, dann erscheint die fundamentalontologische und auch die
seinsgeschichtliche Gründung der Aussagewahrheit in einem ontologisch früheren Bereich
588
Ebd.
Ebd., S. 186.
590
Ebd.
591
Vgl. ebd.
592
Vgl. ebd., S. 187.
593
Ebd.
594
Vgl. ebd.
595
Celestine Chibueza Uzondo: Die Fundierung des Erkennens im „Verstehen“ in Heideggers Sein und Zeit und
danach, S. 211.
589
78
nicht mehr als Außergewöhnliches.“596 Man muss allerdings bereit sein, Heideggers
Verständnis des Daseins nachzuvollziehen und seine Ablehnung des traditionellen Begriffes
des Menschen als animal rationale bzw. als Subjekt mitzugehen. Wie erklärt er nun das
Wesen der Freiheit? Indem er zunächst feststellt: „Das Offenbare, dem sich ein vorstellendes
Aussagen als richtiges angleicht, ist das jeweils in einem offenständigen Verhalten offene
Seiende.“597 Und dann erklärt: „Die Freiheit zum Offenbaren eines Offenen lässt das jeweilige
Seiende das Seiende sein, das es ist. Freiheit enthüllt sich jetzt als das Sein-lassen von
Seiendem.“598 Seinlassen hat einen ontologischen – und nicht einen ontischen Sinn. Im
ontischen Sinn bedeutet Seinlassen etwas Negatives: „[…]Absehen von etwas, des
Verzichtens auf etwas, der Gleichgültigkeit und gar der Unterlassung.“599 Im ontologischen
Verständnis bedeutet Sein-lassen positiv, „das Sicheinlassen auf das Seiende“, „sich einlassen
auf das Offene und dessen Offenheit, in die jegliches Seiende hereinsteht, das jene gleichsam
mit sich bringt.“600 Das Sein-lassen in „Vom Wesen der Wahrheit“ ist weiter gefasst als der
Begriff der Bewandtnis in Sein und Zeit: „weiter gefaßt, über die jeweilige Umwelt hinaus in
die Weite des Seienden im Ganzen. Solches Sein-lassen des Seienden ist das primäre
Offenbarwerdenlassen jedes möglichen Seienden, das in „Sein und Zeit“ ontologisch als Zeug
und Zuhandenes bezeichnet wird.“601 Heidegger geht davon aus, dass „das Offene“ dem
griechischen Wort τὰ ἀλήθεια, das er mit Unverborgenheit übersetzt, entspricht. Die
Übersetzung des griechischen Wortes ἀλήθεια mit „Wahrheit“ verdecke mit seinem Bezug
zur Richtigkeit der Aussage das wahre Wesen der Wahrheit, das im Griechischen anklinge.602
Heidegger führt nun im Zusammenhang mit der Übersetzung von ἀ-λήθεια als
„Unverborgenheit“ zwei neue ontologische Begriffe ein: 1. „Entborgenheit“ und 2.
„Entbergung“.603 Diese Übersetzung (Unverborgenheit) enthalte eine Weisung, „den
gewohnten Begriff der Wahrheit im Sinne der Richtigkeit der Aussage um-und
zurückzudenken in jenes noch Unbegriffene der Entborgenheit und der Entbergung des
Seienden.“604 Unter Entborgenheit ist die Unverborgenheit als Offenheit gemeint und unter
Entbergung des Seienden ist „das vorprädikative Entdecken und Offenbarmachen des
Seienden“605 zu verstehen. Da Heidegger die Offenheit als Unverborgenheit bezeichnet, kann
er eine Verbindung zwischen Sicheinlassen (Freiheit) und Entborgenheit herstellen. „Das auf
das Wesen der Wahrheit hin erblickte Wesen der Freiheit zeigt sich als die Aussetzung in die
Entborgenheit des Seienden.“606 Heidegger sieht einen Zusammenhang zwischen aus-setzend
596
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Wahrheit, Freiheit, Geschichte, S. 106.
Martin Heidegger: WdW in WM (GA 9), S. 188.
598
Ebd.
599
Ebd.
600
Ebd.
601
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Wahrheit, Freiheit, Geschichte, S. 110.
602
Vgl. Martin Heidegger: WdW in WM (GA 9), S. 188.
603
Vgl. ebd.
604
Ebd.
605
Vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Wahrheit, Freiheit, Geschichte, S. 113.
606
WdW in WM (GA 9), S. 189.
597
79
(Substantiv: Aussetzung) und ek-sistent. „Aussetzung ist der ek-sistente Grundzug der
Freiheit, das zweifach-einige Sichaussetzen der Entborgenheit als der Offenheit und der
Entbergung des Seienden in und aus der Entborgenheit und Offenheit.“607
Freiheit ist nicht nur, was gewöhnlich als negative oder positive Freiheit verstanden wird.
Freiheit ist also nicht nur Wahlfreiheit oder Unabhängigkeit des Verhaltens. Es geht auch
nicht nur darum willens zu sein, „Gefordertes und Notwendiges“608 zu tun. Freiheit ist im
Wesen ein Sicheinlassen auf das Unverborgene, auf die Entborgenheit des Seienden, auf das
Offene und dessen Offenheit.
Dasein als Ek-sistenz ist der Wesensgrund des Menschen und nicht das Existenzielle der
Existenzphilosophie oder die Existenz im Sinne von Wirklichkeit (existentia).
Am Ende des vierten Abschnittes geht es um schwierige Fragen: 1. Besitzt der Mensch die
Freiheit als Eigenschaft? 2. Wann beginnt die Geschichte? 3. Wie steht es um das Verhältnis
von Wahrheit und Unwahrheit? Die erste Frage beantwortet Heidegger zunächst
überraschend, indem er sozusagen die Besitzverhältnisse in ihr Gegenteil verkehrt. „Der
Mensch »besitzt« die Freiheit nicht als Eigenschaft, sondern höchstens gilt das Umgekehrte:
die Freiheit, das ek-sistente, entbergende Da-sein besitzt den Menschen und das so
ursprünglich, dass einzig sie einem Menschentum den alle Geschichte erst begründenden und
auszeichnenden Bezug zu einem Seienden im Ganzen als einem solchen gewährt.“ 609 Jetzt
sind wir schon mitten bei der Beantwortung der zweiten Frage, die nach der Geschichtlichkeit
der menschlichen Ek-sistenz fragt. Nicht ein allgemeines Menschentum ist gemeint, sondern
ein geschichtliches. „Die ek-sistente Freiheit gewährt einem bestimmten geschichtlichen
Menschentum seinen bestimmten geschichtlichen Bezug zu einer bestimmten geschichtlichen
Entborgenheitsweise des Seienden im Ganzen.“610 Die abendländische Geschichte beginnt mit
der Frage der Griechen nach dem Sein im Ganzen. „Erst wo das Seiende selbst eigens in seine
Unverborgenheit gehoben und verwahrt wird, erst wo diese Verwahrung aus dem Fragen nach
dem Seienden als solchem begriffen ist, beginnt die Geschichte.“611 Was ist nun dieses
Seiende im Ganzen? Es ist auf jeden Fall nicht die „Summe des gerade bekannten Seienden.
Im Gegenteil. Wo für den Menschen das Seiende wenig bekannt und durch die Wissenschaft
kaum oder nur roh erkannt ist, kann die Offenbarkeit des Seienden im Ganzen wesentlicher
walten als dort, wo das Bekannte und jederzeit Kennbare unübersehbar geworden ist und der
Betriebsamkeit des Kennens nichts mehr zu widerstehen vermag, indem sich die technische
Beherrschbarkeit der Dinge grenzenlos gebärdet.“612 Heidegger beschreibt im 5. Abschnitt
(„Das Wesen der Wahrheit“) die Verwiesenheit des geschichtlichen Menschen in seinem
Verhalten durch die Gestimmtheit (Stimmung) auf das Ganze des Seienden. Die Stimmung
darf nicht mit „Erlebnis“ oder „Gefühl“ gleichgesetzt werden: „Eine Gestimmtheit, d.h. eine
607
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Wahrheit, Freiheit, Geschichte, S. 115.
Martin Heidegger: WdW in WM (GA 9), S. 189.
609
Ebd., S. 190.
610
Friedrich –Wilhelm von Herrmann: Wahrheit, Freiheit, Geschichte, S. 129.
611
Martin Heidegger: WdW in WM (GA 9), S. 190.
612
Ebd., S. 192.
608
80
ek-sistente Ausgesetztheit in das Seiende im Ganzen, kann nur »erlebt« und »gefühlt«
werden, weil der »erlebende Mensch«, ohne das Wesen der Stimmung zu ahnen, je eine das
Seiende im Ganzen entbergende Gestimmtheit eingelassen ist.“613 Das Eingelassensein deutet
hin auf die Geworfenheit des Daseins. Das Sein im Ganzen bleibt unberechenbar und
ungreifbar und lässt sich im täglichen Verhalten des Menschen nicht ergreifen. 614 Es bleibt
verborgen. „In der ek-sistenten Freiheit des Daseins ereignet sich die Verbergung des
Seienden im Ganzen, ist die Verborgenheit.“615 Die dritte Frage nach dem Verhältnis
zwischen Wahrheit und Un-wahrheit wird im 4. Abschnitt summarisch zusammengefasst und
erst im 6. Abschnitt in Zusammenhang mit der Verbergung ausführlich zur Sprache gebracht.
4.1.8.1 Wahrheit und Un-Wahrheit
Die Abschnitte 6 und 7 handeln von Wahrheit, Un-wahrheit, Geheimnis und Irre (Irrtum). All
diese Begriffe haben in Heideggers Seinsphilosophie einen radikal anderen Inhalt als in der
traditionellen Philosophie. Wahrheit meint nicht in erster Linie die Satzwahrheit, sondern die
Unverborgenheit (Entborgenheit). Deshalb meint auch der Begriff der Un-wahrheit nicht in
erster Linie Lüge oder Irrtum und Ähnliches und nicht das Gegenteil von Wahrheit, sondern
deutet hin auf Verborgenheit. „Die Verborgenheit versagt der ἀλήθεια das Entbergen und
lässt sie noch nicht als στέρσις (Beraubung) zu, sondern bewahrt ihr das Eigenste als
Eigentum.“616 Was ist das Wesen der Verborgenheit und wie steht es um das Verhältnis
zwischen Verborgenheit und Wahrheit? Drei Verben kennzeichnen das aktive Verhalten der
Verborgenheit gegenüber der Wahrheit: 1. versagen, 2. zulassen und 3. bewahren. Beginnen
wir mit dem Versagen. Die Verborgenheit versagt der ἀλήθεια erstens das Entbergen, d.h. die
Verborgenheit ist verantwortlich dafür, dass Wahrheit nicht ans Licht kommt. Was lässt die
Verborgenheit zweitens noch nicht zu? Sie lässt nicht zu, dass das Dasein die Wahrheit an
sich reißen kann. Drittens bewahrt die Verborgenheit der Wahrheit (ἀλήθεια) das Eigenste als
Eigentum. Das heißt, dass die Verborgenheit zutiefst mit der Wahrheit verbunden ist. Sie
bewahrt der Entbergung (ἀλήθεια) das Eigenste als Eigentum, was auf eine ganz besondere
Verbindung hindeutet, indem sie dafür sorgt, dass der Entbergung nichts abhanden kommt.
Durch dieses Ineinander von Versagen, Zulassen und Bewahren, von Verborgenheit und
Entborgenheit wird ein streitbares Verhältnis zwischen Verbergung und Entborgenheit
erkennbar.617. Dieses Verhältnis zeigt sich auch in der Weise, dass die Wahrheit (ἀλήθεια) in
der Verborgenheit gründet. Die Verborgenheit erweist sich in diesem Verhältnis als die
eigentliche Unwahrheit. „Die Un-wahrheit ist so nicht etwa das Gegenteil der Wahrheit,
sondern ihre ursprüngliche Voraussetzung eben als Verborgenheit.“618 Die Vorsilbe „Un-“
613
Ebd.
Vgl. ebd., S. 193.
615
Ebd.
616
Ebd.
617
Vgl. Celestine Chibueza Uzondo: Die Fundierung des Erkennens im „Verstehen“ in Heideggers Sein und
Zeit und danach, S. 216.
618
Ebd., S. 217.
614
81
wie in Un-wahrheit, Un-verborgenheit, Un-wesen bedeutet nicht eine Verneinung, ein Nicht
an Wahrheit im traditionellen Sinn (etwa Lüge statt Wahrheit), sondern ein „Ur-“ (wie in
Ursprung etc.), ein ursprünglich zur Wahrheit Gehöriges.619 Dabei ist es so, dass die
Verborgenheit älter ist als die Wahrheit (ἀλήθεια) „Die Verborgenheit des Seienden im
Ganzen, die eigentliche Un-wahrheit, ist älter als jede Offenbarkeit von diesem und jenem
Seienden. Sie ist älter auch als das Seinlassen selbst, das entbergend schon verborgen hält und
zur Verbergung sich verhält.“620 Älter-sein darf nicht zeitlich missverstanden werden, sondern
sagt etwas aus über das Fundierungsverhältnis und zwar derart, dass die Verborgenheit der
Wahrheit zugrunde liegt.621 Heidegger bezeichnet nun die Verborgenheit – er nennt sie auch
„Verbergung des Verborgenen im Ganzen“622 – „Geheimnis“ und beschreibt sie als das
eigentliche Un-wesen der Wahrheit. Gewöhnlich hat der Begriff Unwesen etwas mit
Verunstaltung zu tun Aber bei Heidegger, der Un-wesen mit Bindestrich schreibt, erhält
dieser Begriff einen neuen Inhalt. Un-wesen bezeichnet bei Heidegger das vor-wesende
Wesen.623 Das bedeutet, „daß die Verborgenheit als das eigentliche Un-wesen der Wahrheit
selbst auch ein »Wesen«, selbst ein wesendes, waltendes Wesen ist.“624 Es ist in seinem
Versagen, Zulassen und Bewahren von Entbergung, Weisung gebend für die Entbergung des
Seienden.625 Wenn der Mensch diese Zusammenhänge vergisst, wenn er also die Verbergung
des Verborgenen (das Geheimnis) vergisst, bleibt er beim Gangbaren und Beherrschbaren
auch da, wo es das Erste und Letzte gilt. Worauf bezieht nun Heidegger die Begriffe das
„Gangbare“ und das „Beherrschbare“? Das wird gegen Ende des 6. Abschnittes deutlich. Der
Mensch bewegt sich, wie es schon in Sein und Zeit bei der Beschreibung des Man und beim
Verfallen als Uneigentlichkeit beschrieben wurde, im Gängigen. Heidegger spricht in „Vom
Wesen der Wahrheit“ von der „Ansässigkeit im Gängigen“. Das heißt konkret, er bleibt in
dem gefangen, was man so sagt und macht, was dem Zeitgeist entspricht. Das hat auch
Konsequenzen für den „geschichtlichen Menschen“. Der Mensch wird, so sagt Heidegger,
stehengelassen „in seinem Gangbaren bei seinen Gemächten“.626 Der Mensch entnimmt seine
Maßstäbe aus Technik und Wissenschaft. „Wissenschaftliche Technik und technische
Wissenschaft sind zweifellos heute die Maß-gebenden Mächte für das Leben im Ganzen
geworden.“627 Der Mensch wendet sich weg vom Geheimnis, er wendet sich hin zu Technik
und Wissenschaft und entnimmt der Technik und Wissenschaft seine Maßstäbe. „Statt auf die
Weisung zur Entbergung aus der Verbergung zu achten, statt aus dieser Weisung seine Maße
für sein Selbst- und Weltverhältnis zu nehmen, entnimmt er seine Maße lediglich den
619
Vgl. ebd., S. 216.
Martin Heidegger: WdW in WM (GA 9), S. 194.
621
Vgl. Celestine Chibueza Uzondo: Die Fundierung des Erkennens im „Verstehen“ in Heideggers Sein und
Zeit und danach, S. 217.
622
Martin Heidegger: WdW in WM (GA 9), S. 194.
623
Vgl. ebd.
624
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Wahrheit, Freiheit, Geschichte, S. 154.
625
Vgl. ebd., S. 161.
626
Vgl. Martin Heidegger: WdW in WM (GA 9), S. 195.
627
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Wahrheit Freiheit Geschichte, S. 167.
620
82
Bedürfnissen und Absichten, Planungen und Vorhaben im Horizont der technischwissenschaftlichen Beherrschbarkeit des Seienden im Ganzen.“628 So existiert der Mensch
uneigentlich, insistent, umhergetrieben. Allerdings gehören das Dasein in seiner Ek-sistenz
und das Dasein in seiner insistenten Zuwendung zum Gangbaren zusammen. „E k - s i s t e n t
i s t d a s D a s e i n i n s i s t e n t . Auch in der insistenten Existenz waltet das Geheimnis, aber
als das vergessene und so »unwesentlich« gewordene Wesen der Wahrheit.“629 Heidegger
deutet durch das Setzen von Anführungszeichen an, dass er das Wort unwesentlich nicht in
einer gewöhnlichen Bedeutung meint. Heidegger meint hier: „Das »unwesentlich« gewordene
Wesen ist das nicht vor-wesende Wesen.“. Das »un« in »unwesentlich« ist jenes »nicht«, das
im Sichversagen der Verbergung beschlossen ist.“630 Damit ist der Übergang vom Geheimnis
(Verbergung des Verborgenen) zum Irrtum (Irre) erreicht. Auch das Wort Irrtum ist nicht im
gewöhnlichen Sinn zu interpretieren derart, dass es dem Sprichwort „errare humanum est“
entspricht. Irren (Irrtum) ist bei Heidegger eine Weise der Un-wahrheit, aber nicht im Sinne
einer Verbergung des Verborgenen. Irren bedeutet also nicht, ich habe mich beispielsweise in
der Straße geirrt oder den falschen Namen gesagt etc.; Heidegger formuliert es vielmehr so:
„Die Umgetriebenheit des Menschen weg vom Geheimnis hin zum Gangbaren, fort von
einem Gängigen, fort zum nächsten und vorbei am Geheimnis, ist das Irren.“631 Während die
Verbergung des Verborgenen (das Geheimnis) die eigentliche Un-wahrheit ist, ist die Irre
(Irrtum) eine zweite Form der Un-wahrheit, das wesentliche Gegenwesen zum anfänglichen
Wesen der Wahrheit. „Die Irre ist das wesentliche Gegenwesen zum anfänglichen Wesen der
Wahrheit.“632 Was soll das heißen? „Das »anfängliche« Wesen ist das »ursprüngliche« Wesen
der Wahrheit. Die »Verbergung des Verborgenen«, zu lesen als genitivus subjectivus, gehört
als das vorwesende Wesen, als die Herkunft, in das anfängliche, ursprüngliche Wesen der
Wahrheit, das aus der Verbergung anfängt. Die Irre gehört demgegenüber als das wesentliche
Gegenwesen so zum anfänglichen, ursprünglichen Wesen der Wahrheit, dass die gewährte
Entborgenheitsweise durch die Weisen des Beirrens bestimmt ist.“633 Bei Heidegger gehört
das Gegenwesen wesentlich zum Wesen dazu. Bei Hegel dagegen stehen These und
Gegenthese in einem dialektischen Spannungsverhältnis (dialektische Methode). In einem
dialektischen Prozess ergibt sich dann die Synthese. Hegel versucht die Widersprüche
aufzulösen. Heidegger lässt die Gegensätze stehen, löst die Widersprüche nicht auf, sondern
zeigt ihr notwendiges Zusammengehören auf.634 Welche Auswirkungen hat das volle Wesen
der Wahrheit, dass die zweifache Gestalt des Un-wesens (Geheimnis und Irre) einschließt auf
das Da-sein?635 Heidegger spricht von der zweifachen Not: „Gemeint ist das Hin und Her
628
Ebd.
Martin Heidegger: WdW in WM (GA 9), S. 196.
630
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Wahrheit, Freiheit, Geschichte, S. 171.
631
Martin Heidegger: WdW in WM (GA 9), S. 196.
632
Ebd., S. 197.
633
Friedrich–Wilhelm von Herrmann: Wahrheit, Freiheit, Geschichte, S. 188.
634
Vgl. Celestine Chibueza Uzondo: Die Fundierung des Erkennens im „Verstehen“ in Heideggers Sein und
Zeit und danach, S. 220.
635
Vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Wahrheit, Freiheit, Geschichte, S. 186.
629
83
zwischen dem nötigenden Walten des Geheimnisses und dem nötigenden Beirren durch die
Irre.“636 Dieses Hin und Her zwischen Geheimnis und Irre gehört wesentlich zum Da-sein und
damit zum Menschsein in seiner geschichtlichen Ek-sistenz. „Die Irre, durch die der Mensch
geht, ist nichts, was nur gleichsam neben dem Menschen herzieht wie eine Grube, in die er
zuweilen fällt, sondern die Irre gehört zur inneren Verfassung des Daseins, in das der
geschichtliche Mensch eingelassen ist.“637
Im nächsten Abschnitt geht es im Wesentlichen um die Interpretation des Satzes aus den
Anmerkungen in „Vom Wesen der Wahrheit“: „Die Frage nach dem Wesen der Wahrheit
entspringt aus der Frage nach der Wahrheit des Wesens.638 Dies dient der Hinführung zum
Abschnitt 4.1.2.5.: „Die ‚Kehre‘ und der Wandel in Heideggers Wahrheitsverständnis.“
4.1.8.2 Die Wahrheit des Wesens
Als Überschrift dieses Abschnittes steht mit Absicht „Die Wahrheit des Wesens“, denn in
diesem zweiten Abschnitt des angesprochenen Satzes geht es um Wesentliches in Heideggers
Denkweg, um eine innige Vernetzung von Wahrheitsfrage und Seinsfrage.639 Was bedeutet
dieser Satz hinsichtlich der Vernetzung zwischen Sein und Wahrheit und inwiefern wird hier
schon die sogenannte „Kehre“ sichtbar? Heidegger selbst hatte ursprünglich (1930) vor, den
Vortrag „Vom Wesen der Wahrheit“ durch einen Entwurf „Von der Wahrheit des Wesens“ zu
ergänzen. Das Vorhaben, so deutet er es im „Brief über den Humanismus“ an, misslang.640
Zur Erinnerung: Das Wesen der Wahrheit ist nicht die Richtigkeit einer Aussage, sondern ist
vorprädikativ in der Freiheit der Ek-sistenz begründet. Es besteht ein Unterschied zwischen
Wesen im ersten Teil des oben genannten Satzes und dem Wesen im zweiten Teil des Satzes,
so wie er in der Überschrift zu diesem Abschnitt gemeint ist. Während das Wesen im ersten
Teil substantivisch zu verstehen ist, ist es im zweiten Teil verbal zu verstehen. Im ersten Teil
bezieht sich Wesen auf die „quidditas“ („Washeit“), während im zweiten Teil das Wesen im
Sinne von Sein zu verstehen ist.641 Dann heißt der Satz: Die Frage nach dem Wesen der
Wahrheit entspringt aus der Frage nach der .Wahrheit des Seins. „Die aus der Seinsfrage
entspringende Wahrheitsfrage übernimmt für das Fragen der Seinsfrage die Aufgabe, die
Frage nach dem eigensten Wahrheitswesen des Seins vorzubereiten.“642 Im erstanfänglichen
Denken geht es der Philosophie (Plato, Aristoteles) um die Seiendheit des Seienden. In
Heideggers andersanfänglichem Denken des Seins steht die Ek-sistenz als geschichtsbegründende im Mittelpunkt des Denkens mit der Folge, dass die Ek-sistenz die ek-sistente
Freiheit im Lebensvollzug zum Vollzug bringt. „Mit der Ek-sistenz ist somit zugleich das
636
Ebd.
Martin Heidegger: WdW in WM (GA 9), S. 196.
638
Ebd., S. 201.
639
Vgl. Martin Brasser: Wahrheit und Verborgenheit. Interpretationen zu Heideggers Wahrheitsverständnis von
„Sein und Zeit“ bis „Vom Wesen der Wahrheit“. Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften. Reihe
Philosophie Band 2003 (Würzburg 1997), S. 333.
640
Vgl. Martin Heidegger: WdW in WM (GA 9). S. 201.
641
Vgl. ebd.
642
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Wahrheit, Freiheit, Geschichte, S. 345.
637
84
ursprüngliche Wesen der Wahrheit und diese als die Wahrheit des Seins genannt.“ 643 Dem
andersanfänglichen Denken geht es nicht nur um das Wesen des Seienden, sondern in erster
Linie um das Wesen des Seins und dessen Wahrheit. D.h. das Denken wendet sich nicht ab
vom Seienden, sondern es denkt „das Seiende und dessen Offenbarkeit vom Wesen des Seins
her“644. Somit ist auch klar, dass Heidegger das erstanfängliche Denken (Metaphysik) nicht in
Bausch und Bogen verwirft. Für Heidegger sind die metaphysischen Fragen nicht einfach
falsche Fragen. Wenn er von Überwindung der Metaphysik spricht, dann zielt er auf eine
Überwindung der Begrenzung der Metaphysik. Er bemüht sich um ein ursprünglicheres
Fragen nach der Wahrheit, dem Sein und der Welt.645 An diesem Punkt ist die Hinführung zur
Kehre im Wesentlichen abgeschlossen.
4.1.8.3 Die „Kehre“ und der Wandel in Heideggers Wahrheitsverständnis
Im „Brief über den Humanismus“ spricht Heidegger dem Vortrag „Vom Wesen der
Wahrheit“ einen „gewissen Einblick“ in das Denken der „Kehre“ zu.646 Das bedeutet, dass im
Vortrag „Vom Wesen der Wahrheit“ noch kein vollständiger Einblick in das Denken der
„Kehre“ vorliegt, sondern ein wichtiger Schritt von der fundamentalontologischen Blickbahn
in Sein und Zeit zur seinsgeschichtlichen Blickbahn.647 „Der entscheidende Schritt im
Übergang zum seinsgeschichtlichen Denken ist zum einen die Einsicht, daß die aus der Eksistenz erfahrene Freiheit das Wesen der Wahrheit nur insofern ist und vollzieht, als sie dem
anfänglichen Wesen (Walten) der Wahrheit entstammt, und zum anderen die damit
zusammenhängende Einsicht, daß zum vollen Wesen der Wahrheit die Verbergung als die
Herkunft aller Entborgenheit und Entbergung gehört.“648 Es geht demnach auf dem Denkweg
von der fundamentalontologischen zur seinsgeschichtlichen Blickbahn nicht um eine
Änderung des Standpunktes, sondern Heidegger bleibt auf seinem Denkweg, der vorwärts
zum andersanfänglichen Denken oder zurück zum erstanfänglichen Denken gehen kann:
„Diese Kehre ist nicht eine Änderung des Standpunktes von »Sein und Zeit«, sondern in ihr
gelangt das versuchte Denken erst in die Ortschaft der Dimension, aus der >>Sein und Zeit>>
erfahren ist, und zwar in die Grunderfahrung der Seinsvergessenheit.“649
Der Anschlussvortrag „Von der Wahrheit des Wesens (1930) konnte nicht gelingen, weil die
entsprechenden Denkvoraussetzungen noch nicht erarbeitet waren. Erst mit den „Beiträgen
zur Philosophie“ (Vom Ereignis) 1936–1938 war Heidegger auf seinem Denkweg so weit, um
über die Wahrheit des Wesens adäquat schreiben zu können.650 Deswegen bemerkt er in dem
erst 1943 veröffentlichten Vortrag „Vom Wesen der Wahrheit“ in der Anmerkung: „Die
entscheidende Frage (Sein und Zeit), 1927) nach dem Sinn, d.h. (S. u Z. S. 151) nach dem
643
Ebd.
Vgl. ebd., S. 201.
645
Vgl. ebd., S. 221.
646
Vgl. Martin Heidegger: WdW in WM (GA 9), S. 328.
647
Vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Wahrheit, Freiheit, Geschichte, S. 214.
648
Ebd.
649
Martin Heidegger: „Brief über den »Humanismus«“ in: WM (GA 9), S. 328.
650
Vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Wahrheit, Freiheit, Geschichte, S. 219.
644
85
Entwurfsbereich, d.h. nach der Offenheit, d.h. nach der Wahrheit des Seins und nicht nur des
Seienden, bleibt absichtlich unentfaltet.“651 Erst in seinem sogenannten zweiten Hauptwerk
gelang es Heidegger, eine Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Seins zu finden.
4.1.9 Wahrheit des Seyns als Ereignis
Teilt man Heideggers Denkweg in drei Phasen ein, dann ist „Ereignis“ das Grundwort der
zweiten- und dritten Phase. Die zweite Phase von 1930 an ist geprägt von der Frage nach der
Wahrheit des Seins, die dritte Phase von der Frage nach dem Ort oder der Ortschaft des
Seins.652 In Heideggers zweitem Hauptwerk Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (GA
65) wird dieser Begriff nach einer Vorbereitungsphase ab 1932 zum zentralen Begriff. Im
Text „Ein Rückblick auf den Weg“, der kurz nach den Beiträgen veröffentlicht wurde, drückt
sich Heidegger zur Bedeutung der Beiträge aus: „Seit dem Frühjahr 1932 steht in den
Grundzügen der Plan fest, der in dem Entwurf »Vom Ereignis« seine erste Gestalt
gewinnt.“653 D.h. nichts anderes, als das von 1932 an Heideggers Denken auf die
seinsgeschichtliche Blickbahn gerichtet ist. Das gilt auch für die Spätphase seines
Denkweges. Auch das topologische Denken der dritten Phase ist seynsgeschichtlichem
Denken verpflichtet: „Weil die »Ortschaft des Seins« lediglich eine Erläuterung der
»Wahrheit des Seyns« ist, gehört das topologische Denken in das seynsgeschichtliche
Denken.“654 Wahrheit des Seins und seinsgeschichtliche Blickbahn sind eng miteinander
verbunden; aus dem Nachdenken über die Wahrheit des Seins erwächst das
seinsgeschichtliche Denken. „So etwas wie den »Sinn von Sein überhaupt« gibt es für
Heidegger nun nicht mehr; eine Philosophie, die nach diesem Sinn suchte, wäre wohl nicht
nur Metaphysik, sondern Meta-Metaphysik, also eine Art Super-Metaphysik.“655 Er geht jetzt
aus von geschichtlichen Wandlungen des Seins und teilt die abendländische Geschichte in
drei Großepochen ein. Wie erklärt Heidegger den Wandel des Seins? Er greift auf das Wort
„Ereignis“ zurück, aber jetzt nicht wie in der Umgangssprache gebraucht, sondern im Sinne
des andersanfänglichen Denkens.656 Beim erstanfänglichen Denken ging es kurz gesagt um
das Sein des Seienden, wobei Sein als „Seiendheit“ verstanden wird. Beim
andersanfänglichen Denken fragt Heidegger nach dem Sein (Seyn) in einem nichtmetaphysischen Sinne.657
Was bedeutet das Wort „Ereignis“ im Zusammenhang des seinsgeschichtlichen Denkens? Das
ist nicht einfach zu sagen: „Das, was Heidegger als Ereignis denkt, ist nicht mit einem Male
da und hält sich bis in die Spätzeit, sondern wandelt und konkretisiert sich von Jahrzehnt zu
651
Martin Heidegger: WdW in WM (GA 9). S. 201.
Vgl. Günter Seubold: „Ereignis“. In: Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch, S. 302.
653
Martin Heidegger: „Ein Rückblick auf den Weg“ . In: Besinnung (GA 66), S. 424
654
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Wege ins Ereignis. Zu Heideggers »Beiträgen zur Philosophie« (Frankfurt
a.M. 1994), S. 24.
655
Günter Seubold: „Ereignis“. In: Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch, S. 303.
656
Vgl. ebd.
657
Vgl. Richard Polt: „»Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)«. Ein Sprung in die Wesung des Seins“. In:
Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch, S. 186.
652
86
Jahrzehnt.“658 „Ereignis“ lässt sich nicht definieren. Es hat keine Eigenschaften oder eine
Funktion wie ein Ding oder ein Mensch.659 „»Das Seyn« meint nicht nur die Wirklichkeit des
Wirklichen, auch nicht nur die Möglichkeit des Möglichen, überhaupt nicht nur das Sein vom
jeweiligen Seienden her, sondern das Seyn aus seiner ursprünglichen Wesung, in der vollen
Zerklüftung, die Wesung nicht auf »Anwesenheit« einschränkt.“660 Was meint „das Seyn aus
seiner ursprünglichen Wesung“? Die Frage ist verbal ausgedrückt. Wie west das Sein?
Heidegger antwortet an späterer Stelle: „Das Seyn west als das Ereignis. Das ist kein Satz,
sondern die unbegriffliche Verschweigung des Wesens, das sich nur dem vollen
geschichtlichen Bezug des anfänglichen Denkens eröffnet.“ 661 „Das ist kein Satz“ bedeutet,
das ist kein Urteil im Sinne von Richtigkeit. Es geht um die Verbergung des Wesens im Sinne
der Erkenntnis Heideggers, dass zum vollen Wesen der Wahrheit die Verbergung gehört.
„Um der dem Ereignis innewohnenden Tendenz zur Selbstverbergung Rechnung zu tragen,
kultiviert Heidegger eine Art zu sprechen, bei der niemals vorgegeben wird, das Thema sei
sprachlich vollkommen zu fassen noch vollkommen darzustellen.662 Außerdem ist Heidegger
davon überzeugt, dass sich die Wahrheit des Seyns mit der gewöhnlichen Sprache nicht sagen
lasse: „Mit der gewöhnlichen Sprache, die heute immer weitgreifender vernutzt und zerredet
wird, lässt sich die Wahrheit des Seyns nicht sagen. Kann diese überhaupt unmittelbar gesagt
werden, wenn alle Sprache doch Sprache des Seienden ist? Oder kann eine neue Sprache für
das Seyn erfunden werden? Nein. Und selbst wenn dies gelänge und gar ohne künstliche
Wortbildung, wäre diese Sprache keine sagende.“663 Trotzdem redet und schreibt Heidegger
über die Wahrheit des Seyns in der Sprache des Seienden und das deshalb, weil die Wahrheit
des Seienden ursprünglich in der Wahrheit des Seyns beruht.664
Um das, was Heidegger unter Ereignis versteht, besser verstehen zu können, sollen im
Anschluss an Friedrich-Wilhelm von Herrmann einige wichtige Stellen aus den „Beiträgen
zur Philosophie vorgestellt und kurz erläutert werden.665 Im 132. Abschnitt heißt es: „Deshalb
gilt es, nicht das Seiende zu übersteigen (Transzendenz), sondern diesen Unterschied und damit die Transzendenz zu überspringen und anfänglich vom Seyn her und der Wahrheit zu
fragen.“666 Das ist der Denkweg des seynsgeschichtlichen Denkens: „Hier übersteigt nicht der
Seinsentwurf das Seiende auf den Seinshorizont hin, um von diesem auf das Seiende, es
658
Günter Seubold: „Ereignis“. In: Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch, S. 302.
Vgl. ebd.
660
Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (GA 65), S. 75.
661
Ebd., S. 260
662
Richard Polt: „»Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)«. Ein Sprung in die Wesung des Seins“. In: Dieter
Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch, S. 185.
663
Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (GA 65), S. 78.
664
Marco Casanova: „Die Sprache des Ereignisses“. In: Emmanuel Mejia – Ingeborg Schüßler (Hrsg.): Heideggers Beiträge zur Philosophie Internationales Kolloquium vom 20.-22. Mai 2004 an der Universität Lausanne
(Schweiz) (Frankfurt a.M. 2009), S. 383.
665
Vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: „Die ‚Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)‘ als Grundlage des
seinsgeschichtlichen Denkens“. In: Emmanuel Mejia – Ingeborg Schüßler (Hrsg.): Heideggers Beiträge zur
Philosophie, S. 28f.
666
Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (GA 65), S. 250f.
659
87
entdeckend zurückzukommen. Vielmehr ist der Seinsentwurf ein aus der sich zuwerfenden
Wahrheit des Seyns geworfener und als solcher kommt er unmittelbar aus der Wahrheit des
Seins zum Seienden.“667 Dass es sich hierbei schon um das Ereignis handelt, können wir in
einer weiteren Schlüsselstelle nachlesen. Dort heißt es: „Der Sprung ist der Vollzug des
Entwurfs der Wahrheit des Seyns im Sinne der Einrückung in das Offene, dergestalt, dass der
Werfer des Entwurfs als geworfener sich erfährt, d.h. er-eignet durch das Seyn.“668 Der
Werfer des Entwurfs (das Dasein) erfährt sich selbst als geworfener, erfährt sich selbst als ereignet durch das Seyn. „Die Erfahrung der Geworfenheit als Ereignetsein aus dem
ereignenden Zuruf des Seyns ist für das seynsgeschichtliche Denken die Primärerfahrung, die
den immanenten Wandel der zuerst transzendental angesetzten Seinsfrage nachsichzieht.669
Was hat das Er-eignen und das Er-eignetsein mit dem Menschen zu tun? Im 143. Abschnitt
der Beiträge sagt Heidegger dazu Folgendes: „Das Seyn als Ereignis. Die Ereignung bestimmt
den Menschen zum Eigentum des Seyns.“670 Was bedeutet es, dass der Mensch (Da-sein)
Eigentum des Seyns ist? Im 133. Abschnitt gibt Heidegger eine Antwort darauf: „Das Seyn
braucht den Menschen, damit es wese, und der Mensch gehört dem Seyn, auf dass er seine
äußerste Bestimmung vollbringe.“671 Die Verben dieses Satzes sind brauchen, wesen und
gehören. Warum braucht das Seyn den Menschen, damit es wese? „Ohne den Menschen
könnte das Ereignis nicht »sein«, d.h. ereignen. Ohne den Menschen wäre keine Geschichte
und kein Selbstverständnis. Mensch und Ereignis hängen nach Heidegger so eng zusammen,
dass es schon ein fundamental falscher Ansatz ist, sie zunächst als Getrennte zu denken, um
sie dann zusammenzudenken.“672 Inwiefern gehört der Mensch dem Seyn? Dadurch, dass das
Seyn sich er-eignet, durch die Ereignung ist der Mensch Eigentum des Seyns. Heidegger
spricht im Zusammenhang von brauchen und gehören vom Gegenschwung: „Dieser
Gegenschwung des Brauchens und Zugehörens macht das Seyn als Ereignis aus […].“673
Seyn und Dasein gehören zusammen. Ohne den Menschen gäbe es kein Ereignis. Trotzdem
kann man nicht sagen, dass der Mensch Herr des Ereignisses ist. Das widerspräche schon der
Aussage, dass der Mensch Eigentum des Seyns ist. „Der Bezug des er-eignenden Zuwurfs zu
dem daraus er-eigneten Entwurf ist in sich ein Brauchen dieses daseinsmäßigen Entwurfs.
Umgekehrt ist der Bezug des er-eigneten Entwurfs zum er-eignenden, brauchenden Zuwurf
die Zugehörigkeit des Seins des Menschen zur Wesung der Wahrheit des Seyns.“ 674 Dieser
Gegenschwung wird im 140. Abschnitt der „Beiträge“ als Kehre bezeichnet. „Was hier »die
Kehre« genannt wird ist das Ereignis selbst, das als in sich gegenschwingend zwischen dem
667
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: „Die ‚Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)‘ als Grundlage des seinsgeschichtlichen Denkens“, S. 29.
668
Ebd.
669
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Wege ins Ereignis. Zu Heideggers »Beiträgen zur Philosophie«, S. 18.
670
Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (G 65), S. 263.
671
Ebd., S. 251.
672
Günter Seubold: „Ereignis“. In: Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch, S. 304.
673
Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (GA 65), S. 251.
674
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: „Die ‚Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)‘ als Grundlegung des
seinsgeschichtlichen Denkens!“, S. 30.
88
ereignenden Zuwurf und dem ereigneten Entwurf kehrig ist.675 Das Ereignis ist in diesem
Gegenschwung die Blickbahn, auf die alles seynsgeschichtliche Denken ausgerichtet ist. Im
34. Abschnitt der Beiträge heißt es dazu: „Das Ereignis ist die sich selbst ermittelnde und
vermittelnde Mitte, in die alle Wesung der Wahrheit des Seyns im voraus zurückgedacht
werden muß.“676
Die Beiträge sind inhaltlich sehr kompliziert, was auch damit zusammenhängt, dass
Heidegger dabei weder Studenten (Vorlesungen) noch eine bevorstehende Veröffentlichung
im Auge hatte. Deshalb wählte er eine dem Thema angemessene Sprache (Ereignis, Seyn,
Kehre, Fuge, Gegenschwung, Inständlichkeit, Sprung, Fügung, die Zu-künftigen des letzten
Gottes Fehl Gottes etc.).677
Im nächsten Abschnitte wird am Beispiel der Wahrheit als Überwindung der Ästhetik am
Beispiel des Kunstwerkes noch deutlicher, was Ereignis im Sinne der Beiträge und anderer
Schriften Heideggers bedeutet.
4.1.10
Wahrheit als Überwindung der Ästhetik
Heidegger befasst sich mit ästhetischen Phänomenen in der Malerei (Van Gogh, Cezanne,
Klee), in der Lyrik (Hölderlin, Rilke, Trakl, Celan), in der Auseinandersetzung mit der
Ästhetik Nietzsches etc.678 Nach seinem Verständnis wurde die traditionelle Ästhetik von der
Metaphysik der philosophischen Tradition geprägt. Deshalb betrachtet er sie als
„metaphysische Kunstlehre“.679 Da er die traditionelle Metaphysik als erstanfänglich ansah,
suchte er seit 1932 nach einer „Überwindung der Aesthetik“ im andersanfänglichen Denken
und entwickelte seine grundlegenden Gedanken hierzu vor allen in seinen Werken „Der
Ursprung des Kunstwerkes“ (1935/36)680 und in den Beiträgen zur Philosophie. Im Lichte des
seynsgeschichtlichen Denkens erklärt er das Wesen des Kunstwerkes aus ihm selbst. Er
entfaltet in „Der Ursprung des Kunstwerkes“ zwei Thesen: 1. „Im Werk der Kunst hat sich
die Wahrheit des Seienden ins Werk gesetzt.“ 681 2. „Das Wesen der Kunst besteht in der
»Stiftung aus der Wahrheit«, die »Geschichte gründet«.“682 Bei der Beschäftigung mit
Kunstwerken geht es immer um den Bezug der Werke zur Wahrheit als Unverborgenheit und
zur Geschichte. „Die Frage nach dem Ursprung des Kunstwerkes will nicht auf eine zeitlos
gültige Feststellung des Wesens des Kunstwerkes hinaus, die zugleich als Leitfaden zur
historisch rückblickenden Erklärung der Geschichte der Kunst dienen könnte. Die Frage steht
im innersten Zusammenhang der Aufgabe der Überwindung der Aesthetik und d.h. zugleich
675
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Wege ins Ereignis. Zu Heideggers »Beiträgen zur Philosophie«, S. 57.
Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (GA 65). S. 73.
677
Vgl. ebd., S. 21. ??
678
Vgl. Artur Böderl: „Ästhetik“. In: Helmut Vetter (Hrsg.): Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe, S.
48.
679
Vgl. Martin Heidegger: Hölderlins Hymne »Der Ister« (GA 53), S. 21.
680
Martin Heidegger: „Der Ursprung des Kunstwerkes“. In: Holzwege (GA 5), S. 1-74.
681
Ebd., S. 21.
682
Andrea Kern: „»Der Ursprung des Kunstwerkes«. Kunst und Wahrheit zwischen Stiftung und Streit“, In:
Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch, S. 163 (GA 5, S. 65).
676
89
mit einer bestimmten Auffassung des Seienden als des gegenständlich Vorstellbaren. Die
Überwindung der Aesthetik wiederum ergibt sich als notwendig aus der geschichtlichen
Auseinandersetzung mit der Metaphysik als solcher.“683
Heidegger widerspricht jeder Kunsttheorie, die das ästhetische Erlebnis des Subjektes in den
Vordergrund schiebt. Stattdessen knüpft er an die Werksästhetik Hegels an und nicht an die
von Kant und Nietzsche herkommende Erfahrungsästhetik.684 Für ihn war ein Kunstwerk
etwas Dinghaftes, aber nicht etwas Dinghaftes in der überlieferten Form. Er setzt sich in „Der
Ursprung des Kunstwerkes“ mit den drei wichtigsten Interpretationen über das Dinghafte
auseinander und lehnt alle drei ab: 1. das idealistische Dingverständnis, 2. das materialistische
Dingverständnis, 3. das Dingverständnis, das nach Stoff und Form unterscheidet. Diese
unterschiedlichen Dingbegriffe waren für ihn „verstellende Vorgriffe“, die er zu ersetzen
suchte durch „den Weg zur unmittelbaren Erfahrung des Kunstwerkes unter ausdrücklicher
Umgehung der kritisch zurückgewiesenen Dingbegriffe und somit auch unter ausdrücklicher
Vermeidung des Begriffspaares Stoff-Form“.685 Hier geht es um die Erfüllung des zweiten
und dritten Grundstückes der phänomenologischen Methode, wie Heidegger sie in Die
Grundprobleme der Phänomenologie686 zur Sprache bringt.687
Heidegger entfaltet nun seine zwei Thesen zum Kunstwerk in acht Schritten.688 „Das
Werksein des Werkes besteht in der Aufstellung einer Welt.“689 „Werksein heißt: eine Welt
aufstellen.“690 Was diese Welt bedeutet, ist schon bekannt seit der Beschreibung der
Existenzialien in Sein und Zeit. Auch in „Der Ursprung des Kunstwerkes“ geht es um die
Welt in ihrer Bedeutungsganzheit, deren Sinnbezüge sich uns vor allem im praktischen
Umgang durch den Vollzug erschließen. Die Welt ist dem Dasein erschlossen. An die Stelle
des Begriffes Erschlossenheit tritt im Kunstwerk-Aufsatz der Begriff der »Lichtung«691 „Das
Seiende kann als Seiendes nur sein“, so Heidegger, „wenn es in das Gelichtete dieser
Lichtung herein- und hinaussteht. Nur diese Lichtung schenkt und verbürgt uns Menschen
einen Durchgang zum Seienden, das wir selbst sind“.692
Im zweiten bis vierten Schritt geht es um das Verhältnis zwischen Welt und Erde. „Indem das
Werk eine Welt aufstellt, stellt es die Erde her.“693 „Das Gegeneinander von Welt und Erde ist
ein Streit.“694 „Indem das Werk eine Welt aufstellt und die Erde herstellt ist eine Anstiftung
683
Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (GA 65), S. 503f.
Vgl. Andrea Kern: „»Der Ursprung des Kunstwerkes«. Kunst und Wahrheit zwischen Stiftung und Streit“, S.
164.
685
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Wege ins Ereignis. Zu Heideggers »Beiträgen zur Philosophie«, S. 203.
686
GA 24, S. 26-32.
687
Vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Wege ins Ereignis. Zu Heideggers »Beiträgen zur Philosophie«, S.
203.
688
Zum Folgenden vgl. Andrea Kern: „»Der Ursprung des Kunstwerkes«. Kunst und Wahrheit zwischen Stiftung und Streit“, S. 164f.
689
Ebd., 164
690
„Der Ursprung des Kunstwerkes“ (GA 5), S. 30.
691
„Siehe auch den Vortrag „Vom Wesen der Wahrheit“.
692
„Der Ursprung des Kunstwerkes“ (GA 5), S. 40.
693
Ebd., S. 32.
694
Ebd., S. 35.
684
90
dieses Streites.“695 Heidegger behauptet also zunächst, das Kunstwerk sei in der Lage, eine
Welt aufzustellen und dadurch die Erde herzustellen. Diese Einheit und gleichzeitig dieses
Gegeneinander muss man sich als Streit vorstellen. Folgende Begriffe müssen erklärt werden,
um Heideggers Gedanken nachvollziehen zu können: Erde herstellen, Erde, Streit im
Gegeneinander von Welt und Erde. „Die Erde her-stellen heißt: sie ins Offene bringen als das
Sichverschließende.“696 Beim Herstellen ist also nicht das Produzieren gemeint, sondern das
durch den Bindestrich deutlich gemachte, wörtlich zu verstehende Stellen in das Offene.697
„Und zwar macht das Kunstwerk die Erde dadurch eigens sichtbar, dass es die Welt, die es
aufstellt, in die Erde zurückstellt.“698 Die Erde ist als die Sichverschließende kein Gegenstand
der Geographie oder der Astrophysik. Heidegger ersetzt den Begriff der „Natur“ durch den
Begriff „Erde“, wie er beispielsweise auch den Begriff der „Erschlossenheit“ durch den
Begriff „Lichtung“ ersetzt hat. „Erde tritt an die Stelle von Natur in deren Begriffsgeschichte
Heidegger problematische, weil sachverstellende semantische Verschiebungen ausmacht,699
die er mit dem Begriff der Erde abbauen möchte.“700 Die Umschreibungen Heideggers für die
Erde scheinen auf den ersten Blick nicht in direkter Verbindung miteinander zu stehen, denn
er gebraucht unterschiedliche Metaphern, sich dem Wesen der Erde zu nähern. So schreibt er
beispielsweise: Sie lichtet zugleich jenes, worauf und worin der Mensch sein Wohnen
gründet.“701 Oder: „Die Erde ist das, wohin das Aufgehen alles Aufgehenden und zwar als ein
solches zurückbirgt. Im Aufgehenden west die Erde als das Bergende.“702 Der Begriff der
Erde ist nicht eine Metapher für ein bestimmtes Seiendes, „sondern ist das Phänomen des
bedeutungshaft Seienden selbst. Die Erde ist der Name dafür, dass diese sinnhafte Welt von
Bahnen und Bezügen von etwas bedingt ist, dessen Anwesenheit sie selbst »nicht mächtig«
ist: nämlich vom Gegebensein des bedeutungshaft Seienden [GA 3, S. 228]“.703
Im 5. und 6. Schritt geht es einerseits um den Streit zwischen Lichtung und Wahrheit,
andererseits um den Streit zwischen Erde und Welt.704 Worum geht es dabei? „Da Heidegger
den Streit zwischen Lichtung und Verbergung als den Urstreit bezeichnet, ist zunächst dieser
zu betrachten, damit der Streit zwischen Welt und Erde gedeutet werden kann.“ 705 Das hängt
mit der Seinsweise der Lichtung zusammen, die Vollzugscharakter (Geschehen) hat und
gleichzeitig Verbergung bedeutet. „Das Wesen der Wahrheit besteht daher in einem Streit
695
Ebd., S. 36.
Ebd., S. 33.
697
Vgl. Andrea Kern: „»Der Ursprung des Kunstwerkes«. Kunst und Wahrheit zwischen Stiftung und Streit“, S.
168.
698
Ebd.
699
Vgl. Heidegger, „Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, Phyik B,1“. In: Wegmarken (GA 9), S. 239301
700
David Espinet: „Kunst und Natur – Der Streit von Welt und Erde“. In: David Espinet – Tobias Keiling
(Hrsg.): Heideggers Ursprung des Kunstwerks (Frankfurt a.M. 2011), S. 47.
701
„Der Ursprung des Kunstwerkes“ (GA 5), S. 28.
702
Ebd.
703
Andrea Kern: „»Der Ursprung des Kunstwerkes«. Kunst und Wahrheit zwischen Stiftung und Streit“, S. 169.
704
Vgl. ebd., S. 164.
705
Ebd.
696
91
zwischen Lichtung und Verbergung. Das streitbare Verhältnis von Welt und Erde ist so zu
verstehen: „Das Sichöffnende der Welt streitet gegen das Geborgenwerden im
Sichverschließenden der Erde. Das Sichverschließende der Erde streitet gegen das
Sichöffnende der Welt. Im wechselseitigen Bestreiten heben sich die Offenheit der Welt und
das Sichverschließende der Erde wechselseitig in die Selbstbehauptung ihres je eigenen
Wesens.“706 Das bedeutet, dass Welt und Erde wechselseitig aufeinander angewiesen sind, um
im Streit miteinander zu ihrem eigenen Wesen zu kommen. Streitend miteinander befördern
sie sich. Mit dieser Feststellung sind wir vorbereitet auf den siebten und achten Schritt: „Der
Vollzug des Streites zwischen Welt und Erde ist ein Prozeß des Sich-ins-Werk-Setzens der
Wahrheit [GA 5, S. 42].“707 „Der Prozeß des Sich-ins-Werk-Setzens der Wahrheit ist eine
Stiftung der Wahrheit [GA 5, S. 63]“708 Es handelt sich demnach bei diesem Prozess um ein
Geschehen (Streit). Dieser Streit vollzieht sich durch das Ins-Werk-setzen der Wahrheit.
Dadurch stiftet er zur gleichen Zeit Wahrheit. Der Stiftungsgedanke wird in der KunstwerkAbhandlung ausgeführt und das Stiften als das Wesen der Dichtung im weitesten Sinne
angesehen.709 Das ist ein wichtiger Aspekt im Kunstverständnis Heideggers, weil hier eine
Verbindung zwischen Kunst und Dichtung (Sprache) hergestellt wird. „Dichtung im weiten
Sinne ist für Heidegger das entwerfende Sagen, und in diesem zeigt sich das Wesen der
Sprache. Daher gründen alle Kunstgattungen im Wesen der Sprache, auch wenn nur eine von
ihnen Sprachwerke hervorbringt. Von hier aus erhält die Dichtung im engeren Sinne, die
Poesie, einen Vorrang unter den Kunstgattungen. Die Dichtung im weitesten Sinne, das
Wesen der Kunst, wird schließlich als Unverborgenheit des Seienden gedacht.“ 710 Auf diesen
Zusammenhang zwischen Dichtung, Kunst und Wahrheit wird im nächsten Abschnitt (Die
Wahrheit und das Göttliche) noch einmal genauer eingegangen, denn wichtige Gedanken der
Beiträge sind inspiriert durch die Dichtung (Hölderlin).
Auch „Der Ursprung des Kunstwerkes“ lässt sich laut „Zusatz“ einordnen in das Ereignis:
„Die Besinnung darauf, was die Kunst sei, ist ganz und entschieden nur aus der Frage nach
dem Sein bestimmt. Die Kunst gilt weder als Leistungsbezirk der Kultur, noch als eine
Erscheinung des Geistes, sie gehört in das Ereignis, aus dem sich erst der >> Sinn von Sein<<
(vgl. »Sein und Zeit«) bestimmt.“711
4.1.11
Die Wahrheit und das Göttliche
Heideggers Anrufung des „letzten Gottes“ stellt vielleicht den Dreh- und Angelpunkt der
Beiträge zur Philosophie dar.712 Auch viele Jahre später bezieht sich Heidegger im Gespräch
706
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Wege ins Ereignis. Zu Heideggers »Beiträgen zur Philosophie«, S. 206.
Andrea Kern: „»Der Ursprung des Kunstwerkes«. Kunst und Wahrheit zwischen Stiftung und Streit“, S. 164.
708
Ebd.
709
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Wege ins Ereignis. Zu Heideggers »Beiträgen zur Philosophie«, S. 194.
710
Ebd., S. 209.
711
„Der Ursprung des Kunstwerkes“ (GA 5), S. 73.
712
Vgl. Richard Polt: „»Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)«. Ein Sprung in die Wesung des Seins“. S.
188.
707
92
mit dem Spiegel (1966)713 auf den „letzten Gott“, der in seinem Spätwerk nichts an
Bedeutung verloren hat. „Der oft zitierte, seinerzeit mit Überraschung aufgenommene Satz
‚Nur noch ein Gott kann uns retten‘ [GA 16, S. 671] verweist, wie auch Heideggers
Erläuterungen im Spiegel-Gespräch deutlich machen, direkt auf die Beiträge zurück. Wollte
man die Theologie aus Heideggers spätem Denken streichen, hätte man dieses seines
Zentrums beraubt:“714 Persönlich gesehen steht Heidegger vor einem Neuanfang, nachdem er
nach dem Scheitern seines philosophisch-politischen Programms in einem Brief vom 12.
April 1934 seinen Rücktritt als Rektor der Freiburger Universität eingereicht hatte.715
Heidegger beginnt sich intensiv mit der Kunst auseinander zu setzten. Sein Interesse für die
Kunst wird geweckt vor allem durch die Begegnung mit Hölderlin. Im Wintersemester
1934/35 hält er seine erste Vorlesung über Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der
Rhein« (GA 39).716 Heidegger versucht eine Neuorientierung mit Hölderlin. „Hölderlin ist,
wie Heidegger es in einem Vortrag aus dem Jahre 1936 zusammenfasst, der Dichter »der
entflohenen Götter und des kommenden Gottes« (GA 4, 47); Hölderlin ist damit zugleich der
Dichter einer gottlosen und darin »dürftigen Zeit. Hölderlin ist der Dichter der Gegenwart als
Zwischenzeit, der Zeit zwischen der Götterflucht und dem vorenthaltenen Kommen >>des
Gottes«.“717
Wie rechtfertigt Heidegger, dass er auf die Dichtung zurückgreift, denn die Rede über das
Göttliche, die Götter, den letzten Gott oder vom Fehl Gottes sollen nicht mythologisch
missverstanden werden, handelt es sich doch in dieser Rede um Philosophie. Heidegger
rechtfertigt sich, indem er für die dichterische Grunderfahrung Hölderlins auf seinem eigenen
Denkweg die entsprechende seynsgeschichtliche Antwort von der Wahrheit als Lichtung
erarbeitet. Trotzdem irritiert es zunächst viele, dass Heidegger Dichtung auslegt, statt in
gewohnter Weise seinen Denkweg weiter zu verfolgen.718 Zu Beginn seiner HölderlinVorlesung gibt Heidegger seine Absichten preis: „Es soll nichts Griffiges und Gangbares für
Tagesbedürfnisse angeboten und gar die Vorlesung damit in Empfehlung gebracht werden, so
dass die verderbliche Meinung entstehen könnte, wir wollten Hölderlin eine billige
Zeitgemäßheit verschaffen. Wir wollen nicht Hölderlin unserer Zeit gemäß machen, sondern
im Gegenteil: wir wollen uns und die Kommenden unter das Maß des Dichters bringen“.719
Nun zurück zum Anruf des „letzten Gottes“. Wer ist dieser „letzte Gott? Darauf gibt es keine
einfache, allen zugängliche Antwort. Es ist kein persönlicher Gott wie in den
monotheistischen Religionen, der am Ende der Welt erscheint. „Der ‚letzte Gott‘ ist nicht das
Ende, sondern der andere Anfang unermesslicher Möglichkeiten unserer Geschichte.“ 720 Der
713
„Spiegel-Gespräch mit Martin Heidegger (23. September 1966)“ (GA 16), 652-683.
Günter Figal: „Gottesvergessenheit“. In: Ders. (Hrsg.): Zu Heidegger. Antworten und Fragen (Frankfurt a.M.
2009), S. 146.
715
Vgl. Günter Figal: Martin Heidegger zur Einführung (Hamburg 1996), S. 130.
716
Vgl. ebd.
717
Ebd., S. 133.
718
Vgl. ebd.
719
Martin Heidegger: Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein« (GA 39), S. 4.
720
Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (GA 65), S. 411.
714
93
„letzte Gott steht im Dienste des Seyns. Durch ihn erlangt das Seyn eine Reife, in der alles
Sein umgestaltet wird.721 Die Welt wird durch den Vorbeigang des „letzten Gottes“
verwandelt. Heidegger gibt gleichzeitig auch von den Göttern folgende Bestimmung: „Götter
sind jene, die das Da-sein, die Wächterschaft des Menschen, ernötigen, aber so, dass ihre Not,
die ihrer eigenen Gottschaft, aus dem Seyn als Ereignis entspringt.“722 Was heißt das? Wenn
wir uns der „Heideggerschen Theologie“ nähern wollen, müssen wir uns mit dem
andersanfänglichen Denken befassen, mit dem seynsgeschichtlichen Denken, ein mühsamer
Prozess, der den Zukünftigen vorbehalten ist. Hierbei handelt es sich um jene langsamen und
langhörenden Gründer der Wahrheit.723 Sie sind als künftiges Dasein zu verstehen. Sie achten
auf den Wink des „letzten Gott“ Er west im Wink. Dem Da-sein wird etwas zugewunken. Es
soll etwas verstehen. Was wird dem Dasein zugewunken? „In diesem Winken wird das
Gesetz des letzten Gottes zugewunken, das Gesetz der großen Vereinzelung im Da-sein, der
Einsamkeit des Opfers, der Einzigkeit der Wahl der kürzesten und steilsten Bahn.“ 724 Die
Zukünftigen verstehen durch den Wink des „Letzten Gottes“. Voraussetzung für das Ereignis
als Ereignung der Götter ist demzufolge die Gründung der Wahrheit des Seyns und die
entsprechende Anstrengung und Vorbereitung der Zukünftigen. Dabei gibt es neben dem
Denken noch die „Dichtung“ und „Tat“ und „Opfer“ (GA 65, S. 96), die es den Zukünftigen
(den Wenigen) ermöglichen, „den Sprung in das Seyn zu erspringen“ (GA 65, S. 395).725
Trotzdem reicht diese Anstrengung der Zukünftigen nicht aus, denn das Erscheinen des
Gottes oder der Götter hängt wesentlich auch vom Geschick des Seins ab: „…ob und wie der
Gott und die Götter, die Geschichte und die Natur in die Lichtung des Seins hereinkommen,
an- und abwesen, entscheidet nicht der Mensch. Die Ankunft des Seienden beruht im
Geschick des Seins.“726
Wie verhalten sich Gott, die Götter und der „letzte Gott zum Sein? Heidegger sagt in den
Wegmarken: „Das Sein ist nicht Gott und der Weltgrund.“727 Johannes B. Lotz SJ weist in
diesem Zusammenhang auf den leichtfertigen Umgang mit dem Begriff des Seins hin: „Eine
vorschnelle Auslegung wollte es früher mehr oder weniger mit Gott gleichsetzen.“728
Heidegger sieht den „Wesensort“ der Gottheit, der Götter oder des Gottes in der Wahrheit als
Lichtung des Seins und betont, dass das Göttliche nicht mit dem Sein gleichgesetzt werden
dürfe. Es ist „das Andere des Seins, denn als das Andere des Seins erlangt die Dimension des
721
Vgl. Branko Klun: „Die Gottesfrage in Heideggers ‚Beiträgen‘“. In: Theologie und Philosophie 81 (2006) S.
544.
722
Martin Heidegger: Besinnung (GA 66), S. 242.
723
Vgl. Richard Polt: „»Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)«. Ein Sprung in die Wesung des Seins“, S.
191.
724
Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (GA 65), S. 408.
725
Vgl. Richard Polt: „»Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)«. Ein Sprung in die Wesung des Seins“, S.
191.
726
Martin Heidegger: „Brief über den »Humanismus«“. In: WM (GA 9), S. 330.
727
Martin Heidegger: „Vom Wesen der Wahrheit“. In: WM (GA 9), S. 331.
728
Johannes B. Lotz: „Zur Frage nach Gott in der Seinsphilosophie nach Martin Heidegger“. In: Stimmen der
Zeit 204 (1986), S. 744-754, hier S. 747.
94
Göttlichen ihre eigene Würde.“729 Gleich deutlich betont Heidegger die Seinsbedürftigkeit der
Götter: „»Die Götter« bedürfen des Seyns nicht als ihres Eigentums, darin sie selbst einen
Stand finden. »Die Götter« brauchen das Seyn, um durch dieses, das ihnen nicht gehört, doch
sich selbst zu gehören.“730 Dieses Verständnis des Seyns, nämlich als Seyn, das die Götter
brauchen, weist auf seine Größe hin.731
Im Zusammenhang mit dem Göttlichen steht das Heilige. Im „Brief über den Humanismus“
wird der Weg zu dem, was das Wort Gottes nennen soll so beschrieben: „Erst aus der
Wahrheit des Seins lässt sich das Wesen des Heiligen denken. Erst aus dem Wesen des
Heiligen ist das Wesen von Gott zu denken. Erst im Lichte des Wesens der Gottheit kann
gedacht und gesagt werden, was das Wort »Gott« nennen soll.732
Heidegger äußert sich kritisch zum Christentum. Die christliche Theologie wird abschätzig
als „ens creatum“ und „analogia entis“733 abqualifiziert, während der „letzte Gott“ keine
Schöpfung kenne. Trotzdem muss davor gewarnt werden, Heidegger als Feind des
Christentums oder als einen Atheisten zu betrachten. Es geht Heidegger in seinen
Denkversuchen nicht um eine Marginalisierung des Religiösen, wie das in weiten Teilen der
Moderne der Fall war. Er berücksichtigt sogar die Voraussetzungen der Moderne, die vom
Tod Gottes (Nietzsche) oder in Anlehnung an Hölderlin (Heidegger selbst) vom Fehl Gottes
sprachen oder die Religion als etwas Mythologisches betrachteten: „Der letzte Gott
manifestiert sich nicht und wird nicht offenbar; er entzieht sich – also auch der mythischen
Fassung in eine Gestalt und der Bestimmung im philosophischen Begriff, sofern diese durch
eine Auslegung des Seienden im Ganzen, durch eine Ontologie, gewonnen ist.“734 Die
Erfahrung der Götterflucht ist eine Erfahrung aus der Geschichte, die auf etwas verweist, was
gewesen ist. „Götterflucht ist Seinserfahrung, sofern in ihr Sein selbst – oder eben Seyn – in
seinem Grundzug des Sichverweigerns zur Geltung kommt.“735
Zum Schluss möchte ich darauf verweisen, dass in dieser Arbeit nicht erschöpfend auf das
Göttliche eingegangen werden kann. Auch kann auf den Wandel der ontologischen Differenz
im Denken Heideggers, auf sein Sprachverständnis und seine Auseinandersetzung mit der
Technik nicht in wünschenswerter Ausführlichkeit eingegangen werden.
4.1.12
Fazit
Versuchen wir, Heideggers Denkweg in Bezug auf sein Wahrheitsverständnis kurz
zusammenzufassen. Heidegger beginnt beim traditionellen Wahrheitsverständnis ewig, zeitlos
729
Paola-Ludovica Coriando: „Seinsbedürfnis: Zum »letzten Gott« in Heideggers »Beiträgen zur Philosophie«“.
In: Norbert Fischer – Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hrsg.): Die Gottesfrage im Denken Martin Heideggers
(Hamburg 2011), S. 89-103, hier S. 94.
730
Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (GA 65), S. 438.
731
Vgl. Paola-Ludovica Coriando: „Seinsbedürfnis: Zum »letzten Gott« in Heideggers »Beiträgen zur Philosophie«“, S. 95.
732
Martin Heidegger: „Brief über den »Humanismus«“. In: WM (GA 9), S. 351.
733
Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (GA 65) S. 273.
734
Günter Figal: „Gottesvergessenheit“. In: Ders. (Hrsg.): Zu Heidegger. Antworten und Fragen, S. 145-162,
hier S. 147.
735
Ebd., S. 154f.
95
gültiger Wahrheiten. Die Auseinandersetzung mit Husserl, Dilthey und anderen Denkern führt
ihn zum hermeneutischen Wahrheitsverständnis. Von diesem Punkt an ist Wahrheit nicht
mehr ewig, sondern aus dem persönlichen Lebensvollzug (Dasein) vor dem Hintergrund eines
radikalen Verständnisses des Historischen zu verstehen. Die Wahrheit betrifft mich
persönlich, was aber nicht bedeutet, dass die Wahrheit mir passt oder nützlich ist. Die
„schmerzliche Wahrheit“ gehört auch zum Dasein.736
In Sein und Zeit geht es um die fundamentalontologische Ausarbeitung der Seinsfrage, die die
Frage nach der Wahrheit einschließt. Heidegger knüpft beim traditionellen, auch
korrespondenz bzw. adäquationstheoretischen Wahrheitsbegriff im Sinne der Sach- und
Satzwahrheit (veritas est adaequatio rei et intellectus) an. Bei diesem Begriff geht es um die
Übereinstimmung, die eine wahre Sache zu einer wahren und einen wahren Satz zu einem
wahren macht.737 Hier setzt seine Kritik an. Er lehnt diesen Begriff nicht ab, sondern sucht im
§ 44 unter dem Titel „Dasein, Erschlossenheit und Wahrheit“ nach der Fundierung dieses
Begriffes. Wahrheit bedeutet für ihn letztendlich Erschlossenheit und nicht im Sinne der
Sach- und Satzwahrheit Übereinstimmung bzw. Richtigkeit. Das Ziel ist es, den traditionellen
Wahrheitsbegriff auf seine verborgenen ontologischen Fundamente hin zu durchleuchten.
Diese verborgenen ontologischen Fundamente findet Heidegger in einer am Phänomen
ausgewiesenen phänomenologischen Auslegung.738 Er wendet sich gegen diejenigen, die das
Wesen der Wahrheit allein in der Blickbahn von Logik und Erkenntnistheorie sehen.739
Stattdessen sucht er die Wahrheit in der Erschlossenheit des Daseins im In-der-Welt-sein. Für
ihn gibt es eine enge Verbindung zwischen Wahrheit und Sein. „Die Aussage ist wahr
bedeutet: sie entdeckt das Seiende an ihm selbst. Sie sagt aus, sie zeigt auf, sie »lässt sehen«
(ἀπόφανσις) das Seiende in seiner Entdecktheit. Wahrsein (Wahrheit) der Aussage muß
verstanden werden als entdeckend-sein. Wahrheit hat also gar nicht die Struktur einer
Übereinstimmung zwischen Erkennen und Gegenstand im Sinne einer Angleichung eines
Seienden (Subjekt) an ein anderes (Objekt).“740 Kürzer oder präziser als Heidegger selbst
kann man die Erschlossenheit (existenziale Verfassung des Daseins) der Wahrheit als
Phänomen nicht ausdrücken.
Auch in seiner Rede „Vom Wesen der Wahrheit“ kreist Heideggers Denken um das
Phänomen der Wahrheit (ἀλήθεια). Der Ausgangspunkt ist wie in Sein und Zeit das
traditionelle Wahrheitsverständnis. Es geht Heidegger wieder um einen phänomenologischen
Ansatz in der Frage nach dem Fundierungsverhältnis von Aussage und Sache. Er ersetzt
einige Begriffe aus Sein und Zeit durch neue. Statt „erschließen“ und „Erschlossenheit“
gebraucht er jetzt bevorzugt „öffnen“ und „Offenständigkeit“. Die Offenständigkeit
ermöglicht die Richtigkeit der Aussage. Das Neue auf dem Denkweg Heideggers ist nun, dass
736
Jean Grodin: „Heidegger und Augustin. Zur hermeneutischen Wahrheit“, S. 165.
Vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Wahrheit, Freiheit, Geschichte, S. 57.
738
Vgl. ebd., S. 23.
739
Vgl. ebd., S. 67.
740
Martin Heidegger: SuZ (GA 2), S. 289.
737
96
die Offenständigkeit in der Freiheit gründet, die als „Seinlassen von Seiendem“ verstanden
wird. Sie gehört zur Ek-sistenz des Da-seins: „Die ek-sistente Freiheit ist das-sein des Da –,
das ausgesetzt ist in das Da und nur als so ausgesetztes sich dem Da aussetzt und in diesem
ausgesetzten Sich-aussetzen entbergend an der Entborgenheit des Seins und Entbergung des
Seienden teilhat.“741 Also ist die ek-sistente Freiheit die Grundlage für die Handlungsfreiheit
und gründet die Richtigkeit der Aussage in der Freiheit. Bemerkenswert ist zudem, dass der
Mensch die Freiheit nicht als Eigenschaft besitzt, sondern das vom umgekehrten Sachverhalt
ausgegangen werden muss.
In seinen Überlegungen erläutert er auch die Begriffe Un-Wahrheit, Irrtum, Lüge, Geheimnis,
Verborgenheit. Zusammenfassend lässt sich sagen. Wahrheit und Un-wahrheit gehören
zusammen wie die zwei Seiten einer Medaille. Geheimnis und Irre stellen sich dar als zwei
Weisen der Un-wahrheit. Das Geheimnis (die erste Weise der Un-wahrheit) bezeichnet das
Verbergen des Verborgenen. Verborgen ist dem Da-sein das Sein im Ganzen. Der Mensch
neigt dazu, das Geheimnis in Vergessenheit geraten zu lassen und sich stattdessen mit dem
Gängigen, dem Man-Selbst, zufrieden zu geben und die Möglichkeiten, die im eigentlichen
Selbst realisiert werden könnten, unberücksichtigt zu lassen. Die Irre (die zweite Form der
Un-wahrheit) wird als „das wesentliche Gegenwesen zum anfänglichen Wesen der Wahrheit“
bezeichnet. Dabei gehören Wesen und Gegenwesen zusammen wie Tag und Nacht. – Man
denke hier an Heraklit. – Ohne Tag keine Nacht und ohne Wesen kein Gegenwesen. Im Dasein, das sich irrt, sieht Heidegger die Wirksamkeit der Geschichte anwesen: „Die Irre ist die
offene Stätte und der Grund des Irrtums. Nicht ein vereinzelter Fehler, sondern das
Königtum (die Herrschaft) der Geschichte jener in sich verwobenen Verstrickungen aller
Weisen des Irrens ist der Irrtum.“742 Ebenso wirkmächtig in die Geschichte hinein wirkt das
Geheimnis. „Das Motiv, die Geschichte – anders als noch in Sein und Zeit – in das Wesen der
Wahrheit aufzunehmen, ergibt sich demnach aus der in WW [„Vom Wesen der Wahrheit“]
zum ersten mal formulierten Einsicht in die gestalterische Kraft der Verborgenheit, die in der
Offenbarkeit selber mit da ist. Denn die Geschichte, in der wir leben, ist nicht nur schon
vergangen (oder noch ausstehend), sondern wirkt auf unsere Gegenwart ein.“743
Noch in der Rede „Vom Wesen der Wahrheit“ setzt die Wende zum seynsgeschichtlichen
Denken ein, indem Heidegger den Denkschritt vollzieht vom „Wesen der Wahrheit“ zur
„Wahrheit des Wesens“. Die Wahrheit des Seienden gründet in der Wahrheit des Wesens. Das
seynsgeschichtliche, andersanfängliche Denken bleibt bestimmend bis ins Alterswerk.
Ab 1932 entwickelt Heidegger den Begriff der Wahrheit des Seins als Ereignis. Dieser
Begriff wird zuerst in seinem 2. Hauptwerk Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)
entfaltet. Im Zentrum der Beiträge stehen Heideggers Gedanken zum Göttlichen bzw. zu Gott
und den Göttern, zum Fehl Gottes, eine „Theologie“, die vom Seyn als Ereignis her zu
verstehen ist. Jede monotheistische Religion, die von einem persönlichen Gott ausgeht, steht
741
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Wahrheit, Freiheit. Geschichte, S. 128.
Martin Heidegger: WdW in WM (GA 9), S. 197.
743
Martin Brasser: Wahrheit und Verborgenheit, S. 327.
742
97
im Widerspruch zu Heideggers Wahrheitsverständnis. Das Göttliche ist kein Bestandteil des
Seins, sondern das „Andere des Seins“. Der Mensch ist somit nicht in der Lage, Gottes
faktische Vorhandenheit zu erkennen oder ihn als faktisch existierend zu postulieren, denn
das würde ein summum ens voraussetzen.744
Auch in der Auseinandersetzung mit der traditionellen Ästhetik (Wahrheit als Überwindung
der Ästhetik) wird vom Seyn als Ereignis her gedacht. Beweis dafür sind die Beiträge zur
Philosophie und auch der „Zusatz“ zu Heideggers Werk „Der Ursprung des Kunstwerkes“.
Wie ordnet er das Da-sein (den Menschen) in das Seyn als Ereignis ein? Der Mensch ist
Voraussetzung für das Seyn, nicht im Sinne der Dominanz, sondern als Eigentum des Seyns.
4.2 Wahrheitsverständnis Hans Urs von Balthasars
Auch Hans Urs von Balthasar setzt sich kritisch mit dem Christentum, der scholastischen
Philosophie und Theologie auseinander und entwickelt als Theologe, der von der Germanistik
und Philosophie herkommt, Positionen, die andere Theologen bis in die Gegenwart zu
heftigen Protesten anregen. Aber trotz aller Kritik an der Theologie und an der
Seinsphilosophie der Neuscholastik kehrt er dem Christentum und der scholastischen
Philosophie und Theologie wie sein „Zeitgenosse“ Heidegger nie den Rücken. Er entwickelt
eine Seinsphilosophie, die es ihm ermöglicht, Sein und Wahrheit zusammen zu sehen und
diesen Gedanken, den er in seinem philosophischen Hauptwerk Wahrheit der Welt
ausarbeitet, auch zur Grundlage seiner theologischen Forschungen zu machen. In der
Einleitung des Buches erfährt der Leser, warum sich der Autor mit dem Thema Wahrheit
befasst. Er beabsichtigt als Theologe, philosophische Vorarbeit zu leisten. Es geht dabei um
einen Versuch und nicht um ein Lehrbuch. Es sollen auch nicht die Hauptwerke der
abendländischen Tradition über das Thema Wahrheit ersetzt werden. 745 Wir wissen schon von
der Methodenanalyse unserer beiden Denker, dass es sich auch bei Hans Urs von Balthasar
um die phänomenologische Methode handelt, die sich, wie schon beschrieben, von der
Heideggers wesentlich unterscheidet. Für Hans Urs von Balthasar ist die Wahrheit eine
transzendentale Eigenschaft des Seins. Der erste Band der Wahrheit der Welt betrachtet das
Thema „Wahrheit“ hauptsächlich vom philosophischen Standpunkt aus, wobei von Balthasar
betont, dass die real existierende Welt schon immer in Beziehung zum Gott der Gnade stehe,
weil es keine natura pura gebe: „Wurzelt sich doch das Übernatürliche in die innersten
Strukturen des Seins ein, um sie wie einen Sauerteig zu durchsäuern, wie ein Hauch und
allgegenwärtiger Duft zu durchwehen.“746 Eine Definition der Wahrheit ist nicht möglich, da
es sich beim Begriff der Wahrheit nicht um einen Gattungsbegriff handele. Dem
Rationalismus wirft er vor, die Wahrheit auf eine rein theoretische Evidenz reduzieren zu
wollen. Von Balthasar bedauert, dass moderne Lehrbücher christlicher Philosophie im
744
Vgl. Paola-Ludovica Coriando: „Seinsbedürfnis: Zum »letzten Gott« in Heideggers »Beiträgen zur Philosophie«“, S. 94.
745
Vgl. Hans Urs von Balthasar: W, S. 9.
746
Ebd., S. 21.
98
Vergleich zu den Kirchenvätern (Klemens, Origenes, Gregor von Nyssa, Augustinus) oder zu
Anselm und Thomas nur karge Sätze über das Thema „Wahrheit“ geäußert hätten. 747
Außerdem warnt von Balthasar in seiner Einleitung zur Wahrheit der Welt davor, von
vorgefassten Begriffen und Definitionen auszugehen, sondern der Wahrheit dadurch als
unbegrenzte Seinsbestimmung gerecht zu werden, dass man ihr die ganze Fülle zugesteht.748
In diesem Zusammenhang bezieht er sich vor allem auf Thomas von Aquin, den er auch in
seinem Buch als Einzigen zitiert: „Von dieser Weite und diesem unerschöpflichen Reichtum
der Wahrheit waren alle großen Denker überzeugt. Auch und gerade bei jenem Philosophen,
der mit Vorliebe als Paradigma und Vorbild schulmäßigen Denkens hingestellt wird, bei
Thomas von Aquin, umfasst der Traktat De Veritate eine ganze Welt von Gegenständen,
deren unmittelbarer Zusammenhang mit dem Problem der Wahrheit dem Einsichtigen
durchaus evident ist, während Kurzsichtige hier von Abschweifungen und willkürlichen
Exkursen sprechen konnten.“749 Das, was von Balthasar als Weite der Wahrheit ansieht und
im Bewusstsein des Fragmentarischen jeder Erkenntnis zu diesem Thema zu sagen hat, soll
im Folgenden in fünf Schritten dargestellt werden.
4.2.1 Wahrheit als Natur
„Wahrheit ist die schlechthin unhintergehbare Urgegebenheit für den, der den Akt
selbstbewussten Erkennens vollzieht.“750 Von Balthasar beginnt das Kapitel „Wahrheit als
Natur“ mit den naturhaften Voraussetzungen der Wahrheit. Erstens geht es um einen
vorläufigen Wahrheitsbegriff, zweitens um die komplexen Beziehungen zwischen Subjekt
und Objekt bei der Erkenntnis der Wahrheit und drittens um das Phänomen der Erkenntnis
Gottes beim Akt des Erkennens der Dinge der Welt. Man kann in diesem Zusammenhang von
einer Phänomenologie der Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis und des eigentlichen
Erkenntnisprozesses sprechen. Zunächst erschlösse sich die Wahrheit dem Selbstbewusstsein
im Horizont des Seins in der Form der Unverborgenheit (ἀλήθεια). Darüber hinaus erfahre
das Subjekt die Wahrheit als etwas Beständiges, dem man trauen könne (Emeth).751 Sein und
Wahrheit seien dem Subjekt in der Weise erschlossen, dass es sich auf die erkannte Wahrheit
verlassen könne. In einem späteren Werk Spiritus Creator wird von Balthasar konkreter,
indem er das Erwachen der Wahrheit im Menschen erklärt durch die Begegnung des Kindes
mit dem Du der Mutter, deren Lächeln es erwidert im Zurücklächeln. 752 „In der Wahrheit sein
und für die Wirklichkeit aufgeschlossen zu sein heißt somit von Anfang an und bleibend: von
Liebe zu antwortender Liebe gerufen sein.753 Die Zweifler an der Erkenntnis der Wahrheit
747
Ebd., S. 17.
Vgl. ebd., S. 15.
749
Ebd., S. 15f.
750
Lorenz Gadient: Wahrheit als Anruf der Freiheit. Hans Urs von Balthasars theodramatischer Erkenntnisbegriff in vergleichender Auseinandersetzung mit der transzendentalphilosophischen Erkenntniskritik Reinhard
Lauths. Münchener Theologische Studien Bd. 55 (St. Ottilien 1999), S. 87.
751
Vgl. ebd., S. 29.
752
Vgl. Hans Urs von Balthasar: Spiritus Creator S. 13-50.
753
Lorenz Gadient: Wahrheit als Anruf der Freiheit, S. 89.
748
99
werden auf Augustinus verwiesen, der sinngemäß sagt: Falls jemand an der Wahrheit
zweifelt, ist ihm der Zweifel bewusst und damit wird ihm bewusst, dass er denkt, also
existiert.754
Unter beiden Aspekten (ἀλήθεια) und (emeth) weise die Wahrheit über sich hinaus. Trotz
aller Offenheit bliebe die Wahrheit aber ein Geheimnis und könne nicht in eine Definition
gezwungen werden. Auch Heidegger spricht im Zusammenhang mit der Wahrheit von
Offenheit und Geheimnis. Vor allem der Begriff des Geheimnisses hat jedoch eine andere
Bedeutung bei Heidegger. Darauf wird später genauer eingegangen werden. Komplexer sei
das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt. Diesem Verhältnis widmet sich von Balthasar in
akribischer und ausführlicher Weise, wobei er auch bekannte Begriffe aus der scholastischen
Philosophie zur Erklärung heranzieht. Zunächst beschreibt er das Subjekt und das
Selbstbewusstsein beim Akt des Erkennens. Aber auch die Objekte kommen immer wieder
zur Sprache, denn Erkenntnis setzte bei den geschaffenen Subjekten die Objekte voraus.
Insgesamt finde eine „Angleichung des Intellekts an den Sachverhalt (adaequatio intellectus
ad rem)“ statt.755 Es komme zu einer Deckung zwischen Sein und Bewusstsein. Trotzdem
bleibe das Subjekt frei in seiner spontanen Urteilskraft (intellectus agens).756 Das Maß der
Wahrheit sei aber verteilt auf Subjekt und Objekt. Das Subjekt sei gleichzeitig maßgebend
und maßnehmend. Es erkenne sich als ein Seiendes, dass sich seiner selbst bewusst sei, „das
sich selber ermessen kann“757 und offen sei für die Erkenntnis des Seins als Ganzes. Es
erfasse die Identität zwischen Sein und Wahrheit und erkenne, dass sich das Sein durch die
Wahrheit enthülle.758
Die Ansprechbarkeit des Subjekts durch „fremde Wahrheiten“ (fremdes Sein) und die
Fähigkeit, diese Wahrheiten zu erkennen und sich gleichsam von ihnen beschenken zu lassen,
nennt von Balthasar die „Rezeptivität des Subjekts“.759 Unter Rezeptivität, einem zentralen
Begriff in Wahrheit der Welt, versteht er eine „eindeutige Seinsvollkommenheit“.760 Die
Seinsvollkommenheit „bedeutet Ansprechbarkeit durch fremdes Sein, Offenstehen für etwas
anderes als für den eigenen subjektiven Innenraum, Fenster haben für alles, was seiend und
wahr ist.“761 Auch der zweite Aspekt der Rezeptivität, das Sich-beschenken-Lassen durch die
Wahrheiten der Dinge (fremdes Sein), ist wichtig für ihr Verständnis. Diesem Reichtum der
Seinsvollkommenheit stellt er eine Art von Armut auf Seiten des Subjektes gegenüber, was
eine Lernbereitschaft des Subjekts für fremde Dinge bedeutet, damit das Subjekt nicht auf
seine eigene Wahrheit bezogen bleibt, sondern offen sein kann für das Sein als Ganzes.762
Beim Menschen sei die Rezeptivität an die sinnliche Wahrnehmung gebunden, d.h. von
754
Vgl. Hans Urs von Balthasar: W, S. 26.
Vgl. ebd., S. 32.
756
Vgl. ebd., S. 34.
757
Ebd., S. 35.
758
Vgl. ebd.
759
Vgl. ebd., S. 36.
760
Vgl. ebd.
761
Ebd.
762
Vgl. ebd., S. 38.
755
100
Balthasar erkennt das Positive der Sinnlichkeit an, denn sie ist nötig im aktiven und spontanen
Sinn, damit das Subjekt offen sein kann für das Sein als Ganzes. Auch die Vernunft sei nicht
nur aktiv und spontan, sondern sei in ihrer Funktion als „intellectus passibilis“763 auch
rezeptiv, denn die Vernunft sei nicht nur maßgebend, sondern auch maßnehmend. Die
Rezeptivität sei desto vollkommener je mehr sie spontan sei. Dadurch würde „auch die
Möglichkeit und Fähigkeit, sich von Anderem bestimmen zu lassen“764 verstärkt. Diese
Passivität hänge mit der „Freiheit des Geistes“765 zusammen, „der sich in der Freiheit der
Liebe erschließt“766. Die Rezeptivität sei mit Hingabe verbunden, denn das Subjekt, das sich
hingebe, sei nicht auf die eigene Bereicherung aus, sondern es gehe ihm um die Wahrheit um
ihrer selbst willen.767 Dem Subjekt werde bewusst, dass es eigentlich nicht im Besitz der
Wahrheit sei, sondern dass es bereit sein müsse, sich im Umgang mit den Dingen der Welt der
göttlichen Gnade, die es als Geschenk erfahren würde, zu öffnen („potentia oboedentialis“)768.
Die Fähigkeit des Subjekts, die Wahrheit zu erkennen, sei weder ein reiner Akt im Sinne von
„angeborenen Ideen“, „Schemata“ bzw. „Kategorien“ (gegen pantheistischen Idealismus),
sondern es handele sich bei ihr um die aktive Potenz des Subjekts, die offen nach allen Seiten
sei.769
Das Subjekt erkenne, dass die Wahrheit nie abgeschlossen sei, dass es nie zum Ende der
Wahrheit gelangen könne. Dem Subjekt werde eine doppelte Begrenzung klar, denn es
erfahre einerseits das entgegentretende Objekt als partikulär im Verhältnis zum ganzen Sein,
das in seiner Ganzheit nicht überschaubar ist, und andererseits erkenne es, dass das im
Selbstbewusstsein erschlossene Sein nicht das Sein schlechthin sein könne. Hinter jedem
partikulären Sein trete das absolute Sein auf, „ein von sich selbst gemessenes, sich selbst
gegenwärtiges“770 und mit Selbstbewusstsein begabtes Sein. Das Selbstbewusstsein erkenne
in jedem seiner Erkenntnisakte einschlussweise Gott [omnia cognoscentia implicite Deum in
quolibet cognito (De Ver. Q 22 a 2 ad 1)].771 Diese Gotteserkenntnis sei nicht unmittelbar
zugänglich, sondern nur der Zugang zur eigenen Kontingenz und zur Kontingenz der Welt.
Durch die Vermittlung der Erkenntnis gelange das Subjekt in einem „impliziten
Kausalschluß“772 zur Erkenntnis Gottes.
Zum besseren Verständnis des 1. Kapitels ist es sinnvoll, den letzten Abschnitt „Die
Doppelgestalt der Wahrheit“, in dem es vor allem um die Leistungen des Selbstbewusstseins
geht, vorzuziehen. Erst dann wird genauer auf das eingegangen werden, was von Balthasar
noch zum Thema „Objekt“ zu sagen hat.
763
Vgl. ebd.
Ebd.
765
Ebd., S. 40
766
Ebd., S. 40f.
767
Ebd., S. 47.
768
Ebd.
769
Vgl. ebd., S. 41.
770
Ebd., S. 44.
771
Ebd., S. 45.
772
Vgl. ebd., S. 46.
764
101
Das Subjekt erfasse das Objekt zunächst in seiner sinnlichen Sphäre in Form von Bildern und
ihrer Anschauung. Mit Hilfe dieser Bilder könne es zum Wesen des Objekts vorstoßen, das
absolut unanschaulich sei. Voraussetzung dafür sei, dass die sinnliche Sphäre Teil des
„totalen geistigen Erkenntnisraumes“773 sei, dessen Wesen das Selbstbewusstsein sei. Das ist
eine sehr dichte Aussage, in der es um wesentliche Grundlagen der von Balthasarschen
„Erkenntnislehre“ geht und nicht mit dem kompatibel ist, was wir von Heideggers
Fundamentalontologie her aufgenommen haben.
Nach von Balthasar leiste das Selbstbewusstsein ein Dreifaches:
1. Es fasse die Bilder zur Einheit der Anschauung zusammen.
2. Es gebe diesem zu einer Einheit zusammengefassten Bild, die Einheit des Begriffs774.
3. Die dritte Leistung sei die Stiftung der Einheit des Seins, die „Setzung der Existenz“775, da
das Anschauliche nicht auf eine Existenz verweise. Zusammenfassend kann man sagen, dass
das Selbstbewusstsein eine zentrale Rolle im Erkenntnisprozess spielt. Es ist in der Lage, die
Sinnesbilder, die das Bewusstsein von den Dingen aufnimmt, zur Einheit zusammenzufassen,
so dass ein einheitliches Gesamtbild entstehen kann. Dann ist es in der Lage, die zu einer
Einheit der Anschauung zusammengefassten Objekte mit einem einheitlichen Begriff zu
belegen. Das Selbstbewusstsein ist außerdem fähig, die Objekte auch in ihre Existenz zu
setzen, d.h. auch als real existierende zu verstehen. Scholastisch ausgedrückt spricht von
Balthasar von „abstractio speciei a phantasmate“ und von „conversio intellectus ad
phantasma“,776 d.h. die Bilder würden einerseits zu Begriffen erhoben und andererseits würde
der „geistige Sinn“777 in die Anschauung eingesenkt. Beim Erkennen komme es dann
irgendwie zu einer Identität zwischen Subjekt und Objekt. Das Subjekt erfasse die ganze
Wahrheit des Objekts, wenn es das Objekt als ein ihm gegenüber stehendes „Für-sich-Sein“778
verstehe. Das Subjekt verfüge über einen „personal, freien und souveränen Innenraum, den
man sich nicht als leere Tafel, sondern als Geist, das kostbarste Material der Welt vorzustellen
habe.779 Das geistige Wort (verbum mentis) sei mehr als ein faktisch vorhandenes Objekt,
denn es spreche dem Objekt Sinn zu. Deshalb sei diese schöpferische Tat des „intellectus
agens“ mehr als Gerechtigkeit, es sei ein Akt der Liebe, der vom Objekt nicht eingefordert
werden könne.780 Dieser Akt sei analog zur schöpferischen Zumessung durch die urbildliche,
produktive Erkenntnis Gottes, der mit einem Blick der Liebe seine Geschöpfe betrachtet.781
Hier kommt ein in der Philosophiegeschichte neuer Aspekt zum Tragen, der Wahrheit und
Liebe zusammen sieht (Erkenntnis und Wille als Akt der Liebe).
773
Ebd., S. 70.
Vgl. 71
775
Vgl. ebd., S. 72.
776
Vgl. ebd.
777
Vgl. ebd.
778
Vgl. ebd., S. 73.
779
Vgl. ebd.,
780
Vgl. ebd., S. 77.
781
Vgl. ebd., S. 78.
774
102
Was sagt von Balthasar von den Objekten? Im Abschnitt „Das Objekt“ geht es um die
Bedingung der Möglichkeit der Erkennbarkeit der Objekte, die nicht übereinstimmen müsse
mit den Bedingungen der Erkenntnis.782 Das Maß für die Enthüllung des Wesens der Dinge
liege bei Gott als Urbild des Seins. Nur in dem Maße, in dem Gott Menschen an der Wahrheit
der Dinge und Subjekte teilnehmen lasse, werde den Subjekten das Sein licht. Die Wahrheit
der Dinge sei mehr als das faktische Vorhandensein. Das verdeutlicht von Balthasar am
Beispiel der Pflanze. Die Wahrheit einer Pflanze transzendiere ihr bloßes Dasein, denn man
könne von einem „geistigen Plan“ (Entelechie) der Pflanze sprechen, obwohl die Pflanze
selbst nicht geistig sei.783 Das Sein der Dinge sei auf Gott hin offen und nicht in sich selbst
abgeschlossen. Die Dinge seien aus folgenden Gründen nicht nur bloße Tatsachen: Sie
überstiegen in ihrem Wesen entweder als Einzelwesen „den vergänglichen Augenblick oder
als Artwesen ihre Individualität.784 Die Wahrheit des Objektes habe ontologisch gesehen die
Form einer Rezeptivität, denn es würde ihr sowohl ihre zeitliche Existenz als auch ihre Idee in
jedem Moment von Gott zugesagt.785 Deshalb dürfe das Subjekt nur im Auftrag Gottes sagen,
was die Dinge im Lichte Gottes seien oder wie sie sein sollten.786
Im Abschnitt „Subjekt und Objekt“ vergleicht er das Erkennen mit einem Abenteuer, denn
das Subjekt wisse nicht schon im Voraus, was sich aus dem Zusammenspiel und in der
Ergänzung von Subjekt und Objekt ergäbe.787 Subjekt und Objekt fänden im
Zusammentreffen auf wunderbare Weise ihre Erfüllung, denn sie würden sich gegenseitig
offenbaren und sich gegenseitig erkennen. Selbsterkenntnis vollzöge sich nur über
Fremderkenntnis.788 Was auffällig erscheint in diesem Zusammenspiel zwischen Subjekt und
Objekt ist die starke Betonung des Objekts beim Finden der Wahrheit im gegenseitigen
Erkennen.
Auch im nächsten Gedankenschritt, der noch einmal deutlich auf die Hinordnung der Objekte
auf den Raum der Subjekte hinweist, scheint die Darstellung der Objekte ihre tatsächliche
Bedeutung zu übertreffen. Der Baum beispielsweise brauche den Sinnesraum der Subjekte
und die Wirkung, die von ihm auf seine Umwelt (Mensch, Erde, Luft, Landschaft) ausgehe,
um er selber sein zu können, um Gottes Idee zu verwirklichen und sich nur so in einer „ihm
überlegenen Welt“789 vollenden könne. Diese Aussage scheint übertrieben zu sein. Die
Wahrheit des Baumes sei wesentlich mehr als das „unbekannte Lebensprinzip“790 desselben.
Wahrheit entstehe aus dem Zusammenwirken von Subjekt und Objekt. Der naive Realismus
übersehe dieses Zusammenwirken und sehe die ganze ontologische Wahrheit allein in den
782
Vgl. ebd., S. 49.
Vgl. ebd., S. 51.
784
Vgl. ebd., S. 54.
785
Vgl. ebd., S. 55.
786
Vgl. ebd., S. 57.
787
Vgl. ebd., S. 58.
788
Vgl. ebd.
789
Vgl. ebd., S. 60.
790
Vgl. ebd.
783
103
Objekten.791 Die kritische Erkenntnistheorie trenne den subjektiven vom objektiven „Anteil
der Erkenntnis“.792 Das würde dazu führen, dass dieser Anteil von der Gesamtwirklichkeit
abgezogen würde und das Objekt deshalb seine eigene objektive Wahrheit innerhalb des
Erkenntnisraumes nicht zur Entfaltung bringen könne. Aus diesem Grund sehe man von den
sogenannten sekundären Sinnesqualitäten (Farbe, Ton, Geschmack, Geruch etc.) ab. Man
betrachte nur die primären Sinnesqualitäten (Zeitlichkeit und Ausdehnung) als relevant. Wenn
man davon noch die primären Sinnesqualitäten eliminiere, bleiben auf Seiten der Wahrheit
nur noch ein Rest abstrakter, unanschaulicher Begriffe des „An-sich-seins, der Substanz
etc.“793 Diese Kritik Balthasars am naiven und am kritischen Realismus ist durchaus
berechtigt. Besonders hervorzuheben sind die Leistungen des Selbstbewusstseins. Es handelt
sich nicht wie bei Kant (Idealismus) um angeborene Ideen, um Kategorien von Raum und
Zeit, sondern um die je neue Leistung des „intellectus agens“, der gleichzeitig rezeptiv
Sinnesdaten aufnimmt und diese dann selbständig aufbereitet zur Einheit der Anschauung und
des Begriffs. Um Missverständnissen vorzubeugen bedeuten Sinn »verleihende« und Sein
»stiftende« Tätigkeit beim Erkennen der Wahrheit der Objekte nicht „Belehnung des fremden
Objekts mit dem Eigenbesitz des Subjekts“, sondern sind zu verstehen „als eine Zusprechung
dessen, was dem Objekt auch in der Selbsterkenntnis des Subjekts von jeher und ursprünglich
zusteht“794.
Im Abschnitt „Das Subjekt im Objekt“ wird herausgestellt, dass das Subjekt auf die Objekte
angewiesen sei, um zu sich selbst zu kommen. Von Balthasar schreibt: „Ohne die Welt bleibt
es ein ungebildetes Ich. Es hat keine Form, keinen Umriss, keine Prägung, keinen Charakter.
Bildung erhält es in dem Maße, als es Welt in sich aufnimmt und gestalten hilft.“795 Bevor das
Ich Form annehmen und in Freiheit die Welt beherrschen könne, seien Dienst und
Unterwerfung angesagt. Zunächst sehe sich das Ich von allen Seiten mit Eindrücken konfrontiert und sehe sich gezwungen, die harte Arbeit der „mühsamen Sichtung und Zerlegung, der
Ausscheidung und Zusammensetzung“796 zu leisten. Was wird hier gesagt. Nichts anderes, als
das das Ich nicht ohne die Welt, d.h. die Welt der Objekte (Subjekte und Natur
eingeschlossen) sinnvoll leben könnte. Der Mensch könnte nicht zur Erkenntnis seines Ichseins gelangen, geschweige denn in Freiheit die Welt beherrschen. Im Übrigen ist Dienst an
der Erkenntnis der Wahrheit und keinesfalls Streben nach Macht oder Befriedigung des
Erkenntnisdranges (appetitus naturalis) angesagt.797 Dabei lerne das Subjekt die sinnlichen
Worte als Ausdruck eines geistigen Gehalts zu verstehen und auf diese Weise sein eigenes
Maß zu erhalten.798 Das Maß der Objekte gelange in den inneren Raum des Subjekts
791
Vgl. ebd., S. 62.
Vgl. ebd., S. 63.
793
Vgl. ebd.
794
Ebd., S. 71.
795
Ebd., S. 64.
796
Vgl. ebd., S. 66.
797
Vgl. ebd.
798
Vgl. ebd., S. 67.
792
104
(Rezeptivität) und hinterließe dort einen Eindruck (species impressa), und durch die
Spontaneität des Subjekts (intellectus agens) würden diese Eindrücke in bewusste, an dem
eigenen Maß des Selbstbewusstseins messbare Maße (species expressa) verwandelt.799 Von
Balthasar wiederholt mit anderen Worten, was er schon vorher bei den Leistungen des
Selbstbewusstseins gesagt hat.
4.2.2 Wahrheit als Freiheit
Während von Balthasar im 1. Kapitel mehr den erkenntnistheoretischen Aspekt der Wahrheit
beschreibt, beschäftigt er sich im 2. Kapitel hauptsächlich mit dem ethischen Aspekt der
Frage nach der Wahrheit. Zentrales Thema des 2. Kapitels ist die Freiheit der Subjekte und
der Objekte. Im Mittelpunkt steht die Freiheit des Menschen, dessen Freiheit ihn befähige,
Zeugnis für die Wahrheit abzulegen, denn ohne Zeugnis könne die Wahrheit nicht ans Licht
kommen.800 Das Zeugnisgeben könne nur in Liebe geschehen. Die Liebe sei die Norm der
Wahrheit, denn sie sei frei von Lüge.801 Sie sei die Voraussetzung dafür, dass die Wahrheit
nicht missbraucht werde.802 Die Liebe achte die Intimität des je besonderen Menschen und
lasse beispielsweise nicht zu, dass das Innere eines Menschen zum Vorschein komme
(Hypnose).803 Von Balthasar durchläuft zunächst die Stufenleiter der arbor porphyriana:
leblose Substanz, vegetatives Leben, rationales Leben, Intelligenzen. Freiheit sei in der
Innerlichkeit der Subjekte und Objekte angelegt, denn jedes Sein, ob Stein, Tier, Mensch,
Engel oder an oberster Stelle Gott verfüge über ein Selbstsein.804 Ich beginne mit dem
Menschen, weil es letztendlich um die Gegenüberstellung der Wahrheit des Menschen als
Subjekt und dem Dasein in formalontologischer und in seynsgeschichtlicher Blickbahn geht.
Der Mensch steht nicht an der Spitze der Stufenleiter, aber er erfasst in seinem Bewusstsein
die Wahrheit der Dinge und transzendiert diese durch Teilhabe auf die Wahrheit Gottes hin.
Im Gegensatz zu den Tieren kann sich der Mensch frei äußern, wann, wo, und wie er will:
„Im Menschen verinnerlicht sich das Bewusstsein zum Selbstbewußtsein. Der innere Raum ist
nicht nur, wie beim Tier; licht, sondern Licht für sich selbst. Der Mensch ist das erste Wesen,
dass sich selber besitzt und somit frei ist.“805 Er übernehme die Verantwortung für das, was er
sagt und entscheidet, ob er die Wahrheit sagen wolle oder nicht.806 Er habe die Fähigkeit zum
ethischen Handeln. Mittels der Erkenntnis der Kontingenz der Welt habe er Zugang zu sich
selbst, zur übrigen geschaffenen Welt und zu Gott. Er hat die Freiheit aus einer großen Zahl
von Zeichen (Wörtern, Metaphern, Sprachen etc.) über die Dinge zu sprechen.
Zurück zur arbor porphyriana, und zwar zu den Dingen, Pflanzen und Tieren. „Die Dinge
besitzen ein Selbstsein, und darin liegt ein einmaliger, unvertauschbarer Wert begründet, der
799
Vgl. ebd.
Vgl. ebd., S. 129.
801
Vgl. ebd., S. 132.
802
Vgl. ebd., S. 134.
803
Vgl. ebd., S. 135.
804
Vgl. ebd., S. 84ff.
805
Ebd., S. 95.
806
Vgl. ebd.
800
105
Wert des Für-sich-seins, der zunächst ihnen allein geschenkt und anvertraut ist.“807 Die Dinge
besäßen als Individualitäten einen Eigenwert, d.h. sie seien kein „Fall von“ und könnten in
ihrem Geheimnis nicht erkannt werden, wenn man sie nur unter dem Aspekt „Artwesen“ zu
erkennen versucht.808 Schon die leblosen Substanzen öffneten sich nicht vollständig dem
subjektiven Streben nach Erkenntnis, denn die Hypothesen der Naturwissenschaften hätten
keinen endgültigen Charakter, sondern wären nur Vorstufen auf dem Weg zur Wahrheit.809 In
dieser Aussage ist eine Kritik der Naturwissenschaften herauszulesen, insofern sie den
Anspruch erheben, im vollen Besitz der Wahrheit zu sein oder andeuten, eines Tages zu
wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Die Innerlichkeit des Seins wird dichter auf der nächst höheren Stufe der Stufenleiter, nämlich
im Bereich des vegetativen Lebens. Das Lebensprinzip des Lebens werde keine Forschung je
erkennen.810 Trotzdem erfassten wir etwas vom Wesen des Lebens, z.B. beim Beobachten des
Pflanzenwuchses könnte man erkennen, dass die Möglichkeiten des Lebens unendlich viel
reicher seien als seine Darstellungen.811
Die Innerlichkeit des Seins wird noch einmal dichter auf der nächst höheren Stufe der
Stufenleiter im Bereich der Tierwelt. Von Balthasar spricht in diesem Zusammenhang von
»subjektiven Weltbildern«.812 Der Mensch könne nicht sagen, was die unterschiedlichen Tiere
exakt über ihre Sinneswahrnehmungen aufnehmen können. Er könne nur mit Hilfe von
Analogieschlüssen etwas zu den Tieren sagen, deren Sinnesorgane qualitativ und quantitativ
nicht mit denen des Menschen übereinstimmen.813
Im Abschnitt „Die Freiheit des Subjekts“ beschreibt von Balthasar die Freiheit des
Selbstbewusstseins des Menschen. Ausgangspunkt jeder Erkenntnis seien die Sinne. Aus
diesem Grund lasse sich die Spontaneität des Denkens (intellectus agens) nicht vollkommen
von der Rezeptivität lösen. Trotzdem sei die Spontaneität mit Wahlfreiheit verbunden, die
Voraussetzung dafür, dass es sich bei der Erkenntnis um einen geistigen Akt handelt. Der
Mensch habe die Fähigkeit aus den auf ihn einströmenden Sinnesdaten wie ein Zensor
auszuwählen, was zu seinem Weltbild passt.814 So gesehen sei Erkennen kein reiner Akt des
Erkennens, sondern werde durch den Willensakt mitbestimmt.815 Von Balthasar unterscheidet
zwischen voluntas ut natura und voluntas elicita. Unter voluntas ut natura versteht er eine
Aufgeschlossenheit des Subjekts für die Dinge der Welt als Voraussetzung für eine freie
Willensentscheidung. Die freie, persönliche Willensentscheidung nennt er „voluntas elicita“.
So wie der Wille zum vollen Begriff der Erkenntnis gehöre, so gehöre der Begriff der Liebe
807
Ebd., S. 81.
Vgl. ebd.
809
Vgl. ebd., S. 86.
810
Vgl. ebd., S. 87.
811
Vgl. ebd., S. 89.
812
Vgl. ebd.
813
Vgl. ebd., S. 91.
814
Vgl. ebd., S. 115.
815
Vgl. ebd., S. 117.
808
106
zum vollen Begriff der Wahrheit.816 Nur der Liebende habe den wahren Blick für die
Wahrheit. Da Gott die Liebe ist, ist die Wahrheit in Gott. Die übrigen Subjekte (Menschen
und Engel) schauten auf das Idealbild der Wahrheit in Gott und könnten durch Teilhabe an
Gottes Wahrheit und Liebe die Wahrheit der Dinge erkennen. Das Urbild oder Idealbild sei in
Gottes Liebe verborgen. Der liebende Mensch, dessen liebender Blick auf den Objekten ruht,
könne nur mit Gottes Gnade in Demut zur Wahrheit der Dinge gelangen. Der Mensch solle
nicht nur erkennen, was ist, sondern auch, was sein soll, was also beispielsweise aus einem
Menschen werden soll.817 Menschliche Erkenntnis könne niemals urbildliche Wahrheit im
absoluten Sinne setzen, aber es liege im Gesetz der Seinsanalogie und der
Zweitursächlichkeit, dass Gott dem Geschöpf etwas von seiner schöpferischen Kraft, auch im
Bereich der Wahrheit, mitteilt. „Die aktive Potenz, die Gott seinen Geschöpfen verliehen hat,
kann sich im Bereich der Wahrheit nicht nur nebenbei auswirken, sie muß eine zentralere
Rolle haben, als man ihr gemeinhin zugesteht.“818
Im Abschnitt „Geheimnis des Seins“ geht es um die Intimität, die Innerlichkeit des Seins, die
der Grund für den Geheimnischarakter des Seins ist. Die „bloße Faktizität des Seins“819 reiche
nicht aus, um den Wert bzw. das Wesen des Seins zu verstehen. „Die Intimität der Dinge […]
ist es, die ihren Wert ausmacht. Hier entgehen sie der bloßen Quantität, hier werden sie
einmalig, geheimnisreich und liebenswürdig.820 Der Begriff der „Faktizität des Seins“ ist
wahrscheinlich von Heidegger entlehnt, meint aber bei von Balthasar etwas anderes als im
Zusammenhangs des In-der-Welt-seins. Von Balthasar legt Wert auf das Jeweils-mehr der
Dinge. Er versteht darunter, dass das Sosein mehr ist als das, was faktisch realisiert ist.821
Dasein und Sosein seien wie zwei Pole aufeinander bezogen. Beide Pole könnten nicht auf
Kosten des anderen als geheimnisvoll erklärt werden, denn schon allein, dass ein Ding oder
eine Person existiert, ist wunderbar und in höchstem Maße geheimnisvoll. „Mit dem Wunder
eines Daseins wird kein Erkennender fertig, und wenn ein Liebender einmal vermeinte, das
Sosein seines Geliebten wahrhaft zu erkennen, er würde es dennoch nicht lassen, ihm täglich
neu für das unbegreifliche Wunder zu danken.“822
Im letzten Abschnitt „Die Verwaltung der Wahrheit“ beschreibt von Balthasar auch den
Missbrauch der Wahrheit. Jede partielle Wahrheit stehe im Zusammenhang mit der totalen
Wahrheit. Der Mensch komme dann seiner Verantwortung nicht nach und könne schuldig
werden, falls er vorgefasste Meinungen oder Weltanschauungen übernimmt.823 Im religiösen
Bereich sei dies der Fall, wenn vorgefasste Meinungen zur Häresie oder Sektenbildung
führen.824 Dagegen erleuchte die Liebe den Weg zur Wahrheit.825
816
Vgl. ebd., S. 117f.
Vgl. ebd., S. 126.
818
Ebd., S. 127.
819
Vgl. ebd., S. 110.
820
Ebd., S. 109.
821
Vgl. ebd., S. 110.
822
Ebd., S. 113.
823
Vgl. ebd., S. 138.
824
Vgl. ebd., S. 139.
817
107
Für von Balthasar steht das Zusammenspiel zwischen Freiheit, Wahrheit und
Selbstbewusstsein im Vordergrund seiner Metaphysik der Wahrheit. Dieses Zusammenspiel
ist evident. „Balthasar fasst den Erkenntnisakt in seinem Ermöglichtsein und in seinem
konkreten Vollzug als Freiheitsgeschehen auf. Erkenntnis im eigentlichen Sinn ist Erfahrung
von Evidenz und Freiheit in einem unlösbaren inneren Zusammenhang“826
4.2.3 Wahrheit als Geheimnis
Im 3. Kapitel kommt ´von Balthasars Metaphysik am Ausführlichsten zum Vorschein. Es ist
nicht leicht, den Zusammenhang der angesprochenen Gedanken zu erkennen. Es kommt
allerdings zu „Wiederholungen und Überschneidungen mit den vorausgehenden Kapiteln.
Gedanklich ist es wohl der profilierteste und originellste Teil.“827 Im letzten Abschnitt des 3.
Kapitels tritt der Gedanke der Wahrheit als Geheimnis am klarsten hervor, denn in ihm geht
es expressis verbis um die gleichzeitige Verhüllung und Enthüllung des Seins, der Wahrheit
und der Liebe. Heidegger spricht von der Verbergung und Entbergung der Wahrheit des
Seins, aber meint wiederum etwas Anderes als von Balthasar, wie noch gezeigt werden wird.
Von Balthasar bemerkt: „Die Dinge sind tatsächlich als verhüllte enthüllt, und in dieser
Gestalt werden sie zum Gegenstand der Erkenntnis.“828 Geheimnislose, total enthüllte Dinge,
könne man nicht lieben. Das gelte sowohl für den sakralen Bereich wie auch für die
menschliche Liebe. So sei beispielsweise die Gottesverehrung nur möglich, wenn der Mensch
das Sakrale den Blicken der Öffentlichkeit verschließe. Auch in der menschlichen Liebe gebe
es zwei Formen der Wahrheitsverhüllung, nämlich die Scham und das schöpferische
Vergessen und Überschauen.829 Alles was der Liebe zuträglich sei, könne enthüllt werden,
aber alles, was die Liebe beschädige, muss verhüllt bleiben.830 Exhibitionismus und
Promiskuität hätten keinen Platz in der Liebe. Die Liebe sei das Maß des Seienden und der
Wahrheit, sie sei Sinn und Ziel aller Dinge.
Schon im ersten Abschnitt geht es im Zusammenhang mit der Welt der Bilder um
geheimnisvolle Vorgänge. Von Balthasar spürt der Frage nach der Bedeutung dieser Welt
nach. Er versucht den Zusammenhang zwischen den Bildern, dem Sein und der Erkenntnis
der Wahrheit herauszuarbeiten. Das Sein könne sich dem Subjekt nur erschließen und seine
Wahrheit offenbaren, wenn es sich in Bildern darböte.831 Der Geist (intellectus agens) sei in
der Lage, aus den Bildern eine „Ganzheit der Gestalt“832 herauszulesen. Der Geist spreche den
Bildern Wesen und Dasein zu, die sie aus sich nicht hätten.833 Von Balthasar schreibt: „Wesen
verleiht man ihnen, indem man sie als Erscheinung eines nicht-erscheinenden
825
Vgl. ebd., S. 140.
Lorenz Gadient: Wahrheit als Anruf der Freiheit, S. 100.
827
Manfred Lochbrunner: Analogia Caritatis, S. 94.
828
Hans Urs von Balthasar: W, S. 234.
829
Vgl. ebd., S. 244.
830
Vgl. ebd., S. 240.
831
Vgl. ebd., S. 163.
832
Vgl. ebd., S. 147.
833
Vgl. ebd., S. 146.
826
108
Sinnzusammenhangs deutet; Dasein, indem man sie als Anzeige an sich seiender Dinge
auslegt.“834
Von Balthasar spricht von zwei Bewegungen zwischen den beiden Polen Wesen und
Erscheinung. Bei der ersten Bewegung offenbare sich das Wesen aktiv in der Erscheinung.
Die zweite Bewegung sei rückläufig, indem die Erscheinung beim Prozess des eigenen ZuGrunde-Gehens das Wesen als Grund sichtbar werden lasse.835 Nur wenn die Erscheinung
zugrunde ginge, könne der Geist zwischen Wesen und Erscheinung unterscheiden.836 Auch
auf der Erkenntnisebene fänden wir diese zwei Bewegungen vor. Von Balthasar drückt diesen
Sachverhalt in einer reichen Bildersprache aus, indem er schreibt: „Erkenntnis der Wahrheit
ist daher nicht anders möglich, als dadurch, dass das Subjekt zunächst in der inneren
Verbundenheit in ihm zwischen Sinnlichkeit und Geist die Spiegelung des Wesens in der
Erscheinung seinerseits unmittelbar abzuspiegeln vermag, welche Spiegelung – nämlich das
Stehen alles Rezeptiven in einem unmittelbar mehr-als-sinnlichen, eben geistigen Raumes –
den weiteren Schritt erlaubt, dass, wie die Erscheinung in ihrer Bewegung auf das Wesen
zurückgeht, um es als solches erscheinen zu lassen, so auch die Anschauung sich in den
Begriff auflöst, um diesem die Einsicht in das Wesen des Seienden zu ermöglichen.“837
Für den Thomisten stelle sich die Frage, wie es möglich sein könne, dass die Erscheinungen
(Akzidentien) etwas von der Substanz vermitteln. Die Kantianer würden wissen wollen, wie
die Erscheinung allgemeines und notwendiges Wissen grundlegen könne.838 Die Antwort auf
diese Frage ist, dass das Subjekt in der Lage ist, die Spiegelung des Wesens in der
Erscheinung zu spiegeln und die Erscheinung auf das Wesen zurückzuführen. Auf diese
Weise löse sich die Anschauung in den Begriff auf, und so erhalte das Subjekt Zugang zum
Wesen des Seienden.839
Hier werden einige Deutungen der Bilder vorgestellt, die von Balthasar zurückweist: (1) den
Rationalismus, (2) den Empirismus und (3) die Wendung vom Objekt zum Subjekt (Kant).840
Für den Rationalismus enthält die Welt der Bilder keine Wahrheit. 841 Für den Empirismus gilt
das genaue Gegenteil. Für ihn sind die Bilder, die Erscheinungen selbst die Wahrheit. „Das
Subjekt ist solange in der Wahrheit, als es im Aufnehmen der Bilder verharrt und sich dieser
Aufnahme vollkommen hingibt.“842 In Kants »kopernikanischer Wendung« vom Objekt zum
Subjekt sind die Bilder nicht mehr Erscheinungen der Welt, „sondern letztlich nur noch eine
Projektion der setzenden Kräfte der Erkenntnis“.843
834
Ebd.
Vgl. ebd., S. 160.
836
Vgl. ebd., S. 161.
837
Ebd., S. 169.
838
Vgl. ebd., S. 168.
839
Vgl. ebd., S. 169.
840
Vgl. ebd., S. 150f.
841
Vgl. ebd., S. 149.
842
Ebd., S. 150.
843
Ebd., S. 151.
835
109
Im 2. Abschnitt des 3. Kapitels geht es um die Bedeutung der Objekte um uns herum. „Jede
Blume, die wir sehen, ist ein Ausdruck, jede Landschaft hat ihre Bedeutung, jedes tierische
und menschliche Antlitz spricht eine wortlose Sprache Es wäre völlig vergeblich, diese
Sprache in Begriffe umsetzen zu wollen. Wir können das Ausgedrückte zwar umschreiben,
auch zu beschreiben versuchen; es adäquat wiederzugeben wird niemals gelingen. Diese
Ausdrucksprache wendet sich nicht primär an das begriffliche Denken, sondern an das
verstehende, das gestaltende Denken.“844 Am Beispiel einer Symphonie von Mozart werde
klar, dass wir ihre Bedeutungsfülle nicht in Begriffe fassen können. Die Vollkommenheit
ihres Ausdrucks werde immer ein wesenhaftes Geheimnis bleiben.845 Von Balthasar warnt
davor, den Ausdruck von der Bedeutung zu isolieren, also bei der Welt der Bilder
stehenzubleiben, weil eine solche Isolation zum Ästhetizismus führen könne. Der Ästhet
verzichte auf die Frage nach der Bedeutung der Erscheinungen. Er lasse sich von der
Oberfläche der Welt der Bilder blenden.846 Im Kontext seiner Kritik am Ästhetizismus wendet
sich von Balthasar gegen ein rein symbolisches Weltbild und gegen eine Metaphysik der
bedeutungsgeladenen „Chiffren des Seins, deren letzte Deutbarkeit für den menschlichen
Geist unzugänglich ist oder nur im »Scheitern« erreicht wird“847
Das Thema „Wahrheit und Person“ wird ebenfalls im 3. Kapitel behandelt. Es wird später als
eigenes Kapitel aufgegriffen.
Am Ende des 3. Kapitels kommt von Balthasar ausführlich auf die transzendentalen
Eigenschaften des Seins zu sprechen, um den Geheimnischarakter der weltlichen Wahrheit in
Bezug zur göttlichen Wahrheit deutlicher darstellen zu können. Es geht also um das Wahre,
das Gute und das Schöne.
Im 3. Kapitel werden wichtige Aspekte der Metaphysik beschrieben, wie sie auch in späteren
Werken von Balthasars, vor allem auch in der Trilogie von Wichtigkeit sein werden.
4.2.4 Wahrheit als Teilnahme
Im 4. Kapitel „Wahrheit als Teilnahme“ denkt von Balthasar im Rahmen der philosophischen
Gotteslehre zunächst über das Verhältnis zwischen geschöpflicher und göttlicher Wahrheit
nach. In einem zweiten Schritt bezeichnet er die beiden Haltungen des kontingenten Subjekts
gegenüber dem absoluten Schöpfer als Geborgenheit und Bekenntnis.
Ausgangspunkt jeder Erkenntnis sei erstens die Entdeckung eines leeren, grenzenlosen
Horizonts von Sein „zur Ermöglichung jeder beliebigen endlichen Erkenntnis von
Objekten“848 und zweitens der „ausdrückliche und notwendige Schluß auf ein unendliches
Bewusstsein als Bedingung der Möglichkeit von endlichen Subjekten“. 849 Die Kontingenz des
geschöpflichen Seins und damit der geschöpflichen Wahrheit deute hin auf den fraglosen
844
Ebd., S. 154.
Vgl. ebd.
846
Vgl. ebd., S. 158.
847
Ebd., S. 160.
848
Ebd., S. 258.
849
Ebd.
845
110
Grund allen Seins, auf Gott. Bei der geschöpflichen Wahrheit handele es sich um eine
geschaffene Wahrheit. „Wie das Sein des Geschöpfes geschaffen, so ist es auch seine
Wahrheit (veritas creata S. Th. 1 q 16 a 7).“850 Das ergebe sich aus der Kontingenz der
endlichen Wahrheit.851 Dagegen sei die Wahrheit Gottes transzendent und nicht geschaffen.
Ermöglichungsgrund für endliches Sein und endliche Wahrheit sei die freie, schöpferische Tat
Gottes.852
Gott offenbare durch die kontingente Schöpfung, was er von sich offenbaren will. Ein
zentraler Gedanke in diesem Kontext ist der Gedanke einer Welt der Ideen, und zwar nicht
einer frei schwebenden Ideensphäre zwischen Gott und der Welt, sondern als von Gott frei
erdachte Urbilder, nach denen sich die Schöpfung richtet. „Die Aufstellung einer Ideensphäre
zwischen Gott und Welt kommt daher, wenn mit ihr Ernst gemacht wird, einer Leugnung der
Freiheit Gottes gleich und führt zu einer Art von Gnosis oder Pantheismus.853
Im Abschnitt „Endlichkeit und Unendlichkeit“ geht es um die Endlichkeit als wichtigste
Eigenschaft des geschaffenen Seins und der geschaffenen Wahrheit.854 Nur Gott erweise sich
als unendlich. Das zeige sich beispielsweise bei der Suche nach der Einheit der Erkenntnis in
entgegengesetzten Richtungen, nämlich durch Analyse auf der einen und Synthese auf der
anderen Seite. Die Endlichkeit liege im geschöpflichen Sein selbst, wo Spannung herrsche
zwischen universaler und individueller Einheit, zwischen Existenz und Essenz, zwischen
Faktizität und Nezessität.855 Die Dinge der Welt (einschließlich der Subjekte) können nicht
bis zum Grund ihres Seinsgeheimnisses durchschaut werden. So erweise sich menschliches
Denken als endlich im Gegensatz zur unvergleichlichen Einheit des göttlichen Denkens.856
Das weltliche Sein sei Sein im Werden, ein Sein in Bewegung. 857 Manche Menschen
wendeten sich von der Wahrheit ab, weil sie sich nach der „einfachen Identität“858 der
göttlichen Wahrheit sehnen. Sie nähmen nicht zur Kenntnis, dass sie Gott erkennen würden,
wenn sie die Schöpfung als Schöpfung wahrnähmen. Die menschliche Vernunft transzendiere
die Endlichkeit des weltlichen Seins auf Gottes unendliches Sein hin und jedes Urteil sei
deswegen ein „Gottesbeweis“.859 Der Lebensphilosophie wirft von Balthasar vor, die Welt zu
teilen, in „eine theoretische, rationale Wahrheit des Denkens und eine praktische, vitale und
irrationale Wahrheit des Lebens“.860
850
Ebd., S. 278.
Vgl. ebd., S. 259f.
852
Vgl. ebd.
853
Ebd., S. 271.
854
Vgl. ebd., S. 278.
855
Vgl. ebd., S. 282f.
856
Vgl. ebd.
857
Vgl. ebd., S. 285.
858
Vgl. ebd., S. 287.
859
Vgl. ebd., S. 288.
860
Ebd., S. 289.
851
111
4.2.5 Wahrheit und Person
Von Balthasar widmet dem Thema „Wahrheit und Person“ nur einen relativ kurzen Abschnitt
unter der Überschrift „Personalität“,861 kommt aber an zahlreichen anderen Stellen seines
Werkes Wahrheit der Welt, wie die vorhergehenden Kapitel zeigen, auf diese Thematik zu
sprechen. Der Mensch nimmt sich nicht nur als individuelle, einmalige Person wahr, sondern
auch als Person, die auf Kommunikation mit anderen Menschen angelegt ist. Das heißt auf
der einen Seite, dass nur das Individuum uns zeigt, was der Mensch in seinem Wesen ist, auf
der anderen Seite, dass der Mensch auf Dialog angelegt ist. „Der Mensch, der zu sich selber
erwacht, erwacht ebenso unmittelbar zum Du, und dies nicht nur psychologisch, sondern
durchaus gnoseologisch, weil ontologisch.“862 Die volle Wahrheit hat also dialogischen,
sozialen Charakter.863 Im Dialog erfährt der Mensch die Wahrheit über sich selbst, über Gott
und die Dinge der Welt. Der Mensch als kontingentes Wesen ist demnach keine nach außen
abgeschottete Monade, sondern er ist im Horizont des Seins ausgerichtet auf den Dialog mit
seinem Schöpfer, mit den anderen Menschen und mit allen übrigen Dingen der Welt. In
diesem Zusammenhang steht auch die Frage nach dem Sinn des Seins, auch wenn sich dieser
Sinn nicht immer enthüllt. Das gilt auch in Bezug auf die Erkenntnis der Wahrheit, die sich in
ihrer Fülle dem kontingenten Individuum nicht offenlegt. „So entstehen eine Unzahl
persönlich gefärbter Weltbilder und Weltanschauungen, die alle je eine bestimmte
perspektivische Ansicht, bestenfalls eine standpunktlich bedingte Rundsicht über das Land
der Wahrheit vermitteln, aber auf keinen Fall eine Übersicht, eine Art Vogelschau über seine
ganze Lagerung bieten können.“864
Von Balthasar unterscheidet zwischen dem erkenntnistheoretischen, dem ethischen und dem
historischen Aspekt der Wahrheit. Erkenntnistheoretisch führt er das Einmalige der Person
auf das Zusammenspiel zwischen dem sinnlichen und dem geistigen Anteil (intellectus agens)
zurück. Ohne die Sinne gibt es für den Menschen keine Möglichkeit in evidenter Weise Maß
zu nehmen (an den Dingen der Welt). Bedingung der Möglichkeit des spontanen
Erkenntnisaktes sei die Rezeptivität. „Mit Rezeptivität aber meint von Balthasar nicht nur die
Fähigkeit, die objektive Beschaffenheit des Gegenstandes in sich aufzunehmen, sondern mehr
noch eine Art heideggerisches In-die-Welt-der-Gegenstände-Hineingestellt-sein noch vor aller
spontanen, freiwilligen Zuwendung zu den Dingen.“865 Erst im nächsten Schritt tritt die
spontane Erkenntnis in Aktion (intellectus agens). Der intellectus agens ordnet die
Sinneseindrücke (Bilder) und befähigt den Menschen, den Sinneseindrücken durch
Abstraktion Begriffe (Worte) und Urteile zuzuordnen, so zwar dass er keine Denkraster
(Schemata) oder Kategorien den Sinnesdaten überstülpt, „sondern das spontane Erkennen fällt
seine Urteile dieser rezeptiven Haltung gemäß, macht sich die Rezeptivität zur Aufgabe, wird
861
Ebd., S. 211-216.
Ebd., S. 188.
863
Vgl. ebd., S. 192.
864
Ebd., S. 208.
865
Jörg Disse: „Person und Wahrheit in der Theologie Hans Urs von Balthasars“. In: Peter Reifenberg – Anton
van Hooff (Hrsg.): Gott für die Welt (Mainz 2001), S. 372.
862
112
zur, wie es bei Balthasar heißt, spontanen Rezeptivität.“866 Die Haltung des Subjekts ist eine
indifferente Aufnahmebereitschaft: „Die Grundhaltung des erkennenden Subjekts kann
demnach keine andere sein als die phänomenologisch geforderte einer vollen, indifferenten
Aufnahmebereitschaft, die zunächst nichts anderes wünscht, als das Phänomen so rein wie
möglich aufzunehmen und zu reproduzieren.“867. Diese Hingabe des Menschen an die Dinge
der Welt ist personal und wird von H.U. von Balthasar mit den Begriffen Gerechtigkeit und
Liebe umschrieben, wobei die Gerechtigkeit in der Liebe gründet. Dabei handelt es sich noch
nicht um die „volle, freie und geistige Liebe […] denn die Erkenntnis hebt ja gerade nicht in
der freien Zuwendung des Subjekts zum Objekt, sondern in dem Hineingeworfensein in das
Erkennenmüssen an. Aber sofern das Subjekt vom Ursprung her dieser Hingegebenheit
überantwortet ist und sie in jedem Akte der Erkenntnis ausübt und damit gültigspricht, wird
die seinshafte Wurzel der Hingabe sichtbar, die im bewussten und freien Nachvollzug zur
geistigen Liebe sich veredelt.“868
Der ethische Aspekt der Wahrheit kommt in vielfacher Hinsicht zum Ausdruck. Sich in
Evidenz zeigende Wahrheit weist hinaus über die Ebene der Faktizität auf das Gut-sein
(Transzendentalien). Wahrheit schließt Gut-sein mit ein. „Wahrheit als Selbstmitteilung lässt
Wirkliches und Gutes evident werden. Als solcher Grund jeglicher Evidenz ist sie selber in
gültiger Weise, evidentermaßen nicht in Frage zu stellen.“869 Zunächst fasst von Balthasar das
Personsein als Gnade, als Geschenk auf. Staunend und in der Haltung der Demut nehme der
Mensch sein Personsein als Geschenk entgegen.870 Der Mensch erhält die freie Entscheidung
zur Verwaltung der Wahrheit und ist dazu verpflichtet, Zeugnis von der Wahrheit zu geben.
Deshalb ist das Fundierungsverhältnis eindeutig: Wahrheit gründet in der Freiheit. Zur
Erinnerung: Auch bei Martin Heidegger gründet die Wahrheit in der Freiheit, aber die
Begründung für eine solche Gründung ist eine Andere. Von Balthasar ist überzeugt davon,
dass der Mensch im Dialog Verantwortung für sich und die Welt übernimmt. Wahrheit ohne
Dialog sei sinnlos, denn sie hätte niemand, der sie hört und Antwort geben könnte.871 Auch in
diesem Zusammenhang ist ein Hinweis auf Heideggers Ansicht lohnend, in der er zu
verstehen gibt, dass die Wahrheit ohne Da-sein nicht existent ist. Später kommen wir darauf
zurück.
Wie äußert sich das Gute beim Sprechen der Wahrheit? Wann überschreitet der Mensch seine
Kompetenzen im Dialog mit den Anderen? Einige Aspekte, die von Balthasar in diesem
Zusammenhang vorbringt, sollen erwähnt werden. Sie stehen in Verbindung mit Freiheit,
Klugheit und Liebe. „Die Freiheit im Evidenzvollzug aber verwirklicht sich in der
Bereitschaft zum vollen, unwiderruflichen Dienst an der sich-gebenden Wahrheit und
866
Ebd., S. 373.
Hans Urs von Balthasar:W, S. 74.
868
Ebd., S. 77.
869
Lorenz Gadient: Wahrheit als Anruf der Freiheit, S. 106.
870
Vgl. Hans Urs von Balthasar: W, S. 214.
871
Vgl. ebd., S. 195.
867
113
Gutheit.“872 Dienst an der Wahrheit bedeutet Verzicht auf Herrschaft über die Wahrheit,
Verzicht auf ideologischen Machtmissbrauch, was in den großen Ideologien des 20.
Jahrhunderts auch immer zur Verbiegung der Wahrheit geführt hat. Gegen das Ethos handelt
der, der Ideologien, vorgefasste Meinungen und Weltanschauungen übernimmt. Jede partielle
Wahrheit steht im Zusammenhang mit der totalen Wahrheit. Im religiösen Bereich führt das
Beharren auf partielle Wahrheiten zur Sektenbildung und zu Häresien. Die Liebe ist die
wichtigste Norm für das Verhalten des wahrhaften Menschen. Das soll ausdrücken, dass im
ethischen Sinn nur das im Dialog, also im Austausch von Wahrheiten, erlaubt ist, was nicht
gegen die Liebe gerichtet ist. Wahrheit widerspricht nie der Liebe. Dabei regelt die Tugend
der Klugheit die rechte Auswahl der Wahrheit.873
Zum historischen Aspekt der Wahrheit gehört, dass sich der Mensch als ein historisches
Wesen erfährt. Der Mensch steht in den einzelnen Situationen seines Lebens konkret
existentiell vor der Wahrheitsfrage und muss sich entweder für das Gute oder das Böse
entscheiden. Auf diese Weise entsteht eine Gesamtschau der für das Leben wichtigen
Situationen, die sich im Bewusstsein als Zeitfolge der eigenen Geschichte verdichten. „Hier
kommt ein Moment ins Spiel, das über das bloße Gegebensein von faktischen Sachverhalten
hinausgreift: die Präsenz von Wahrheit als (sowohl erfüllte wie auch zu erfüllende) Gutheit,
die allein das Subjekt zum freien Ergreifen des Aufgegebenen, somit auch zum
gestalterischen Eingreifen in die Gegebenheiten der jeweiligen Situation ermächtigt und auf
diese Weise zu einem wirklich »geschichtlichen«, in freien Entscheidungen sich
ausbildenden, persönlich-einzigartigen Wesen konstituiert.“874 Aus den einzelnen
Geschichten der Individuen entsteht durch Dialog mit anderen Menschen als Trägern je
eigener Geschichte ein Geschichtsbild. Trotz ihrer Standpunktgebundenheit können die
Menschen ihre Erfahrungen miteinander vergleichen und trotz ihrer partikulären Erkenntnisse
teilhaben an der Wahrheit.875 Eingebettet ist von Balthasars Geschichtsbild in seine
ontologische Deutung des Zeitphänomens.876 Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft sind
aufeinander bezogen. „Nur wenn sich im Gegenwärtigen nicht ausschließlich nur alles
Vergangene ansammelt, sondern zugleich auch Zukünftig-Neues anmeldet, kann dieses
Gegenwärtige als überraschendes Angebot und so als wirkliche Aufgabe erscheinen, die als
»auf uns Zu-kommendes« echte »Zu-kunft« aufschließt.“877 Von Balthasar wehrt sich
entschieden gegen den Vorwurf des Relativismus, denn für ihn ist die Wahrheit unmittelbar,
aber eingebettet in Zeit und Geschichte und persönlich freie Entscheidung. „Unwandelbar ist
sie in ihrer Dauer-Präsenz in den sich wandelnden Situationen, in denen sich ihre unbedingte
872
Lorenz Gadient: Wahrheit als Anruf der Freiheit, S. 109.
Vgl. Hans Urs von Balthasar: W, S. 129f.
874
Lorenz Gadient: Wahrheit als Anruf der Freiheit, S. 153.
875
Vgl. ebd., S. 151.
876
Vgl. 3.2.2.1. „Realdistinktion und Zeit“.
877
Ebd., S. 152.
873
114
und unwandelbar zur Entscheidung drängende Geltung als vollkommen beanspruchender
»Ruf« stets neu konstelliert und aktualisiert.“878
Abschließend möchte ich noch auf einen wichtigen Aspekt hinweisen, der sich daraus ergibt,
dass sich der Mensch als Geschöpf erfährt und als solcher keinen absoluten Anspruch auf die
Fülle der Wahrheit hat, wobei unter Fülle auch die Wahrheit Gottes zu verstehen ist. Es gibt
keinen Anspruch des Menschen auf die Offenbarung oder gar Schau Gottes. Es existiert also
kein „appetitus naturalis visionis bzw. beatitudinis“ als „Norm des erstrebbaren Wissens“.879
Eine Erkenntnislehre, die auf dem Begriff des „appetitus naturalis“ aufbaut, gerät
unweigerlich in die Gefahr, in die Kompetenz Gottes einzugreifen. 880 Das hat auch
Konsequenzen für unser Verhalten zu allen anderen Geschöpfen im Sinne einer Haltung des
Dienstes.881 „Die Umgriffenheit der menschlichen Evidenz durch die göttliche ist nicht
quantitativ zu fassen als das Behaltenseins eines kleineren Kreises innerhalb eines größeren
Kreises, sondern qualitativ als das Aufgehobensein des Relativen im Absoluten.“882 Trotz
dieser Abhängigkeit des Menschen von Gott, die auch darin besteht, dass der Mensch bis in
sein Innerstes offen vor Gott steht, also gleichsam bis in seine Privatsphäre hinein, fühlt sich
der Mensch geborgen. „Was zu Gott hin enthüllt ist, ist eben damit auch in Gott hinein
verborgen und verhüllt. Es ist dem Geheimnis zugekehrt und vom Schleier des Geheimnisses
mitbedeckt. Darum allein weiß sich das Geschöpf in Gott wirklich geborgen.“883
4.2.6 Fazit
Da der vorherige Abschnitt schon wie eine Art Fazit des von Balthasarschen Wahrheitsverständnis gelesen werden kann, erscheint es sinnvoll, das Thema „Wahrheit der Welt“, das
von Balthasar später unverändert im Rahmen der Theologik I in sein Hauptwerk, die Trilogie
aus Herrlichkeit, Theodramatik und Theologik, aufgenommen hat, in den Gesamtzusammenhang der Trilogie“ einzuordnen, damit verstanden werden kann, warum der Autor so
viel Wert auf ein philosophisches Fundament für seine Theologie legt. Von Balthasar führt
das philosophische Denken in eine unvermeidbare Aporie auch um der Theologie willen.884
Was soll das heißen? In seiner Theodramatik bemerkt von Balthasar: „Eine Theodramatik
muss unerbittlich darauf beharren, das zunächst das von der realen Welt her sich darstellende
Pathos mit all seinen Aporien voll in Sicht komme, ehe von der freien Antwort Gottes […]
gesprochen wird. Lässt man dieser Selbstoffenbarung der Welt ihre Zeit und ihren Raum
nicht, weil man in sie das »Immer-schon« der göttlichen Antwort hineinmischt, dann riskiert
man, dem Welt-Gott-Bezug jede Dramatik zu rauben.“885
878
Ebd., S. 155.
Hans Urs von Balthasar: W, S. 299.
880
Vgl., ebd. S. 293
881
Vgl. ebd., S. 292.
882
Ebd., S. 302.
883
Ebd., S. 307.
884
Vgl. Lorenz Gadient: Wahrheit als Anruf der Freiheit, S. 160 f.
885
Hans Urs von Balthasar: TD III, S. 71.
879
115
Im Rahmen der Überlegungen zu „Wahrheit und Person“ wurde der Mensch als freie, mit
Geist ausgestatte Person beschrieben. Diese Aussage hat einen Bezug zur Theologie, näherhin
zur Trinitätslehre. Problematisch ist laut Karl Rahner, der kurze Zeit mit von Balthasar an
einer neuen Dogmatik gearbeitet hat, die Übertragung des von Balthasarschen
Personenbegriffs auf die Trinitätslehre. Karl Rahner war als Vertreter des „chalkedonischen
Konzepts“ davon überzeugt, dass man nicht von drei Personen in Gott sprechen dürfe, denn
mit dem Begriff der Person ist die Vorstellung eines eigenständigen Subjekts mit
individuellem Personsein verbunden. Nach Rahner kann nicht von interpersonalen Akten in
Gott die Rede sein, da es in Gott nur ein Bewußtsein gebe.886
Der Begriff der Person spielt auch eine überragende Rolle in von Balthasars Theodramatik.
Mit Hilfe der „Metapher des Dramas“ versucht von Balthasar das gesamte Geschehen der
Erlösung zu deuten. In diesem Drama geht es um ein Gegenüber von endlicher Freiheit
(Mensch) und unendlicher Freiheit (Gott). Gott nimmt unmittelbar am Schicksal des
Menschen teil. Im vierten Akt des Dramas tritt der Sohn (Jesus) an die Stelle des Sünders.
Diese Stellvertretung bedeutet, dass Jesus Christus die Rolle des Erlösers übernimmt,
nachdem sich die Spieler (Menschen) geweigert haben, ihre ihnen vom Spielleiter (Gott)
aufgetragene Rolle im Drama der Erlösung zu übernehmen.
Im ersten Teil der Theologik (Wahrheit der Welt) geht es in erster Linie um das innerweltliche
Vorverständnis der Wahrheit, also um ein hauptsächlich philosophisches Verständnis der
Wahrheit. Im Schlusskapitel werden Gott und Gottes Wahrheit im Sinne des Ersten
Vatikanischen Konzils im philosophischen Sinn erkennbar. Von Balthasar schreibt: „Wir
stehen hier am Ende einer philosophischen Untersuchung, die keine andere Offenbarung
Gottes betrachtet als die in der Schöpfung selbst ergangene, innerhalb derer sich der Schöpfer
als Dominus (Vat. Dz. 1806) und als Principium et Finis (ebd. 1785) anzeigt, aber darüber
hinaus das unerforschliche Geheimnis bleibt.“887
Im 2. Teil der Theologik arbeitet von Balthasar mit theologischen Methoden. Es geht um die
Frage, wie sich göttliche, unendliche Wahrheit in menschliche, endliche Wahrheit übersetzen
lässt. Wie kann sich Gott mitteilen, ohne seinen göttlichen Charakter zu verlieren? Judentum
und Islam sehen in einem Gottmenschen einen Widerspruch in sich. Wie kann Gott Fleisch
annehmen, das Niedrigste für den heiligen Gott („major dissimilitodo“ DS 806).888 In Bezug
auf all diese Fragen ist es ein Mysterium, wie der Mensch in seiner menschlichen Logik diese
Übersetzung der göttlichen Logik verstehen kann. Von Balthasar weist auf Lukas 9,45 hin:
„Sie verstanden dieses Wort nicht, es war ihnen verborgen, sie sollten es nicht erfassen.“889 Es
bedarf also eines Übersetzers der Übersetzung.
Im dritten Teil der Theologik geht es um den Heiligen Geist, den Geist der Wahrheit, der uns
in die Wahrheit einführt. „Wenn der Geist der Wahrheit kommt, wird er euch in alle Wahrheit
886
Vgl. Thomas Krenski: Hans Urs von Balthasar. Das Gottesdrama, S. 68.
Hans Urs von Balthasar: W, S. 311.
888
Hans Urs von Balthasar: TL I. S. XVI.
889
Ebd., S. XVIII.
887
116
einführen (Joh 16,13).890 Im Schlussabschnitt des trinitarischen Glaubensbekenntnisses wird
aufgelistet, was die Theologik des Heiligen Geistes erhellen muß: „die heilige katholische
Kirche“ als der fortlebende „mystische Leib“ des menschgewordenen Logos, ihre Vorgeschichte im inspirierten Wort der „Propheten“, ihr Sich-Ereignen in den „Sakramenten“,
welche das Wunder der „Sündenvergebung“ in der Taufe und der Buße, der Gemeinschaft in
den heiligen Dingen (der Eucharistie) vermittelt und damit eine menschlich unbegreifliche
Gemeinschaft der Geheiligten bis in das Mysterium der Stellvertretung füreinander hinein in
eine Nachfolge des Kreuzes und schließlich eine solche in die „Auferstehung der Toten“ und
„das Ewige Leben“ hinein“.891
890
891
Ebd.
Ebd., S. XVIIIf.
117
5 Das Wahrheitsverständnis der beiden Denker – eine kritische Gegenüberstellung
Nach der Klärung wesentlicher Grundzüge des Wahrheitsverständnisses der beiden Denker
kann eine kritische Gegenüberstellung gewagt werden. Von Heidegger liegt nichts
Schriftliches zu von Balthasar vor und auch in einem Abendgespräch, das der Jesuit Gerd
Haeffner 1971 mit Heidegger geführt hat892, erkundigte sich Heidegger nicht nach Hans Urs
von Balthasar, sondern nach den Jesuiten in Lyon und nach anderen herausragenden
französischen Jesuiten und ganz allgemein nach der aktuellen Situation der Philosophie in
Frankreich.893 Die ihm von Gerd Haeffner genannten Jesuiten aus Pullach kannte Heidegger
außer Johann Baptist Lotz nicht. Er erkundigte sich nach der Ontologie von Lotz und
bemerkte, dass er die Erklärungen von Lotz über das „esse subsistens“ nie verstanden habe. 894
Dagegen hat sich Hans Urs von Balthasar schon früh mit Heideggers Sein und Zeit
auseinandergesetzt, was aus zwei Briefen zu entnehmen ist, die er Anfang 1929 an Emil Lech
geschrieben hat.895 Werner Löser zitiert aus Manfred Lochbrunners Buch Hans Urs von
Balthasar und seine Philosophenfreunde folgende Sätze aus dem Brief vom 25. Januar 1929:
„Kennst Du das unvergleichliche Buch von Heidegger: Sein und Zeit? Ich empfehle Dir diese
letzte ,Blüte‘ des Chaosʼ und deutschen Tiefsinns zur Lektüre. Hier ist eine unmöglich
scheinende Synthese von Husserl, Dilthey und Kierkegaard versucht […]. Bis Ende der
Woche bin ich in Freiburg bei A. Hänle (Glümerstr. 3). Heideggers Vorlesungen werde ich
nicht versäumen.“896 In einem zweiten Brief vom 27. März schreibt er unter anderem:
„Heidegger ist meine neue Entdeckung: fascinierende Filosofie, die sich eine positive
Destruktion der Ontologie nennt und die phänomenologische Analyse des Seins; vorab des
,Daseins’ (d.h. Mensch), durchführt. Synthese von Aristoteles, Thomas, Kierkegaard,
Husserl.“897 Von Balthasar hat sich mehrmals schriftlich zu Heidegger geäußert, und zwar
ausführlich in seiner Apokalypse der deutschen Seele im Kapitel „Heidegger und Rilke“.898
Hier beschäftigt er sich unter anderem mit den Themen: „die Zeitlichkeit des Daseins, der
Tod als Horizont des Lebens, die Wahrheit und die Freiheit im Zeichen der Endlichkeit.“899
Auch veröffentlichte er 1939 einen Artikel mit dem Titel „Heideggers Philosophie vom
Standpunkt des Katholizismus“900 Ferner bezieht sich von Balthasar in seinem philoso892
Gerd Haeffner SJ: „Abendgespräch mit Martin Heidegger“. In: Theologie und Philosophie 82 (2007), S. 392398.
893
Vgl. ebd., S. 393.
894
Vgl. ebd.
895
Vgl. Werner Löser SJ: „Der christliche Beitrag zur Metaphysik. Hans Urs von Balthasar im Gespräch mit
Martin Heidegger“. In: Thomas Schmidt u.a. (Hrsg.): Herausforderungen der Modernität. Religion in der Moderne 25 (Würzburg 2012), S. 19-34, hier S. 21.
896
Ebd.
897
Ebd.
898
Hans Urs von Balthasar: Apokalypse der deutschen Seele. Band III. Die Vergöttlichung des Todes, S. 193316.
899
Vgl. Werner Löser SJ: „Der christliche Beitrag zur Metaphysik“, S. 23.
900
Hans Urs von Balthasar: „Heideggers Philosophie vom Standpunkt des Katholizismus“. In: Stimmen der Zeit
137 (1939), S. 1-8.
118
phischen Hauptwerk, Wahrheit der Welt (1947) auf Heidegger, ohne sich aus schon früher
genannten Gründen mit Fußnoten auf direkte Heideggerstellen zu beziehen. Man kann
vielleicht sagen, dass er Wahrheit der Welt mit der Absicht verfasst hat, auf Heideggers
Fragen, eine christliche Antwort zu finden. In seinem theologischen Hauptwerk, der
„Trilogie“ würdigt er im dritten Band „Im Raume der Metaphysik“ unter der Überschrift
„Heidegger“ die Seinsphilosophie Heideggers, die er in das abendländische Denken
einordnet. 901 Auch an verschiedenen anderen Stellen des Bandes wird der Name Heidegger
erwähnt. Ihn betrachtet er aus der Perspektive der Metaphysik des Aquinaten „innerhalb einer
Ellipse“ „wie zwei Brennpunkte“.902 Mit dem Thema „Angst“ beschäftigt sich von Balthasars
in seinem Werk Der Christ und die Angst903 (1953) wo er ebenfalls Heidegger wie einem
Dialogpartner kritisch gegenübersteht.
5.1 Grundsätzliches zur Position Hans Urs von Balthasars im Hinblick auf Martin Heidegger
Grundsätzlich lässt sich sagen, dass Hans Urs von Balthasar trotz aller Kritik an Martin
Heidegger insgesamt positiv über ihn urteilt. Er sieht in Heideggers Ansatz den
„fruchtbarste[n] für eine mögliche Philosophie der Herrlichkeit“.904 Und er warnt vor dem
neuen Naturalismus: „Wenn die Christenheit nicht selbst, alle Theologie der Herrlichkeit
fahren lassend, dem neuen Naturalismus verfallen will – wofür im Siegeszug Teilhards de
Chardin erschreckende Anzeichen vorhanden sind – wird sie das Erbe Heideggers antreten
müssen und damit das echte Anliegen der ganzen Periode wahrnehmen, die hier als »antike
Vermittlung« umrissen wurde, und die, wie Heidegger stets richtig betont, nicht deshalb
Vergangenes gegenwärtigt, weil es historischen Wert hat, sondern weil es unentbehrlich ist
für das aufgetragene Denken der Gegenwart.“905
In seinem Beitrag „Heideggers Philosophie vom Standpunkt des Katholizismus“ ordnet von
Balthasar Heidegger ein in die Geschichte der Philosophie.906 Er vergleicht das griechische
Denken mit dem Denken der Moderne und stellt fest, dass das griechische Denken sich in
Richtung auf den Geist und die Unendlichkeit bewegt hätte, während das moderne Denken
hinziele auf das Endliche. Der Kampf zwischen griechischem Denken und dem christlichen
Geist hätte direkt und konsequent zu Heidegger geführt. Inhaltlich sei es bei dieser
Auseinandersetzung wesentlich um die „Rechte des Partikulären“ gegenüber der
„Alleinherrschaft des Allgemeinen“ gegangen.907 Von Balthasar folgert: „So steht das
christliche Denken, wenn es den in der Offenbarung Christi beleuchteten philosophischen
Wahrheiten Ausdruck geben will, zuletzt in gleichem Abstand vom modernen wie vom
901
Hans Urs von Balthasar: H III/1, S. 769-787.
Werner Löser SJ: „Der christliche Beitrag zur Metaphysik“, S. 27.
903
Hans Urs von Balthasar: Der Christ und die Angst. 6. Aufl. (Trier 1989).
904
Vgl. Hans Urs von Balthasar: H III/1, S. 786.
905
Ebd., S. 787.
906
Hans Urs von Balthasar: „Heideggers Philosophie vom Standpunkt des Katholizismus“. In: Stimmen der Zeit
137 (1939), S. 5ff.
907
Vgl. ebd., S. 6.
902
119
griechischen Geist.“908 Gegenüber den Griechen müsse das „Positive“, „Einmalige“,
„Endliche“ und „Geschichtliche“ betont werden, gegenüber der Moderne und Heidegger, dass
die „Endlichkeit“ und „Zeitlichkeit“ des Weltseins nicht gegen einen Schöpfergott sprechen
und negativ bewertet werden dürften.909 Hier, wie in allem, was er über Heidegger schreibt,
kommt seine intensive Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie zum Ausdruck. Vor
allem im Bereich der Seinsphilosophie ist von Balthasars im Dialog mit Hegel, Heidegger,
Thomas von Aquin und Dionysius Areopagita.910
Selbstverständlich verschweigt von Balthasar nicht, dass er Heideggers Endlichkeitsphilosophie als nicht christlich einstuft: „Wir sagen gegen Heidegger: Endlichkeit ist als
solche nicht gleichbedeutend mit Vollkommenheit. Darum ist ein Wesen nicht umso
vollkommener, je endlicher es ist. Wohl aber sagen wir: Auch Endlichkeit ist nicht
gleichbedeutend mit Unvollkommenheit. Es gibt in der Welt ebenso sehr eine »gute
Endlichkeit« wie eine »schlechte Unendlichkeit« (Hegel).“911
Hans Urs von Balthasar bleibt trotz seiner positiven Würdigung Martin Heideggers, die unter
anderem auch darin zum Ausdruck kommt, dass er auf Heideggers Warnung vor den
Gefahren der Technik und des Nihilismus aufmerksam macht,912 ein Theologe der
katholischen Kirche, damit also in Heideggers Augen ein Onto-Theologe. Das kann aber von
Balthasar nicht abhalten, sich selbstbewusst und kritisch mit Heidegger auseinanderzusetzen:
„Die Zauberformeln »Dasein«, »In der Welt sein«, »Sorge«, »Angst«, »Tod«, »Zeitlichkeit«,
gleichsam ein elektrischer Stacheldraht, an dem eine ganze Schwadron von Philosophierenden sich verfing, sollen uns nicht bannen. Wir wollen zur Grundthese Heideggers
vordringen.“913
Nachdem nun grundsätzlich geklärt ist, welche Position Hans Urs von Balthasar gegenüber
Martin Heidegger vertritt, kann in den folgenden Abschnitten konkret herausgearbeitet
werden, in welchen Bereichen der Phänomenologie, der Metaphysik etc. von Balthasar mit
Heidegger übereinstimmen kann und inwiefern er sich von Heideggers Philosophie
distanziert. Es ist empfehlenswert, auf das zurückzugreifen, was im 2. Kapitel zur
Phänomenologie und im 3. Kapitel zur Seinsphilosophie der beiden Denker ausgeführt wurde.
5.2 Phänomenologie
Für Husserl, Heidegger von Balthasar u.a. ist Phänomenologie ein Methodenbegriff. Dazu
wurde unter der Überschrift „Die phänomenologischen Methoden Martin Heideggers und
Hans Urs von Balthasars“ Wesentliches gesagt. Mit der phänomenologischen Methode wird
nicht der inhaltliche Gegenstand der Philosophie angegeben, sondern es werden die Schritte
908
Ebd., S. 6.
Vgl. ebd., S. 6.
910
Vgl. D. C. Schindler: Hans Urs von Balthasar and the Dramatic Structure of Truth: A Philosphical Investigation (New York 2004), S. 25.
911
Hans Urs von Balthasar: „Heideggers Philosophie vom Standpunkt des Katholizismus“, S. 8.
912
Vgl. Hans Urs von Balthasar: H III/1, S. 786.
913
Hans Urs von Balthasar: „Heideggers Philosophie vom Standpunkt des Katholizismus“, S. 1.
909
120
aufgezählt, die notwendig sind, um Philosophie in „Standpunktsunabhängigkeit“ und
„Richtungsfreiheit“ betreiben zu können.914 Die Unterschiede zwischen den Phänomenologen
treten bei der Weise zu Tage, wie der formale Phänomenologie-Begriff entformalisiert wird,
d.h. auf seinen thematischen Gegenstand geführt wird. „Die Entformalisierung ist als
Konkretisierung die Frage der inhaltlichen Bestimmung des thematischen Gegenstandes, der
in der Begegnisart des Sich-an-ihm-selbst-zeigens wissenschaftlich aufgewiesen und erfasst
werden soll.“915 Der formale Phänomenologie-Begriff kann nach Heidegger unter
Berücksichtigung der ontologischen Differenz (Sein –Seiendes) in zweierlei Richtung
entformalisiert werden, nämlich in Richtung auf das Seiende oder in Richtung auf das Sein
des Seienden. Wird er in Richtung auf das Seiende entformalisiert, dann erhalte ich den
vulgären Phänomenbegriff. Er betrifft das Seiende, wie es Gegenstand der positivwissenschaftlichen Forschung ist. Wird er hingegen in Richtung auf das Sein des Seienden
entformalisiert, dann erhalte ich den philosophischen Phänomenologie-Begriff, auch
phänomenologischer Phänomenologie-Begriff genannt.916 Das Problem der Entformalisierung
war schon aufgetaucht beim Vergleich der Phänomenologie Heideggers und Edmund
Husserls, denn obgleich das Gemeinsame zwischen Heidegger und Husserl in dem liegt, was
Heidegger den formalen Phänomenologie-Begriff nennt, kommen beide zu unterschiedlichen
Philosophien, da Heidegger den formalen Phänomenologiebegriff in Richtung auf das Sein
des Seienden und dessen Sinn (phänomenologischer Phänomenologie-Begriff)
entformalisiert, während Husserl dies in Richtung auf das reine bzw. transzendentale
Bewusstseinsleben tut.917 Dem formalen Phänomenologiebegriff würde auch von Balthasar
seine Zustimmung nicht verweigern, aber beim Entformalisieren kann er weder Husserl noch
Heidegger zustimmen. Es ist nicht leicht zu sagen, wie er den formalen PhänomenologieBegriff entformalisiert, denn sein Methodenbegriff ist deshalb schwer auf einen Begriff zu
bringen, weil er sich einerseits nicht direkt weder nur auf Husserl 918 bzw. Heidegger bezieht,
sondern selektiv auch entsprechende methodische Elemente aus Literatur, Philosophie und
Musik auswählt, um sich einen individuellen Zugang zur Wahrheit zu verschaffen. Vor allem
orientiert sich von Balthasar an Gestalten, wobei sich der „[b]althasarsche Begriff der Gestalt
[…] sich der husserlschen und heideggerschen Definition des Phänomens an[nähert].“919
Abgesehen davon entformalisiert von Balthasar auch nicht wie Husserl in Richtung auf das
reine bzw. transzendentale Bewusstsein oder wie Heidegger auf das Sein des Seienden und
dessen Sinn.
914
Vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Der Begriff der Phänomenologie, S. 11.
Ebd., S. 20.
916
Vgl. ebd., S. 20ff.
917
Vgl. ebd., S. 23ff.
918
Vgl. David C. Schindler: „Metaphysics within the Limits of Phenomenology: Balthasar and Husserl on the
Nature of the Philosophical Act“. In: Teologia y vida I (2009), S. 243- 258.
919
Balint Vass: Die geschichtliche Bewertung des endlichen Seins in der Theologie Hans Urs von Balthasars
(Budapest 2010),S. 90.
915
121
Bevor eine genauere Analyse des Unterschiedes zwischen von Balthasar und Heidegger in
Hinblick auf die Entformalisierung und das grundlegende philosophische Verständnis vorgenommen werden kann, ist festzuhalten, dass Heidegger in Anschluss an Husserl einen
umfangreicheren und systematischeren Phänomenologie-Ansatz vorgelegt hat als von
Balthasar.920 Heidegger entformalisiert Husserls Phänomenologie-Begriff in Richtung auf
seine Seinsphilosophie. Daraus ergibt sich für von Balthasar zweierlei: Einerseits beschäftigt
er sich nicht so ausführlich mit Husserl,921 weil ihn Husserls Vernachlässigung der
Seinsphilosophie mehr auf Heidegger verweist, in dessen Seinsphilosophie er Ansätze für
eine Philosophie der Herrlichkeit entdecken kann. Andererseits kann er auch Heideggers
Daseinsanalyse und dem daraus sich ergebenden Wahrheitsverständnis nicht folgen, die in
seinen Augen zu einer Endlichkeitsphilosophie hinführen, die er als antichristlich betrachtet.
Obwohl von Balthasar auch vom Bewusstsein beim Erkennen der Wahrheit ausgeht, kann er
sich dennoch nicht in allen Bereichen der Phänomenologie auf Husserl beziehen, weil es sich
bei Husserl um einen Bewusstseinsbegriff handelt, der mit seinem eigenen nicht in
Übereinstimmung gebracht werden kann: „What Balthasar shares with Husserl is a desire to
open subjectivity, to broaden the notion of reason, so that it does not exclude from the outset
dimensions of reality that are essential to the humanum. Husserl’s discovery of the ‘lifeworld,’ which is pretheoretical and yet already transcendentally ‘constituted,’ allows areas
formerly considered extra-rational to receive series intellectual attention, and is no doubt in
part why religious thinkers have generally been positively disposed to phenomenology.“922
Auf der anderen Seite gibt es drei wichtige Einwände von Balthasars gegenüber Husserl.923
„The first is the difficult question of intersubjectivity: if the phenomenological reduction
eliminates the distinction between being and appearance, what sort of access can we have to
the inner life, the not appearing subjectivity, of another person.“924 Zweitens war von
Balthasar klar, dass Husserls Begriff der „Epoché“ (Einklammerung) ein deutlicher Hinweis
auf die Seinsvergessenheit der Husserlschen Philosophie war.925 In dieser Beurteilung der
Husserlschen „Epoché“ stimmt er durchaus mit Heideggers Kritik an Husserl überein.
Drittens ist für von Balthasar die Öffnung des menschlichen Suchens nach der Wahrheit der
Dinge auf die Offenbarung Gottes eine Voraussetzung dafür, eine der Wahrheit der Dinge
gemäße Philosophie und Theologie betreiben zu können. Deshalb stellt sich für ihn die Frage
im Hinblick auf die phänomenologische Reduktion auf das „transzendentale Ego“ in Husserls
Philosophie („Cartesianische Meditationen“), ob nicht durch diese Art der Reduktion apriori
jede Möglichkeit einer Offenbarung Gottes unmöglich gemacht würde und deshalb Religion
als Aberglauben betrachtet werden müsste.926
920
Vgl. ebd., S. 244.
Vgl. ebd.
922
Ebd. S. 247
923
Vgl. ebd.
924
Ebd.
925
Vgl. ebd.
926
Vgl. ebd.
921
122
Ein wichtiger Unterschied zwischen Heidegger und von Balthasar liegt in der Radikalität des
Heideggerschen phänomenologischen Phänomenologie-Begriffs. Das hängt mit der
Beschränkung Heideggers auf das verborgene Sein des Seienden (faktisches Leben, Dasein,
Seyn als Ereignis) zusammen, die erst mühsam den Seinsstrukturen im Modus des
Phänomens abgerungen werden müssen. Der Zugang in den Schritten Reduktion,
Konstruktion, Destruktion ist dermaßen fordernd und radikal und wird von Heidegger
lebenslang durchgehalten, weshalb nur derjenige einen Einblick in seine Philosophie erlangen
kann, der sich eingehend mit dem phänomenologischen Phänomenologie-Begriff
auseinandergesetzt hat.927 Der dritte Schritt (Destruktion) zeigt wohl am deutlichsten, dass
Heidegger radikaler sein konnte und innerhalb seiner Philosophie sein musste als von
Balthasar. Von Balthasar war keineswegs daran gelegen, das „System des Katholizismus“ zu
zertrümmern, sondern es ging ihm um Schadensbegrenzung und Entrümpelung der
Schultheologie bzw. um die Befreiung aus dem neuscholastischen Denkkorsett. Trotzdem
kommt seine Interpretation in bestimmten Bereichen der Philosophie oder Theologie einer
Dekonstruktion nahe, wenn er mit Auslegungsversuchen anderer Theologen nicht
einverstanden ist.928 Heidegger aber macht radikal ernst mit der Destruktion der
überkommenen Metaphysik und vollzieht als ehemaliger Jesuitenschüler den Bruch mit dem
„System des Katholizismus“. Auch den zweiten Schritt (Konstruktion) kann von Balthasar
nicht mitgehen, da er einen anderen Seinsbegriff hat als Heidegger. Von Balthasar könnte der
Fundamentalontologie Heideggers nicht zustimmen, die davon ausgeht, dass durch die
Konstruktion „die Endlichkeit des Daseins als dessen innerste Möglichkeit“929 freigelegt wird.
Im Hinblick auf den ersten Schritt (Reduktion) sehe ich folgende Problematik: Da es für
Heidegger in der Reduktion darum geht, den Blick vom Seienden zurückzuführen auf das
Sein,930 könnte von Balthasar nur unter der Bedingung zustimmen, dass das endlich Seiende
in seiner kontingenten Seinsverfasstheit auch entsprechend seiner Bedeutung für das
Verständnis der Wahrheit der Dinge berücksichtigt würde. Der Gegensatz zwischen
endlichem und unendlichem Sein aber ist für Heidegger Onto-Theologie und damit nicht
mehr im Bereich seiner Daseinsanalyse des endlichen Daseins.
Für Heidegger gehören Dasein, Verstehen und Auslegung zusammen: „Dasein ist
verstehendes, darin zur Klarheit kommendes Sein, und Verstehen nichts anderes als die
Klarheit, oder wie Heidegger sagen würde: die Durchsichtigkeit dieses Seins als Dasein.“931
Hier wird von der Durchsichtigkeit nicht ausgesagt, dass sie „vollkommen“ und „absolut“ zu
denken ist, sondern Durchsichtigkeit hat einen Bezug zur Geschichte: „Im Verstehen und
927
Vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Weg und Methode, S. 36.
Vgl. Andrzej Wiercinski: „Hermeneutik der Gabe. Die Wechselwirkung von Philosophie und Theologie bei
Hans Urs von Balthasar“. In: Walter Kardinal Kasper (Hrsg.): Logik der Liebe und Herrlichkeit Gottes. Hans
Urs von Balthasar im Gespräch (Ostfildern 2006), S. 366.
929
Helmuth Vetter: „Phänomenologie, phänomenologisch“. In: Ders. (Hrsg.): Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe, S. 410-425, hier S. 416.
930
Vgl. ebd.
931
Günter Figal: „Wie philosophisch zu verstehen ist. Zur Konzeption des Hermeneutischen bei Heidegger“. In:
Ders. (Hrsg.): Zu Heidegger Antworten und Fragen (Frankfurt a.M. 2009), S. 163f.
928
123
Auslegen bleibt jede Klärung geschichtlich begrenzt, bei aller Überzeugungskraft an ihre
‚Situation‘ gebunden und bleibt so etwas, was sich der Klärung entzieht.“932 Inwiefern steht
nun von Balthasars Methode der hermeneutischen Phänomenologie Heideggers nahe? Für von
Balthasar gilt, dass Person, Verstehen und Auslegung zusammengehören. Auch er spricht
sich, ähnlich wie Heidegger, gegen eine „Subjekt-Objekt-Spaltung“ aus.933 Denn menschliche
Subjektivität bedeutet bei von Balthasar kein „einsames“ und „selbstgenügsames“
Bezogensein auf sich selbst, sondern ein „Immer-je-schon-beschäftigtsein mit der Wahrheit
der Welt der Dinge.934 Heidegger spricht vom Dasein als In-der-Welt-sein. Verstehen
(Erschlossenheit des In-der-Welt-seins) und Auslegung (fundiert im Verstehen) beziehen sich
bei ihm auf das endliche Dasein. Verstehen und Auslegung beziehen sich dagegen bei von
Balthasar sowohl auf das endliche als auch auf das unendliche Sein. Zur Erkenntnis des
geschaffenen Seins wie des ungeschaffenen Seins bedarf es des Dialoges mit anderen
Menschen und mit Gott. Dieser personalistische Ansatz spielt bei von Balthasar in
Philosophie und Theologie eine wichtige Rolle. Die Kritiker haben von Balthasar deshalb
auch nie vorgeworfen, ein unterentwickeltes Intersubjektivitätsverständnis vertreten zu haben,
auch wenn von Balthasar den Terminus „Intersubjektivität“ nicht gebraucht, sondern von
„fremden Wahrheiten“ oder „fremden Sein“935 bzw. von Dialog im Zusammenhang mit
Menschen und Gott spricht, während Heidegger sich immer wieder gegen den Verdacht des
Solipsismus wehren musste.936 Für von Balthasar gehören Glauben und Vernunft zusammen
und beeinflussen sich gegenseitig Sie dürfen nicht getrennt werden. Deshalb kann eine
Metaphysik des Wahren erst ganz im Lichte der Theologie zur Entfaltung gebracht werden.
Demnach genügt auch für Balthasar die Durchsichtigkeit des Seins als Dasein nicht, damit der
Mensch sein Sein als kontingentes von der Wahrheit des göttlichen Seins her verstehen kann.
5.3 Metaphysik
Martin Heidegger gilt bei vielen als der größte Philosoph des 20. Jahrhunderts.937 Hans Urs
von Balthasar gilt vielen nach Karl Rahner als der zweitwichtigste katholische Theologe des
20. Jahrhunderts. Doch spielt auch bei von Balthasar die Philosophie eine für seine Theologie
grundlegende Rolle: „Von seinem ersten bis zu seinem letzten sind Balthasars Bücher mit
Philosophie durchsetzt. […] Diese Philosophie auszumessen und darzustellen, bleibt eine
Aufgabe, der keine Doktorarbeit und schon gar nicht ein kurzer Aufsatz gewachsen ist,“938 so
932
Ebd., S. 164.
Vgl. Markus Enders: „Grundzüge philosophischer und theologischer Hermeneutik der Wahrheit in der Theologik des Hans Urs von Balthasar“. In: Philotheos International Journal for Philosophy and Theology 3 (2003),
S. 274-293, hier S. 284.
934
Vgl. ebd.
935
Vgl. Hans Urs von Balthasar: W., S. 36.
936
Vgl. Jean Greisch: „Der philosophische Umbruch in den Jahren 1928-32. Von der Fundamentalontologie zur
Metaphysik des Daseins“. In: Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch (Stuttgart – Weimar), S. 124.
937
Vgl. Dieter Thomä: „Heidegger und Leo Strauss. »Here is the Great Trouble. The only Great Thinker in our
time is Heidegger«“. In: Ders. (Hrsg.): Heidegger Handbuch, S. 380.
938
Peter Henrici: „Zur Philosophie Hans Urs von Balthasars“. In: Karl Lehmann/Walter Kasper (Hrsg.): Hans
Urs von Balthasar. Gestalt und Werk (Köln 1989), S. 237-259, hier S. 237.
933
124
der Philosoph Peter Henrici SJ. Fragen wir dennoch: Wie kann man beider Denker Denken
über die Metaphysik gegenüberstellen und kritisch miteinander vergleichen? Es kann sich
dabei nur um einen Versuch handeln, denn beide Denker beziehen die ganze
Philosophiegeschichte in ihr Denken ein und legen jeweils einen langen Weg zurück, auf dem
sie selbst auch eine Kehre wie bei Heidegger vollziehen oder wie von Balthasar ganz Neues
nach einer Reihe von Publikationen im Bereich der Seinsphilosophie entdecken, vor allem
durch seinen Gedankenaustausch mit den Philosophen Gustav Siewerth (1903–1963) und
Ferdinand Ulrich (1931– ).
Was Heidegger unter »Metaphysik«, »Verwindung der Metaphysik« und schließlich
»Denken« versteht und wo auch für ihn die Grenzen des Denkens erreicht sind, lässt sich gut
nachvollziehen, wenn man sich beispielsweise näher mit seiner Freiburger Antrittsvorlesung
„Was ist Metaphysik?“ (1929) auseinandersetzt, die in späteren Auflagen zunächst durch ein
Nachwort (1943) und durch eine Einleitung (1949) ergänzt worden ist. Ein Verstehen des
Gedankengangs setzt allerdings voraus, dass man mit seinen Werken Sein und Zeit,
„Einführung in die Metaphysik“, den Beiträge[n] und dem „Brief über den Humanismus“
vertraut ist. Nur so kann man die entsprechenden Verweise auf die Fundamentalontologie von
Sein und Zeit (anfängliches Denken) und auf das andersanfängliche Denken nach der „Kehre“
richtig einordnen. Damit eröffnet sich zugleich ein breites Spektrum des heideggerschen
Denkens und man erhält einen Einblick in die Auseinandersetzung mit den Kritikern, die sich
im Zeitraum von 1929–1949 mit der Freiburger Antrittsvorlesung beschäftigt haben.
In der Vorlesung „Was ist Metaphysik?“ mit Einbeziehung von Nachwort und Einleitung geht
es um wesentliche Gesichtspunkte, die Grundlage für einen Vergleich des heideggerschen und
balthasarschen Denkens im Hinblick auf ihr jeweiliges Wahrheitsverständnis sind. Heidegger,
der die Kritik seiner Kritiker durchaus zur Kenntnis nimmt, fasst diese Kritiken in seinem
Nachwort in drei Punkten zusammen. Auf die ersten zwei „Irrmeinungen“ wird direkt
eingegangen, die dritte steht im Zusammenhang mit seiner Kritik der traditionellen Kritik der
Logik und wird an der entsprechenden Stelle interpretiert. Den ersten Vorwurf der Kritiker
fasst Heidegger folgendermaßen zusammen: „Die Vorlesung [„Was ist Metaphysik?“] macht
»das Nichts« zum alleinigen Gegenstand der Metaphysik. Weil jedoch das Nichts das
schlechthin Nichtige ist, führt dieses Denken zur Meinung, alles sei nichts, so dass es sich
nicht lohne, weder zu leben noch zu sterben. Eine »Philosophie des Nichts«, ist der vollendete
»Nihilismus«.“939 Heidegger wehrt sich gegen diese Vorwürfe, indem er darauf hinweist, dass
die wissenschaftliche Forschung das Sein nicht finden könne, da sie sich immer nur mit dem
Seienden auseinandersetze.940 Vielmehr: „Dies schlechthin Andere zu allem Seienden ist das
Nicht-Seiende. Aber dieses Nichts west als das Sein. Wir sagen dem Denken zu übereilt ab,
wenn wir das Nichts in billiger Erklärung für das bloß Nichtige ausgeben und es dem
Wesenlosen gleichsetzen:“941 Heidegger bestimmt Nihilismus als Seinsvergessenheit.
939
Martin Heidegger: „Nachwort zu: »Was ist Metaphysik?«“. In: WM (GA 9), S. 305.
Vgl. ebd.
941
Ebd., S. 306.
940
125
Überwindung des Nihilismus bedeutet „Verwindung der Metaphysik“.942 Dementsprechend
trifft auf seine Philosophie der Vorwurf, eine „Philosophie des Nichts“ im Sinne des
Nihilismus zu betreiben, nicht zu. Allerdings grenzt er sich ab von der Definition des „Nichts“
im Sinne der christlichen Dogmatik, d.h. inhaltlich auch von Urs von Balthasar, in der das
Nichts zum Gegenbegriff des eigentlich Seienden werde.943
Der zweite Vorwurf der Kritiker lautet in Heideggers eigener Diktion: „Die Vorlesung erhebt
eine vereinzelte und dazu noch gedrückte Stimmung, die Angst, zu der einzigen
Grundstimmung. Weil jedoch die Angst der seelische Zustand der »Ängstlichen« und Feigen
ist, verleugnet dieses Denken die hochgemute Haltung der Tapferkeit. Eine »Philosophie der
Angst« lähmt den Willen zur Tat.“944 Heidegger verteidigt seine Phänomenologie der Angst
im Rahmen seiner Suche nach dem Sein (Wahrheit des Seins) und unterscheidet die
wesenhafte Angst von der »Angst« vor der Angst. Die wesenhafte Angst „ist das Ja zur
Inständigkeit, den höchsten Anspruch zu erfüllen, von dem allein das Wesen des Menschen
getroffen ist. Einzig der Mensch unter allem Seienden erfährt, angerufen von der Stimme des
Seins, das Wunder aller Wunder: daß Seiendes ist. Der also in seinem Wesen in die
Wahrheit des Seins Gerufene ist daher stets in einer wesentlichen Weise gestimmt. Der klare
Mut zur wesenhaften Angst verbürgt die geheimnisvolle Möglichkeit der Erfahrung des
Seins.“945 Klar ist zu erkennen, dass für Heidegger die Erfahrung der Angst, die er in Sein und
Zeit strikt von der Furcht unterscheidet, die Voraussetzung für die Erfahrung des Seins ist.
Ohne die Grundstimmung der Angst hätten wir demnach auch keine Erfahrung des Nichts.
Mit den Worten Heideggers in „Was ist Metaphysik?“: „Daß die Angst das Nichts enthüllt,
bestätigt der Mensch selbst unmittelbar dann, wenn die Angst gewichen ist. In der Helle des
Blickes, den die frische Erinnerung trägt, müssen wir sagen: wovor und warum wir uns
ängstigen, war »eigentlich« – nichts. In der Tat: das Nichts selbst – als solches – war da:“946
Von dieser wesenhaften Angst ist die »Angst« vor der Angst zu unterscheiden. Dazu
Heidegger: „Die »Angst« vor der Angst dagegen kann sich soweit verirren, dass sie die
einfachen Bezüge im Wesen der Angst verkennt. Was wäre alle Tapferkeit, wenn sie nicht in
der Erfahrung der wesenhaften Angst ihren ständigen Gegenhalt fände. In dem Grade, als wir
die wesenhafte Angst und den in ihr gelichteten Bezug des Seins zum Menschen herabsetzen,
entwürdigen wir das Wesen der Tapferkeit. Diese aber vermag das Nichts auszustehen.“947.
Dagegen setzt Urs von Balthasar seine Interpretation der Angst im Angesicht des Alten und
Neuen Bundes und in der Auseinandersetzung mit antiken und modernen Vorstellungen zu
diesem Thema. Er sieht die Angst überwunden durch das Kreuz. Für ihn gilt deshalb ein
striktes Verbot der Angst, ein Gebot der Angstlosigkeit.948 Er schreibt apodiktisch: „Der
942
Vgl. Martin Heidegger: „Zur Seinsfrage“. In: WM (GA 9), S. 414.
Vgl. Martin Heidegger: „Was ist Metaphysik?“. In: WM (GA 9), S. 119.
944
Martin Heidegger: „Nachwort zu: »Was ist Metaphysik?«“. In: WM (GA 9), S. 305.
945
Ebd., S. 307.
946
Martin Heidegger: „Was ist Metaphysik?“. In: WM (GA 9). S. 112.
947
Martin Heidegger: „Nachwort zu: »Was ist Metaphysik?«“. In: WM (GA 9), S. 307f.
948
Hans Urs von Balthasar: Der Christ und die Angst (Einsiedeln 1951), S. 45.
943
126
Christ hat zu dieser Angst schlechterdings keine Erlaubnis, keinen Zugang. Ist er trotzdem
Neurotiker oder Existentialist, dann fehlt es ihm an christlicher Wahrheit, dann ist sein
Glaube krank oder schwach.“949 Das bezieht auch eine falsch verstandene Solidarität mit den
Ängstlichen ein, die auf eine Ängstlichkeit mit den Ängstlichen hinausläuft.950 Er bedauert die
neurotische Angst bei Christen, die christliche Berufungen zerstört.951 Kritik an dieser
apodiktischen Einstellung von Balthasars übt Jörg Splett in seinem Beitrag „Der Christ und
seine Angst erwogen mit Hans Urs von Balthasar“.952 Darüber wird noch zu sprechen sein,
wenn es um die Kritik an der Philosophie und Theologie Hans Urs von Balthasars geht.
Jedenfalls ist der Gegensatz zu Heidegger evident. Heidegger sieht in der Angst die
Bedingung der Möglichkeit zur Eigentlichkeit, die Voraussetzung zum Seinkönnen. Er fordert
eine Bereitschaft zur Angst. Für von Balthasar ist die Angst oder Furcht ein Zeichen dafür,
die christliche Wahrheit und damit die dem endlichen geistigen Sein angebotene Teilnahme
am ewigen Sein zu verfehlen. Es wird deutlich, dass der Gegensatz zwischen den
Philosophien beider Denker in der jeweiligen Seinsphilosophie zu suchen ist. Die
Verschiedenheit in den jeweiligen Positionen lässt sich zeigen, wenn wir die „ontologische
Differenz“ bzw. „Realdistinktion“ unter dem Gesichtspunkt unterschiedlicher Seinsbegriffe
und eines jeweils verschiedenen Wahrheitsverständnisses betrachten. Während Heidegger
zwischen Sein und Seiendem unterscheidet, denkt von Balthasar den Unterschied zwischen
Sein (Dasein) und Wesen (Sosein) und beide gehen davon aus, dass die jeweilige Differenz
im Zentrum ihres Denkens zu stehen habe. Beide ringen auch ein Leben lang um eine
Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis der beiden Pole zueinander bzw. nach dem
Unterschied von Sein und Seienden und Dasein und Sosein – eine Antwort, die nicht so
eindeutig ausfällt, wie man es als Leser erhofft. Das liegt nach Heidegger an der
Seinsvergessenheit der bisherigen Philosophie. Bei seinen Bemühungen, die Seinsvergessenheit zu überwinden, versteht er die Unterschiede immer mehr als Einheit, aber es
gelingt ihm nie, diese Einheit so zu beschreiben, dass eine eindeutige Antwort zu erwarten
wäre. Dass sich die Differenz immer mehr zur Identität wandelt, liegt an Heideggers
Seinsverständnis nach der „Kehre“. Allerdings lehnt Heidegger das Konzept der
Realdistinktion (distinctio realis), das ihm aus seiner intensiven Beschäftigung mit der
Scholastik bekannt war, ab.953 Heidegger fragt nämlich, „ob die These, dass zu jedem
Seienden essentia und existentia gehören, in dieser Form zu Recht besteht, - ob sie in ihrer
vermeintlich universalen ontologischen Geltung überhaupt begründet werden kann. Versucht
man eine solche Begründung, dann zeigt sich, dass sie unmöglich ist.“954 Warum dies
unmöglich ist, rührt daher, dass er die ontologische Differenz als deshalb „verwickelter“
949
Ebd., S. 46.
Vgl. ebd.
951
Vgl. ebd., S. 47.
952
In: Peter Reifenberg – Anton van Hooff (Hrsg.): Gott für die Welt. Henri de Lubac, Gustav Siewerth und
Hans Urs von Balthasar in ihren Grundanliegen. Festschrift für Walter Seidel) (Mainz 2001), S. 315-331.
953
Vgl. Martin Heidegger: GP (GA 24), S. 116ff.
954
Ebd., S. 168.
950
127
ansieht, „weil unter dem Titel >Sein< jetzt nicht nur essentia und existentia stehen, sondern
zugleich auch Werheit und Existenz in unserem Sinne.“955 Die Scholastik frage nur nach der
Washeit, was aber beim Dasein keinen Sinn mache, da bei diesem nach der Werheit gefragt
werden müsse.956 Heidegger sieht in der distinctio realis „nur eine speziellere Frage, die die
ontologische Differenz überhaupt betrifft […].“957 Auch von Balthasar spricht von
Seinsvergessenheit; insofern schließt er sich Heidegger an. Aber er besteht auf der Gültigkeit
der Unterscheidung zwischen essentia und existentia. Heidegger hingegen unterscheidet in
seinem „Brief über den Humanismus“ im Zusammenhang mit seinem Verständnis des Wesens des Menschen existentia und essentia klar von seinem Begriff der Existenz: „In »Sein
und Zeit« (S.42) steht gesperrt der Satz : »Das >Wesen< des Daseins liegt in seiner Existenz.«
Hier handelt es sich aber nicht um eine Gegensetzung von existentia und essentia, weil diese
beiden metaphysischen Bestimmungen des Seins überhaupt noch nicht, geschweige denn ihr
Verhältnis, in Frage stehen.“958 Im Übrigen ist es denkbar, dass die essentia (Washeit) auch
die Werheit (Dasein) mit einschließt, da es sich um die Frage nach dem Wesen handelt, also
um eine geschlechtsneutrale Frage. Von Balthasar würde auch entschieden bestreiten, das
Sein zugunsten des Seienden vergessen zu haben, denn für ihn deutet die distinctio realis auf
die wichtigste Eigenschaft des geschaffenen Seins hin, nämlich auf seine Endlichkeit.
Darüber hinaus ist für ihn das endliche Sein mit dem unendlichen Sein durch Teilhabe
verbunden im Sinne der analogia entis. Die analogia entis ist für Heidegger kein Begriff der
Philosophie, sondern gehört in die Onto-Theologie.
Es ist deutlich geworden, dass die Beschreibung der ontologischen Differenz bzw. der
Realdistinktion zum Kompliziertesten gehört, was in der Geschichte der Philosophie gedacht
worden ist, denn einerseits behauptet Heidegger die Differenz, andererseits in seinem
Spätwerk die Identität. Denn „[w]ir sollen das Sein nicht als Anwesenheit des Seienden
denken, weil wir sonst das Sein im Seienden verdinglichen. Aber andererseits sollen wir doch
das Sein des Seienden akzeptieren.“959 Alle Widersprüche können auf die Differenz
zurückgeführt werden. „So ist das Sein das Fernste und im Seienden zugleich das Nächste.
Denn das Dasein, als Verstehendes, hat sich selbst immer schon verstanden, hat aber von
diesem Selbstverständnis keine Ahnung. Das ontisch Nächste ist somit das ontologisch
Fernste.“960 Auch von Balthasar ringt um das geheimnisvolle Zusammenspiel zwischen
essentia und existentia und gerät darüber ins Staunen.
5.4 Wahrheit als Offenheit und als Geheimnis
Auch beim Thema Wahrheit als Offenheit und als Geheimnis ergibt der Vergleich zwischen
beiden Denkern verblüffende Ähnlichkeiten, aber auch unüberwindbare Gegensätze. Obwohl
955
Ebd., S. 170.
Vgl. ebd., S. 169.
957
Ebd., S. 170.
958
Martin Heidegger: „Brief über den Humanismus“. In: WM (GA 9), S. 325.
959
Oliver Jahraus: Martin Heidegger. Eine Einführung, S. 99.
960
Ebd., S. 100
956
128
von Balthasar in Wahrheit der Welt eindeutig Heideggersche Begriffe benutzt (wie Sein,
Seiendes, Öffnung, Lichtung des Seins, Nichts, Erschlossenheit, Seinsverschlossenheit,
Unverborgenheit, Geheimnis), um seine eigene Philosophie in die Zeit nach Sein und Zeit
hineinzustellen, geht beim Studium des Werkes unmittelbar auf, dass sich von Balthasar im
Bereich der philosophia perennis bewegt, während Heidegger auf dem Denkweg hin zur
„Verwindung“ der Metaphysik unterwegs ist. Von Balthasars Grundsatz: „Prüfet alles und
behaltet das Gute!“ gilt auch in Hinblick auf Heidegger, dessen Seinsphilosophie ihm
entgegenkommt, weil sie einige wichtige Begriffe der abendländischen Metaphysik in eine
Zeit hinüber rettet, in der ein Großteil der Philosophen die Metaphysik ablehnt.
Sowohl für von Balthasar als auch für Heidegger bedeutet Wahrheit Öffnung, in letzter
Fundierung „Lichtung des Seins“: Von Balthasar ist überzeugt, dass es sich bei der Wahrheit
um eine Öffnung einerseits „zu sich“ und „in sich“, andererseits „zu weiterer Wahrheit“ hin
handelt.961 Die Öffnung der Wahrheit ermöglicht die Entdeckung des Seins bzw. die
Entdeckung der Zusammenhänge des Seins.962 Von beiden Beschaffenheiten der Wahrheit (1.
Unverborgenheit, 2. Vertrauenswürdigkeit) behauptet von Balthasar eine Öffnung über sich
hinaus.963 In der Öffnung der „Unverborgenheit“ öffnet sich das Seiende der Erkenntnis,
wobei Erkenntnis mit Selbstbewusstsein und Reflexion verknüpft ist. „Auf Grund des
Selbstbewusstseins oder der Reflexion ist also das Seiende offen, sowohl zu sich selbst wie zu
Anderem.“964 Das Selbstbewusstsein ordnet er dem Subjekt zu, das in der Lage ist, wahre
Urteile zu sprechen: „Erst im Akt des Urteils über die Wahrheit ist Wahrheit im vollen Sinne
verwirklicht: als bessere Offenbarkeit des Seins in einem Bewusstsein.“ 965 In der Öffnung der
Vertrauenswürdigkeit geht es um das Vertrauen, der Evidenz der Wahrheit zu folgen. Dem
erkennenden Bewusstsein wird evident, dass auf der einen Seite die Wahrheit in ihrer
„Durchsichtigkeit“ und Fasslichkeit gegeben ist, auf der anderen Seite sie aber sich jeder
„festlegenden Definition“ entzieht.966 Was Heidegger unter „Offenheit“ versteht, wurde bereits thematisiert. Einige neue und ergänzende Aspekte ergeben sich im vorliegenden Fragekontext. Nach der Kehre spricht Heidegger nicht mehr von Entdeckung, sondern von
„Öffnen“, „Offenheit“ und „Offenständigkeit“.967 Es geht Heidegger mit dem Begriff der
Offenheit um die Frage nach der Wahrheit des Seins und nicht nur des Seienden. Nach
Heideggers Überzeugung entspricht das Offene dem, was er bei der Übersetzung des
griechischen ἀλήθεια als Unverborgenheit bezeichnet. Ein wichtiger Aspekt der Öffnung ist
Heideggers These von der Offenheit des Daseins. Das Dasein ist Dasein oder der Mensch ist
Mensch in seinem Bezug zum Offenen. Dementsprechend nennt er diesen Bezug zur
961
Vgl. Hans Urs von Balthasar: W. S. 30.
Vgl., ebd.
963
Vgl., ebd.
964
Ebd., S. 36.
965
Ebd., S. 33.
966
Vgl. ebd., S. 30 f.
967
Vgl. Dorothea Frede: „Vom aufdeckenden Erschließen zur Offenheit der Lichtung“. In: Dieter Thomä
(Hrsg.): Heidegger Handbuch, S. 130.
962
129
Lichtung des Offenen auch Offenständigkeit. Da das Dasein die Offenheit ist, macht sie auch
die Offenheit für das Seiende als eines solchen erst möglich. In seiner Vorlesung „Was ist
Metaphysik?“ setzt er die Offenheit direkt mit dem Nichts als Bedingung der Möglichkeit für
Offenheit in Verbindung. Er schreibt: „Das Nichts ist die Ermöglichung der Offenbarkeit des
Seienden als eines solchen für das menschliche Da-sein.“968 Und: „Nur auf dem Grunde der
ursprünglichen Offenbarkeit des Nichts kann das Dasein des Menschen auf Seiendes zugehen
und eingehen. Sofern aber das Dasein seinem Wesen nach zu Seiendem, das es nicht ist und
das es selbst ist, sich verhält, kommt es als solches Dasein je schon aus dem offenbaren
Nichts her.“969
Der Versuch nun, die beiden Denker gegenüberzustellen, ist schwierig, vielleicht auch
deshalb, weil beide Seinsphilosophen sind. Heidegger kritisiert die Position von Balthasars
frontal, in dem er apodiktisch zu dem, was von Balthasar „Offenbarkeit des Seins in einem
Bewusstsein“ nennt, feststellt: „Der Mensch ist nie zunächst diesseits der Welt Mensch als ein
»Subjekt«, sei dies als »Ich« oder als »Wir« gemeint. Er ist auch nie erst nur Subjekt, das sich
immer zugleich auch auf Objekte bezieht, so dass sein Wesen in der Subjekt-ObjektBeziehung läge. Vielmehr ist der Mensch zuvor in seinem Wesen ek-sistent in die Offenheit
des Seins, welches Offene erst das »Zwischen« lichtet, innerhalb dessen eine »Beziehung«
vom Subjekt zum Objekt »sein« kann.“970 Hier könnte man geneigt sein, eine vollständige
Inkompatibilität beider Denker anzusetzen. Falls man nicht nur auf die Unterschiedlichkeit
der Begriffe schaut (Subjekt-Dasein, Objekt- In-der-Welt-sein), sondern auch auf das, was sie
bei beiden Denkern inhaltlich repräsentieren, dann entdeckt man, das von Balthasar
keineswegs das Subjekt so beschreibt, dass es den Objekten der Welt fremd und unverbunden
gegenüber stünde, als hätten Subjekt und Objekt nichts miteinander zu tun; auch er geht
davon aus, dass die Wahrheit des Seins dem Subjekt offen ist und äußert sich gegen jedwede
Subjekt-Objekt- Spaltung. Der zentrale Unterschied bei gleichzeitiger Nähe liegt meines
Erachtens in der unterschiedlichen Zuordnung von Mensch und Sein begründet. Heidegger
sagt zu dieser Zuordnung: „Im Menschen waltet ein Gehören zum Sein, welches Gehören auf
das Sein hört, weil es diesem übereignet ist. Und das Sein? Denken wir das Sein nach seinem
anfänglichen Sinne als Anwesen. Das Sein west den Menschen weder beiläufig noch
ausnahmsweise an. Sein west und währt nur, indem es durch seinen Anspruch den Menschen
an-geht. Denn erst der Mensch, offen für das Sein, lässt dieses als Anwesen ankommen.
Solches An-wesen braucht das Offene einer Lichtung und bleibt so durch dieses Brauchen
dem Menschenwesen übereignet.“971 Wer den Begriff des Seins nach seinem anfänglichen
Sinne nicht so denkt wie Heidegger und das Denken nach der „Kehre“ nicht nachvollziehen
kann, nämlich dass der Mensch als Eigentum des Seyns Botengänger des Seyns ist, der das,
was er als Botschaft gehört hat, zu kündigen hat, der kann Heideggers Seinsbegriff nicht
968
Martin Heidegger: „Was ist Metaphysik?“ In: WM (GA 9). S. 115.
Ebd., S. 114f.
970
Martin Heidegger: „Brief über den Humanismus“. In: WM (GA 9), S. 350.
971
Martin Heidegger: Identität und Differenz. 13. Aufl. (Stuttgart 2008), S. 18f.
969
130
verstehen. Der Begriff des Seins bei Heidegger ist mißverständlicher als er bis hierher in
dieser Arbeit dargestellt worden ist. Gerd Haeffner weist dazu in einem Beitrag zur Seinsfrage
bei Heidegger auf Hans Georg Gadamer und auf einen japanischen Gast bei Heidegger hin,
die beide ihre Verständnisschwierigkeiten mit Heideggers Seinsbegriff äußerten.972 Gadamer
bekannte, dass er nicht verstanden habe, was Heidegger unter dem Begriff des Seins denkt.
Der japanische Gast (Prof. Tezuka) wollte von Heidegger wissen, warum er den Begriff
„Sein“ nicht der Metaphysik überlassen hätte. Heidegger antwortete: „Wie soll einer nennen,
was er erst sucht?“973 Und fügt noch hinzu: „Das Finden beruht doch im Zuspruch des
nennenden Wortes.“974 Es scheint so, dass Heidegger seinen Denkweg in seine eigene
Denkgeschichte hineinstellt und auf dem Weg von der Metaphysik hin zur Verwindung der
Metaphysik auf die Sprache als dem „Haus des Seins“ („Brief über den Humanismus“)
angewiesen ist. Also hängt auch die Wahrheit des Seins davon ab, was das Da-sein als auf das
Seyn hörender Botengänger des Seyns durch den Zuwurf des Seyns in einer bestimmten
geschichtlichen Situation im Vollzug versteht und nicht nur vom Tun Heideggers als
Philosophie treibendes Subjekt.975 Bei den protestantischen Kollegen in Heideggers
Marburger Zeit gab es zunächst das Missverständnis, Heidegger hätte vor, die katholische
Scholastik zu erneuern, weil er seine Philosophie um die Differenz des „Seins“ zum
„Seienden“ herum aufbauen wollte. Auch katholische Interpreten hatten diesen Eindruck.976
Auch in Urs von Balthasars Wahrheitsverständnis werden wir vom Sein bestimmt und hören
in den Situationen des Lebens auf das Sein, aber dieses Sein ist als „esse non subsistens“
gedacht und nicht als Seyn, das sich ereignet wie eine „anonyme Macht“.977
Wie steht es nun um die „Wahrheit als Geheimnis“ im Denken beider Denker
gegenübergestellt. Beide interpretieren die Wahrheit unter dem Aspekt des Geheimnisses. Das
kann man am besten erklären, wenn man sich in einem Zwischenschritt zuerst dem
Begriffspaar „Verbergung“ und „Entbergung“ nähert. Bei Heidegger ist „Verbergung“ eine
Sache des Seienden selbst.978 Der Mensch (Da-sein) ist dieser Verbergung ausgeliefert, denn
das menschliche Verstehen hängt davon ab, ob sich das Seiende offenbart oder aber
verbirgt.979 Heidegger definiert, wie wir bereits gesehen haben, „Geheimnis“ als „Verbergung
des Verborgenen“ . Der Mensch ist gleichsam schicksalhaft dem „Unwesen der Wahrheit als
des Geheimnisses“ (Unwesen als „vorwesendes Wesen“) ausgeliefert. Der Mensch, der sich
mit „Offenheit für das Geheimnis“ verhält, sich in Freiheit („Seinlassen von Seiendem“) auf
972
Gerd Haeffner: „Heideggers ‚Seins‘-Frage. Beitrag zu einer Klärung“. In: Theologie und Philosophie 85
(2010) 2, . S. 161.
973
Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache (Pfullingen 1959), S. 110.
974
Ebd.
975
Vgl. Andrea Kern: „»Der Ursprung des Kunstwerkes«. Kunst und Wahrheit zwischen Stiftung und Streit“, S.
167.
976
Gerd Haeffner: „Heideggers ‚Seins‘-Frage. Beitrag zu einer Klärung“, S. 166.
977
Vgl. Dirk Mende: „‚Brief über den »Humanismus«‘ Zu den Metaphern der späten Seinsphilosophie“. In:
Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch, S. 248.
978
Vgl. Andrea Kern: „»Der Ursprung des Kunstwerkes«. Kunst und Wahrheit zwischen Stiftung und Streit“, S.
167.
979
Vgl. ebd.
131
das Sein einlässt, ist gelassen: „Wenn die Gelassenheit zu den Dingen und die Offenheit für
das Geheimnis in uns erwachen, dann dürften wir auf einen Weg gelangen, der zu einem
neuen Grund und Boden führt. In diesem Boden könnte das Schaffen bleibender Werke neue
Wurzeln schlagen.“980 Dem Menschen ist so bewusst, dass er Eigentum und gleichermaßen
Voraussetzung des Seyns ist. Ist der Mensch nicht offen für das Geheimnis des Seins, besteht
die Gefahr, dass er seine Maßstäbe aus Technik und Wissenschaft bezieht.
Auch von Balthasar befasst sich in seinem philosophischen Hauptwerk ausgiebig mit dem
Phänomen des Geheimnisses des Seins und der Wahrheit. Er lehnt sich wahrscheinlich an
Heideggers Begriffswahl an. Statt Verbergung und Entbergung miteinander zu verschränken,
verschränkt er Verhüllung und Enthüllung „als enthüllende Verhüllung“.981 Er schreibt in
Wahrheit der Welt: „Daß es Sein und folglich Wahrheit überhaupt gibt, dass das Wirkliche
wirklich und dass die Wahrheit wahr ist: wer vermöchte je mit diesem Geheimnis fertig zu
werden? Hier erscheint wirklich und buchstäblich das Geheimnis als Geheimnis: gerade das
Enthülltsein des Seins ist als solche seine tiefste Verhüllung.“982 Das bedeutet, dass durch die
Offenheit des Seins des Seienden paradoxerweise enthüllt wird, dass es verhüllt ist. Ähnliches
konstatiert auch Heidegger, der phänomenologisch in der Entbergung des Seins des Seienden
die Verborgenheit des Seins erkennt. Auch von Balthasar sieht die Abhängigkeit des
Erkennens vom Sein des Seienden. Allerdings unterscheidet von Balthasar zwischen
unterschiedlichen Bedeutungstiefen und Bedeutungsebenen des Begriffes „Geheimnis“ (z.B.
Beichtgeheimnis, Geheimnisse im sakralen Bereich, Geheimnis des Seins und der Wahrheit,
Geheimnis der Erkenntnis, Geheimnis der Liebe). Im Unterschied zu Heidegger ist der
Mensch diesen verschiedenen Arten des Geheimnisses nicht wie einer „anonymen Macht“
unterworfen. Was für von Balthasar zählt, ist die Liebe, die der Enthüllung von Geheimnissen
Grenzen setzt, denn nur sie kann in rechter Weise mit der Wahrheit umgehen. Daß für von
Balthasar Sein und Liebe konvertibel sind, lässt sich in philosophischer Begrifflichkeit kaum
ausdrücken. Von Balthasar versucht in seiner Lehre von der Konvertibilität der
Transzendentalien eine Antwort zu finden.983 Die Transzendentalien „erbringen in ihrer
Gemeinsamkeit den Beweis für die unerschöpfliche Tiefe und den überbordenden Reichtum
des Seins. Sie zeigen schließlich, dass alles nur darum verständlich und enthüllt ist, weil es in
einem Mysterium gründet, dessen Geheimnischarakter nicht in einem Mangel an Klarheit,
sondern im Gegenteil in der Überfülle des Lichtes beruht. Denn was ist unbegreiflicher, als
dass der Kern des Seins in der Liebe besteht und dass sein Hervortreten als Wesen und Dasein
keinen anderen Grund hat als den der grundlosen Gnade?“984 Für Heidegger ist eine solche
Sicht undenkbar, obwohl vom Sein, von Licht und vom Geheimnis geredet wird. Auch die
„Liebe“ als „Kern des Seins“ („Onto-Theologie“) hat keinen Ort auf Heideggers Denkweg.
980
Martin Heidegger: Gelassenheit. 14. Aufl. (Stuttgart 2008), S. 26.
Vgl. Manfred Lochbrunner: Analogia Caritatis, S. 99.
982
Hans Urs von Balthasar: W. S. 235.
983
Vgl. Manfred Lochbrunner: Analogia Caritatis, S. 100.
984
Hans Urs von Balthasar: W. S. 255.
981
132
5.5 Wahrheit als Freiheit
Das Thema „Freiheit“ hat nicht nur in der Zeit der Aufklärung und der Französischen
Revolution die Gemüter der Menschen erregt. Schon in der Reformation in der
Auseinandersetzung Martin Luthers (De servo abitrio, 1525) mit dem Papst, Erasmus von
Rotterdam und anderen stand das Thema im Zentrum der theologischen und philosophischen
Debatte und hat eine die europäische Geschichte stark verändernde Wirkung ausgeübt. Auch
das II. Vatikanische Konzil setzte sich mit dem Thema Freiheit auseinander und forderte
schließlich die Religionsfreiheit für alle Religionen.
Es stellen sich zwei Fragen im Diskurs mit Heidegger und von Balthasar: 1.Was hat Freiheit
mit Wahrheit zu tun? 2. Gibt es Ähnlichkeiten, aber auch unaufhebbare Widersprüche
zwischen den beiden Denkern? Auf die erste Frage wurde schon eingegangen, aber sie soll an
dieser Stelle noch einmal aufgegriffen werden, um eine kritische Auseinandersetzung zu
erleichtern. Wir wissen, dass Heidegger immer nach dem ursprünglichen Wesen fragt und das
ursprüngliche Wesen der Wahrheit in der Freiheit begründet sieht. Freiheit versteht er nicht
wie die Traditionalisten als positive bzw. negative Freiheit, sondern als Aussetzung in die
Entborgenheit für die Entbergung des Seienden. „Aussetzung ist der ek-sistente Grundzug der
Freiheit, das zweifach-einige Sichaussetzen der Entborgenheit als Offenheit und der
Entbergung des Seienden in und aus der Entborgenheit und Offenheit.“985 Die so verstandene
ek-sistente Freiheit ist die Grundlage für die Handlungsfreiheit. Die Fundierung der Wahrheit
in der Freiheit war für die Traditionalisten (im Sinne Heideggers) nicht nachvollziehbar, denn
sie setzt den anerkennenden Nachvollzug der Fundamentalontologie Heideggers voraus. So
spricht Heidegger, bezogen auf die Freiheit, von dem entwerfenden Sicheinlassen auf die
Offenheit des Offenen. Oder er benutzt den Begriff der „Eingelassenheit“. Es wird eine
dreifache Struktur der Freiheit deutlich: „die Eingelassenheit (Geworfenheit), das
Sicheinlassen auf die Offenheit (Entwurf), das Sicheinlassen auf das Offenbarmachen des
Seienden (besorgendes Sein-bei).“986
Auch von Balthasar fundiert die Wahrheit in der Offenheit des Seins. In Wahrheit der Welt
sieht er die endliche Freiheit angelegt in der Innerlichkeit der Subjekte. Der Erkenntnisakt ist
in seinem Ermöglichtsein und in seinem konkreten Vollzug ein Freiheitsgeschehen. Der
Mensch ist dazu fähig, aus den Sinnesdaten frei auszuwählen, diese Daten dann so zu ordnen,
wie es dem eigenen Weltbild entspricht. Erkenntnis im eigentlichen Sinn ist die Erfahrung
von Evidenz und Freiheit in einem Unlösbaren inneren Zusammenhang. In Spiritus Creator
und anderen Schriften, aber vor allem in der „Trilogie“ bezieht er sich bei der Beschreibung
von Wahrheit und Freiheit phänomenologisch auf eine „Urerfahrung“ des Menschen, die mit
dem ersten Lächeln der Mutter in Verbindung steht. In dieser Urerfahrung erfährt der Mensch
ein Angerufensein von einem Du. Dieses Angerufensein durch die Liebe der Mutter
985
986
Friedrich-Wilhelm v. Herrmann: Wahrheit, Freiheit, Geschichte, S. 115.
Ebd., S. 116f.
133
ermöglicht es dem Kind ein Antwortender zu werden.987 „Antwortender zu sein ist für von
Balthasar das eigentliche Grundmerkmal des selbstbewusst-freien Ich.“ 988 Das Angerufensein
ist für ihn so zentral, dass er Im Raum der Metaphysik feststellen kann: „Alles, restlos alles,
was später hinzutreten mag und unweigerlich dazukommen wird, muß Explikation dieser
ersten Erfahrung bleiben.“989 Er drückt diesen Sachverhalt in Anlehnung an Heideggers
Begrifflichkeit („Eingelassenheit“) auch so aus: „Die Erfahrung des Eingelassenseins in ein
bergend-Umgreifendes ist für alles kommende, wachsende und erwachsene Bewusstsein
unüberholbar.“990 Verbindet man die Erklärung für die Entstehung des Selbstbewusstsein und
die Erkenntnis der Wahrheit und Freiheit und allem, was daraus für die Entwicklung des
menschlichen Bewusstseins folgt mit der Analyse der „Urerfahrung“, dann kann man von
einem apriorisch-aposteriorischen Erklärungsversuch sprechen. Apriorisch ist das Stehen des
Menschen im Horizont des Seins als Ermöglichungsgrund der Urerfahrung. Aposteriorisch ist
das in der „Urerfahrung“ sich erschließende Du mitsamt all dem, was das für die „endliche
Freiheit“ bedeutet.991 „Daraus ergibt sich seine bedenkenswerte These, dass die Apriorität,
welche diese transzendentale Erfahrung auszeichnen soll, einer Ur-Aposteriorität dieser
Erfahrung zu verdanken ist.“992 In dieser Urerfahrung hat die Ontologie der Transzendentalien
des Seins ihren Wurzelgrund.993
Um Ähnlichkeiten und Unvereinbarkeiten ausmachen zu können, bietet es sich an, die
dreifache Struktur (1. Geworfenheit, 2. Entwurf, 3. besorgendes Sein-bei), die Heidegger als
Merkmale der Freiheit angibt und als Ermöglichung der Wahrheit bezeichnet, dem
gegenüberstellen, was von Balthasar über Wahrheit und Freiheit im Ermöglichtsein durch die
„Urerfahrung“ sagt. Statt „Geworfenheit“ würde von Balthasar das Bergend-Umgreifende
„Geborgenheit“ nennen, Geborgenheit durch die empfangene Liebe in der Urerfahrung.
Geworfenheit weist hin auf die „anonyme Macht“ eines Geschickes. Geworfenheit betont,
dass der Mensch seine Existenz einem Schicksal verdankt, einem „im Schicksal gründenden
Geschehen des Daseins.“994 Von Balthasar betont ebenso wie Heidegger, dass der Mensch
seine Existenz nicht sich selbst verdankt, aber nicht einem Geschick, sondern der Gnade eines
Du. Und auf diese Weise wird die unerbittliche Schicksalhaftigkeit des Heideggerschen
Denkens in eine personale Beziehung zwischen Mensch und Mitmensch, zwischen Mensch
und Gott eingebettet. Auch der Entwurf als das Sicheinlassen auf die Offenheit klingt bei von
Balthasar weniger stoisch oder sollte man sagen heroisch als bei Heidegger. Von Balthasar
sieht die Voraussetzung für das Sicheinlassen auf die Offenheit gegeben durch die
987
Vgl. Lorenz Gadient: Wahrheit als Anruf der Freiheit. S. 88ff.
Ebd., S. 89.
989
Urs von Balthasar: H III/1 S. 946.
990
Ebd.
991
Vgl. Thomas Möllenbeck: Endliche Freiheit, unendlich zu sein. Zum metaphysischen Anknüpfungspunkt der
Theologie mit Karl Rahner, Hans Urs von Balthasar und Johannes Duns Scotus. Paderborner Theologische
Studien, Bd. 53 (Paderborn [u.a.] 2012), S. 185ff.
992
Ebd., S. 185.
993
Ebd., S 190.
994
Helmuth Vetter: „Geschick“. In: Ders. (Hrsg.): Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe, S. 227.
988
134
Urerfahrung, in der der Mensch das Selbstbewusstsein erlangt und frei das Sein im Ganzen
sich zu erschließen beginnt. Auch das besorgende Sein-bei – ein Ausdruck Heideggers im
Zusammenhang der Sorgestruktur – kann von Balthasar auch nur in seinem Konzept der
Urerfahrung zum Ausdruck gebracht werden mit der Einschränkung, dass das Sicheinlassen
auf das Offenbarmachen des Seienden nicht bedeutet, sich das Sein als eine Schicksalsmacht
vorzustellen, der man ohne Dialog wie einem Geschick ausgeliefert ist. Klar ist, dass beide
Denker die Freiheit als Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis der Wahrheit postulieren.
Heidegger fundiert die Wahrheit in der endlichen Freiheit, in der das Dasein in dem
Dreischritt „Geworfenheit, Entwurf, Sein-bei“ sein Seinkönnen im praktischen Lebensvollzug
versteht und vollzieht, von Balthasar im Rahmen einer Analogie zwischen endlicher und
unendlicher Freiheit, in der der Mensch in einer Urerfahrung sich als frei für die Wahrheit
erfährt und in der das Wahre, Gute und Schöne koextensiv miteinander verbunden sind.
5.6 Wahrheit-Zeit-Geschichte
Das Thema „Zeit“ ist eines der wichtigen Themen der Philosophiegeschichte.995 Auch
Heidegger und von Balthasar greifen dieses Thema an zentraler Stelle auf. In vorliegender
Untersuchung wurde das Zeitproblem im Denken Heideggers und von Balthasars schon thematisiert unter den Überschriften „Die Rede“, „Das Sein zum Tode und die Sorge“ und
„Realdistinktion und Zeit“. Was verbindet Heideggers und von Balthasars Zeitverständnis mit
der Wahrheit und der Geschichte?
Heideggers Zeitverständnis ist komplexer als das von Hans Urs von Balthasar. Er setzt sich
schon sehr früh mit der frühchristlichen Zeiterfahrung auseinander: „Der junge Heidegger
sieht in der frühchristlichen Zeiterfahrung die Erfassung eines echten Grundzugs des
faktischen Lebens in dessen eigentlicher, praxis- und heilsorientierter Zeitlichkeit.“996
Daneben beschäftigt er sich immer und immer wieder mit der Zeitauffassung des Stagiriten
und versucht dessen Konzept des καιρός mit dem, was frühchristliche Zeitlichkeit bedeutet,
zu verbinden.997 In Sein und Zeit denkt er über das Thema „Zeitlichkeit des Daseins“
ausführlich nach und bemerkt schon in der Einleitung: „Als der Sinn des Seins desjenigen
Seienden, das wir Dasein nennen, wird die Zeitlichkeit aufgewiesen.“998 Aber erst sehr viel
später (ab § 45) bestimmt er die zeitliche Verfasstheit des Daseins auf dem Hintergrund der
Strukturelemente des Daseins, die er zuvor beschrieben hatte, am Beispiel der Formen der
Erschlossenheit und der Entschlossenheit. Zu den Strukturelementen gehört ganz zentral das
Existenzial des In-der-Welt-seins, das auf die Räumlichkeit der Welt verweist. Heidegger
sucht im ersten Teil von Sein und Zeit den Sinn des Seins, indem er im Durchgang durch den
995
Mike Sandbothe: „Zeit – Von der Grundverfassung des Daseins zur Vielfalt der Zeit-Sprachspiele“. In: Dieter
Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch, S. 87.
996
Franco Volpi: „Der Rückgang auf die Griechen in den zwanziger Jahren – Eine hermeneutische Perspektive
auf Aristoteles, Platon und die Vorsokratiker im Dienst der Seinsfrage“. In: Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger
Handbuch. S. 34.
997
Vgl. ebd.
998
SuZ (GA 2). S. 24.
135
Raum das Da des Daseins findet. Im zweiten Teil interpretiert er den ersten Teil in der Weise,
dass er von der ontischen Raumanalyse zur ontologischen Zeitanalyse weiterschreitet. 999 So
interpretieren sich die veröffentlichten Teile von Sein und Zeit wechselseitig.1000 Alle
Strukturelemente des Daseins, die in der Analytik zutage gefördert worden sind, lassen sich
so als Modi der Zeitlichkeit interpretieren. Auf diese Weise ist auch ein Zusammenhang der
Wahrheit (als Erschlossenheit) mit der Zeit deutlich erkennbar. Und da Heidegger eine enge
Verbindung zwischen Entschlossenheit und Erschlossenheit feststellt, ist auch eine
Verbindung zum Wahrheitsverständnis gegeben. Dazu schreibt er in Sein und Zeit: „Die
hinsichtlich ihres zeitlichen Sinnes charakteristische Entschlossenheit repräsentiert eine
eigene Erschlossenheit des Daseins.“1001 Um nicht formal und abstrakt zu bleiben und den
Zusammenhang zwischen Wahrheit, Zeit und Geschichtlichkeit verständlich zu machen, soll
konkret auf die Zeitlichkeit der Erschlossenheit und der Entschlossenheit eingegangen
werden, und zwar so, dass ein Vergleich beider Denker ermöglicht wird.
Ausgangspunkt für einen solchen Vergleich ist die von Heidegger angestrebte Einheit von
Ontologie und Thanatologie.1002 Im Seinsprozess zum Tode – Heidegger spricht auch von der
„vorlaufenden Entschlossenheit“ – ist die „eigentliche Zukunft“ enthalten: „Die eigentliche
Zukunft, die primär die Zeitlichkeit zeitigt, die den Sinn der vorlaufenden Entschlossenheit
ausmacht, enthüllt sich selbst als endliche.“1003 Im Dasein zum Tode verwirklicht sich das
Dasein im Hinblick auf das Mögliche (eigentliches Selbst) oder es verfällt (uneigentliches
Selbst). Das besagt: „Meine Zeit, die ich bin, ist die Zeit, die mein Sein ist.“1004 Der Bezug
zur Wahrheit des Seins ist folgender: „Wer wahrhaft existiert und seine Zeit, seine Zukunft,
sein Tod ist, braucht keine Uhr, kann keine in Gebrauch nehmen.“1005 Heidegger nennt die
Zukunft an erster Stelle, denn für ihn ist die Zukunft das Phänomen der eigentlichen
Zeitlichkeit.1006 Wie es mit der „Gewesenheit und der Gegenwart aussieht, ergibt sich aus der
Bindestrichformel der dreiteiligen Sorgestruktur, die wir bereit kennengelernt haben. Beim im
„Schon sein“ wird auf den zeitlichen Aspekt, „die Gewesenheit“, verwiesen und beim „Seinbei“ auf das „Gegenwärtigen“.
Heidegger spricht von der „ekstatisch-horizontalen Zeitlichkeit“ und meint damit, dass die
drei Ekstasen der Zeit (Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart) „in sich gleichursprünglich
zusammengehören.“1007 Ekstase heißt, „sich von etwas trennen können, über sich hinausgehen
können und das lässt sich von den Formen der Zeit in der Tat sagen – jede von ihnen ist nur
999
Vgl. Oliver Jahraus: Martin Heidegger. Eine Einführung, S. 142.
Vgl. ebd., S. 143.
1001
SuZ (GA 2) S. 444.
1002
Vgl. Rainer Marten: „»Der Begriff der Zeit«. Eine Philosophie in der Nußschale“. In: Dieter Thomä (Hrsg.)
Heidegger Handbuch, S. 22.
1003
SuZ (GA 2), S. 436.
1004
Rainer Marten: „»Der Begriff der Zeit«. Eine Philosophie in der Nußschale“. In: Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch, S. 23.
1005
Ebd., S. 23.
1006
Vgl. SuZ (GA 2) S. 435f,.
1007
Martin Heidegger: Die Grundprobleme der Phänomenologie (GA 24), S. 377.
1000
136
derart, dass sie zugleich auch über sich hinaus ist, dass sie in die anderen Formen der Zeit
»umschlägt« keine ist ohne die anderen.“1008 Horizontal meint nicht das Gegenteil von
vertikal, sondern meint bezogen auf einen Erfahrungsbereich.1009 Der Horizont zum
Verständnis des Seins ist die Zeit.
Aus dem Gesagten ergibt sich, dass Heidegger unterscheidet zwischen der „linearen
Zeitauffassung“ – „auch „vulgäre Zeitauffassung“ – genannt und der „ekstatisch-horizontalen
Zeitauffassung“. Die erstere ist mit dem Gebrauch der Uhr verbunden und mit allem, was sich
für Wissenschaft, Technik und Gesellschaft im alltäglichen Gebrauch daraus ergibt; die
zweite bezieht sich ausschließlich auf das Dasein und seine Möglichkeiten. Heidegger sieht
die „lineare Zeitauffassung“ fundiert in der „ekstatisch-horizontalen Zeitauffassung“. Auf
diese Weise relativiert er die „lineare Zeitauffassung“ und die „gegenwartszentrierte
Zeitauffassung“.1010
Wichtig für den Vergleich beider Denker ist es, auf die Zeitlichkeit der Erschlossenheit
einzugehen, und zwar am Beispiel der Zeitlichkeit des Verstehens und der Zeitlichkeit der
Rede. Auf die Zeitlichkeit der Entschlossenheit wird noch unter der Überschrift „Wahrheit
und Gewissen“ einzugehen sein. Dem Verstehen als Existenzial liegt die „eigentliche
Zukunft“ zugrunde.1011 Das bedeutet, dass das Dasein sein Seinkönnen im praktischen
Lebensvollzug im Vorlaufen auf den Tod versteht und sich als geworfenes Sein mit
Entschlossenheit auf den Tod hin entwirft.1012 Es versteht im Augenblick, wie es sein kann als
Existenz, frei sich als eigentliches Selbst der „Diktatur des Man“ zu entziehen. Von Balthasar
wird statt „Augenblick“ den Ausdruck „Situation“ gebrauchen. Der Augenblick ist für
Heidegger der „Ausbruch“ aus der Innerzeitigkeit, der Perspektive des Alltäglichen. 1013 In
Sein und Zeit erklärt Heidegger den Begriff des Vorlaufens und unterscheidet zwischen
„eigentlicher und „uneigentlicher Zukunft: „Für die terminologische Kennzeichnung der
eigentlichen Zukunft halten wir den Ausdruck Vorlaufen fest. Er zeigt an, daß das Dasein,
eigentlich existierend, sich als eigenstes Seinkönnen auf sich zukommen lässt, dass sich die
Zukunft erst selbst gewinnen muß, nicht aus der Gegenwart, sondern aus der uneigentlichen
Zukunft.“1014 Der uneigentlichen Zukunft entspricht das uneigentliche Verstehen des Manselbst und „hat den Charakter des Gewärtigens“.1015 Die Zukunft bedeutet kein Nach in dem
Sinne, dass sie nach den anderen Ekstasen stattfindet: „Zeitlichkeit zeitigt sich als gewesendegegenwärtigende Zukunft.“1016
1008
Günter Figal: Martin Heidegger zur Einführung, S. 81.
Vgl. Andreas Luckner: Martin Heidegger: »Sein und Zeit«, S. 151.
1010
Vgl. Mike Sandbothe: „Zeit – Von der Grundverfassung des Daseins zur Vielfalt der Zeit Sprachspiele“, S.
88.
1011
SuZ (GA 2) S. 445.
1012
Vgl. ebd.
1013
Vgl. Andreas Luckner: Martin Heidegger: »Sein und Zeit«,S. 144.
1014
Vgl. SuZ. (GA 2) S. 445f..
1015
Vgl., S. 446.
1016
Ebd., S. 463.
1009
137
Außer der Zeitlichkeit des Verstehens soll noch kurz die Zeitlichkeit der Rede zur Sprache
gebracht werden. Die Rede ist allerdings nicht in der Zukunft, sondern in der Gegenwart
fundiert. Heidegger drückt dies so aus: „Weil jedoch die Rede faktisch sich zumeist in der
Sprache ausspricht und zunächst in der Weise des besorgend-beredenden Ansprechens der
»Umwelt« spricht, hat allerdings das Gegenwärtigen eine bevorzugte konstitutive
Funktion.“1017 Die Rede fordert zum Selbstsein auf und entspricht dem „Ruf des Gewissens“,
der im Existenzial der Rede fundiert angesehen wird.1018
Auch Urs von Balthasar richtet bei seiner Zeitanalyse eine besondere Achtsamkeit auf die
Bedeutung der Zeit für den Menschen (Situation). Es geht um die Entscheidung für das
eigentliche Selbst, was für von Balthasar wie für Heidegger, wenn auch in unterschiedlicher
Interpretation, heißt, dem „Ruf des Gewissens“ zu folgen, und zwar in jeder Situation des
Daseins neu. Auch dem Gedanken des Vorlaufens auf den Tod kann von Balthasar folgen,
allerdings deutet er als Christ die „Angst“ und die Begrenzung des Daseins durch den Tod
anders als Heidegger. Den drei Ekstasen des heideggerschen Zeitverständnisses als
ontologischem Sachverhalt setzt von Balthasar sein Konzept der Zeit gegenüber, wobei er
Sein und Zeit nicht als identisch, sondern die Zeit als eine grundlegende Eigenschaft der
Schöpfung betrachtet. Auch für von Balthasar handelt es sich bei der Zeit um einen
ontologischen Sachverhalt. Beide benötigen die „ontologische Differenz“ bzw. die
„Realdistinktion“ als Erklärung für die Zeitlichkeit des Daseins. Indem Heidegger – kursiv
hervorgehoben – formuliert: „Der Unterschied von Sein und Seiendem ist in der Zeitigung der
Zeitlichkeit gezeitigt“1019, wird deutlich, dass er die Zeit nicht als Seiendes versteht, sondern
als Zeichen der Differenz von Sein und Seiendem.1020 Von Balthasar äußert sich in dem
Sinne, dass es Zeit ohne die Realdistinktion, d.h. ohne die Trennung zwischen Dasein und
Sosein nicht geben könne. Er ist davon überzeugt, „dass die philosophische Analyse der Zeit
der eigentliche Zugang zu einem lebendigen und konkreten Verständnis der Realdistinktion
ist.“1021 Ebenso in Bezug auf den Tod sieht von Balthasar einen Zusammenhang zwischen
Gegenwart und Zukunft. Die gegenwärtige Situation bezieht sich auf die Zukunft, d.h. auch
bei ihm steht die gegenwärtige Situation nicht beziehungslos und getrennt von der Zukunft,
denn von der Zukunft her gestaltet der Mensch sein Leben, freilich nicht durch den Tod
begrenzt. Von Balthasar spricht nicht von der Gleichursprünglichkeit der Ekstasen, aber
wahres und richtiges Leben geschieht in der Ausrichtung der Gegenwart auf die Zukunft, und
zwar indem der Mensch dem Ruf des Gewissens folgt.
Sowohl für Heidegger als auch für von Balthasar öffnet sich die Wahrheit des Seins dem
Dasein (Mensch) als ein Prozess im Lebensvollzug. Dieser zeitliche Prozess ist ein Vorlaufen
zur Wahrheit des Seins bis zum Tod bei Heidegger bzw. ein Vorlaufen, um bei Heideggers
1017
Ebd., S. 461f..
Vgl. Andreas Luckner: Martin Heidegger: »Sein und Zeit«, S. 148, Fußnote. 66.
1019
Martin Heidegger: Die Grundprobleme der Phänomenologie (GA 24). S. 454.
1020
Andreas Luckner: Martin Heidegger: »Sein und Zeit«, S. 180.
1021
Hans Urs von Balthasar: W, S. 220.
1018
138
Begrifflichkeit zu bleiben, von der geschaffenen Wahrheit (kontingenten Wahrheit) zur
ewigen Wahrheit in Gott bei von Balthasar. Heidegger leitet die Geschichtlichkeit des
Daseins im Gegensatz zum „vulgären Geschichtsverständnis“ aus der Geschichtlichkeit der
Daseinsstruktur ab, die zeitlich und damit geschichtlich ist.1022 Sie wurde in Sein und Zeit „als
die vorlaufende Entschlossenheit, was das eigentliche Existieren angeht, als das Sichentwerfen auf Schuldigsein, was seine Faktizität betrifft und als die entschlossene Übernahme
der Situation, in der es steht, was seine Verfallenheit betraf, charakterisiert.“ 1023 Nach der
sogenannten Kehre verwandelt sich der Mensch. Jürgen Habermas beschreibt das in seiner
kritischen Auseinandersetzung mit Heidegger so: „Der Mensch ist nicht mehr Platzhalter des
Nichts, sondern Hüter des Seins, das Hinausgehaltensein in die Angst weicht der Freude und
dem Dank für die Huld des Seins, der Schicksalstrotz der Ergebung ins Seinsgeschick, die
Selbstbehauptung der Hingabe.“1024 Der Mensch (das Dasein) wartet im
ereignisgeschichtlichen Denken auf das Ereignis. „Die Zeitlichkeit des Daseins ist nun nur
noch der Kranz eines sich zeitigenden Seinsgeschicks.“1025 Von Balthasar beschreibt
gelingende persönliche Geschichte der Wahrheit als die Summe aller Situationen, in denen
der Mensch jeweils sich neu für die Wahrheit entscheidet. Der Mensch bestimmt frei in seiner
irdischen Zeit, wie er sich der Wahrheit gegenüber in den wechselnden Situationen verhält.
Der Mensch unterliegt letztendlich keinem Seinsgeschick, das mit dem Tod seine Macht
verliert, sondern fühlt sich aufgehoben in Gottes Hand.
5.7 Wahrheit und Logik
Man kann das Wahrheitsverständnis beider Denker besser nachvollziehen, wenn man
analysiert, was sie unter Logik verstehen. Es fällt auf, dass Heidegger an vielen Stellen, die
hier nicht im Einzelnen aufgeführt werden müssen, die traditionelle Logik bekämpft. Wenn
wir in traditioneller Weise über die Wahrheit nachdenken, kommt uns die Logik und die
Erkenntnistheorie in den Sinn: „In Wissenschaftstheorie und analytischer Philosophie, in
denen formale Logik und Erkenntnistheorie mannigfache Verbindungen eingehen, hat sich
die Ansetzung der Wahrheitsfrage als ein Problem von Logik und Erkenntnistheorie
verfestigt.1026 Diesen Sachverhalt hinterfragt und kritisiert Heidegger. Er stellt sich vielmehr
die Frage nach dem wahren Logos und wie Seiendes phänomenologisch zugänglich wird.
Deshalb sind nicht die Logik und die Erkenntnistheorie die philosophischen Disziplinen, um
sich mit der Wahrheitsfrage auseinanderzusetzen, „sondern Fundamentalontologie und
ereignisgeschichtliches Denken als das Fragen nach dem Wesen des Seins werden zur
primären Blickbahn für die Wahrheitsfrage“.1027 Die Frage nach dem wahren Logos wird
dann anders beantwortet als in der traditionellen Philosophie. Der Logos ist wahr, „wenn er
1022
Vgl. Andreas Luckner: Martin Heidegger: »Sein und Zeit«, S. 160.
Ebd., S.161.
1024
Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne (Frankfurt a.M. 1983), S. 181.
1025
Ebd.
1026
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Wahrheit, Freiheit, Geschichte, S. 11.
1027
Ebd.
1023
139
das, wovon die Rede ist, ,entdeckt‘, d.h. aus der Verborgenheit herausführt“ (vgl. SuZ, §
44).1028
Die traditionelle Aussagenlogik ist nach Heidegger fundiert im wahren Logos. Von Balthasar
geht in seinem Verständnis der Logik von der Begriffs- und Sprachlogik des Aristoteles aus,
aber er verweist über die reine Formalität hinaus, indem er die Logik mit der Wahrheit des
Seins verbindet.1029 Deshalb kann man bei von Balthasar analog zu Heidegger von einem
ontisch geprägten Logikverständnis sprechen. Von Balthasar legt also die Adäquations- oder
Korrespondenztheorie seinem Logikverständnis zu Grunde mit dem Verweis auf das ontische
Fundament der Wahrheit des Seins. Damit vermeidet er, dass die Wahrheit auf den Aspekt der
formalen Richtigkeit der Entsprechung reduziert wird.1030
Für von Balthasar ist das Wort Logik, das im Begriff der Theologie auftaucht, ein wichtiger
Begriff im Rahmen seines theologischen Hauptwerkes als Bezeichnung der letzten drei Bände
seiner „Trilogie“. Mit der Begrifflichkeit Theologie bzw. Theologik bezeichnet er
Unterschiedliches: 1. „Theologik“ bezeichnet den dritten Teil der Trilogie Balthasars. 2.
„Theo-Logik“ hat zum Inhalt die Sachfragen, die mit dem „Wort Gottes“ gegeben sind und
denkt nach über das menschliche Reden über Gott. 3. Theologie ist die Wissenschaft gemäß
der opinio communis.1031 In der Gegenüberstellung der zwei Denker spielt die unter Nr. 2
angeführte Bedeutung die entscheidende Rolle, denn hier geht es um die Rede über die
Wahrheit des Seins. „Wozu nach alldem [d.h. den Bänden „Herrlichkeit“ und „Theodramatik“] noch eine »Theologik«?“ – so fragt von Balthasar und gibt die Antwort: „Weil in den
beiden ersten Teilen das Faktum als gegeben vorausgesetzt wurde, dass Gott sich selbst den
Menschen verständlich machen und erst in seiner Nachfolge befähigen kann, aber nicht darauf
reflektiert wurde, wie die unendliche Wahrheit Gottes und seines Logos imstande sein kann,
sich in dem engen Gefäß menschlicher Logik nicht nur vage und annähernd sondern adäquat
auszudrücken.“1032 Grundlage dieses Nachdenkens über diese Zusammenhänge ist das Werk
Theologik I., in dem sich von Balthasar schon 1947 ontologisch mit der Wahrheit der Welt
auseinandersetzt. Von Balthasar entwickelt in seiner Theologie, die immer auf philosophische
Gedanken und Zusammenhänge angewiesen ist, ein Spiel zwischen menschlicher und
göttlicher Freiheit, zwischen menschlichem und göttlichem Logos, wobei Logos einmal eine
göttliche Person bezeichnen kann, ein anderes Mal die folgerichtige und verständliche Rede
über die Wahrheiten des endlichen und unendlichen Seins.
Der wesentliche Unterschied zwischen Heideggers und von Balthasar Logosverständnis liegt
im unterschiedlichen Seinsbegriff begründet und im unterschiedlichen Zugang zur Wahrheit
des Seienden. Genaueres hierzu wird in 5.11 folgen, wenn es um die Frage nach dem
Göttlichen geht.
1028
Andreas Luckner: Martin Heidegger: »Sein und Zeit«, S. 25.
Vgl. Thomas Schumacher. Perichorein. Zur Konvergenz von Pneumatologik und Christologik in Hans Urs
von Balthasars theodramatischem Entwurf einer Theologik. Wortmeldung 7 (München 2007), S. 22ff.
1030
Vgl. ebd. S. 26, Fußnote 61.
1031
Vgl. ebd. S. 11, Fußnote 1.
1032
Hans Urs von Balthasar: TL I, S. XXI.
1029
140
Heideggers Kritik der traditionellen Logik, aber auch der „Kalkülsprache“ basieren auf der
Überzeugung, dass das „hermeneutische Als“ das „apophantische Als“ übersteigt.1033 Eine
Kalkülsprache, wie sie Frege, Wittgenstein und Russel forderten, eine Sprache, die die
Mängel der natürlichen Sprache mit Hilfe einer Sprachnormierung im Sinne einer normierten
Syntax beseitigen könnte, könne es nach Heidegger nicht geben. Denn jede Kalkülsprache sei
angewiesen auf die Umgangssprache.
5.8 Wahrheit und Singularität
Singularität ist ein Begriff der von Balthasarschen, von der Metaphysik her geprägten
Philosophie und hebt die Bedeutung des einzelnen Menschen gegenüber der Gemeinschaft
hervor. Wenn Heidegger vom Menschen und der Bedeutung des Einzelnen schreibt,
verwendet er Begriffe, die in der von ihm entwickelten fundamental-ontologischen Blickbahn
liegen. Statt Singularität, Mensch oder Person gebraucht er die Begriffe Dasein und
Jemeinigkeit. Wie sieht Heidegger den Menschen im Unterschied zu von Balthasar? Diese
Frage lässt sich beantworten mit Hilfe des Humanismusbriefes, in dem Heidegger die Frage
nach dem Wesen des Menschen stellt und eine Antwort zu finden versucht. Heidegger
distanziert sich im Humanismusbrief von allen humanistischen Wesensbestimmungen des
Menschen. Ihnen wirft er vor, den Menschen als Exemplar seiner Art und Gattung als animal
rationale zu beschreiben, und zwar im Horizont der Unterscheidung von essentia und
existentia. Es gehe bei der Unterscheidung von essentia und existentia zugegebener Weise um
einen wirklichen Unterschied im Sein, gebe aber keine Antwort auf die Frage nach dem
Wesen des Menschen. Die Definition des Wesens des Menschen in der Metaphysik kommt
nach Heidegger aus der Seinstendenz des Verfallens.1034 Humanitas im Unterschied zur
animalitas sei laut Heidegger das eigenste Wesen des Menschen.1035 Humanitas wird von
Heidegger beschrieben als das „Stehen in der Lichtung des Seins“.1036 Der Mensch steht als
Ek-sistenz in der Lichtung des Seins. Das bedeutet für die Leiblichkeit des Menschen, dass
diese von der Ek-sistenz bestimmt wird.1037
5.9 Wahrheit und Gewissen
Heideggers Darstellung des Gewissens und der Schuld ist phänomenologisch und basiert auf
der Daseinsanalyse. Alle anderen Theorien über das Gewissen werden despektierlich als
„vulgär“ bezeichnet, also auch die von Balthasars.1038 Trotz dieser überheblichen Einstellung
Heideggers und ungeachtet des einmaligen und originellen philosophischen Ansatzes des
unbestritten genialen Denkers müssen kritische Fragen erlaubt bleiben. Als Einstieg zur Kritik
1033
Vgl. Udo Tietz: „Heidegger und Ludwig Wittgenstein. Diesseits des Pragmatismus – jenseits des Pragmatismus“. In: Dieter Thomä (Hrsg.) Heidegger Handbuch, S. 349.
1034
Vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Wege ins Ereignis. Zu Heideggers »Beiträgen zur Philosophie«, S.
334.
1035
Vgl. ebd. S. 336.
1036
Vgl. Martin Heidegger: „Brief über den Humanismus“ In: WM (GA 9), S. 325.
1037
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Wege ins Ereignis. Zu Heideggers »Beiträgen zur Philosophie«, S. 337.
1038
Vgl. SuZ (GA 2), S. 279.
141
eignet sich der Begriff der „Gewissensangst“. Das „eigentliche Selbst“ in einem Dauerzustand
der Angst zum Tode und das Gewissenhabenwollen als Bereitschaft zur Angst überfordern
zumindest die Menschen, die nicht heroisch veranlagt sind und setzt eine heroische Elite
voraus, die stets um Eigentlichkeit bemüht ist und sich dem Gerede, der Neugier und
überhaupt allem, was mit dem Man-selbst gemeint ist, rigoros entzieht: „Was könnte dem
Man, verloren in die besorgte, vielfältige »Welt«, fremder sein als das in der Unheimlichkeit
auf sich vereinzelte, in das Nichts geworfene Selbst.“1039 Diese Aussage wird noch ergänzt
durch die Vereinzelung des Daseins, die mit dem Gewissensruf verbunden ist, denn der Ruf
kommt nicht von einem anderen Dasein, sondern unerwartet und gegen den eigenen Willen
aus mir „und doch über mich“.1040 Folgt man hingegen Urs von Balthasars Analyse der Angst,
dann könnte der Gegensatz kaum deutlicher sein. Er begründet die Ablehnung der Angst im
Zusammenhang mit der Frage nach der Angst einiger Christen (beispielsweise Kierkegaards),
und zwar rigoros wie sein Gegenpart Heidegger, so zwar, dass im Lichte biblischer Aussagen,
die Angst eine unangemessene Befindlichkeit ist.
Auch hinsichtlich der Frage nach der Schuld ergibt sich ein Problem. Wie kann es sein, dass
das Dasein frei eine Schuld auf sich nehmen soll, für die es nichts kann als ins Dasein
geworfenes Sein? Das klingt nach einer Theologie der ererbten Schuld (analog zur Erbsünde).
Das Dasein ist aber nicht verantwortlich für sein Sein. Weshalb sollte es dann schuldig sein?
Auch von Balthasar spricht von der Verantwortung des Menschen gegenüber der Wahrheit.
Er sieht den Menschen als kontingentes Sein, als einen, der Zeugnis geben soll für die
Wahrheit. Als ethisch oder unethisch Handelnder kann sich der Mensch frei entscheiden, ob
er die Wahrheit zum Ausdruck bringt oder nicht. Er macht sich schuldig, wenn er dem Ruf
Gottes nicht folgt. Das ergibt sich aus der Balthasarschen Interpretation der Ignatianischen
Exerzitien. Der Ruf ist bei von Balthasar nicht anonym und unerwartet bzw. gegen den
eigenen Willen, sondern ergeht von Gott an den Hörer des Wortes, und der Mensch
entscheidet, ob er dem Ruf Gottes folgen will oder nicht. In der „Trilogie“ stellt von Balthasar
das, was zwischen Gott und den Menschen geschieht, als Drama dar. In diesem Drama ist
Gott sozusagen der Regisseur, und der Mensch übernimmt entweder frei die Rolle, die ihm
Gott zuordnet oder er lehnt diese Rolle ab und macht sich damit schuldig.
Ferner gibt uns das Gewissen keine konkreten Handlungsanweisungen. Das Dasein wird im
Unklaren darüber gelassen, wie es konkret handeln soll. Es wird nur allgemein dazu
aufgerufen, es selbst zu sein, d.h. sich entschlossen der jeweiligen Situation zu stellen und so
eine Handlungssituation zu erschließen (verstehen).1041 D.h., das Dasein steht in seiner
Jemeinigkeit vor der Entscheidung, aus den anstehenden Möglichkeiten auszuwählen (auf
diese Weise schuldig zu werden) und heldenhaftes Verhalten auf dem Weg zur Eigentlichkeit
zu beweisen. Das faktische Ideal des Daseins besteht in dem Helden, der sich für die
1039
Ebd., S. 367f..
Vgl. ebd., S. 366.
1041
Vgl. Andreas Luckner: Martin Heidegger: »Sein und Zeit«, S. 148.
1040
142
Wahrheit des Seins opfert.1042 Allerdings wissen wir nicht, wie die Wahrheit des Seins
inhaltlich zu bestimmen ist. Genügt es vielleicht, wenn das Selbst die Wahrheit des Seins auf
die Weise erfährt, indem es sich all dem entzieht, was mit dem Man-selbst zu tun hat?
Konkretes Verhalten kann hier nicht abgelesen werden. In den Beiträge[n] zur Philosophie
heißt es dazu: „[…] der Mensch, da-seinsmäßig begriffen, gründet sein Wesen auf den
Entwurf des Seins und hält sich deshalb in allem Verhalten und jeder Verhaltenheit im
Bereich der Lichtung des Seyns. Dieser Bereich jedoch ist durch und durch nicht menschlich,
d.h. nicht bestimmbar und nicht tragbar durch das animal rationale und ebenso wenig durch
das Subjektum. Der Bereich ist überhaupt kein Seiendes, sondern gehört der Wesung des
Seyns.“1043
Hans Urs von Balthasar ist konkreter, indem er als Exerzitienmeister auf die Ignatianischen
Exerzitien verweist, die zusammengefasst dafür werben, in Freiheit die Wahl Gottes, die er
für jeden Spieler (Menschen) trifft, zu wählen. Diese Wahl Gottes ist dem Menschen
vorgegeben im persönlichen Gewissensentscheid und anhand der Gebote, von denen das
Liebesgebot alle anderen überragt. Im Zweifelfall wird empfohlen, den Rat der Kirche
einzuholen. Das Sichrichten nach den Weisungen Gottes ist als Ruf Gottes zu verstehen, dem
der Mensch frei zustimmen oder den er auch schuldhaft ablehnen kann.
Schließlich ordnet Heidegger die Begriffe Gewissen und Schuld nicht der Theologie,
Soziologie, Anthropologie zu, da diese nach ihm am Phänomen des Gewissens
vorbeigehen.1044 Bestrafen macht in der Rechtsprechung allerdings nur dann Sinn, wenn auch
eine persönliche Schuld vorliegt. Da aber Heidegger den Begriff der Schuld nicht als eine
Kategorie der Moral oder Anthropologie etc. betrachtet, benutzt er einen mit dem in der
Rechtsprechung oder Ethik bzw. Moral nicht vertretbaren Gebrauch des Begriffs Schuld. Er
bleibt auch in diesem Zusammenhang seiner phänomenologischen Daseinsanalyse treu, die
immer auf die entsprechende Fundierung verweist.
5.10 Wahrheit und Ästhetik
Über das, was Heidegger und von Balthasar über Wahrheit und Ästhetik zu sagen haben,
wurde schon im Rahmen dieser Studie in verschiedenen Zusammenhängen nachgedacht.
Beide Denker haben mit ihren Entwürfen großen Einfluss ausgeübt bis auf den heutigen Tag.
Heideggers Werk „Der Ursprung des Kunstwerkes“ steht neben Benjamins „Das Kunstwerk
im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit“ und Adornos Ästhetischer Theorie als wichtigste
Beiträge der Philosophie des 20. Jahrhunderts zu diesem Thema.1045 Hans Urs von Balthasar
nimmt mit seinen Gedanken zur Wahrheit und Ästhetik eine Sonderstellung innerhalb der
katholischen Theologie ein, denn er baut als Einziger sein theologisches Hauptwerk auf den
Transzendentalien auf, wobei der Schönheit und Herrlichkeit eine herausragende Bedeutung
1042
Vgl. Martin Heidegger: Parmenides (GA 54), S. 249.
Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (GA 65), S. 489f.
1044
Vgl. Andreas Luckner: Martin Heidegger: »Sein und Zeit«, S. 116.
1045
David Espinet – Tobias Keiling (Hrsg.): Heideggers Ursprung des Kunstwerks, S. 11 (Vorwort).
1043
143
zukommt. Vom seynsgeschichtlichen Ereignisdenken ausgehend formuliert Heidegger bezugnehmend auf die „Bauernschuhe“ von V. van Gogh und auf C.F. Meyers Gedicht „Der
römische Brunnen“:„Im Werk ist die Wahrheit am Werk, also nicht nur ein Wahres. Das Bild,
dass die Bauernschuhe zeigt, das Gedicht, das den römischen Brunnen sagt, bekunden nicht
nur, was dieses vereinzelte Seiende als dieses sei, falls sie je bekunden, sondern sie lassen
Unverborgenheit als solche in Bezug auf das Seiende im Ganzen geschehen.“1046 Heidegger
bleibt auch nach der Wende Phänomenologe. Auch in „Der Ursprung des Kunstwerkes“ gilt
Heideggers Wahrheitsverständnis, das er schon in Sein und Zeit vorgestellt hat, nämlich dass
Wahrheit als Übereinstimmung eine Verstellung der Wahrheit als Unverborgenheit
bedeutet.1047
Obwohl Heidegger mit Hilfe seines Wahrheitsverständnisses eine Überwindung der Ästhetik
anstrebt, kann keine Rede davon sein, dass er das Schöne ablehnt, sondern er zögert nur, den
Begriff der Schönheit zu verwenden, wie aus dem Nachwort des Kunstwerkaufsatzes zu
ersehen ist. Dort heißt es: „Die Wahrheit ist die Wahrheit des Seins. Die Schönheit kommt
nicht neben dieser Wahrheit vor. Wenn die Wahrheit sich ins Werk setzt, erscheint sie. Das
Erscheinen ist – als dieses Sein der Wahrheit im Werk und als Werk – die Schönheit. So
gehört das Schöne in das Sichereignen der Wahrheit.“1048 Heidegger sieht also einen
Zusammenhang zwischen Wahrheit und Schönheit. Die Kunst könne nicht aus der Schönheit
„für sich genommen“ begriffen werden. Schönheit hängt mit Scheinen zusammen. „Das ins
Werk gefügte Scheinen ist das Schöne.“1049 Heidegger verdeutlicht dies am Beispiel des
Gedichtes „Ein Winterabend“ von G. Trakl: „Diese Schönheit erhöht den Reiz des Gedichtes
und bekräftigt die ästhetische Vollendung des Kunstgebildes.“1050
Auch von Balthasar sieht einen Zusammenhang zwischen dem Wahren und dem Schönen.
Bei ihm kommt der Schönheit eine wichtigere Bedeutung zu als bei Heidegger, dessen
Gedanken in Zusammenhang mit Kunstwerken doch ganz deutlich dem Thema Wahrheit
gewidmet sind. Heidegger beschäftigt sich ausschließlich mit der Wahrheit und Schönheit des
endlichen Kunstwerkes. Von Balthasar philosophiert sowohl über die Schönheit der
Schöpfung, der Dichtung und der Musik, sieht diese aber auch als Gleichnisse des ewigen
Seins. Von Balthasar betrachtet dazu in einer Reihe mit dem Wahren und Schönen auch das
Gute. Dieses Bewusstsein des Zusammengehens des Wahren, Guten und Schönen als
transzendentalen Eigenschaften alles Seienden führt er zurück auf die Erfahrung des Kosmos
bei den Griechen. Er legt die Methode der Integration und der Inklusion und nicht der
Evolution seiner Verhältnisbestimmung zwischen christlichem und griechischem Verständnis
des Schönen bzw. Herrlichen zugrunde. D.h. die christliche Philosophie und Theologie
widerlegt nicht einfach das griechische Verständnis des Kosmos, sondern bestätigt sie, so
1046
Martin Heidegger: „Der Ursprung des Kunstwerkes“. In: HW (GA 5). S. 43.
Vgl. ebd., S. 39.
1048
Ebd., S. 69.
1049
Ebd., S. 43.
1050
Martin Heidegger: „Die Sprache“. In: US, S. 18.
1047
144
zwar, […] „dass der Mensch alle seine Vorentwürfe von endgültigen Entwürfen Gottes
eingeholt und weit überholt sieht.“1051 Heidegger würde dieser Interpretation vehement
widersprechen. Einerseits erkennt er an, dass Wahrheit und Schönheit zusammengehen, aber
er lehnt es ab, von transzendentalen Eigenschaften des Seins zu sprechen. Er distanziert sich,
wie im Folgenden unter der Überschrift „Wahrheit und die Frage nach dem Göttlichen“ noch
dargestellt wird, vom Gebrauch griechischer Philosophie bei der Erklärung des christlichen
Glaubens.1052
Sehr aufschlussreich ist auch, welche Bedeutung Sprache und Dichtung dem
Wahrheitsdenken beider Denker zukommt. Während der Germanist, Philosoph und Theologe
von Balthasar sich nicht nur mit der Dichtung Goethes, Rilkes, Trakls, Claudels u.a.
auseinandersetzte und Inspiration für seine Suche nach den logoi spermatikoi fand und diese
inklusiv in seine Philosophie und Theologie integrierte, kommt bei Heidegger vor allem nach
der Kehre die Bedeutung der Dichtung Hölderlins, Rilkes, Georges u.a. als Quelle seines
Denkens in die seynsgeschichtlicher Blickbahn. Er weist der Dichtung einen Vorrang unter
den Kunstgattungen zu. Der Sprache kommt also eine herausragende Bedeutung zu.
Heidegger zitiert Novalis in Unterwegs zur Sprache: „Gerade das Eigentümliche der Sprache,
dass sie sich bloß um sich selbst bekümmert, weiß keiner.“1053 Nach Heideggers Interpretation
ist das Eigentümliche das Besondere der Sprache.1054 An anderer Stelle bemerkt Heidegger
zum Besonderen der Sprache: „Das Wesende der Sprache ist die Sage als die Zeige.“ 1055 D.h.,
dass wir beim Sprechen auf die Sprache hören und von ihr her sprechen, und zwar das, was
sie sagend uns zeigt.1056
5.11 Wahrheit und die Frage nach dem Göttlichen
Dass von Balthasar einen Zusammenhang zwischen Wahrheit und Gott herstellt, ist eine
Selbstverständlichkeit. Aber auch im Falle Heideggers darf nicht vergessen werden, dass sein
Bildungsweg kirchlich geprägt war und er zeitlebens auf der Suche nach dem „Göttlichen“
war. Zunächst war er der Wahrheit der katholischen Kirche verbunden. Erst relativ spät löste
er sich vom „System des Katholizismus“, und zwar erst zwischen 1916 und 1919. Deutlich
wird die Trennung in einem Brief (9. Januar 1919) an den befreundeten Freiburger Theologen
Engelbert Krebs, in dem er zum Ausdruck bringt, dass er im Rahmen des Christlichen bleibt,
aber dass ihm die rational-theoretische Durchgestaltung des katholischen Christentums nicht
1051
Markus Enders: „»Alle weltliche Schönheit ist für den antiken Menschen die Epiphanie göttlicher Herrlichkeit«. Zur vorchristlichen Wahrnehmung des Schönen in der heidnischen Antike nach Hans Urs von Balthasar“.
In: Walter Kardinal Kasper (Hrsg.): Logik der Liebe und Herrlichkeit Gottes. Hans Urs von Balthasar im Gespräch (Ostfildern 2006), S. 30.
1052
Rainer Thurnher: „Heideggers Distanzierung von der metaphysisch geprägten Theologie und Gottesvorstellung“. In: Norbert Fischer – Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hrsg.): Die Gottesfrage im Denken Heideggers
(Hamburg 2011), S. 175-194, hier S. 176.
1053
Vgl. Martin Heidegger: „Der Weg zur Sprache“. In: US, S. 265.
1054
Vgl. ebd.
1055
Ebd., S. 254.
1056
Vgl. ebd., S. 254f.
145
überzeugt.1057 Was eine christliche Philosophie betrifft, konnte er in der im Sommersemester
1920 gehaltenen Vorlesung Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks (GA 59)
noch von der wahrhaften Idee einer christlichen Philosophie sprechen. 1058 Im Wintersemester
1920/21 heißt es dann aber schon: „Philosophie muß in ihrer radikalen, sich auf sich selbst
stellenden Fraglichkeit prinzipiell a-theistisch sein. Sie darf sich gerade ob ihrer
Grundtendenz nicht vermessen, Gott zu haben und zu bestimmen. Je radikaler sie ist, umso
bestimmter ist sie ein weg von ihm, also gerade im radikalen Vollzug des »weg« ein eigenes
schwieriges »bei« ihm.“1059 Dieses Schwierige „»bei« ihm“ wird sich durchhalten bis zu
seinem Tod. In der gleichen Vorlesung (Wintersemester 1921/22) besteht Heidegger darauf,
dass die hermeneutische Philosophie des faktischen Lebens (sich der Gottesfrage enthalten
müsse. Der Ausdruck »prinzipieller Atheismus« ist kein dogmatischer Atheismus (Nichtsein
Gottes), sondern ein methodischer.1060 Von da an bis Sein und Zeit wird die Daseins-Analytik
in der theologischen Epoché durchgeführt, dass heißt in der Enthaltung von der Frage nach
Gott. In dem, im Erscheinungsjahr von Sein und Zeit (1927) gehaltenen Vortrag
„Phänomenologie und Theologie“ geht es unter anderem auch um die wichtige Frage nach
dem Verhältnis von Fundamentalontologie zur christlichen Theologie.1061 Es heißt dort: „Die
Philosophie ist das mögliche, formal anzeigende ontologische Korrektiv des ontischen, und
zwar vorchristlichen Gehaltes der theologischen Grundbegriffe.“ Drei Zeilen später lesen wir:
„Dieses eigentümliche Verhältnis schließt nicht aus, sondern eben ein, dass der Glaube in
seinem innersten Kern als eine spezifische Existenzmöglichkeit gegenüber der wesenhaft zur
Philosophie gehörigen und faktisch höchst veränderlichen Existenzform der Todfeind bleibt.“
Ebenso drastisch das abschließende Urteil: „Es gibt daher nicht so etwas wie eine christliche
Philosophie, das ist ein »hölzernes Eisen« schlechthin.“1062
Heideggers Wege haben sich radikal getrennt von dem, was er noch als Neuscholastiker als
Wahrheit erkannt hatte. Philosophisch gesehen hängt dieser Wandel von der Neuscholastik
zum prinzipiellen A-theismus mit dem Weg zum faktischen Lebensvollzug, zur
hermeneutische Phänomenologie des Daseins zusammen und findet in den zwanziger Jahren
ihren vorläufigen Abschluss in Sein und Zeit und im Vortrag „Phänomenologie und Theologie“. Diese Position wird Heidegger bis zur Kehre und danach beibehalten.
Bevor wir zum Ereignis-Denken vorstoßen, das den Rest seines Lebens bestimmt, muss noch
einmal auf Heideggers Metaphysikkritik, die auch den Gottesbegriff betrifft – besonders auf
1057
Friedrich-Wilhelm von Herrmann: „Die drei Wegabschnitte der Gottesfrage im Denken Martin Heideggers“.
In: Norbert Fischer – Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hrsg.): Die Gottesfrage im Denken Martin Heideggers.
(Hamburg 2011), S. 33.
1058
Vgl. Günther Pöltner: „Philosophie als »Korrektion« der Theologie. Heideggers Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Theologie“. In: Norbert Fischer – Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hrsg.): Die Gottesfrage im Denken Martin Heideggers, S. 84.
1059
Martin Heidegger: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die Phänomenologische Forschung (Frankfurt a.M. 1985) (GA 61, S 197.
1060
Vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: „Die drei Wegabschnitte der Gottesfrage im Denken Martin Heideggers“, S. 37.
1061
Vgl. ebd. S. 39.
1062
Martin Heidegger: „Phänomenologie und Theologie“. In: WM (GA 9). S. 66.
146
seine Kritik des Primats des Logos und auf die auf dem Hintergrund seines dreistufigen
Wahrheitsverständnisses zu verstehende Kritik der traditionellen Philosophie und des
Christentums – eingegangen werden.1063 Ohne ein genaueres Verständnis dieser Kritik ist
Heideggers Denken nicht zu verstehen.
In der traditionellen Metaphysik gilt der Logos als der ausschließliche Zugang zur Wahrheit
des Seienden und zur Erkenntnis Gottes. Heidegger kritisiert am metaphysischen Denken die
Verbindung zwischen Logos und Theologie. Er ist davon überzeugt, „dass der Logos
unvermerkt eine Selektion und bestimmte Strukturierung seiner Inhalte zur Folge hat und
somit keineswegs als ein neutrales Medium des Erkennens und der Darstellung gelten
darf.“1064 Für ihn ist der Logos ein abkünftiges und fundiertes Phänomen, „das zur Erfüllung
seiner Funktion eine primäre Erschlossenheit des Seienden bereits voraussetzt.“1065 Dieser
Primat des Logos führe zu dem von der griechischen Philosophie geprägten Gottesbild der
christlichen Theologie, die Gott 1. als summum ens, 2. als causa prima (causa sui) und 3. als
summum bonum begreift. Im Lichte des Logos werde das Sein als Anwesenheit bestimmt, so
dass bei Gott jedes Abwesen ausgeschlossen wird. Im Begriff, der Gott als causa prima
versteht, sieht Heidegger eine Verengung des Ursachenbegriffes als ein facere und
efficere.1066 Am schärfsten aber kritisiert er, wenn Gott als summum bonum bezeichnet wird.
Er bemerkt dazu: „Der letzte Schlag gegen Gott und die übersinnliche Welt besteht darin,
dass Gott, das Seiende des Seienden, zum höchsten Wert herabgewürdigt wird. Nicht dass
Gott für unerkennbar gehalten, nicht daß Gottes Existenz als unbeweisbar erwiesen wird, ist
der härteste Schlag gegen Gott, sondern daß der für wirklich gehaltene Gott zum obersten
Wert erhoben wird.“1067
Was Heideggers dreistufiges Wahrheitsverständnis angeht und zwar im Verständnis vor und
nach der Kehre, so gilt von Sein und Zeit bis zur Kehre Wahrsein „primär vom Dasein als
erschließenden und entbergenden, sekundär vom Seienden, das darauf erschlossen und
entborgen wird, und tertiär von der aufgrund einer Adäquation des Verstandes an das
entborgene Ding aufgestellten Aussagen über dieses.“1068 In Heideggers späteren Werken
verändert sich der Wahrheitsbegriff. Nicht mehr das Dasein als fundamentaler Ort innerhalb
der Wahrheitstheorie, sondern das Sein selbst in seiner Wahrheit und in seinem Wesen ist der
eigentliche Akteur.1069
Entbergen und Verbergen werden jetzt als Geschehen des Seins bzw. als Geschick des Seins
interpretiert. Der Mensch ist als Dasein in dieses Geschehen und Geschick hineingeschickt
1063
Vgl. Rainer Thurnher: „Heideggers Distanzierung von der metaphysisch geprägten Theologie und Gottesvorstellung“, S. 179.
1064
Ebd.
1065
Ebd., S. 186.
1066
Vgl. ebd., S. 181.
1067
Martin Heidegger: „Nietzsches Wort »Gott ist tot«“. In: HW (GA 5), 259f.
1068
Johannes Brachtendorf: „Heideggers Metaphysikkritik in der Abhandlung: Nietzsches Wort »Gott ist tot«“.
In: Norbert Fischer – Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hrsg.): Die Gottesfrage im Denken Martin Heideggers,
S. 110.
1069
Vgl. ebd.
147
und sein Auftrag ist es, dem Geschehen und Geschick zu entsprechen.1070 Heidegger ist auf
seinem Denkweg in der seynsgeschichtlichen Blickbahn.
Wie sucht Heidegger nun die Onto-theologie zu überwinden? Er setzt phänomenologisch, wo
es um Gott und das Göttliche geht, bei der Befindlichkeit an, bei der Stimmung der
Betroffenheit durch die Gottferne. Diese Stimmung beinhaltet Gefühle des Leergelassenseins
und der Heimatlosigkeit.1071 Der Unterschied zum Atheismus ist, dass der Atheismus die
Existenz Gottes leugnet, während Heidegger als Ausgangspunkt seiner Überlegungen vom
Sich-Entzogen-Haben des Göttlichen (Entzug Gottes) ausgeht. Von da aus geht der Blick
zurück auf ein Dagewesensein, auf das Fehlen Gottes in der Gegenwart und nach vorne auf
eine als möglich gedachte Ankunft.1072 Es geht also wie bei Heideggers Inspirationsquelle
Hölderlin um Abwesenheit, die nicht mit dem nicht Existierenden verwechselt werden darf.
Im Gegensatz zu Heidegger fragt von Balthasar nach der Wahrheit Gottes im Rahmen der
philosophia perennis. Die weltliche Wahrheit ist kontingent und nimmt teil an der göttlichen.
Balthasars Hauptanliegen ist nicht in erster Linie eine Dekonstruktion des Christentums und
seines Gottesbilds, sondern ihm geht es in seiner phänomenologische Hermeneutik, die sich
an Gestalten und an der Seinsphilosophie orientiert, um eine Neuinterpretation des
Christentums für unsere Zeit. Dabei scheut er sich nicht, die logoi spermatikoi aufzugreifen,
wo immer er sie finden konnte. Auch er läßt sich bei seinem Streben nach der Wahrheit von
der Dichtung inspirieren, was gleichermaßen Konsequenzen für sein Verständnis des
Seinsbegriffs und der innertrinitarischen Dynamik des göttlichen Lebens hat. Die Wahrheit
des Seins erkennt er nicht in seynsgeschichtlicher Blickbahn. Gott entzieht sich dem Dasein
nicht wie im Denken Heideggers, er ist nicht bestimmend wie das Seyn, sondern Gott ist der
Gott der Liebe, der sich als Schöpfer des kontingenten Seins dem Menschen zu erkennen gibt
und die Freiheit lässt, auf seinen Ruf zu hören. Von Balthasar unterscheidet zwischen
endlichem und unendlichem Sein. Das Sein zum Tode ist kein Sein zum Ende, geprägt von
der Angst, sondern von der Hoffnung auf eine Begegnung mit Gott. Von Balthasar schätzt
Heideggers philosophische Arbeit als fruchtbaren Ansatz „für eine mögliche Philosophie der
Herrlichkeit“.1073
5.12 Fazit
Die Gegenüberstellung der jeweiligen phänomenologischen Methode der beiden Denker
ergab, dass beide auf unterschiedliche Weise zu den Sachen selbst vorzudringen versuchten,
um die Wahrheit der Welt entdecken zu können. Was beide Ansätze unterscheidet ist die
Seinsphilosophie. Von Balthasar weist mit seiner wiederholt erwähnten Realdistinktion darauf
hin, dass der actus essendi, „der Akt, der macht, dass das einzelne Seiende existiert, weder
1070
Vgl. ebd., S. 111.
Vgl. Rainer Thurnher: „Heideggers Distanzierung von der metaphysisch geprägten Theologie und Gottesvorstellung“. In: Norbert Fischer – Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hrsg.): Die Gottesfrage im Denken Martin
Heideggers, S. 187.
1072
Vgl. ebd., S. 189.
1073
Vgl. Hans Urs von Balthasar: H III/1, S. 786.
1071
148
identisch mit der Summe alles Seienden, noch selbst ein Seiendes ist. Darin liegt die
Nichtsubsistenz des geschöpflichen Seins.“1074 Heideggers Seinsphilosophie ist so komplex,
dass selbst Gadamer sein Nichtverständnis einräumen muss. Deshalb wird im Rahmen der
Kritik der Heideggerschen Seinsphilosophie noch entsprechender Raum zur Verfügung
gestellt, um sich Heideggers Seinsphilosophie in einem Versuch noch einmal
zusammenfassend zu nähern.
Heidegger lehnt in seinem holistischen Ansatz die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt
ab. Aber auch von Balthasar trennt Subjekt und Objekt nicht in der Weise, wie es Heidegger
der traditionellen Philosophie unterstellt. Heidegger weist den Begriff animal rationale für
den Menschen zurück, denn er treffe nicht den Kern der „Humanitas“. Für Heidegger ist das
Dasein ein Sein zum Tode und die Angst die Voraussetzung für die „Eigentlichkeit“ des
Seinkönnens in einer für das Dasein endlichen Welt. Dagegen sieht von Balthasar die
Eigentlichkeit des Daseins (philosophisch) dadurch verwirklicht, dass der Mensch der
Wahrheit in jeder Situation seines Lebens gerecht wird und theologisch im wahren Christsein,
das darin besteht, die eigene Existenz an die Jesus-Geschichte anzugleichen.1075 Das Sein zum
Tode ist für ihn nicht mit Angst besetzt, sondern er bejaht die Schöpfung und unterstellt sich
glaubend, liebend, hoffend der Barmherzigkeit Gottes, der ein Gott der Liebe ist.
Alle wichtigen Begriffe, die in diesem Kapitel mit der Wahrheit des Seins in Verbindung
gesehen und betrachtet wurden, wie beispielsweise Wahrheit, Logik, Zeit, Geheimnis,
Freiheit, Ästhetik, Gewissen, Gott können bei Heidegger nur unter Berücksichtigung seiner
phänomenologischen Hermeneutik verstanden werden. Sie sind jeweils nicht im Sinne der
traditionellen Philosophie verständlich, sondern finden ihre Fundierung in der Wahrheit des
Seins, zunächst in fundamentalontologischer Blickrichtung, nach der Wende in
seynsgeschichtlicher Sichtweise. Heidegger fundiert die Wahrheit letztendlich in der
„Lichtung des Seins“, die Logik in einer primären Erschlossenheit des Seienden, die lineare
Zeitauffassung in der ekstatisch-horizontalen Zeitauffassung, die Handlungsfreiheit in der eksistenten Freiheit, das Gewissen als Seinsmodus der Rede im Dasein als In-der-Welt-sein.
Was die Ästhetik betrifft, so bekämpft Heidegger die Vorstellung des Seienden als des
gegenständlich Vorstellbaren. Stattdessen zielt er ab auf die Welt in ihrer
Bedeutungsganzheit, die dem Dasein im praktischen Vollzug erschlossen ist, d.h. die Ästhetik
hat ihren Grund in der Lichtung des Seins.
Von Balthasar fundiert alle genannten Begriffe (Wahrheit, Logik, Zeit usw.) in der endlichen
Wahrheit und die endliche Wahrheit in der Wahrheit Gottes. Vor allem die Suche nach Gott
und dem Göttlichen als wichtigster Teil der Wahrheitsanalyse wird bei beiden Denkern in
verschiedener Weise verstanden. Obwohl von Balthasar mit dem Terminus „Sein“ nicht
1074
Karl-Heinz Menke: „Trotz dieser Polemik: Worauf es von Balthasar ankommt“. In: Wenn das Salz dumm
wird. 100 Jahre Hans Urs von Balthasar – und immer noch nicht genug? DOKUMENTATION des Symposions
zum 100. Geburtstag von Hans Urs von Balthasar am 01.06.2005 (Universität Bonn): http://www.ktf.unibonn.de/Einrichtungen/dogmatik-u-propaedeutik/Dokumentation.pdf (letzter Aufruf: 10.07.2015).
1075
Vgl. ebd., S. 33.
149
dasselbe versteht wie die griechischen Philosophen Parmenides, Platon oder Aristoteles, sieht
er die griechische Philosophie als eine der entscheidenden Voraussetzungen für das
Verständnis der Selbstoffenbarung Gottes.1076 Dagegen nimmt Heidegger Abstand von der
griechischen Philosophie und vom „Gott der Philosophen“ überhaupt, die nach seiner Ansicht
„Gott als Inhalt des bestimmenden Denkens und Vorstellens“ beschreiben und „die
Dimension der lebendigen Begegnung zwischen Gott und Mensch“ nicht hinreichend
beachten.1077 Heideggers Distanz zur christlichen Philosophie und noch einmal verschärft zur
katholischen Theologie gilt auch dem Bestreben, seine Unabhängigkeit als Philosoph
aufzuweisen. Von Balthasar ist in erster Linie Theologe, der als hervorragender Kenner der
Philosophie weiß, dass die Theologie der Philosophie bedarf, um die Selbstoffenbarung
Gottes adäquat vermitteln und übersetzen zu können in die jeweilige Sprache der Zeit. Die
Frage, ob von Balthasar die Seinsphilosophie Heideggers so erfasst hat, dass Heidegger nicht
widersprochen hätte oder vielleicht – unbekannterweise – widersprochen hat, kann leider
nicht beantwortet werden, da sich Heidegger nicht zu von Balthasar geäußert hat. Jedenfalls
spielen für von Balthasar die beiden Seinsphilosophen Thomas von Aquin und Heidegger in
seiner „Trilogie“ und noch einmal in seinem Epilog zur theologischen Trilogie eine wichtige
Rolle. Werner Löser1078 weist in diesem Zusammenhang auf zwei zentrale Textabschnitte aus
von Balthasars Epilog und Herrlichkeit III hin: „Die Wirklichkeit (esse) kann nur eine sein
[…], sofern sie ,completum et simplex‘ ist. Aber anderseits subsistiert sie nicht in sich,
sondern in einer Unzahl von Wesen, und verleiht jedem von ihnen seine wesenhafte
(substantielle) Einheit. Gewiss kann der ordnende Verstand diese Einheiten durch
Vergleichen in Arten und Gattungen einteilen, aber weder Art noch Gattung substitiert als
solche, sondern nur das, was man mit Recht das Unteilbare, In-dividuum nennt. Auch hier
herrscht ein gegenseitiges Sich-beschenken: das Sein gibt dem Wesen seine Unteilbarkeit, das
Wesen gibt dem Sein (als bloß schwebende in sich keinen Halt findende Wirklichkeit) seine
Verwirklichung. Insofern ist das Sein immer sowohl das Allgemeinst-Geltende, alles Endliche
unendlich Umfassende, wie das je-Besondere, das so einmalig ist, das es unter nichts
eingeordnet werden kann.“1079
Von Balthasar kann Heidegger nicht folgen, da Heidegger die ontologische Differenz in der
Perspektive der Endlichkeit interpretiert. Der Ausgangspunkt seines Denkweges im Dialog
mit Heidegger und Thomas von Aquin war, wie wir bereits gesehen haben, von Balthasars
Begegnung mit seinem Mentor Przywara, einem guten Kenner Husserls und Heideggers.
Hinzu kamen nach Wahrheit der Welt Anregungen durch die Philosophie Gustav Siewerths,
1076
Vgl. ebd., S. 30.
Vgl. Rainer Thurnher: „Heideggers Distanzierung von der metaphysisch geprägten Theologie und Gottesvorstellung“. In: Norbert Fischer – Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hrsg.): Die Gottesfrage im Denken Martin
Heideggers, S. 182.
1078
Vgl. Werner Löser SJ: „Der christliche Beitrag zur Metaphysik. Hans Urs von Balthasar im Gespräch mit
Martin Heidegger“, S. 27.
1079
Hans Urs von Balhasar: Epilog, S. 43f.
1077
150
die als Voraussetzung der metaphysischen Anteile der Trilogie zu werten sind.1080 Das
Ergebnis war die Entwicklung einer in vier Schritten entfalteten Differenz als Alternative zu
Heidegger, eine Weiterentwicklung dessen, was schon in Wahrheit der Welt angelegt war,
aber dann seine Reifegestalt in Herrlichkeit III. fand: „Ich finde mich vor in der Welt, in
deren gegenstehende Notwendigkeit mein zufälliges Dasein sich nicht als pars integralis
einfügt. Aber alle Seienden sind im analogen Fall, da sie sich- als Teile wie als Weltganzesnicht als partes integrales in das Sein einfügen. Hieran bricht das Dritte auf: dass das Sein im
ganzen oder das Wirklichsein alles Wirklichen die wirklichen Wesenheiten nicht aus sich
selber entlässt, weil verantwortendes Auszeugen von Formen selbstbewussten freien Geist
voraussetzen würde. Es ist deshalb unmöglich, mit Heidegger die Differenz zwischen
Seiendem und Sein als ein letztes, in sich selbst beruhigtes Mysterium schweben zu lassen;
gerade sie weist gebieterisch über sich hinaus auf die vierte und letzte Differenz, die einzig
auf die anfängliche Frage [Warum ist überhaupt Seiendes und nicht Nichts?] Antwort
verschafft. Durch die ontologische Differenz (die in ihrer systematischen Tragweite sich nicht
wesentlich von der thomistischen distinctio realis entfernt) muss der Blick durchzudringen
suchen auf die Differenz zwischen Gott und Welt, worin Gott der einzig zureichende Grund
sowohl für das Sein wie für das Seiende in seiner Gestalthaftigkeit ist.“1081 In diesen Texten
ist von Balthasars Seinsphilosophie und damit seine Jahrzehnte dauernde Bemühung, Thomas
von Aquin und Heidegger miteinander ins Gespräch zu bringen, noch einmal wie in einem
Focus zusammengefasst,.
1080
Vgl. Werner Löser SJ: „Der christliche Beitrag zur Metaphysik. Hans Urs von Balthasar im Gespräch mit
Martin Heidegger“, S. 29.
1081
H III/1, S. 954.
151
6 Kritik von Seiten der Philosophie und Theologie an Martin Heideggers und Hans Urs von Balthasars Wahrheitsverständnis
Kritische Stimmen in größerem Umfang zum Wahrheitsverständnis Heideggers hat es von
Anfang an gegeben. Theologen und Philosophen u.a. haben sich mit Heideggers Positionen
auseinandergesetzt. Allerdings sind die Kritiker Heideggers aus den Reihen der Philosophen
in der Überzahl. Die theologische Kritik sowohl auf Seiten der evangelischen als auch der
katholischen Theologie fiel wesentlich gemäßigter und positiver aus, wenn es auch den einen
oder anderen Theologen gab, der Heideggers Philosophie als unchristlich ablehnte. Weniger
zahlreich sind ablehnende Kritiken zu Hans Urs von Balthasar; die kommen allerdings
hauptsächlich von theologischer Seite. Von Seiten der Philosophie scheint mir nur von
größerem Interesse die Auseinandersetzung Hans Urs von Balthasars mit Karl Rahner, der
philosophisch eine an Kant orientierte Transzendentalphilosophie vertrat, während von
Balthasar mehr an der Philosophie des Thomas von Aquin und an Goethe orientiert war und
weniger an Kant und Fichte und der als universal gebildeter Germanist, Philosoph und
Theologe die ganze abendländische Geistesgeschichte immer als Ganzes im Auge hatte und
deshalb in der Lage war, den Ursprung jedes philosophischen Gedankens zu erkennen und
jeden philosophischen Gedanken zu überprüfen und entweder zu integrieren oder
zurückzuweisen. Zur Zeit sind Heidegger und von Balthasar nicht so gefragt wie noch zu
Zeiten Karl Rahners und Kardinal Lehmanns, aber das kann kein Maßstab für die Beurteilung
sein.
6.1 Kritische Stimmen zu Martin Heidegger
Martin Heidegger hat neben Wittgenstein wie kein anderer deutschsprachiger Philosoph die
Intellektuellen jeglicher Couleur auf den Plan gerufen. Sein Buch Sein und Zeit hat die
intellektuelle Szene wie kein anderes berührt und angeregt, darauf zu antworten, entweder
zustimmend oder ablehnend. Das betrifft auch die Theologie, die sofort reagierte.
6.1.1 Theologische Kritik
Von Seiten der katholischen Theologie antwortete als erster Alfred Delph, der in seiner
Schrift Tragische Existenz von 1931 Heideggers Philosophie scharf attackierte. Er „deutet
Heidegger als den Vollender einer subjektivistisch verkürzten, den ontologischen Gottesbezug
des Menschen unterdrückenden Weltsicht.“1082 Auch Erich Przywara äußerte negative Kritik.
Das blieb so bis Mitte der 1930er Jahre, als eine neue Generation katholischer Theologen und
Philosophen in Freiburg („Freiburger Schule“) sich zu Heidegger äußerte, beispielsweise M.
Müller, G. Siewerth, J. B. Lotz, K. Rahner, B. Welte.1083 Exemplarisch wird im Folgenden
1082
Matthias Jung: „Heidegger und die Theologie. Konstellation zwischen Vereinnahmung und Distanz“. In:
Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch, S. 478.
1083
Vgl. ebd.
152
näher auf Bernhard Welte und an späterer Stelle auch auf Karl Rahner eingegangen werden.
Bernhard Welte ist deshalb wichtig, weil er Heidegger auf katholischer Seite am Positivsten
gegenüberstand.1084
Bevor Weltes Verhältnis zu Heidegger zur Sprache kommt, ein kurzer Blick auf das
Verhältnis der evangelischen Theologie zu Heidegger. Aus der Marburger Zeit ist hier vor
allem Rudolf Bultmann zu nennen, der als Vertreter einer „existenzialen“ und „dialektischen“
Theologie wie Heidegger ein Verhältnis von Philosophie und Theologie ablehnte und an
Heidegger sich anlehnend sich bemühte, die Theologie neu zu interpretieren. 1085 Hier kann
nicht speziell auf Bultmanns theologische Rezeption der Philosophie Heideggers eingegangen
werden, weil das den Rahmen der Dissertation sprengen würde. Ich möchte nur auf Karl
Barth hinweisen, der als der bekannteste evangelische Theologe des letzten Jahrhunderts
Stellung zu Bultmann und Heidegger bezogen hat. Karl Barth und andere evangelische
Theologen sind davon überzeugt, dass durch Bultmann die Theologie der Philosophie
unterworfen werde.1086 Außerdem weisen sie Bultmanns „Unterscheidung zwischen dem
methodisch-neutralen A-theismus der Daseinsanalyse und existenzieller Ungläubigkeit“1087
zurück. Karl Barth wendet sich auch ganz dezidiert gegen Heidegger und Satre in der
Auseinandersetzung mit Heideggers Antrittsvorlesung „Was ist Metaphysik?“ Er wirft ihnen
unter der Überschrift „Gott und das Nichtige“ vor, das Nichts zu einem Gottesersatz gemacht
zu haben.1088 In den frühen sechziger Jahren entwickelt eine neue Generation evangelischer
Theologen wie Gerhard Ebeling und Ernst Fuchs auf den Spuren Gadamers, eines
Meisterschülers Heideggers, eine hermeneutische Theologie. Es geht darum, dass im Rahmen
der biblischen Verkündigung „das Ausgelegtwerden des Textes“ in ein „Ausgelegtwerden
durch den Text“ umschlägt.1089
Auf katholischer Seite verdient Bernhard Welte eine besondere Beachtung, weil sein
Verhältnis zu Heidegger durch Vertrautheit gekennzeichnet war. Beide kamen aus dem Ort
Meßkirch. Zeitlebens stehen sie in Kontakt. Heidegger nimmt positiv Stellung zu Weltes
Interpretationen seiner Philosophie. Welte hat sich mehr als beispielsweise Rahner auf
Heidegger eingelassen und zu ihm veröffentlicht.1090 Auf Wunsch Heideggers übernimmt
Welte die liturgische Gestaltung der Beerdigung Heideggers und interpretiert Verse aus
1084
Vgl. Albert Raffelt: „Martin Heidegger und die christliche Theologie. Eine Orientierung mit Blick auf die
katholische Rezeption“. In: Norbert Fischer – Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hrsg.): Die Gottesfrage im
Denken Martin Heideggers, S. 208.
1085
Vgl. Matthias Jung: „Heidegger und die Theologie. Konstellation zwischen Vereinnahmung und Distanz“, S.
476.
1086
Vgl. ebd., S. 477.
1087
Vgl. ebd.
1088
Vgl. ebd., 478.
1089
Vgl. ebd.
1090
Vgl. Albert Raffelt: „Martin Heidegger und die christliche Theologie. Eine Orientierung mit Blick auf die
katholische Rezeption“, S. 207.
153
Hölderlins Gedichten.1091 Wichtige Impulse Heideggers auf Weltes religionsphilosophisches
bzw. dogmatisches Denken sollen aufgezeigt werden. Dabei übernimmt Welte nicht einfach
nur „geeignet erscheinende Philosopheme und Argumentationsfiguren Heideggers“,1092 um
sie in sein eigenes System einzubauen, sondern er versucht, Heidegger von innen heraus zu
verstehen. Überzeugend lässt sich das erkennen bei der Interpretation der Daseinsanalyse
Heideggers am Terminus des „Nichts“. Diesen Terminus übernimmt Welte als
hermeneutischen Schlüsselbegriff für seine Religionsphilosophie, indem er sich eng an
Heidegger anlehnt und den Begriff positiv besetzt, um von der Erfahrung des Nichts eine
neue Weisung zum nachmetaphysischen Denken Gottes zu bekommen. Als Dogmatiker und
Religionsphilosoph setzt sich Welte in diversen Beiträgen zur Seinsphilosophie Heideggers
seit 1948 mit dem Terminus „Nichts“ im Anschluss an Heidegger auseinander, um eine neue
Basis für das Denken über Gott zu legen: „Man darf nicht von der Angst reden, ohne den
zugehörigen Begriff des Nichts ins Auge zu fassen. Ja, wir werden bald sehen, dass innerhalb
der Korrelation »Angst – Nichts« das Nichts einen eindeutigen ontologischen Vorrang
hat.“1093.
Das Nichts erschließt sich dem Menschen als Phänomen und ist das Fundament jeglichen
Seins-und Wahrheitsverständnisses: „Was sich phänomenal als »Nichts« kundtut, ist das, was
Seiendes als Seiendes (on he on) und damit dessen Offenbarkeit (a-letheia) ermöglicht. Es ist
damit das alle Wahrheit und alles Wissende Gründende und Stiftende: »Einzig weil das
Nichts im Grunde des (menschlichen) Daseins offenbar ist, kann die volle Befremdlichkeit
des Seienden über uns kommen. Nur wenn die Befremdlichkeit des Seienden uns bedrängt,
weckt es und zieht es auf sich die Verwunderung. Nur auf dem Grund der Verwunderung –
das heißt der Offenbarkeit des Nichts – entspringt das >Warum?< […]« [M. Heidegger: Was
ist Metaphysik (GA 9, S. 121)].“1094
In der am Ende seines Denkweges veröffentlichten Schrift Das Licht des Nichts (1980) 1095
wird noch einmal erkennbar, welche Bedeutung das Nichts für Weltes Nachdenken über Gott
hat. Im Anschluss an Hans Georg Gadamers Erfahrungsbegriff – entfaltet in Wahrheit und
Methode – stellt Welte einen Ausfall der religiösen Erfahrung in der Moderne fest und
zeichnet den Weg zu diesem Ausfall nach. Erfahrung im Sinne Gadamers ist nicht der
empirische Erfahrungsbegriff Kants oder der sich von Kant distanzierende Erfahrungsbegriff
Hegels (Wissenschaft der Erfahrung, die das Bewusstsein macht), sondern ein neuer und
weiterer Begriff der Erfahrung, der den beengenden empirischen Erfahrungsbegriff Kants
1091
Vgl. Bernhard Welte: „Die Hölderlin-Verse zur Beisetzung Martin Heideggers. Versuch einer Deutung
(1976)“. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II/2. Denken in Begegnung mit den Denkern II. Hegel – Nietzsche
– Heidegger (Freiburg i.Br. 2007), S. 191-198.
1092
Matthias Jung: „Heidegger und die Theologie. Konstellation zwischen Vereinnahmung und Distanz“, S. 474.
1093
Bernhard Welte: „Die Lichtung des Seins. Bemerkungen zur Ontologie Martin Heideggers (1948)“. In: Gesammelte Schriften, Bd. II/2. Denken in Begegnung mit den Denkern II. Hegel – Nietzsche – Heidegger, S. 108.
1094
Ebd., S. 113.
1095
Vgl. Bernhard Welte: „Das Licht des Nichts. Von der Möglichkeit neuer religiöser Erfahrung (1980)“.
Gesammelte Schriften, Bd. III/3 (Freiburg i.Br. 2008), S. 118-164.
154
überschreitet.1096 Zu diesem erweiterten Erfahrungsbegriff gehört auch die Erfahrung des
Ausfalls aller religiösen Erfahrung, die Erfahrung des „Fehls Gottes“. 1097 Nachdem Welte
Nietzsches Erfahrung des Nichts analysiert hat, wendet er sich Heidegger zu. Für Welte bildet
die Beschreibung der Erfahrung des Nichts das eigentliche Kernstück in dem Buch Sein und
Zeit.“1098 Im Anschluss an Heidegger weist er hin auf die Erfahrung des Nichts bei Karl
Jaspers und bei Dichtern wie Bertolt Brecht, T.S. Eliot und Paul Celan und zitiert Zeilen des
Philosophen Wilhelm Weischedel:
„Im dunklen Bechergrund
Erscheint das Nichts des Lichts.
Der Gottheit dunkler Schein
Ist so: Das Licht des Nichts.“1099
Welte interpretiert diese Zeilen folgendermaßen: „Der dunkle Bechergrund ist offenbar der
Rest des zu Ende getrunkenen Lebens. Er ist dunkel, weil er dem den Becher zu Ende
Trinkenden als das Nicht des Lichts, also das reine Dunkel oder das reine Nichts, erscheint.
Aber dieses Dunkel oder dieses Nichts erscheint: Es zeigt sich, es gibt sich zu erfahren. Und
dieser dunkle Schein wird mit einer jähen und doch leisen Wendung zum Scheinen der
Gottheit. In dieser Wendung lichtet sich das Dunkle und hellt es sich auf, ohne aufzuhören,
wie Dunkel und Nichts zu erscheinen.“1100 Diese Erfahrung entspricht unserer Zeit, aber tritt
trotzdem nur bei wenigen Menschen auf, da die Erfahrung des „Dunkels Gottes“, des
„Schweigens des Ewigen“ schwer zu verarbeiten ist im Angesicht der Kontingenz der
menschlichen Existenz.1101 Wegen der Zweideutigkeit des Nichts stellt sich die Frage nach
der Bedeutung des Nichts. Ist es ein leeres Nichts oder verbirgt sich Göttliches hinter ihm?
Für Welte ergeben sich zwei Bedeutungsebenen dieser neuen religiösen Erfahrung, erstens in
geschichtlicher- und zweitens in ökumenischer Hinsicht.1102 Betrachtet man die neue
Erfahrung des Nichts in geschichtlicher Hinsicht, wird man feststellen, dass es in der Kirche
eine Tradition der negativen Theologie gibt (Gregor von Nyssa, Pseudo-Areopagit Dionysios,
Meister Eckhart, Johannes vom Kreuz). Gott wird in dieser Tradition als Nichts erfahren.
Betrachtet man hingegen die neue Erfahrung in ökumenischer Hinsicht, wird man erkennen,
dass es im Judentum und im Islam ein Bilderverbot gibt.1103 Auch im Hinduismus, Taoismus
und im Buddhismus wird die Erfahrung des Nichts gemacht. Welte verweist besonders auf
den indischen Rigveda: „Der indische Rigveda, der u.a. von dem spricht, „was weder Nicht1096
Vgl. ebd., S. 120f.
Vgl. ebd., S. 128.
1098
Ebd., S. 141.
1099
Ebd., S. 152. In der Fußnote zu den Zeilen Weischedels bedankt sich Bernard Welte bei der Witwe des verstorbenen Philosophen, Frau Käthe Weischedel für die Mitteilung und die Erlaubnis zur Veröffentlichung.
1100
Ebd., S. 152.
1101
Vgl. ebd., S. 160.
1102
Vgl. ebd., S. S. 154ff.
1103
Vgl. ebd., S. 157.
1097
155
sein noch Sein ist, weder Tod noch Unsterblichkeit, Finsternis in Finsternis versteckt.“1104
Aber auch das Tao-Te-King des Laotse äußert sich über das Nichts, da der Name Tao jedes
Aussprechen untersagt, wo es um das Göttliche geht: „ Das „chinesische Wort [Tao] verbietet
jeden Namen, jedes Aussprechen, wo es ums Höchste und Entscheidende geht. Für dieses
Wort gibt es nur reines Schweigen vor dem Namen-losen, dem Nichts.“1105
Zum Abschluss seiner ökumenischen Reflexion zum Terminus des Nichts geht Welte auf den
Buddhismus und den Nirvana-Begriff ein und zitiert ein Lobgedicht aus der Geschichte Der
Ochs und sein Hirte:
„Peitsche und Zügel, Ochse und Hirt sind restlos
Zu nichts geworden.
In den weiten und blauen Himmel reicht niemals
Ein Wort, ihn zu ermessen.
Wie könnte der Schnee auf der rötlichen Flamme
Des brennenden Herdes verweilen?
Erst wenn ein Mensch an diesen Ort gelangt ist,
Kann er den alten Meistern entsprechen.“ 1106
Welte interpretiert das Lobgedicht so: „Der Hirt ist der Mensch. Der Ochse ist das Geheimnis,
das Letzte, das Erste, das Höchste, das, was wir in unserer Sprache gewöhnlich Gott nennen.
Es ist hier zu »Nichts« geworden. Und der Mensch hat sich so darin versenkt und vergessen,
dass auch er zu Nichts geworden ist. Und er braucht keine Peitsche und keine Zügel mehr, um
den Ochsen zu lenken, das heißt keine Machenschaften, keine Bilder, keine Begriffe. Alles
das ist verbrannt und vergangen wie der Schnee auf der rötlichen Flamme. Und es ist nur
noch der weite blaue Himmel da. Nichts ist in ihm zu sehen. Und das ist das Letzte, das
Höchste, das Unvergängliche.“ 1107
In unmittelbarem Zusammenhang mit der Frage nach der Erfahrung des Nichts stehen in
Weltes Religionsphilosophie die Fragen nach dem Heiligen und dem göttlichen Gott, so dass
man wohl zu Recht sagen kann: „Weltes Religionsphilosophie ist ganz offensichtlich durch
Heideggersche Anstöße grundgelegt.“1108 Welte erkennt Ansatzpunkte Heideggerschen
Denkens für den Theologen im Bereich des Heiligen und bezieht sich positiv auf Heideggers
Metaphysik- und Ontotheologiekritik: „[…] Heideggers Frage nach Gott ist die Frage nach
dem göttlichen Gott. Sie ist als diese Frage zu gleich mehr als eine Frage. Sie ist ein Versuch
1104
Ebd., S. 157f.
Ebd, S. 158.
1106
Vgl. ebd., S. 158. Zitiert aus: Der Ochs und sein Hirte. Eine altchinesische Zen-Geschichte. Mit japanischen
Bildern aus dem 15. Jahrhundert, erläutert von Meister Daizohkutsu R. Ohtsu, übersetzt von Koichi Tsujimura
und Hartmut Buchner (Pfullingen ²1973), S. 41.
1107
Ebd., S. 159.
1108
Albert Raffelt: „Martin Heidegger und die christliche Theologie. Eine Orientierung mit Blick auf die katholische Rezeption“, S. 209.
1105
156
in der seinsgeschichtlichen Zeit des Fehls Gottes, das Denken für die mögliche Ankunft des
göttlichen Gottes freizuhalten und zugleich einen Schritt der Vorbereitung für die mögliche
Ankunft zu tun. Der vorbereitende Schritt ist das Denken in die Lichtung des Seins.“1109 Diese
Sätze klingen förmlich nach Heidegger, wenn Welte von seinsgeschichtlicher Zeit, Fehl
Gottes, möglicher Ankunft, göttlichem Gott spricht. Selbst im dogmatischen Bereich sind
Anklänge an Heidegger auszumachen. Albert Raffelt macht das deutlich am Beispiel
christologischer Aufsätze Weltes zu Aussagen der alten Konzilien, in denen sich Welte mit
den christologischen Aussagen der alten Konzilien mit den „Denkmitteln Heideggers“
befasse.1110 Welte erkenne das Seinsverständnis der abendländischen Metaphysik in den
Aussagen des Konzils von Nikaia (325) und stellt ihm das Seinsverständnis der Bibel
gegenüber, das vormetaphysischer Natur gewesen sei und eher mit dem Begriff des
Ereignisses gedeutet werden könne. Er spricht in diesem Kontext von einer „Verwindung der
klassischen Christologie“, von einer „Rückübersetzung der dogmatischen Aussagen auf die
Ebene der biblischen Rede“.1111 Die Begriffe Seinsverständnis, vormetaphysische Natur,
Ereignis und Verwindung sind typische Begriffe der Heideggerschen Philosophie. Deutlicher
kann man sich nicht auf Heidegger beziehen und trotzdem bleibt ein wesentlicher Unterschied
zwischen Welte und Heidegger bestehen trotz Weltes Sprache und Denkweise, die
frappierend an Heidegger erinnert. Der Unterschied ist wesentlich darin begründet, dass
Welte, der wie Heidegger Sein als geschichtliches Sein versteht und Wahrheit als
geschichtliche Wahrheit, ein in seiner „Verwindung der klassischen Christologie“ christlicher
Theologe bleibt, der zu den Glaubenssätzen der Kirche steht.
Im Kontext der Frage nach dem Verhältnis der katholischen Theologie zu Heidegger müssten
auch noch Kardinal Karl Lehmann oder die direkten Schüler Weltes wie Bernhard Casper,
Klaus Hemmerle, und Peter Hünermann behandelt werden, die sich als Theologen ebenfalls
von Heidegger haben inspirieren lassen. Bernhard Welte nimmt aber wegen seiner Nähe zu
Heidegger eine Sonderrolle ein. Er selbst äußerte sich 1976 zu dem, was von Heidegger in der
heutigen Theologie bleibt, folgendermaßen: „Heidegger ist nicht sehr gegenwärtig in der
heutigen Theologie. Aber stellen sich nicht von Heidegger zentrale Fragen gerade an die
Theologie und an das, was sie zu denken hat? Eine solche Frage ist die nach der Herrschaft
des vorstellenden und sich seiner Sache versichernden und bemächtigenden Denkens in der
Theologie. Und die damit zusammenhängende Frage nach dem Fehl des göttlichen Gottes.
Diese Frage ist mit einer wohl etwas kurzatmigen Tod-Gottes-Theologie kaum beantwortet.
Und wie steht es mit Heideggers fragender Suche nach dem göttlichen Gott in der
1109
Bernhard Welte: Auf der Spur des Ewigen (Freiburg – Basel – Wien 1964), S. 276.
Vgl. Albert Raffelt: „Martin Heidegger und die christliche Theologie. Eine Orientierung mit Blick auf die
katholische Rezeption“, S. 210.
1111
Vgl. ebd., S. 211. Albert Raffelt verweist auf Weltes Gesammelte Schriften (Bd. IV/2, S. 128f.).
1110
157
Theologie?“1112 Nach Weltes Ansicht wird der Einfluss Heideggers auf die Theologie
zunehmen, wenn die Theologie die „großen und grundlegenden Fragen“ an sie annimmt.1113
6.1.2 Philosophische Kritik
Auch die philosophische Kritik, vor allem nach Sein und Zeit und später im Anschluss an die
Antrittsvorlesung „Was ist Metaphysik?“, die Beiträge zur Philosophie“ und den
„Humanismusbrief“ war widersprüchlich. Einerseits galt er einigen als die größte
philosophische Begabung des 20. Jahrhunderts, andererseits fand er heftige Kritik bei Ernst
Cassirer (Davoser Disputation),1114 Rudolf Carnap,1115 Ernst Tugendhat,1116 der „Frankfurter
Schule“ 1117 und vielen anderen Philosophen. Von den Kritikern Heideggers muß im
Zusammenhang der Seins-und Wahrheitsfrage an erster Stelle auf Jürgen Habermas
eingegangen werden, der seit 1953 immer wieder zu gegebenem Anlass seine Vorbehalte
gegenüber Heideggers Philosophie und seine politischen Einstellung in der Zeit des
Nationalsozialismus und danach zum Ausdruck gebracht hat. Wohl kaum ein anderer
lebender Philosoph hat sich über solange Zeit als national und international geachteter und als
weltweit bekanntester deutscher Sozialphilosoph zu Heidegger geäußert.
6.1.2.1 Die „Frankfurter Schule“ am Beispiel Jürgen Habermas
Jürgen Habermas als der bekannteste Vertreter der auf Max Horkheimer und Theodor W.
Adorno folgenden Generation der „Frankfurter Schule“ war mit Heideggers Philosophie
vertraut: „Viele der autobiographischen Bemerkungen von Habermas lassen erkennen, dass er
während der Zeit seiner philosophischen Ausbildung stark vom Denken Heideggers geprägt
war,1118 was sich beispielsweise an der Bedeutung von Heideggers Sein und Zeit bei der
Abfassung seiner Dissertation über die Entwicklung des Begriffs des Absoluten bei Schelling
(1954) ablesen läßt. Nach dem II.Weltkrieg drückte Habermas einerseits seine Enttäuschung
über die Regierungsbildung 1949, andererseits über die Veröffentlichung der von Heidegger
verfassten „Einführung in die Metaphysik“ (1953) aus. 1119 Beide Enttäuschungen standen mit
der Sorge Habermasʼ in Verbindung, dass der Nationalsozialismus in den Köpfen der
Deutschen weiterhin verankert sei. Er, der selbst zur Hitlerjugend gehört hatte und Flakhelfer
gewesen war, befürchtete eine Wiederkehr des Nationalsozialismus. Auf Heidegger bezogen
war er über dessen 1953 wiederholten Satz von der „inneren Wahrheit und Größe“ der
1112
Bernhard Welte: „Denken und Sein. Gedanken zu Martin Heideggers Werk und Wirkung“. In: Gesammelte
Schriften, Bd. II/2. Denken in Begegnung mit den Denkern II. Hegel – Nietzsche – Heidegger, S. 207.
1113
Vgl. ebd.
1114
Vgl. Dieter Sturma: „Die Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger. Kontroverse
Transzendenz“. In: Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch, S. 110-115.
1115
Vgl. Simon Critchley: „Heidegger und Rudolf Carnap. Kommt nichts aus nichts?“ In: Dieter Thomä (Hrsg.):
Heidegger Handbuch, S. 355-361.
1116
Vgl. Holmer Steinfath: „Heidegger und Ernst Tugendhat. Die sprachanalytische Transformation der Philosophie Heideggers“. In: Dieter Thomä (Hrsg): Heidegger Handbuch, S. 408-410.
1117
Vgl. Christof Demmerling: „Heidegger und die Frankfurter Schule. Walter Benjamin, Max Horkheimer,
Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas“. In: Dieter Thomä (Hrsg.) Heidegger Handbuch, S. 361-369.
1118
Vgl. ebd., S. 366.
1119
Vgl. Detlef Horster: Jürgen Habermas zur Einführung (Hamburg 1999), S. 12.
158
nationalsozialistischen Bewegung enttäuscht.1120 Die Enttäuschung über Heidegger fand ihren
ersten Ausdruck in einem Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Nr. 170, 25. Juli
1953) mit dem Titel „Mit Heidegger gegen Heidegger denken“. Auch 1959 kritisiert
Habermas Heidegger in der gleichen Zeitung.1121 Die nächste Stellungnahme zu Heidegger
findet sich mehr als 20 Jahre später in Der philosophische Diskurs der Moderne, „anlässlich
einer Kritik an Frankreichs philosophischen Heidegger-Adepten, an Jacques Derrida und
seiner »Dekonstruktion«, den Poststrukturalisten und an Jean-Francois Lyotard, dem
damaligen Wortführer der philosophischen »Postmoderne«“.1122 Wichtig ist auch das Vorwort
von Jürgen Habermas zur deutschen Übersetzung von Victor Farias Buch Heidegger und der
Nationalsozialismus (1989) und die kritischen Feststellungen zu Heidegger in der Zeit (1979)
und im Journal de Geneve (1989).1123 Diese Distanzierung in all ihren Verästelungen
nachzuzeichnen würde dem Ziel dieser Arbeit, in der es darum geht, vor allem Heideggers
Seins-und Wahrheitsverständnis vor dem Hintergrund der philosophischen Kritik noch klarer
darzustellen, nicht dienlich sein. Wie ist nun der Titel des Beitrags „Mit Heidegger gegen
Heidegger denken“ zu verstehen? Handelt es sich hier nicht um ein unmögliches Unterfangen,
sozusagen um eine contradictio in se? Nein, denn Habermas kommt trotz aller scharfen Kritik
an Heidegger nicht ganz von Heidegger los. Selbst noch 1989 in seinem Vorwort zu Victor
Fariasʼ Heidegger und der Nationalsozialismus weist er auf Heideggers Bedeutung für die
Philosophie hin. Dass für ihn gerade das Denken von Sein und Zeit, das er als das „
bedeutendste philosophische Ereignis seit Hegels »Phänomenologie« 1124 betrachtet, so
bedeutsam ist, hängt mit dem hermeneutischen Ansatz Heideggers zusammen.
Trotzdem bleibt der Gesamteindruck der Kritik von Habermas an Heidegger negativ, da er ihn
nie frei von seinem Verhalten im Nationalsozialismus (sowohl als Philosophierenden als auch
in der Gesellschaft Handelnden) betrachten kann und hartnäckig darum bemüht erscheint, in
Heideggers Philosophie, wenn auch keine Begründung des Nationalsozialismus zu erblicken,
so doch davon überzeugt ist, „dass vieles von dem, was Heidegger 1933/34 sagte und schrieb,
sich aus dem, was in Sein und Zeit stand, zwar nicht zwangsläufig ergeben musste, aber doch
mindestens zwanglos ergeben konnte“.1125. Worin sind sich Habermas und Heidegger mehr
oder weniger einig? Beide bekämpfen das, was Heidegger das Subjekt-Objekt-Modell und
Habermas das bewusstseinsphilosophische Paradigma nennt. 1126 Das, was für Heidegger die
hermeneutische Transformation der Phänomenologie in Sein und Zeit war, war auch die
1120
Vgl. Christof Demmerling: „Heidegger und die Frankfurter Schule. Walter Benjamin, Max Horkheimer,
Theodor. W. Adorno, Jürgen Habermas“. In: Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch, S. 367.
1121
Beide Artikel sind auch zu finden in den Habermasʼ Philosophisch-politische[n]Profile[n] (Frankfurt a.M.
1981), S. 65-72 unter den Titeln „Martin Heidegger“ und „Die große Wirkung“.
1122
Harald Harzheim: Habermas liest Heidegger. Quelle: http://www.sezession.de/8465/ habermas-liestheidegger.html. S. 1 von 7 (letzter Aufruf: 10.07.2015).
1123
Vgl., ebd. S. 2 von 7.
1124
Jürgen Habermas, Philosophisch-politische Profile, S. 65.
1125
Jürgen Habermas bezieht sich in seinem Vorwort zu Victor Farias Heidegger und der Nationalsozialismus
hier auf Winfrid Franzen: Martin Heidegger (Stuttgart 1976), S. 81.
1126
Vgl. Cristina Lafont: „Hermeneutik und Linguistic Turn“. In: Hauke Brunkhorst – Regina Kreide – Cristina
Lafont (Hrsg.): Habermas Handbuch (Stuttgart 2009), S. 29-34, hier S. 29.
159
Leitidee von Habermas Umstellung kritischer Theorie auf Kommunikationstheorie in der
Theorie des kommunikativen Handelns.1127 Auf die Theorie des kommunikativen Handelns
kommen wir im Zusammenhang des Habermasschen Wahrheitsverständnisses zurück.
Festzuhalten gilt, dass das Wesen des Menschen bei Heidegger nicht mehr hauptsächlich
darin zu suchen ist, dass er ein vernünftiges Wesen ist, sondern ein Wesen, das sich selbst
interpretiert, das sich selbst versteht als Dasein. Habermas beschreibt Heideggers Philosophie
bezogen auf Sein und Zeit folgendermaßen: „Heidegger sucht nun das menschliche Dasein
zugleich in seiner Geschichtlichkeit und in seiner Ganzheit aus ihm selber zu begründen. Es
genießt den Vorzug, unter allem Seienden dasjenige zu sein, das sich auf den Sinn von Sein
versteht.“1128 Und fügt dann hinzu: „ Er hätte damit Philosophie ideologiekritisch mit der
Geschichte
dieser
Situation,
mit
der
Entwicklung
des
gesellschaftlichen
Lebenszusammenhanges, in Beziehung bringen können. Stattdessen unternimmt er die
berühmte »Kehre« zur Geschichte der Existenzialien selber, zur Geschichte des Seins.“ 1129
Der ausdrücklichen Wertschätzung von Sein und Zeit steht die Distanzierung von Heideggers
»Kehre« gegenüber. Habermas kommt in der Auseinandersetzung mit der kritischen Theorie
Horkheimers und Adornos zu ähnlichen hermeneutischen Aussagen. Es geht ihm um die
Bestimmung und Darstellung der normativen Basis einer kritischen Theorie. Diese
Bestimmung und Darstellung kann nur von den Menschen durchgeführt werden, die sich in
ihrem Menschsein verstehen. Um kritische Theorie betreiben zu können, muß man sich selbst
als Mensch in der eigenen Situation mitberücksichtigen.1130 Das Subjekt-Objekt-Schema der
Bewußtseinsphilosophie wird nach Habermas im sogenannten nachmetaphysischen Denken
überwunden durch eine pragmatische Fassung der linguistischen Wende.1131 Während
Heidegger nach der Wende von der Sprache als dem „Haus des Seins“ spricht und der
Mensch als „Hüter des Seins“ angesehen wird, spricht Habermas nach Aufenthalten als
Gastprofessor in den USA und Auseinandersetzung mit der von den amerikanischen
Pragmatikern Austin und Searle entwickelten Theorie der Sprechakte vom linguistic turn.
Beide sehen demnach die wichtige Rolle der Sprache, aber durchaus unterschiedlich.
Habermas wirft Heidegger vor, die Leistung der Sprache hypostatisiert zu haben, denn die
Sprache müsse nicht mehr darauf hin überprüft werden, „ob sie das Seiende als ein Seiendes
allererst ins Offene“ bringt.1132 Habermas geht als Sozialphilosoph- und Sozialwissenschaftler
vom menschlichen Handeln aus. Das Handeln (Verhalten) richtet sich nach sinnvollen
Normen und Regeln. Diese Regeln und Normen müssen interpretiert und verstanden werden
im Lichte eines impliziten Regelwissens des Subjekts bezüglich der Handlungs- und
Sprachnormen. Das ist die Sprache der Hermeneutik, die vom Menschen als dem Urheber des
Verständnisprozesses der eigenen Lebenswelt ausgeht. An dieser Stelle gibt es Ähnlichkeiten
1127
Vgl. ebd., S. 30.
Jürgen Habermas: „Die große Wirkung“ (1959). In: Ders.: Philosophisch-politische Profile, S. 77.
1129
Ebd., S. 77.
1130
Vgl. Detlef Horster: Jürgen Habermas zur Einführung (Hamburg 1999) S. 16.
1131
Vgl. Jens Greve: Jürgen Habermas. Eine Einführung (Konstanz 2009), S. 138.
1132
Martin Heidegger: „Der Ursprung des Kunstwerkes“. In: HW (GA 5), S. 61.
1128
160
zwischen Heidegger und Habermas, insofern der Mensch im Mittelpunkt der Interpretation
seiner Lebenswelt steht. Aber das Ziel des menschlichen Handelns ist nach Habermas eine
noch vom Menschen zu errichtende herrschaftsfreie Gesellschaft, in der die Möglichkeit
symmetrisch gegeben ist, „Sprechakte zu wählen und auszuführen“. 1133 Habermas spricht von
der idealen Sprechsituation, in der es um den Austausch von Argumenten in einer
herrschaftsfreien Gesellschaft geht, die er mit der Demokratie als Maßstab rationaler
Gesellschaftsgestaltung verbindet. Für Heidegger ist nicht die Demokratie der Maßstab für
das Dasein, sondern das Sein-können des Daseins und nach der Kehre das Hören des Daseins
auf das Sein.
Am besten kann man die Habermassche Kritik an Heidegger verstehen und einordnen im
Zusammenhang seines Gesamtwerkes, wenn man die 6. Vorlesung „Die metaphysikkritische
Unterwanderung des okzidentellen Rationalismus: Heidegger“1134. und zweitens das Vorwort
von Jürgen Habermas zu Viktor Farias Buch Heidegger und der Nationalsozialismus
analysiert. Um die harte Kritik, die in diesen beiden Beiträgen zum Ausdruck gebracht wird,
verstehen zu können, ist es angezeigt, sich kurz die Entwicklung der Sozialphilosophie von
Jürgen Habermas zu vergegenwärtigen. Ohne den Zusammenhang mit dem Gesamtwerk
könnten wir Habermasʼ Kritik in den beiden genannten Beiträgen nicht verstehen. Heidegger
steht mit seinem Buch Sein und Zeit am Beginn des philosophischen Denkens von Jürgen
Habermas; an ihm nimmt er immer wieder Maß, wenn auch im Sinne einer immer
kritischeren Haltung. Auf die Enttäuschung nach dem II. Weltkrieg im Zusammenhang mit
Heidegger wurde schon hingewiesen. Habermas entwickelt sich in Übereinstimmung mit den
Denkern der „Frankfurter Schule“ immer mehr zu einem Denker, der Theorie und Praxis
zusammenzudenken versucht, und zwar im Sinne Horkheimers, der in seiner
Antrittsvorlesung als Direktor des Instituts für Sozialforschung (1931) „einer Philosophie, die
sich ausschließlich dem autonomen Subjekt zuwendet und nicht dem Verhältnis des einzelnen
Menschen zu seiner Gemeinschaft oder zu seinen Mitmenschen, das Prädikat
Sozialphilosophie“ aberkannte.1135 Das heißt für Habermas auch, dass die Hermeneutik
ergänzt werden muß durch das in der Sozialphilosophie verfügbare empirische Wissen.1136
Bezogen auf das Regelsystem der Sprache bringt Habermas die Wichtigkeit der Empirie
folgendermaßen zum Ausdruck: „Gewiß ändern sich mit dem Regelsystem einer Sprache
auch die Gültigkeitsbedingungen der in der Sprache formulierten Sätze. Ob aber die
Gültigkeitsbedingungen faktisch so weit erfüllt werden, dass die Sätze auch funktionieren
können, hängt nicht von der welterschließenden Kraft der Sprache ab, sondern vom
innerweltlichen Erfolg der Praxis, den diese ermöglicht.“1137 Habermas hat seine Philosophie
seit seinem ersten Beitrag zu Heideggers Philosophie in großen Schritten weiterentwickelt,
1133
Vgl. Detlef Horster: Jürgen Habermas zur Einführung. S. 47.
In: Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne (Frankfurt a.M.1983), S. 158-190
1135
Max Horkheimer: Gesammelte Schriften, Bd. 3 (Frankfurt a.M. 1988), S. 21. Vgl. Detlef Horster: Jürgen
Habermas zur Einführung, S. 14.
1136
Vgl. Cristina Lafont: „Hermeneutik und linguistic turn“, S. 31.
1137
Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 183.
1134
161
vor allem durch die Beschäftigung mit dem Marxismus und mit der schon kurz
angesprochenen Theorie der Sprechakte. Die Theorie der Sprechakte verstärkt die Kritik an
Heideggers Wahrheitsverständnis. Habermas teilt die Sprechakte in vier Klassen ein: 1.
Kommunikativa, 2. Konstitutiva, 3. Regulativa, 4. Representativa. In diesen vier
Geltungsklassen sind Geltungsansprüche enthalten, und zwar in den Kommunikativa der
Anspruch der Verständlichkeit, in den Konstitutiva der Geltungsanspruch der Wahrheit, in
den Regulativa der Geltungsanspruch der Richtigkeit, in den Representativa der
Geltungsanspruch der Wahrhaftigkeit.1138 D.h. alles, was im metaphysischen Denken (Hans
Urs von Balthasar) oder im andersanfänglichen Denken (Verwindung der Metaphysik bei
Heidegger) über das Wahre gesagt worden ist, wird von Habermas im sogenannten
nachmetaphysischem Denken (an der Meadschen Philosophie orientiert)1139 mit der Theorie
der Sprechakte verbunden. Dabei geht es um eine Konsenstheorie der Wahrheit, in der der
Diskurs eine zentrale Rolle spielt und Rationalität ein wichtiger Begriff ist. Allerdings kann
das, was vernünftig ist, erst in einem Diskurs festgehalten werden. Um einen Zirkelschluß zu
verhindern, führt Habermas die ideale Sprechsituation ein. Sie gilt als Voraussetzung für
einen wahren und richtigen Konsens.1140 Klar ist, dass er Heideggers Wahrheitsverständnis
ablehnt. Diese Ablehnung ergibt sich einerseits aus der Konsenstheorie der Wahrheit, die
Habermas in Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Pragmatismus entwickelt, und
andererseits aus der Kritik des apophantischen Wahrheitsbegriffes Heideggers durch Ernst
Tugendhat, dessen Kritik Habermas übernimmt: „E. Tugendhat weist schon für den in »Sein
und Zeit« (§ 44) entwickelten apophantischen Wahrheitsbegriff nach, wie Heidegger dadurch,
dass er das Wort Wahrheit zu einem Grundbegriff macht, das Wahrheitsproblem gerade
übergeht.“1141 Und für die Kehre in der Philosophie Heideggers findet Habermas folgende
ironische und abwertende Worte: „Die Kehre besteht im Kern darin, daß Heidegger die
metageschichtliche Instanz einer zeitlich verflüssigten Ursprungsmacht irreführenderweise
mit dem Attribut des Wahrheitsgeschehens ausstattet.“1142 Dabei scheint Habermas zu
vergessen, dass seine Konsentheorie der Wahrheit auch keineswegs alle Denker überzeugt. So
ist beispielsweise Charles Taylor davon überzeugt, „dass es kein leeres, von realen Werten
freies, kontextungebundenes Verfahrensprinzip geben könne, wie es der, dem Kantischen
kategorischen Imperativ nachgebildete Habermassche Universalisierungsgrundsatz sein will.
Im Hintergrund unserer Weltsicht und -bewertung stehen nach Taylor immer
gemeinschaftliche Werte.“1143 Ähnlicher Ansicht ist Axel Honneth, der in diesem
Zusammenhang formuliert: „Wir bewegen uns in einem sprachlichen Horizont, […] in dem
die gesamte Welt geordnet ist nach Gesichtspunkten von schön und hässlich, von gut und
schlecht usw. […] Das ist nicht das Einzelprodukt eines Subjekts, sondern jedes sprachliche
1138
Detlef Horster: Jürgen Habermas zur Einführung, S. 52.
Vgl. ebd., S. 88.
1140
Vgl. ebd., S. 52f.
1141
Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 182.
1142
Ebd. S. 183.
1143
Detlef Horster: Jürgen Habermas zur Einführung, S. 125.
1139
162
Subjekt bewegt sich im Horizont solcher Werte, die wiederum das Produkt einer sozialen
Gemeinschaft sind.“1144
Wie steht es mit der Habermasschen Kritik Heideggers hinsichtlich der Seinsphilosophie und
Religionsphilosophie und seinem Vorwurf der angeblichen Verbindung zwischen Heideggers
Philosophie und dem Nationalsozialismus. Die Seinsphilosophie Heideggers zählt er noch
zum metaphysischen Denken in einer nachmetaphysischen Zeit. Er wendet sich gegen den
Dezisionismus der Heideggerschen Philosophie in Sein und Zeit und gegen die
Unterwerfungsbereitschaft nach der Kehre: „Die Sprache von »Sein und Zeit« hat den
Dezisionismus leerer Entschiedenheit suggeriert; die Spätphilosophie legt die Submissivität
einer ebenso leeren Unterwerfungsbereitschaft nahe.“1145 Falls Habermas unter „leer“
nichtssagend im Sinne einer Leerformel versteht, hat er Heidegger nicht verstanden. Zu
Heideggers Begriff des Seinsgeschickes bemerkt er im Sinne seiner Theorie der Sprechakte:
„Weil sich das Sein dem assertorischen Zugriff deskriptiver Sätze entzieht, weil es nur in
indirekter Rede eingekreist und »verschwiegen« werden kann, bleiben die Geschicke des
Seins unerfindlich.“1146 Zum Thema Gott, Götter und Fehl Gottes bemerkt Habermas: „Die
Rhetorik des späten Heidegger entschädigt für die propositionalen Gehalte, die der Text selbst
verschweigt: sie stimmt die Adressaten in den Umgang mit pseudo-sakralen Mächten ein.“1147
Propositionale Gehalte von Sprechakten und assertorischer Zugriff deskriptiver Sätze sind
laut Habermas überprüfbar auf ihren Wahrheitsgehalt und auf ihre Richtigkeit in einem
Diskurs, in dem erkennbar wird, ob die propositionalen Gehalte der Sprechakte vernünftig
oder richtig sind.1148 Religion ist für Habermas ein schwieriges Thema, da er sich als religiös
unmusikalisch betrachtet und Religion in der nachmetaphysischen Zeit für den Bestand der
Demokratie nicht ohne Weiteres eine wichtige Rolle zukommt, damit das soziale Band, das
eine Gesellschaft zusammenhält nicht reißt.1149 Habermas macht in einem Diskurs mit Joseph
Ratzinger Vorschläge, wie Gläubige und säkulare Bürger miteinander zur Förderung des
Gemeinwesens umgehen sollten. Allerdings besteht er als Philosoph darauf, dass die
Verfassung des liberalen Staates selbstgenügsam sei: „Im Weiteren gehe ich davon aus, dass
die Verfassung des liberalen Staates ihren Legimitationsbedarf selbstgenügsam, also aus den
kognitiven Beständen eines von religiösen und metaphysischen Überlieferungen
unabhängigen Argumentationshaushalt bestreiten kann. Auch unter dieser Prämisse bleibt
allerdings ein Zweifel in motivationaler Hinsicht bestehen.“1150 Etwas später heißt es dann:
„Daraus folgt noch nicht, dass der liberale Staat unfähig ist, seine motivationalen
Voraussetzungen aus eigenen säkularen Beständen zu reproduzieren. Die Motive für eine
1144
Ebd. S. 125f.; zitiert nach Ingeborg Breuer: Subjekt und Soziales. Das politische Denken des kanadischen
Philosophen Charles Taylor, Deutschlandradio, 03.02.1995.
1145
Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 168.
1146
Ebd.
1147
Ebd., S. 168.
1148
Detlef Horster: Jürgen Habermas zur Einführung, S. 70f.
1149
Vgl. Jürgen Habermas – Joseph Ratzinger: Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion (Freiburg – Basel –Wien 2005).
1150
Ebd. S. 22.
163
Teilnahme der Bürger an der politischen Meinungs- und Willensbildung zehren gewiss von
ethischen Lebensentwürfen und kulturellen Lebensformen, aber wir dürfen nicht übersehen,
dass demokratische Praktiken eine eigene Dynamik entfalten.“1151 Mir scheint, dass Habermas
versucht, seine Diskurstheorie zu stützen, die davon ausgeht, dass der Mensch eigentlich nur
die ideale Sprechsituation herzustellen habe, damit sich eine herrschaftsfreie Demokratie in
der Zukunft entwickeln könne. Auf der anderen Seite bemüht er sich, die Gefahren, die er im
aktuellen Säkularisierungsprozess ausmachen kann, beispielsweise mangelnde Solidarität,
mangelndes ethisches Bewusstsein (mangelnde Motivation für die Demokratie) dadurch zu
beheben, dass er Vorschläge dazu ausarbeitet, wie gläubige und säkulare Bürger miteinander
umgehen sollten.1152 Heidegger hingegen war religiös musikalisch, wenn auch nicht
unbedingt in christlicher Hinsicht. Er sehnte sich nach den „langhörenden Gründern der
Wahrheit“, die sich in Anstrengung und Opferbereitschaft auf das „Ereignis als Ereignung der
Götter“ vorbereiten. Das ist für Habermas mythologisches Denken, das außerhalb des
Wahrheitsanspruches seiner Diskurstheorie steht und nichts mit nachmetaphysischem Denken
zu tun hat.
Es bleibt noch über die Frage nachzudenken, „wie der Faschismus in Heideggers
Theorieentwicklung selbst hineingespielt hat.“1153 Habermas ist überzeugt, dass Heidegger
den Begriff „Dasein“ schon in Sein und Zeit ausdehnt auf die Verbindung des Schicksals des
Einzelnen mit dem Schicksal des Volkes und führt dazu folgenden Beleg an: „Wenn aber das
schicksalhafte Dasein als In-der-Welt-sein wesenhaft im Mitsein mit Anderen existiert, ist
sein Geschehen ein Mitgeschehen und bestimmt als Geschick. Damit bezeichnen wir das
Geschehen der Gemeinschaft des Volkes.“1154 Die Frage ist nun, ob Heidegger, wie Habermas
behauptet, sich vom Faschismus zu dieser Aussage hat verleiten lassen oder ob dieser
Schicksalsgedanke in dem Gedanken des Mitseins mit Anderen einschlußweise enthalten ist.
Allerdings führt Heideggers Denken über die Bedeutung des deutschen Volkes im Blick auf
seinen Kulturbeitrag und sein Verhalten als Rektor der Freiburger Universität und danach,
Habermas dazu, seine These zu untermauern, indem er auf das widersprüchliche Verhalten
Heideggers nach dessen Enttäuschung über den Nationalsozialismus verweist. 1155 „Eine
schlichte politisch-moralische Umwertung des Nationalsozialismus hätte die Grundlage der
erneuerten Ontologie angreifen und den theoretischen Ansatz in Frage stellen müssen.“1156
Habermas unterstellt Heidegger, den Begriff der Unwahrheit der Bewegung
(Nationalsozialismus) nicht im Sinne einer existentiellen Verfallenheit an das Man, sondern
als ein objektives Ausbleiben der Wahrheit interpretiert zu haben.1157
1151
Ebd. S. 23.
Vgl. ebd. S. 26ff.
1153
Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 185.
1154
Vgl. ebd., S. 187 (SuZ [GA 2], S.„Sein und Zeit“ § 74. S. 508).
1155
Vgl. ebd., S. 188.
1156
Ebd.
1157
Vgl. ebd.
1152
164
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Habermas als politisch denkender
Sozialphilosoph sich in seiner Philosophie immer auch auf dem Hintergrund des
Heideggerschen Denkens bewegt hat in der Absicht, seine Studenten, aber auch die deutsche
Gesellschaft vor den Gefahren des Nationalsozialismus zu warnen. Er sah wohl einen inneren
Zusammenhang zwischen Heideggers Denken und dem Nationalsozialismus. Trotzdem sieht
er – obwohl er Heideggers Philosophie teils ironisch und von oben herab kritisiert –
Heideggers Bedeutung vor allem Sein und Zeit als bedeutendsten Beitrag nach Hegel zur
Philosophiegeschichte. Aus Furcht vor einer Wiederkehr des Nationalsozialismus ist er aktiv
beteiligt an allen politischen Auseinandersetzungen der deutschen Nachkriegszeit. Er führt als
religiös unmusikalischer Philosoph einen Dialog mit Kardinal Ratzinger, der ihm keinesfalls
Lob von allen Seiten gebracht hat. Was für Habermas spricht, ist die Tatsache, dass man ihn
nicht einen unkritischen Marxisten oder Anhänger Horkheimers, Adornos oder irgendeines
anderen Philosophen nennen kann. Vielleicht ist Kant eine Ausnahme. Er entwickelt eine
ganz eigene Sozialphilosophie im Konzept des kommunikativen Handels, Diskurstheorie.
Dabei scheut er sich auch nicht, Gedanken seiner Gegner aufzunehmen und in sein eigenes
Konzept einzuarbeiten, so beispielsweise Theorie der Sprechakte oder die Systemtheorie von
Niklas Luhmann.
6.1.2.2 Emmanuel Levinas
Auch Emmanuel Levinas (1906–1995) kann als einer der wichtigsten Kritiker Heideggers
gelten. Um seine Kritik an der Ontologie seines Lehrers Heidegger besser verstehen zu
können, ist es angebracht, diese Kritik einzuordnen in seine Kritik der europäischen
Philosophie im Allgemeinen. Seine Kritik an der europäischen Philosophie und an Heidegger
hängt ganz entscheidend mit seiner Biographie zusammen. Emmanuel Levinas kam im
zaristischen Litauen (Kaunas) zur Welt und wuchs als Jude in einem gemäßigten jüdischen
Milieu mit dem Talmud und der russischen Literatur auf. Er begann sein Studium der
Philosophie in Straßburg (1923), da er von drei deutschen Universitäten, bei denen er um
Aufnahme gebeten hatte, als Student abgelehnt worden war. Von Straßburg begab er sich
1928/29 nach Freiburg i. Br., um Husserl zu hören. Dort entdeckte er Heidegger, der 1928
Nachfolger Husserls geworden war. Zeit seines Lebens war er von der Phänomenologie
Husserls und von Heideggers Sein und Zeit beeinflusst.1158 Schon kurz nach seiner Rückkehr
nach Frankreich (1930) übersetzte er zusammen mit seiner Mitstudentin Gabrielle Pfeifer
Husserls Cartesianische Meditationen ins Französische und schrieb dazu die Einführung.
Damit beginnt seine Laufbahn als Philosoph. Er nahm 1930 die französiche
Staatsbürgerschaft an und promovierte 1931 an der Sorbonne mit der Dissertation über Die
Theorie der Intuition in der Phänomenologie Husserls.1159
1158
Vgl. Werner Stegmaier: „Heidegger und Emmanuel Levinas. Bruch mit der Neutralität des Seins“. In: Dieter
Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch, S. 417f., und Barbara Staudigl: Emmanuel Levinas (Göttingen 2009), S.
12ff.
1159
Vgl. Barbara Staudigl: Emmanuel Levinas (Göttingen 2009), S. 14.
165
1939 wurde er als Franzose eingezogen und geriet 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft. In
dieser Zeit (1940–1945) hatte er keine Kenntnis über das Schicksal seiner Familie. Während
seine Frau und seine Tochter, in einem Frauenkloster versteckt, überlebten, wurde seine
Familie in Litauen Opfer des Holocaust.1160
Wichtig für seine am Anderen orientierte Ethik erwies sich die schreckliche Erfahrung mit
dem Nationalsozialismus. Diese regte ihn an, sich mit der traditionellen europäischen
Philosophie auseinanderzusetzen, der er totalitäres Denken vorwarf. Er konstatierte zwei
Aspekte der Totalität, nämlich die „Erstickung der Andersheit und eine alles nivellierende
Neutralität. Vor allem in der unpersönlichen Neutralität des Ganzen (le tout) sieht Levinas die
größte Gefahr für den Menschen, der in der allgemeinen Perspektive der Totalität seiner
persönlichen Würde beraubt wird.“1161 Die Ursache der Totalität des Denkens ist für ihn darin
begründet, dass die europäische Philosophie das einzeln Seiende auf das Allgemeine
zurückführe.1162 Mit dieser Ansicht liegt er nahe bei Hans Urs von Balthasar, der wie Levinas
im Kampf gegen die Ideologie des Nationalsozialismus eine Metaphysik der Singularität
entwickelt. Allerdings verwendet Levinas einen ganz anderen Subjektbegriff, also auch einen
anderen Begriff der Singularität als von Balthasar und setzt sich mit seinem Subjektbegriff
auch dezidiert von Heideggers Begriff des Daseins ab. Der jüdische Partikularismus – die
jüdische Singularität –, so Levinas, verbunden mit dem Anspruch der Juden, von Gott
auserwählt zu sein, sei für den Westen eine große Zumutung gewesen.1163 Doch lässt sich für
ihn die Singularität ebenso wie für von Balthasar mit dem Universalismus verbinden.1164
Während Heidegger den Begriff Subjekt für den Menschen ablehnt und den Menschen
(Dasein) holistisch als In-der-Welt-sein, was auch ein Mit-sein mit einschließt, charakterisiert
und „das Wesen der Humanitas als Ek-sistenz aus deren Zugehörigkeit zum Sein
bestimmt“,1165 beschreibt Levinas den Humanismus von einer Ethik des Anderen her,
beispielsweise in seiner Habilitationsschrift Totalité et Infini1166, seinem ersten Hauptwerk,
einen „Gegenentwurf zu Sein und Zeit“.1167.
Dieser Gegenentwurf lässt sich festmachen an Begriffen wie Phänomenologie, Wahrheit,
Sein, Dasein, Zeit, Eigentlichkeit, Tod, Mit-sein, der Andere, Antlitz, Technik, Ethik;
Metaphysik, anderer Anfang, Gott u.a.1168 Levinas kritisiert an Heidegger den Gebrauch der
phänomenologischen Methode, der Heidegger offensichtlich nicht davor bewahrt habe, sich
für den Nationalsozialismus einzusetzen. „Durch Heideggers nationalsozialistisches
1160
Ebd.
Branko Klun: „Gott jenseits des Seins und die >analogia alteritatis< bei Levinas“. In: Norbert Fischer – Jakub
Sirovátka (Hrsg.): Die Gottesfrage in der Philosophie Emmanuel Levinas. (Hamburg 2013), S. 205-230, hier: S.
206.
1162
Vgl. Barbara Staudigel: Emmanuel Levinas, S. 19.
1163
Vgl. Werner Stegmaier: Emmanuel Levinas zur Einführung (Hamburg 2009), S. 215.
1164
Ebd.
1165
Martin Heidegger: „Brief über den Humanismus“. In: WM (GA 9), S. 358.
1166
Nijhoff 1961; deutsch:Totalität und Unendlichkeit (Freiburg – München 1987).
1167
Vgl. Werner Stegmaier: Emmanuel Levinas zur Einführung, S. 221.
1168
Vgl. Werner Stegmaier: Heidegger und Levinas. Bruch mit der Neutralität. In: Dieter Thomä: (Hrsg.): Heidegger Handbuch, S. 417-424.
1161
166
Engagement war deutlich geworden, dass der Gebrauch der phänomenologischen Methode,
die scheinbar unbestechliche Beschreibung selbst evidenter Gegebenheitsweisen des
Gegebenen, nicht unschuldiges Handeln garantiere.“1169 Levinas sieht daher auch den Begriff
der Wahrheit skeptischer als Husserl, und lehnt den Begriff der Wahrheit als Erschlossenheit
bei Heidegger ab: „Gewiß erschließt die Philosophie die Bedeutung dieser Geschehnisse; aber
diese Geschehnisse ereignen sich, ohne in der Erschlossenheit (oder der Wahrheit) ihr Ziel zu
haben; ja, keinerlei vorherige Erschlossenheit gibt das Licht für das Ereignis dieser wesentlich
nächtlichen Geschehnisse; sie ereignen sich, ohne dass der Empfang des Antlitzes und das
Werk der Gerechtigkeit – die die Entstehung der Wahrheit selbst bedingen – als
Erschlossenheit gedeutet werden können.“1170 Das bedeutet, dass die Wahrheit einen
ethischen Aspekt erhält, der darin besteht, dass man Respekt vor dem Antlitz des Anderen
haben und ihm Gerechtigkeit angedeihen lassen muß, damit die Wahrheit entstehen kann;
m.a.W., dass man auf jede Identifizierung verzichten muß. Verzicht auf Identifizierung heißt
Absehen von Vergegenwärtigung und Zulassen einer wirklichen Transzendenz, die nur dann
verwirklicht werden kann, wenn man einer Andersheit begegnet, die außerhalb der eigenen
Vorstellung zu finden ist.1171 Um diesen Satz besser zu verstehen, müssen die Begriffe
Vergegenwärtigung, Transzendenz und Andersheit (der Andere) erklärt werden.
Vergegenwärtigung „versucht das Begegnete zu begreifen, ins Bewusstsein zu holen, durch
Sprache zu vergegenwärtigen.“1172 Eine wirkliche Transzendenz bedeutet die Begegnung mit
einem wirklich Anderen (mit einer wirklichen Andersheit).1173 Voraussetzung für die
Begegnung mit dem Anderen ist, dass man den Anderen achtet, der nicht ein „Alter ego“ im
Husserlschen Sinn ist oder ein „Mit-sein“ im Heideggerschen Denken, „sondern der radikal
Andere, der von einer Exteriorität auf das Ich zukommt“.1174 Der Begriff des Anderen ist so
zentral im Denken Levinas’, dass wir bei diesem Begriff noch etwas verweilen müssen, um
das radikal Neue, das mit ihm verbunden ist, verstehen zu können. Dieser Begriff ist so neu,
dass er lieb gewordenen Denkgewohnheiten in Frage stellt. Die erste Philosophie ist nicht
mehr die Ontologie, sondern die Ethik. Und die Ethik wird als Metaphysik betrachtet.1175 Für
Levinas ist das abendländische Denken fixiert auf das Allgemeine. Deshalb fordert er, dass
nach dem Holocaust nach dem Seienden in seiner Singularität, in seiner Ursprünglichkeit
gefragt werden muß. Er geht den Weg vom Sein zum Seienden. Deshalb interpretiert er die
ontologische Differenz, die für Heideggers Denken zentral war, neu und spricht von radikaler
Trennung zwischen dem Selben und dem Anderen, aber auch von Trennung zwischen Sein
und Seiendem. Diese Trennung erst ermöglicht „Existenz in der Innerlichkeit“ und
1169
Ebd. S. 54.
Emmanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität /Freiburg – München 1987),
S. 30.
1171
Ebd. S. 33.
1172
Barbara Staudigl: Emmanuel Levinas, S. 32.
1173
Vgl. ebd., S. 115.
1174
Ebd. S. 112.
1175
Vgl. ebd., S. 29f.
1170
167
„Begegnung mit der Exteriorität“.1176 Für Levinas bedeutet demnach Sein nicht Totalität,
sondern Exteriorität. In Totalität und Unendlichkeit heißt es: „Das Sein ist Exteriorität: Der
eigentliche Vollzug seines Seins besteht in der Exteriorität, und kein Denken vermag dem
Sein besser zu gehorchen als dasjenige, dass sich von dieser Exteriorität beherrschen
lässt.“1177 Das entscheidende Wort für das Sein ist demnach Exteriorität. Diese Exteriorität
kommt, wie oben gesagt, auf das Ich zu. Das muß erklärt werden, und zwar wieder am besten
mit Levinas’ eigenen Worten: „Als das Wesen des Seins bedeutet die Exteriorität den
Widerstand der sozialen Mannigfaltigkeit gegenüber der Logik, die das Mannigfaltige
totalisiert. Für diese Logik ist die Mannigfaltigkeit ein Verfall des Einen oder des
Unendlichen, eine Minderung im Sein, die jedes der mannigfaltigen Seienden zu überwinden
hätte, um vom Mannigfaltigen zum Einen, vom Endlichen zum Unendlichen
zurückzukehren.“1178
Wir stehen also vor folgendem Sachverhalt: 1. Levinas, der sich selbst als Phänomenologe
sieht, kritisiert Heideggers Phänomenologiebegriff, der seiner Meinung nach Heidegger nicht
davor bewahrt hat, die Bosheit des Nationalsozialismus zu durchschauen. 2. Auch Levinas
akzeptiert die sogenannte „ontologische Differenz“, nennt sie aber Trennung. Innerhalb dieser
Trennung muß vor allem die „Exteriorität“ des Seins berücksichtigt werden. Das
Mannigfaltige darf nicht durch das Eine aufgehoben werden. Die Singularität des Einzelnen
muß im Vordergrund stehen. Auch ist ihm wichtig, auf die Partikularität des Judentums
hinzuweisen. 3. Nach Levinas handelt es sich beim Heideggerschen Seinsbegriff um einen
neutralen Seinsbegriff. Dieser neutrale Seinsbegriff hängt mit einem Wahrheitsbegriff
zusammen, der in die Irre geführt hat1179 4. Levinas bemängelt Heideggers Wahrheitsbegriff
als Erschlossenheit. Für Levinas ist die Verantwortung dem Anderen gegenüber
Voraussetzung für die Wahrheit.
Wie soll der Andere wahrgenommen werden? In seinem Antlitz! „Die Gegenwart des
Antlitzes – die Unendlichkeit des Anderen – ist Blöße, Gegenwart des Dritten (d.h. der
ganzen Menschheit, die uns ansieht) und Befehl, der zu befehlen befiehlt. Aus diesem Grund
ist die Beziehung mit dem Anderen oder die Rede nicht nur eine Infragestellung meiner
Freiheit; sie ist nicht nur der vom Anderen ausgehende Aufruf, um mich zur Verantwortung
zu rufen; sie ist nicht nur das Wort, durch das ich mich von dem einengenden Besitz befreie,
indem ich eine objektive und gemeinsame Welt ausspreche – sondern auch die Predigt, die
Mahnung, das prophetische Wort.“1180 Damit ist das Wesentliche gesagt, um was es in der
Ethik (Metaphysik) gehen soll. Es wird zunächst von der Unendlichkeit des Anderen
gesprochen. Damit ist gemeint, dass der Andere in der Begegnung (ethischen Beziehung) von
Angesicht zu Angesicht unendlich transzendent, unendlich fremd bleibt.1181 In der Begegnung
1176
Vgl. ebd., S. 115.
Emmanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, S. 419.
1178
Ebd., S. 421.
1179
Vgl. Werner Stegmaier: Emmanuel Levinas zur Einführung, S. 62.
1180
Emmanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, S. 308.
1181
Vgl. Barbara Staudigl: Emmanuel Levinas, S. 27f.
1177
168
mit dem Anderen wird meine Freiheit durch den Aufruf des Anderen zur Verantwortung in
Frage gestellt. Dieser Aufruf ist in der Sprache der Bibel eine Predigt, eine Mahnung, ein
prophetisches Wort. Vernichtend demgegenüber seine Kritik der Heideggerschen Sicht: „Als
Philosophie der Macht, als Erste Philosophie, die das Selbe nicht in Frage stellt, ist die
Ontologie eine Philosophie der Ungerechtigkeit. Zwar widersetzt sie sich der technischen
Leidenschaft, die aus dem Vergessen des Seins, das durch das Seiende verborgen wird,
hervorgeht; dennoch bleibt die Heideggersche Ontologie, die das Verhältnis zum Anderen
dem Bezug zum Sein überhaupt unterordnet, im Gehorsam gegenüber dem Anonymen; sie
führt zwangsläufig zu einer anderen Macht, zur imperialistischen Herrschaft, zur
Tyrannei.“1182 Wie sieht es in dieser Ethik mit dem Subjekt aus, mit dem Ich (dem Selben),
das diesem Aufruf gegenübersteht? Wie kann das Selbe, das dem Anderen ins Antlitz schaut,
diese Verantwortung schultern, die durch den Anruf entsteht, durch die Singularität des
Anderen, durch die Herrschaft des Anderen über das Selbe? Bindet mich doch „[a]n den
Anderen […] weder der Besitz noch die Einheit der Zahl noch auch die Einheit des Begriffs.
Es ist das Fehlen eines gemeinsamen Vaterlandes, das aus dem Anderen den Fremden macht,
den Fremden, der das Bei-mir-zu-Hause stört. Aber Fremder, das bedeutet auch der Freie.
Über ihn mag mein Vermögen nichts.“1183 Wie kann das jeweilige Ich dem Anderen begegnen
und eine Beziehung aufbauen, wenn der Andere ein ganz Anderer ist und das Alter ego
Husserls und das Mit-sein Heideggers nicht ausreichen, um dem Anderen gerecht zu werden?
Levinas nennt das Verhältnis des Ich zum Anderen asymmetrisch. Wie kann aber eine
Asymmetrie im Verhältnis des Ich zum Anderen funktionieren, bezeichnet doch eine solche
Asymmetrie nach Levinas ein Verhältnis der Ungleichheit zueinander?1184 Auch das Gebot
der christlichen Nächstenliebe, wie es in der christlichen Tradition ausgelegt wurde, wird
durch Levinas Ethik in Frage gestellt. Levinas geht bei der Beantwortung dieser Frage von
der Analyse des Ich, von der „Innerlichkeit“ aus. Er fragt nach dem Wie der Konstituierung
des Ich. Die Innerlichkeit konstituiert die Singularität des Ich. Ohne die Konstituierung des
Ich durch die Innerlichkeit ist das Ich nicht in der Lage, die „Andersheit im Außerhalb“ zu
bewältigen.“1185 Das Ich kann seine Identität, die Konstituierung der Innerlichkeit nur im
Genuss und in der „ökonomischen Existenz“ finden.1186 Genuss hängt mit der körperlichen
Existenz (mit der Sinnlichkeit) zusammen, die sogenannte „ökonomische Existenz“ mit dem
Wohnen, dem Arbeiten und dem Besitzen, der Heimat in der Welt.1187 Diese Definition der
Konstituierung des Ich veranlasst Levinas zur weiteren Kritik an Heideggers Philosophie,
sofern er Heidegger ein Vergessen des Genusses und einschlussweise der Sinnlichkeit
vorwirft: „Es ist eigentümlich zu sehen, dass Heidegger die Relation des Genusses nicht in
1182
Emmanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, S. 56f.
Ebd., S. 44.
1184
Vgl. Helmuth Vetter: „Asymmetrie“. In: Helmuth Vetter (Hrsg.): Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe, S. 49.
1185
Vgl. Barbara Staudigl: Emmanuel Levinas, S. 37.
1186
Vgl. ebd. S. 38.
1187
Vgl. ebd. S. 39.
1183
169
Betracht zieht. Das Zeug hat den Gebrauch und die Erreichung des Ziels – nämlich die
Befriedigung – vollständig verdeckt. Bei Heidegger hat das Dasein niemals Hunger. Nur in
einer Welt der Ausbeutung kann die Nahrung als Zeug gedeutet werden.“1188 Stattdessen
bekennt sich Levinas eindeutig zum Genuss: „Im Genuss bin ich absolut für mich. Egoistisch
ohne Bezug auf Andere – bin ich allein ohne Einsamkeit, unschuldig egoistisch und allein.
Kein ,gegen die Anderen‘, kein ‚was mich betrifft‘ – sondern vollständig taub für Andere,
außerhalb aller Kommunikation und aller Verweigerung von Kommunikation – ohne Ohren
wie ein hungriger Bauch.“1189 Das Nachdenken über die Bedeutung des Genusses für die
Konstituierung des Ich, führt Levinas zur Kritik an Heideggers „Sein zum Tode“ und an
Heideggers Begriff der Heimat bzw. der Heimatlosigkeit. Heidegger erfasst den Tod als
eigenste Möglichkeit des Daseins: Der Tod erschließt dem Dasein seine Eigentlichkeit.
Levinas hingegen interpretiert den Tod ausgehend von seinem Begriff des Genusses. „Vom
Glück des Genusses her wird der eigene Tod nicht (wie bei Heidegger) als die jedem eigene
Möglichkeit erfahren, zum eigentlichen seiner Existenz zu kommen, sondern als das zwar
bevorstehende, aber eben noch ausstehende Ende des Genusses, das vorerst noch Zeit zum
Genuss lässt.“1190 Auf jeden Fall weiß ich nicht, wann der Tod kommt und was danach sein
wird.1191 Darüber hinaus steht der Tod auch in Beziehung zum Anderen, denn der Andere
könnte meinen Tod verursachen, d.h. die Furcht vor dem Anderen ist nicht die Furcht vor dem
Nichts, sondern bezieht sich auf die Gewalt des Anderen mir gegenüber.1192 Aber wichtiger
als die Erwägung des eigenen Todes ist die Betrachtung des Todes des Anderen, die keine
ontologischen Fragen aufwirft, sondern in die Ethik hineinreicht. Und diese Frage steht an
erster Stelle, also die Frage nach meiner Verantwortung für den Anderen. „Der Tod, die
Quelle aller Mythen, ist gegenwärtig nur im Anderen; und nur im Anderen ruft der Tod mich
auf zu meinem letzten Wesen, zu meiner Verantwortung.“1193
Ebenso eindeutig ist die Kritik dessen, was Heidegger unter Heimat bzw. Heimatlosigkeit
versteht. Während der spätere Heidegger im Rahmen seiner Kritik der Technik von
Entwurzelung und Heimatlosigkeit spricht und in seinem berühmten Spiegel-Interview die
Heimat als Voraussetzung alles Wesentlichen und Großen ansieht, spricht er in Sein und Zeit
vom „Nicht-zuhause-sein“ durch die Angst. Außerdem sieht er in seiner Seinsphilosophie
nach der Kehre einen Verlust der Heimat in der Seinsvergessenheit: „Durch die
Seinsvergessenheit hat der Mensch die »Heimat« seines Wesens, die im Sein selbst beruht,
verloren. Dabei ist auch die Heimatlosigkeit ein »Geschick des Seins«, das Sein selbst hat
sich in seine Vergessenheit zurückgezogen, das Geschehen der Entbergung, das das Sein
1188
Emmanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, S. 190f.
Ebd., S. 190.
1190
Werner Stegmaier: Emmanuel Levinas zur Einführung, S. 117.
1191
Vgl. Emmanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, S. 343.
1192
Vgl. Werner Stegmaier: Emmanuel Levinas zur Einführung, S. 117.
1193
Emmanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, S. 259.
1189
170
verbirgt sich selbst.“1194 Levinas würde in diesem Zusammenhang von einem anonymen
Seinsbegriff als Begriff des totalitären Denkens sprechen. Diesen Seinsbegriff lehnt er strikt
ab, da er mit Machtmissbrauch, totalitärem Denken und Ungerechtigkeit verbunden ist.
Stattdessen benutzt Levinas die Begriffe Bleibe, Haus, Heim, Wohnung als Bedingung der
Konstituierung des Ich als Selbst. „Im Ausgang von seiner Bleibe kann der Mensch durch
Arbeit Zugang zu den Elementen finden und sie für seine eigenen Zwecke, für seine eigene
Bedürfnisbefriedigung nützen.“1195
Ein wichtiger Punkt der kritischen Auseinandersetzung zwischen Heidegger und Levinas
betrifft die „Theo-logie“. Beide Denker stimmen überein in der Ablehnung der sogenannten
>ist<,
Onto-Theologie, in der Ablehnung der „analogia entis“ und der Teilhabe am Sein Gottes.
Heidegger sucht einen göttlichen Gott, nicht den Gott der christlichen Theologie. Levinas
sucht Gott im Ausgang vom Anderen. Beide verwenden den Begriff Atheismus, aber meinen
damit Unterschiedliches. Für Levinas ist „[d]ie Philosophie […] Atheismus oder, besser,
Unreligion, Negation eines sich offenbarenden, Wahrheiten in uns niederlegenden Gottes.“1196
Damit meint er die Seinsphilosophie. Heidegger hingegen spricht von einem prinzipiellen
Atheismus der Philosophie. Das ist methodisch zu verstehen. Während Levinas Heideggers
Seinsphilosophie Atheismus vorwirft, weist sich Heidegger selbst nicht als Atheist aus,
sondern vertritt als Philosoph die Ansicht, dass die Philosophie im Unterschied und
unabhängig von der Theologie a-theistisch sein müsse. Auch die Frage des Weges zu Gott
bzw. zum Göttlichen beantworten beide höchst unterschiedlich, nämlich Levinas als Ethiker
auf dem Weg über die Begegnung mit dem Anderen, Heidegger vor der Kehre auf
unterschiedliche Weise zunächst als Neuscholastiker, dann in der Abgrenzung von der
Dogmatik in der Begegnung mit Paulus, Augustinus, Luther und anderen Christen im
Ausgang vom gelebten Christentum, des Weiteren in Distanz zum Christentum, um als
Fundamentalontologe seinen eigenen unabhängigen Standpunkt vertreten zu können und nach
der Wende im Ereignisdenken.
Levinas unterscheidet zwischen ethischem Sagen (dire) und dem ontologisch Gesagten (dit).
Das ethische Sagen hat Vorrang vor dem ontologisch Gesagten.1197 „Vor dem Gesagten, das
in Worten erfolgt, die eine (onto)logische Bedeutung haben, gibt es ein Sagen als ethische
Exposition der Subjektivität dem Anderen gegenüber.“1198 Gott spreche zum Menschen im
Sagen, dass uns für den Anderen öffnet.1199 Wie kann nun das Ich der Gefahr entgehen, den
Anderen mit Gott zu verwechseln? Denn der Begriff „Gott“, der in Levinasʼ Philosophie das
Transzendente, das Unendliche bezeichnet, könnte zu dieser Verwechselung Anlass geben.1200
1194
Dirk Mende: „»Brief über den >Humanismus<« Zu den Metaphern der späten Seinsphilosophie“. In: Dieter
Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch, S. 255.
1195
Barbara Staudigl: Emmanuel Levinas, S. 45.
1196
E. Levinas: „Die Philosophie und die Idee des Unendlichen“. In: Ders.: Die Spur des Anderen (Freiburg
[u.a.] 1983), S. 189.
1197
Vgl. Branko Klun: „Gott jenseits des Seins und die >analogia alteritatis< bei Levinas“, S. 226.
1198
Ebd.
1199
Vgl. ebd.
1200
Vgl. Barbara Staudigl: Emmanuel Levinas, S. 109.
171
Diese Problematik löst Levinas, denn für ihn als gläubigen Juden ist klar, dass Gott nicht mit
dem Anderen verwechselt werden darf und nennt Gott „anders als der Andere [autre
qu’autrui], der andere Andere [autre autrement] (DMT 253), wobei >autre autrement< auch
als >anders auf eine andere Weise< übersetzt werden könnte.“1201
Zwei Kritikpunkte des Philosophen Levinas an Heidegger beziehen sich auf die Themen Zeit,
und den Terminus „Es gibt“(Il y a). Der Heideggersche Zeitbegriff wurde bereit unter der
Überschrift „Wahrheit – Zeit – Geschichte“ in den Blick genommen. Levinas distanziert sich
von Heideggers Zeitverständnis, indem er zwei Zeitbegriffe einführt und gegeneinander
absetzt: die „synchrone Zeit“ und die „diachrone Zeit“.1202 Im Mittelpunkt der Betrachtung im
Spätwerk Levinas’ steht die diachrone Zeit, ein Ausdruck der Ethik als Zeit für den Anderen
und nicht der Ontologie wie die synchrone Zeit.1203 Diese Zeit ist nicht die lineare Zeit als
Zeitverlauf des bewussten Subjektes, sondern sie greift störend in den synchronen Zeitverlauf
ein. Es ist die Zeit des Anderen, die eine Einladung bedeutet, der Spur des Anderen zu
folgen.1204 Heidegger dagegen bleibe nicht in der Spur des Anderen, sondern in der Spur des
Seins,1205 woraus nach Levinas folgt, dass Heidegger trotz seines Existenzials des Mit-seins
das Wesentliche der Mitmenschlichkeit nicht in Betrachtung ziehen konnte. „Levinas versteht
die Zeit als das, was immer anders wird und damit immer anders ist, als das Denken es
denken kann. So wie die Zeit ist aber auch der Andere, das andere Individuum immer anders
als das Allgemeine, alle Begriffe. Die Zeit ist darum der Andere, sie ist am Anderen vor aller
theoretischen Festlegung ethisch erfahrbar.“1206 D.h. in der Folge, dass es keine gemeinsame
Zeit zwischen dem Ich und dem Anderen gibt.
Levinas vertritt, wie bereits verdeutlicht wurde, einen anderen Seinsbegriff als Heidegger. Er
wirft Heidegger vor allem einen neutralen Seinsbegriff vor. Verdeutlicht werden kann diese
Kritik Levinas’ an dem sowohl für Heidegger als auch für Levinas grundlegenden Terminus
des „Es gibt“ bzw. „Il y a“. Heidegger selbst spricht nicht von einem neutralen oder
anonymen Sein, sondern er führt das „Es gibt“ ein im Zusammenhang seiner frühen
phänomenologischen Analysen des Wirklichkeitsbezugs, die ihn dazu veranlassten zu fragen:
„Gibt es das »es gibt«“?1207 Levinas deutet das „Es gibt“ („Il y a“) als anonymes Sein. Es
handelt sich dabei um ein unbestimmtes Seinsgeschehen, das er folgenderweise
charakterisiert: „Etwas geschieht und sei es nur die Nacht und das Schweigen des Nichts. Die
Unbestimmtheit dieses ‚etwas geschieht‘ ist nicht die Unbestimmtheit des Subjekts, bezieht
sich nicht auf ein Substantiv. Wie das Pronomen der dritten Person in der unpersönlichen
Form des Verbs meint die Unbestimmtheit nicht einen bekannten Autor der Aktion, sondern
1201
Branko Klun: „Gott jenseits des Seins und die >analogia alteratis< bei Levinas“, S. 227:
Vgl. Barbara Staudigl: Emmanuel Levinas, S. 93ff.
1203
Vgl. ebd., S. 94.
1204
Vgl. ebd.
1205
Vgl. Werner Stegmaier: Emmanuel Levinas zur Einführung, S. 60.
1206
Vgl. ebd., S. 33.
1207
Martin Heidegger: Die Bestimmung der Philosophie. GA 56/57 (Frankfurt a.M. 1987), S. 62. Vgl. Matthias
Jung: „Die frühen Freiburger Vorlesungen und andere Schriften 1919–1923. Aufbau einer eigenen Philosophie
im historischen Kontext. In: Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch, S. 15.
1202
172
den Charakter dieser Handlung selber, die in gewisser Weise keinen Autor hat, die anonym
ist. Jenen unpersönlichen, anonymen, dennoch unauslöschlichen Verzehr des Seins, der auf
dem Grunde des Nichts raunt, fixieren wir durch den Terminus es gibt [il y a] fest.“1208 Man
kann dieses Sein nicht bestimmen und lokalisieren, aber es stellt eine Bedrohung des Ich dar.
Es zeigt sich im Phänomen der Schlaflosigkeit (Wachheit) und der Müdigkeit. Als Hilfe
gegen diese Bedrohung nennt Levinas das Bewusstsein, dass sich durch Hypostase (Setzung)
gegen das entpersonalisierte Subjekt wehren kann.1209
Fassen wir noch einmal zusammen. Was den Begriff des Anderen angeht, so hebt sich dieser
im Wesentlichen von Husserls „Alter ego“ oder Heideggers „Mit-sein“ oder anderen
Vorstellungen über die Intersubjektivität dadurch ab, dass er eingebunden ist in eine radikale
Ethik, die den Anderen in den Mittelpunkt des verantwortlichen Handels stellt, und zwar
soweit, dass das Ich nur dann wahr, frei, gerecht und auf Gott bezogen sein kann, wenn es im
Antlitz des Anderen Verantwortung übernimmt, indem es die Not des Anderen wahrnimmt
und barmherzig reagiert. Der Andere bleibt immer ein Fremder, denn es gibt keine Gleichheit
aufgrund des gleichen Genus. Zwischen dem Ich und dem Anderen besteht ein
asymmetrisches Verhältnis, d.h. ein Verhältnis der Ungleichheit. Ein solches Verhältnis kann
nur in Verantwortung zum Tragen kommen, wenn das Ich seine Innerlichkeit durch Genuss
und eine entsprechende ökonomische Existenz konstituiert. Zum Genuss gehört alles, was
sich auf den Leib und das Sinnliche, vor allem auch auf den Eros, bezieht. Zur ökonomischen
Existenz gehören Heim, Bleibe und Arbeit. Ohne Genuss und entsprechende ökonomische
Existenz fehlt die Innerlichkeit, die der Exteriorität Stand halten kann, die auf der Ebene des
Seins als „il y a“ und auf der Ebene der Seienden als der Andere begegnet.1210 Die Zeit wird
in Levinas’ Ethik vor allem als diachrone Zeit verstanden. „Diachronie der Zeit bedeutet
Störung durch den Anderen, Begegnung mit dessen Ungleichzeitigkeit.“1211 Was an Levinas’
Kritik Heideggers auffällt, ist einerseits die scharfe Kritik der Heideggerschen
Seinsphilosophie und deren angebliche Folgen und die nicht sachgerechte Kritik der
Heideggerschen Intersubjektivität, zugleich aber die Anerkennung Heideggers als des größten
Philosophen des 20. Jahrhunderts.
6.2 Kritische Stimmen zu Hans Urs von Balthasar
Als Kritiker, der philosophische Thesen, die von Balthasar in seinem philosophischen Werk
zur Wahrheitsfrage Wahrheit der Welt (Theologik I) aufgestellt hat, hinterfragt, ist der
katholische Philosoph und Theologe Jörg Peter Disse zu nennen, der sich in seiner
Habilitationsschrift Metaphysik der Singularität. Eine Hinführung am Leitfaden der
Philosophie Hans Urs von Baltasars (1994) mit Wahrheit der Welt auseinandergesetzt hat.
Auf Seiten der Theologen, die sich mit von Balthasars Philosophie und Theologie beschäftigt
1208
Emmanuel Levinas: Vom Sein zum Seienden (Freiburg – München 1997), s. 69.
Vgl. ebd., S. 50ff.
1210
Vgl. ebd., S. 113 Glossar).
1211
Ebd.
1209
173
haben, ist vor allem Karl Rahner zu nennen, der einen transzendentalphilosophischen Ansatz
entwickelt hat und in seiner Dogmatik an einigen Stellen zu anderen Ergebnissen gelangt als
von Balthasar. Daneben gibt es Denker wie Heidegger und viele Andere, die grundsätzlich
jeden onto-theologischen Ansatz ablehnen. Kritische Stimmen finden sich auch unter
Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern sowie Theologen beiderlei Konfessionen, die mit
von Balthasars „Literaturtheologie“ nicht einverstanden sind; zur letztgenannten Gruppe
gehören auch solche, die entweder Balthasars methodologische Ansätze oder aber Teile seiner
dogmatischen Thesen – vor allem in der Trinitätstheologie oder auch in der Theologie der
drei Tage (1969) – kritisieren und in Frage stellen. Die Kritikpunkte im Bereich der
theologischen Methodologie beziehen sich schwerpunktmäßig auf die Themenbereiche 1.
Literaturtheologie, 2. Bach und Mozart und 3. Loci theologici.
6.2.1 Kritik von Seiten der Metaphysik am Beispiel des Philosophen und
Theologen Jörg Disse
Wenn die Kritik der Philosophie Hans Urs von Balthasars wesentlich schwächer ausfällt als
die seiner Theologie, liegt das daran, dass von Balthasar vor allem von Theologenseite
wahrgenommen wurde. Erst allmählich breitete sich die Erkenntnis aus, dass in allen
wichtigen Werken von Balthasars auch die Philosophie eine wichtige Rolle spielt und eine
entsprechende Würdigung bzw. kritische Auseinandersetzung verdient. Eine Würdigung
erfuhr sie vor allem aus den Reihen der katholischen Philosophie an Theologischen
Fakultäten; zu nennen wären hier Werner Löser, Manfred Lochbrunner, Kardinal Karl
Lehmann, Peter Henrici u.a. Der katholische Philosoph und Theologe Jörg Peter Disse nimmt
insofern eine Sonderstellung ein, weil er die sogenannte „Realdistinktion“, ein Kernstück der
Philosophie von Balthasars, in seiner Habilitation Metaphysik der Singularität einer scharfen
Kritik unterzieht, auch wenn er im Wesentlichen mit von Balthasars Auffassung zur
„Singularität“ übereinstimmt.
Disse hebt in Anlehnung an Emmanuel Levinas und Hans Urs von Balthasar die Bedeutung
des Singulären für die Philosophie hervor. Bei Emmanuel Levinas konstatiert er ein enges
Verhältnis von Alterität und Singularität.1212 Daran will er in seiner Habilitation
anknüpfen.1213 Aber er ist nicht einverstanden mit der Reduktion der Metaphysik bei Levinas:
„Levinas jedoch reduziert die Metaphysik auf eine Meta-Anthropologie. Der Bezug auf die
Alterität ist für ihn nicht anders denkbar, denn als eine intersubjektive Beziehung.
Transzendenz ist immer nur im Zusammengehen auf den anderen Menschen erfahrbar“[…].
1214
Diese Sicht stellt für Disse eine „Engführung“ dar. In seinen Worten: „Diese Engführung
kann in einer Zeit, in der auch das von der Moderne geprägte Verhältnis zur Natur fraglich
wird, nicht mehr einfach hingenommen werden. Der sich am Horizont abzeichnende
1212
Vgl. Jörg Peter Disse: Metaphysik der Singularität. Eine Hinführung am Leitfaden der Philosophie Hans Urs
von Balthasars (Freiburg i.Br. 1994), S. 5.
1213
Vgl. ebd., S. 5.
1214
Vgl. ebd., S. 5f.
174
Zusammenbruch des ökologischen Gleichgewichts unseres Planeten verbietet es, uns
weiterhin in die moderne Anthropozentrik zu verschanzen.“1215 Dahingegen sieht er in von
Balthasar einen Denker, der die anthropologische Reduktion vermeidet: „Ein Denker, der
sowohl die anthropologische Reduktion Levinas‘ als auch die Ausklammerung der Frage nach
dem Letztsinn vermieden, jedoch zugleich das Problem des metaphysischen Status‘ von
Singularität ins Zentrum seines Denkens gerückt hat, ist der Schweizer Theologe Hans Urs
von Balthasar.“1216
Disse fragt sich im Hinblick auf Balthasars Seinsphilosophie und im Hinblick auf das
Widerspruchsprinzip, „wie das Sein zugleich, und zwar in derselben Hinsicht, Allgemeines
und Je-Singulierendes sein kann.“1217 Er ist davon überzeugt, dass von Balthasar bei der
Erarbeitung der „Metaphysik der Singularität“ ohne Rücksicht auf die Kategorien unserer Zeit
auf die sogenannte „Realdistinktion“ zurückgegriffen habe.1218 Disse plädiert dagegen für eine
Begründung metaphysischer Sachverhalte aus phänomenologischer Sicht, die auch für das
moderne naturwissenschaftliche Denken nachvollziehbar sein muß. Er unterscheidet zwischen
horizontaler und vertikaler Kausalkette, um zu zeigen, dass der Begriff der Realdistinktion im
modernen Denken keinen Platz mehr haben kann. In den Naturwissenschaften gehe es um die
horizontale Kausalkette, d.h. im modernen Denken kann phänomenologisch nur auf diese
Kausalkette zurückgegriffen werden. Die Realdistinktion begründe sich aber nicht horizontal,
sondern vertikal. Das heißt, die Realdistinktion, die bei von Balthasar auf den Gedanken des
Thomas von Aquin (Summa contra gentiles, I,25) zurückgehe, sei nur theologisch von der
Offenbarung her begründbar und nicht philosophisch, denn das „causata ab alio“ bedeute eine
vertikale Begründung von Gott her.1219 Disse sieht den Seinsbegriff Balthasars als
Überbelastung des Seinsbegriffes an und schreibt: „Es ist vorzuziehen, sich mit Suarez
jesuitisch nüchtern mit einer ‚distinctio rationis‘ zu begnügen. Nur so kann eine spekulative
Überfrachtung des Seinsbegriffes vermieden werden.“1220
Auch im Zusammenhang des von Balthasarschen Begriffes der Gestalt und der Ästhetik der
Herrlichkeit legt Disse einen Verzicht auf den Begriff der Realdistinktion nahe und bemerkt:
„Dem soll nun entgegengehalten werden, dass eine Ästhetik der Herrlichkeit auch dann
realisierbar ist, wenn man sowohl auf v. Balthasars Seinsverständnis als auch auf die damit
verbundene Realdistinktion von Wesen und Sein verzichtet.“1221 Das „Dem“ bezieht sich auf
die Auffassung Balthasars, dass ohne sein Verständnis der Realdistinktion Rationalismus und
pantheistischer Idealismus zu befürchten seien.1222
1215
Ebd., S. 6.
Ebd., S. 10.
1217
Ebd., S. 245.
1218
Vgl. ebd., S. 235.
1219
Vgl. ebd., S. 252 ff.
1220
Ebd., S. 256.
1221
Ebd., S. 277.
1222
Vgl. ebd., S. 277. Zitiert nach Hans Urs von Balthasar: H III/1, S. 364.
1216
175
Ein weiteres Problemfeld der balthasarschen Philosophie ist für Disse die unübliche Betonung
der Rolle des Objekts im Erkenntnisakt, die den Eindruck vermittelt, als handele es sich beim
Objekt um einen Partner des Subjekts. Disse bemerkt dazu in einem Beitrag der Festschrift
für Walter Seidel: „Daß im ersten Band der Theologik seltsam anthropomorphistisch auch
von einer Hingabe des Objekts an das Subjekt die Rede ist (Theologik I. S. 118), so daß die
menschliche Gegenstandsbeziehung in einem noch weiteren Sinne, als hier dargestellt, als
personal ausgegeben wird, ist ein für mich äußerst problematischer Ansatz, den ich hier
unberücksichtigt lassen möchte.“1223 Er bezieht sich auf folgende Stelle in Theologik I
(Wahrheit der Welt): „Der Wille im seienden Objekt, sich zu erschließen, und der Wille im
erkennenden Subjekt sich vernehmend zu öffnen sind nur die doppelte Form der einen
Hingabe, die sich in diesen zwei Arten kundtut.“1224 In der Tat kann hier von einer unüblichen
Betrachtungsweise des Objekts gesprochen werden, auch wenn man von Balthasars Bemühen
anerkennen muß, die von ihm bei Karl Rahner in Geist in Welt vermisste „Objektmetaphysik“
in seinem eigenen Werk Wahrheit der Welt sozusagen nachzuholen.1225
Walter M. Neidl, ein Kritiker der Philosophie Gustav Siewerths und Mitglied der sogenannten
„katholischen Heideggerschule“ soll noch erwähnt werden, insofern von Balthasar Gedanken
Siewerths zur Philosophie des Aquinaten übernimmt. Allerdings erfolgt diese Übernahme
zeitlich nach Wahrheit der Welt und insofern ist Theologik I nicht direkt betroffen, aber
andere Werke der Trilogie, die nach Auskunft Balthasars ohne die Philosophie Gustav
Siewerths nicht hätten geschrieben werden können. Neidl sieht Gustav Siewerth in dem
Bemühen gescheitert, zwischen Thomas von Aquin und Heidegger zu vermitteln.1226
Außerdem bezweifelt Walter Neidl generell mit Verweis auf die Metaphysik des Aristoteles
den Sinn der Gottesfrage im Rahmen der Metaphysik. Aus der Sicht des Christen, dessen
Glauben auf der Überlieferung Israels basiere, mache es keinen Sinn, einen Gott der
Metaphysik, der sich nicht mitteilt, anzubeten.1227 Hier begegnen wir argumentativ der
gleichen Kritik Heideggers am Gott der Metaphysik und inklusiv an der Metaphysik
Balthasars.
6.2.2 Literaturtheologie
Für die Theologie stellt sich die Frage: Inwiefern gehören Literatur und Theologie
zusammen? Kann man von „Literaturtheologie“ sprechen, falls Theologen von der Literatur
inspiriert Theologie betreiben? Und trifft der Begriff „Literaturtheologe“ auf Hans Urs von
Balthasar zu? Ist diese Art von Literaturtheologie zu den loci theologici zu zählen? Die
Beantwortung dieser Fragen erweist sich als nicht so einfach. Das hängt damit zusammen,
1223
Jörg Disse: „Person und Wahrheit in der Theologie Hans Urs von Balthasars“, S. 374.
Hans Urs von Balthasar: W, S. 118.
1225
Vgl. Hans Urs von Balthasar: Rezension zu J. B. Lotz, Sein und Wert, und K. Rahner, Geist in Welt. In:
Zeitschrift für katholische Theologie 63 (1939), S. 371-379. hier S. 378.
1226
Vgl. Walter M. Neidl: „Kritische Erwägungen zum metaphysischen Rezeptionshorizont bei Gustav Siewerth“. In: Peter Reifenberg (Hrsg.): Gott für die Welt: Henri de Lubac, Gustav Siewerth und Hans Urs von
Balthasar in ihren Grundanliegen (Mainz 2001), S. 132-145. hier S. 145.
1227
Vgl. ebd., S. 143f.
1224
176
dass die Diskussion um diese Frage in der Theologie relativ neu ist. Der Begriff
„Literaturtheologie“ existierte noch nicht, als von Balthasar seine Apokalypse der deutschen
Seele veröffentlichte, und eine erschöpfende Analyse zu von Balthasars Theologie als
„Literaturtheologie“ liegt noch nicht vor.1228 Auch Romano Guardinis Bemühen um eine
Überwindung des Bruchs zwischen Kultur und Theologie durch die Begegnung mit der
Literatur firmierte zunächst nicht unter dem Begriff der „Literaturtheologie“. Der Begriff
tauchte erstmals 1978 im Titel der Dissertation Ralph Crimmans auf Literaturtheologie.
Studien zum Vermittlungsproblematik zwischen Germanistik und Theologie, Dichtung und
Glaube, Literaturdidaktik und Religionspädagogik.1229 Crimmann bezeichnet die
Literaturtheologie als eine „Grenzwissenschaft“, „als eine „wissenschaftliche und didaktische
Disziplin […], die sich über die immanente Werkinterpretation hinaus mit theologischen
Fragestellungen der Literatur befasst“.1230
Geht man von den biblischen Texten (Pentateuch, Geschichtsbücher, Psalmen, Evangelien,
Apostelgeschichte) als Zeugnisse narrativer bzw. poetischer Theologie aus, ist es durchaus
legitim, von „Literaturtheologie“ zu sprechen.1231
Die Diskussion um diese Frage scheint sich meines Erachtens immer mehr in die Richtung zu
bewegen, dass man Urs von Balthasar und seinen Lehrer Romano Guardini als
„Literaturtheologen“ bezeichnet. Diese Diskussion kann hier nicht im Einzelnen
nachgezeichnet werden. Festzuhalten ist, dass der Terminus „Literaturtheologie“1232
kontrovers diskutiert wurde und noch wird, beispielsweise 1984 bei einem Treffen von
Theologen, Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern in Tübingen auf Einladung von
Walter Jens, Hans Küng und Karl-Josef Kuschel.1233 Mehrere Teilnehmer an diesem Treffen
lehnten den Begriff „Literaturtheologie“ als „Sinnungeheuer“ ab und befürchteten einen
„imperialistischen Anspruch“ der Theologie.1234 Auch nach 1984 wurde die Diskussion
kontrovers weitergeführt und im Oktober 2004 in Würzburg mit Bezug auf Tübingen
fortgesetzt.1235“. So äußerte sich beispielsweise Manfred Lochbrunner, der wichtige Beiträge
zur Interpretation Hans Urs von Balthasars geliefert hat, kritisch zum Begriff
„Literaturtheologie“: „Der sehr weite, bisweilen in die Diskussion gebrachte Begriff
1228
Vgl. Thomas Krenski: Hans Urs von Balthasars Literaturtheologie (Hamburg 2007), S. 24.
Frankfurt – Bern – Las Vegas 1978. Vgl. ebd., S. 7.
1230
Ralph Crimmann: Literaturtheologie, S. 9.
1231
Willibald Sandler: „Christentum als große Erzählung. Anstöße für eine narrative Theologie“. In: Peter
Tschuggnall (Hrsg.): Religion – Literatur – Künste. Ein Dialog. Im Kontext 14 (Anif – Salzburg 2002), S. 523538.
1232
1989 nannte Alois Maria Haas, Germanist in Zürich, als erster von Balthasars Theologie eine „Literaturtheologie. Vgl. Alois M. Haas: „Zum Geleit“. In: Hans Urs von Balthasar: Apokalypse der deutschen Seele. Studien
zu einer Lehre von letzten Haltungen (Freiburg 1998), S. XXV, XLVIII, XXXI. Zuvor schon: Alois M Haas:
„Hans Urs von Balthasars ‚Apokalypse der deutschen Seele‘. Im Spannungsbereich von Germanistik, Philosophie und Theologie“. In: Karl Lehmann – Walter Kasper (Hrsg.): Hans Urs von Balthasar, Gestalt und Werk
(Köln 1989), S. 66.
1233
Vgl. ebd., S. 10.
1234
Vgl. ebd.
1235
Erich Garhammer – Georg Langenhorst (Hrsg.): Schreiben ist Totenerweckung. Theologie und Literatur.
(Würzburg 2005), S. 7 (Vorwort).
1229
177
»Literaturtheologie« erscheint mir im Blick auf die binnentheologischen Begriffsbildungen
wie Schöpfungstheologie, Gnadentheologie u. ä. eher problematisch. Doch ist solches
standpunktbezogenes Zugehen auf die Literatur sowohl von Guardini wie von Balthasar
praktiziert worden.“1236
Karl Josef Kuschel wirft in seinem Beitrag „Theologen und ihre Dichter. Analysen zur
Funktion der Literatur bei Rudolf Bultmann und Hans Urs von Balthasar“1237 von Balthasar
vor, kein Interesse zu zeigen an einer „solidarischen Wahrheitsfindung mit nichttheologischen
oder nichtchristlichen Zeugnissen“.1238 Balthasar sei es ausschließlich um „die Gewinnung
von ästhetischen und dramatischen Kategorien für die eigene universal-heilsgeschichtlich
konzipierte trinitarische Theologie“1239 zu tun gewesen. Diese Kritik Kuschels, der die
Dialogbereitschaft Balthasars in Abrede stellte, erschwerte es Theologen, Schriftstellern und
Philosophen, für die die Bereitschaft zum Dialog wichtig war, sich vorurteilsfrei mit der
Literaturtheologie von Balthasars auseinanderzusetzen.1240 Allerdings plädiert der katholische
Theologe Georg Langenhorst, für einen Abschied vom Dialog-Paradigma.1241 Er vertritt die
These, dass es von Beginn der Diskussion an zwischen Theologie und Literatur keinen Dialog
gegeben habe. Er führt das darauf zurück, dass die Suche nach einem Dialog in
überwiegender Weise von der Theologie ausgegangen sei, während sich Schriftsteller und
Literaturwissenschaftler nicht angesprochen fühlten.1242 Von Seiten der Germanistik kam es
zur heftigen Kritik an von Balthasars Literaturtheologie, die dazu beitrug, das Bemühen von
Balthasars um eine Denk- oder Wahrheitsform, die von Thomas Krenski als „orphische
Erkenntnisform“ bezeichnet worden ist, zu verdunkeln. So beurteilt beispielsweise die
Germanistin Sabine Haupt die Interpretation des Dichters Novalis in von Balthasars
Apokalypse der deutschen Seele als unter „literaturwissenschaftlichen Aspekten“ als
problematisch.1243 Sie führt das auf von Balthasars „methodische Prämissen“ – auf die
„metaphysische Radikalisierung der Geistesgeschichte“ – in der Interpretation des Textes
zurück.1244 Stefan Bodo Würfel bemängelt von Balthasars Verzicht auf „stilkritische
Analyse“, „gattungsgeschichtliche Einordnung“, „ästhetische Wertung“ und „historische
Verortung“ der Texte.1245 Er verweist darauf, dass die „Geistesgeschichte der zwanziger
Jahre“ zu den Grundsätzen „philologischer Textarbeit“ gestanden habe.1246
1236
Manfred Lochbrunner: Hans Urs von Balthasar und seine Philosophenfreunde, S. 215.
Theologische Quartalsschrift 172 (1992), S. 98-116.
1238
Ebd., S. 112.
1239
Ebd. S. 113.
1240
Vgl. Thomas Krenski: Hans Urs von Balthasars Literaturtheologie, S. 22
1241
Vgl. Georg Langenhorst: Theologie & Literatur. Ein Handbuch (Darmstadt 2005), S. 214ff.
1242
Vgl. ebd., S. 215.
1243
Vgl. Sabine Haupt: „Vom Geist zur Seele. Hans Urs von Balthasars theologisierte Geistesgeschichte im
Kontext der zeitgenössischen Germanistik und am Beispiel seiner Novalis-Auslegung“. In: Barbara Hallensleben
– Guido Vergauwen (Hrsg.): Letzte Haltungen. Hans Urs von Balthasars «Apokalypse der deutschen Seele» –
neu gelesen. Studia oecumenica Friburgensia 48 (Fribourg 2006), S. 40-62, hier S. 53.
1244
Vgl. ebd., S. 53.
1245
Vgl. Stefan Bodo Würfel: „Endzeit-Philologie. Hans Urs von Balthasars germanistische Anfänge“. In: Barbara Hallensleben – Guido Vergauwen (Hrsg.): Letzte Haltungen, S. 71.
1246
Vgl. ebd.
1237
178
Was die Dialogbereitschaft von Balthasars betrifft, wissen wir aus der Beschäftigung mit
seinem Werk Wahrheit der Welt, dass der Mensch im Dialog mit Gott und anderen Menschen
steht. Wie sieht von daher Hans Urs von Balthasar selbst sein Verhältnis als Theologe zur
Literatur? Die Beantwortung dieser Frage kann dazu beitragen, die Theologie Balthasars
deutlicher darzustellen und vor Fehlinterpretationen zu bewahren. Im Zusammenhang mit der
Apokalypse der deutschen Seele kann man von einer „apokalyptischen Literaturtheologie“
sprechen, insofern von Balthasar die „Letzthaltungen“ der Dichter und Denker offen legen
will.1247 Von Balthasar hat nicht vor, sich von Seiten der Theologie derer zu bemächtigen,
denen er sich interpretierend nähert. Als Theologe, der sich als Germanist professionell mit
der Literatur befasst hat, will er sich nicht über die Literaten und Philosophen erheben und sie
gnadenlos seinem theologischen Blick aussetzen, sondern er ist auf der Suche nach Gottes
Spuren in ihrem Denken. So formuliert er im Vorwort seiner Bernanos-Monographie: „Man
beklagt es auch, dass die schriftstellernden Theologen sich heute zuviel um die Dichter
kümmern, statt ihr eigenes Handwerk zu betreiben. Aber einmal hätte ich dieses Buch nicht
geschrieben, wenn jemand anderer es getan hätte, und sodann könnte es sein, dass bei den
großen katholischen Dichtern mehr originales und groß in freier Landschaft wachsendes
Gedankenleben sich findet als in der etwas engbrüstigen und bei kleiner Kost genügsamen
Theologie unserer Zeit.“1248 Dichter regten von Balthasar an, sich philosophisch und
theologisch weiterzuentwickeln, beispielsweise die „Seinslyrik“ der Dichter Trakl und Rilke,
die ihm halfen Sprach-und Denkformen zu erkennen, „sich dem sich offenbarenden göttlichen
Mysterium in dem Bewusstsein anzunähern, dass es nicht begriffen, sondern nur
wahrgenommen werden könne.“1249
Darüber hinaus wurde schon früher darauf verwiesen, welche Bedeutung dem Dramatischen
in der Theologie bei von Balthasar zukommt. Er bemängelt, dass das antike Christentum sich
zwar mit der antiken Philosophie auseinandergesetzt habe, ohne aber das seinsdeutende
Element der Tragödie zu beachten. Deshalb hält er den Dialog zwischen Theologie und
Theater für notwendig und an der Zeit. 1250 Er bedauert, dass Tertullian und Augustinus sich
gegen Theaterbesuche ausgesprochen haben. Außerdem bedauert er mit Blick auf die
abendländische Theaterliteratur, „dass nichts davon für die systematische Theologie fruchtbar
geworden“1251 sei. Augustinus verbot den Klerikern den Besuch von Theaterveranstaltungen.
Zur Rechtfertigung seiner These von der Notwendigkeit der Aussageform des Theaters
schreibt von Balthasar: „Es geht gewiß nicht darum, die Theologie in eine neu ihr bisher
fremde Form zu gießen. Sie muß diese Form von sich her fordern, ja sie implizit und an
manchen Stellen auch explizit immer schon in sich haben. Denn Theologie hat nie etwas
anderes sein können als Explikation der Offenbarung des Alten und Neuen Bundes. Diese
1247
Vgl. Thomas Krenski: Hans Urs von Balthasars Literaturtheologie, S. 15.
Hans Urs von Balthasar: Gelebte Kirche. Bernanos (Freiburg 1988), S. 9.
1249
Thomas Krenski: Hans Urs von Balthasars Literaturtheologie. S. 61. Zitiert nach Manfred Engel: „Eine neue
Poetik“. In: Rainer Maria Rilke: Werke II, S. 714.
1250
Vgl. Thomas Krenski: Hans Urs von Balthasar. Das Gottesdrama, S. 59.
1251
Hans Urs von Balthasar: TD I, S. 113.
1248
179
Offenbarung aber ist in ihrer ganzen Gestalt im Großen wie im Geringen dramatisch.“ 1252 Mit
anderen Worten: Theologie und Drama gehören bei von Balthasar zusammen.
Auch das ästhetische Element als wichtiges Element der Balthasarschen Theologie (TheoÄsthetik) kam schon im Rahmen dieser Untersuchung zur Sprache. Diesem Element
entspricht eine „ästhetische Literaturtheologie“. Das Besondere der Theo-Ästhetik besteht
darin, „die Gestaltsprache der natürlichen Welt zu lesen […] und – erst dann! – sie zu
deuten“.1253 Auch im Bereich der „Theologik“, die in Wahrheit der Welt auf dem Boden der
Philosophie die Grundlagen für die Theologie zu legen versucht, geht es zwar nicht direkt um
Literaturtheologie, aber um die Gestalt der Wahrheit.
6.2.3 Bach und Mozart
Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Musik, Theologie und Wahrheit wurde schon
unter der Überschrift „Symphonie der Wahrheit im Hinblick auf Bach und Mozart“ gestellt
und vorläufig beantwortet. Das Thema bedarf aber zunächst noch einer weiteren Vertiefung,
bevor im nächsten Abschnitt eine Antwort auf die Kritik der Theologie Balthasars von Seiten
David Bergers, Manfred Haucke u.a. oder von Seiten der Musiktheorie versucht wird.
Stefan Klöckner kritisiert von Balthasars Versuch, Musik und Theologie miteinander zu
verbinden? Er zeiht Balthasars Versuche der „hoffnungslos überfrachteten Interpretation“1254
und wirft ihm vor, etwas in Mozart hineinzulesen, was vom Libretto und von der
Komposition her nicht gerechtfertigt sei.1255 Außerdem kritisiert er bei Balthasar „die
Verabsolutierung kleinster musikalischer Details zu in Klang geronnenen Momentaufnahmen
der göttlichen Heilsgeschichte.“1256 Für von Balthasar gilt: „In der Musik scheinen mir alle
Einzelmomente direkt religiöse Erlebnisse anregen zu können, während es in der Literatur
meist so steht, dass einzelne theoretische Erkenntnisakte oder auch religiöse oder andere Akte
nur in Intervallen oder erst am Schlusse von einem ästhetischen umgriffen werden.“ 1257 Von
Balthasar ist davon überzeugt, dass ein religiöser Mensch selbst von einem Kunstwerk, das
vom Künstler nicht als ein religiöses konzipiert worden war, erfasst werden könne, weil das
Religiöse in ihm enthalten sei.1258 Küng stimmt von Balthasar in Bezug auf Mozart zu:
„Wahrhaftig wie keine andere Musik, so scheint mir Mozarts Musik – wiewohl keine
himmlische, sondern durchaus irdische Musik – in ihrer sinnlich-unsinnlichen Schönheit,
Kraft und Durchsichtigkeit zu zeigen, wie ganz fein und dünn die Grenze ist zwischen der
1252
Ebd.
Hans Urs von Balthasar: H I, S. 26.
1254
Stefan Klöckner: „Hans Urs von Balthasar und die Musik“. In: Barbara Hallensleben – Guido Vergauwen,
(Hrsg.): Letzte Haltungen, S. 291-304, hier S. 302.
1255
Stefan Klöckner: „Hans Urs von Balthasar und die Musik“, S. 295.
1256
Ebd., S. 302.
1257
Hans Urs von Balthasar: Die Entwicklung der musikalischen Idee. Versuch einer Synthese der Musik (Freiburg i.Br. 1998), S. 7.
1258
Vgl. TD I, S. 139.
1253
180
Musik […] und der Religion. […] In gewissen Momenten ist es dem Menschen gegeben, sich
zu öffnen, dass er in dem unendlich schönen Klang, den Klang des Unendlichen hört.1259
6.2.4 Literatur, Musik und Heilige (Spiritualität)- loci theologici?
Können Literatur Musik und Heilige (Spiritualität) zu den loci theologici gezählt werden und
wenn ja, inwiefern können sie einen Beitrag zum Wahrheitsverständnis im Bereich der
Theologie liefern? Einige Theologen wie der frühe David Berger und Manfred Haucke haben
in der Vergangenheit heftige Kritik an Hans Urs von Balthasar geübt. Als Maßstab ihrer
Kritik dienten ihnen die zehn loci theologici, die der spanische Theologe Melchior Cano
(1509–1560) in seinem Werk De locis theologicis nach den zehn Kategorien des Aristoteles
festgelegt hatte, um ein „Argumentationsverfahren“, eine „theologiespezifische
Diskussionslehre“ (ars disserendi) zu entwickeln, so dass man in Disputationen um die
Wahrheit des Glaubens den eigenen Standpunkt sicher vertreten und den Standpunkt des
Gegners zurückweisen konnte1260: „Als glaubensspezifisch zählt Cano die Autorität der
Heiligen Schrift, der Traditionen Christi und der Apostel, der Katholischen Kirche, der
Konzilien, der Römischen Kirche, der Kirchenväter und der scholastischen Theologen auf; als
glaubensfremde loci die Autorität der Geschichte, die Autorität der Philosophen und die
Vernunft.“1261 In dieser Aufzählung werden Literatur, Musik und Spiritualität (die Heiligen)
nicht genannt. Das nahmen David Berger, Manfred Haucke u.a. zum Anlass, Urs von
Balthasars Theologie auf den Prüfstand zu stellen. Der frühe Berger beispielsweise kritisiert
in seinem Beitrag „Neben viel Licht auch Schatten“ – Zum 100. Geburtstag von Hans Urs von
Balthasar“ vor allem die nach seiner Auffassung unzulässige Verbindung von Mystik und
Spiritualität als Erkenntnisquellen der Theologie im Werk des Schweizer Theologen, „[d]a
Mystik und Spiritualität keinen der klassischen, von Melchior Cano auf der Basis der Summa
Theologiae des Doctor angelicus (Ia, q.1) systematisierten loci theologici (Erkenntnisquellen
der Theologie) bilden und dennoch die Theologie Balthasars gerade in ihren umstrittensten
Stellen den Verdacht erweckt, dieser neuen Erkenntnisquelle gegenüber den konstituierenden
Erkenntnisquellen der klassischen Theologie den Vorrang einzuräumen […].“ 1262 Diese
Kritik überzeugt heute nicht mehr, da sich die theologische Erkenntnislehre weiterentwickelt
hat. Selbst Melchior Cano war nicht fixiert auf die Zahl zehn. Lochbrunner bemerkt dazu:
„Auch wenn Cano die Loci […] auf zehn festgelegt hat, war für ihn die Zehnzahl keinesfalls
unabänderlich. Außerdem hat die spätere Entwicklung verschiedene Modifikationen am
Konzept von Melchior Cano vorgenommen.“1263 Auch die Frage, ob die Heiligkeit in Gestalt
der Heiligen (Spiritualität und Mystik) als theologischer Erkenntnisquelle – in Analogie zu
1259
Hans Küng: Musik und Religion. Mozart – Wagner – Bruckner (München – Zürich 2006), S. 51.
Vgl. Bernhard Körner: „Mystik und Spiritualität – ein locus theologicus? Erste Hinweise an Hand der Theologie von Hans Urs von Baltasar“. In: Rivista teologica di Lugano 6 (2001), S. 221-238, hier S. 226.
1261
Ebd.
1262
David Berger: „Neben viel Lob auch Schatten – Zum 100. Geburtstag von Hans Urs von Balthasar“. Quelle:
http:// www.stjosef.at/artikel/urs_von_balthasar_berger.htm, S. 1 von 4 (letzter Aufruf: 17.07.2015).
1263
Manfred Lochbrunner: Hans Urs von Balthasar und seine Philosophenfreunde, S. 221.
1260
181
den Kirchenvätern oder den scholastischen Theologen – eine Autorität im Sinne eines eigenen
locus theologicus zugestanden werden kann, kann mit Bernard Körner positiv beantwortet
werden.1264 In der Zeit eines Melchior Cano war die Bejahung viel schwieriger, denn die
spanische Kirche befand sich einerseits in einem Abwehrkampf sowohl gegenüber der
Spiritualität im Allgemeinen (Inquisition) als auch andererseits gegenüber den Illuminaten,
die als Wegbereiter für Häresien angesehen wurden.1265 Bernard Körner begründet seine
These in Anlehnung an von Balthasar, dass die Heiligen mit ihrer Spiritualität bzw. Mystik als
locus theologicus anzusehen sind, mit einer neuen Zielrichtung der loci theologici.1266 Es geht
bei den Heiligen als locus theologicus um ein neues „Argumentationsinstrument“: „Die
Heiligen stellen ein Argumentationsinstrument dar, das nicht (wie die herkömmlichen loci) in
erster Linie der Rekonstruktion der bestehenden Lehre dient, sondern Spielräume für ein von
Gottes Geist gewirktes aggiornamento eröffnet.“ Dadurch wird die Wirkung des Heiligen
Geistes in der Geschichte der Kirche ernst genommen, so zwar, dass beispielsweise bei von
Balthasar die ignatianische Spiritualität und ihre „implizite Theologie“ zum Maßstab seiner
theologischen Trilogie (Theologische Ästhetik, Theodramatik und Theologik) geworden
sind.1267
Was die Literatur betrifft, ist Manfred Lochbrunners These überzeugend, der die Literatur als
„quasi-locus theologicus“ bezeichnet.1268 Er ist davon überzeugt, dass man die Literatur den
„loci alieni“ (ratio humana, Philosophie, historia humana) anschließen kann.1269 Ein Gleiches
gilt für die Musik, die analog zur Literatur auch Musikliteratur genannt wird.
6.2.5 Die Transzendentalphilosophie und Transzendentaltheologie Karl
Rahners
Der wichtigste Kritiker von Balthasars war Karl Rahner (1904–1984). Rahner äußerte sich
dazu in einem Gespräch: „ Ich bin in gewissen theologischen Fragen von sehr ernsthafter Art
entschieden gegen die Theologie von Hans Urs von Balthasar und er umgekehrt noch viel
mehr.“1270 Eine Erklärung für die Kontroverse zwischen Rahner und von Balthasar ist der
unterschiedliche philosophische Ansatz der beiden Protagonisten. Während von Balthasar von
der Literatur und besonders von Goethe geprägt war (phänomenologischer Ansatz), war
Rahners Ausgangspunkt das Denken des belgischen Jesuiten Joseph Maréchal (1878–
1944).1271 So formuliert von Balthasar in einem Interview mit Michael Albus im Jahre 1976:
„Rahner hat Kant, oder wenn sie so wollen, Fichte gewählt, den transzendentalen Ansatz. Und
1264
Vgl. Bernhard Körner: „Mystik und Spiritualität – ein locus theologicus“, S. 230.
Vgl. ebd., S. 229.
1266
Vgl. ebd., S. 231.
1267
Vgl. ebd., S. 232.
1268
Vgl. Manfred Lochbrunner: Hans Urs von Balthasar und seine Philosophenfreunde, S. 221.
1269
Vgl. ebd.
1270
Karl Rahner: „Der Papst könnte dazulernen. Gespräch mit Siegfried von Kortzfleisch“. In: Ders.: Sämtliche
Werke, Bd. 31 (Freiburg i.Br. 2007), S. 286.
1271
Zum Folgenden vgl. Gerhard Pollmeier: „Wahrheit der Welt“ als erste Skizze der Trilogie (Frankfurt a.M.
2008), S.13f. Vgl. auch Werner Löser: Kleine Hinführung zu Hans Urs von Balthasar (Freiburg i.Br. 2005), S.
83f.
1265
182
ich habe Goethe gewählt – als Germanist. Die Gestalt, die unauflöslich einmalige, organische,
sich entwickelnde Gestalt – ich denke an Goethes Metaphysik der Pflanzen –, diese Gestalt,
mit der Kant auch in seiner Ästhetik nicht wirklich zu Rande kommt.“1272 Unabhängig vom
Urteil von Balthasars zeigt die Lektüre des religionsphilosophischen Werkes Rahners Geist in
Welt, dass er sich intensiv mit Thomas von Aquin beschäftigt hat und mit Kants Philosophie
sowohl durch Maréchal als auch durch Heidegger vertraut war.1273 Maréchal strebte eine
Vermittlung zwischen der Metaphysik von Thomas von Aquin und der Kritik von Kant an.1274
Karl Rahner übernahm diesen Denkansatz in seinen religionsphilosophischen Schriften Geist
und Welt und Hörer des Wortes und auch in seinen theologischen Schriften nicht sklavisch,
sondern er änderte die Reihenfolge der transzendentalen Analyse Maréchals.1275 D.h. ebenso
wie schon Maréchal sich in eigenständiger Weise mit Kant und Thomas von Aquin
auseinandersetzte, verfährt auch Rahner mit Maréchal. „Während bei Maréchal erst
abschließend, am Ende der reduktiven und deduktiven Phase, die grundsätzliche Seinsgeltung
erwiesen wird, erfolgt dies bei Rahner bereits zu Beginn als Möglichkeitsbedingung nicht nur
des Urteils, sondern bereits der Frage, als eines unausweichlichen Vollzugs des
Menschen.“1276 Was heißt das für Rahners Philosophie und Theologie? Die
Transzendentalphilosophie thematisiert „die apriorischen Bedingungen der Möglichkeit von
Erkennen und Handeln im menschlichen Subjekt“.1277 Auf die „Transzendentaltheologie“
bezogen forscht Rahner nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis Gottes im
menschlichen Bewusstsein (anthropologischer Ansatz).1278 Rahner nennt drei Grundakte des
menschlichen Bewusstseins: 1. das Stellen von Fragen, 2. das Formulieren von Antworten
und 3. etwas zu wollen, etwas zu tun. Beim Erfassen eines Gegenstandes (endlicher Horizont)
beispielsweise erkennt das Subjekt, dass es diesen übersteigt (unendlicher Horizont) und so
erweist sich der Mensch als „Wesen der Transzendenz“.1279 Die Transzendentalität des
Menschen beziehe sich auch auf das ethische Handeln, denn das Gute könne durch keine
Handlung vollständig verwirklicht werden (Begrenzung). In jedem Akt des Denkens und
Handelns geschehe ein „Vorgriff“ „auf das absolute Geheimnis selbst“.1280 Mit dem Vorgriff
transzendiert das Subjekt seine von Zeit und Raum abhängige Erkenntnis. Durch den Vorgriff
ist der Mensch beim Erfassen von Gegenständen über diese hinaus „beim grundsätzlichen
1272
Michael Albus, Geist und Feuer. Ein Gespräch mit Hans Urs von Balthasar“. In: Herder Korrespondenz 30
(1976), S. 75f.
1273
Vgl. Harald Schöndorf SJ: „Die Bedeutung der Philosophie bei Karl Rahner“. In: Ders. (Hrsg.): Die philosophischen Quellen der Theologie Karl Rahners. Quaestiones Disputatae 213 (Freiburg – Basel – Wien 2005), S.
16.
1274
Vgl. Otto Muck SJ: „Thomas – Kant – Maréchal: Karl Rahners transzendentale Methode“. In: Harald
Schöndorf (Hrsg.): Die philosophischen Quellen der Theologie Karl Rahners, S. 31.
1275
Vgl. ebd., S. 44.
1276
Ebd.
1277
Nikolaus Knoepffler: Der Begriff „transzendental“ bei Karl Rahner. Zur Frage seiner Kantischen Herkunft
(Innsbruck – Wien 1993), S. 177.
1278
Vgl. Michael Bongardt: Einführung in die Theologie der Offenbarung (Darmstadt 2005), S. 96.
1279
Vgl. ebd.
1280
Ebd., S. 97.
183
Horizont aller für ihn möglichen Gegenstände und damit beim Sein an sich. Demnach steht
der Mensch immer schon in einem Bezug zum absoluten Sein, das der Ermöglichungsgrund
jeder gegenständlichen Erkenntnis ist, und bejaht dieses“.1281 Das absolute Geheimnis müsse
aus zwei Gründen wirklich existieren: 1. weil jede menschliche Tätigkeit sich im Vorgriff
(Grenzen übersteigend) auf das absolute Geheimnis ausrichtet und 2. der „unbewegte
Beweger“ (Rückgriff auf Thomas von Aquin) die „Transzendenzbewegung“ des Menschen in
Bewegung setzt und in Bewegung hält.1282 Der Mensch ist durch Reflexion in der Lage zu
erkennen, dass die Bedingung der Möglichkeit des Erkennens und ethischen Handelns im
eigenen Selbst zu finden ist, aber nicht vom Menschen sein kann (transzendentale
Gotteserfahrung). Rahner verbindet die Analyse des menschlichen Selbstbewusstseins mit
dem Offenbarungsbegriff.1283 Das bedeutet zweierlei für das Verhältnis zwischen dem
Menschen und dem hl. Geheimnis: 1. Der Mensch erfährt dieses Geheimnis, ohne es zu
begreifen und 2. Das Geheimnis offenbart sich in dieser Transzendenz.1284 Rahner versucht
einen Paradigmenwechsel in der Theologie, indem er die Frage nach dem Subjekt, die in der
neuscholastischen Theologie zugunsten eines „Objektivismus“ verdrängt worden war,
aufgreift und für die Theologie fruchtbar macht.1285 Außerdem geht er im Gegensatz zum
neuscholastischen Ansatz von einer „ursprünglichen Empfänglichkeit“ des Menschen“ für ein
in der Geschichte an ihn gerichtetes Offenbarungswort aus.1286
Es wird deutlich, dass Rahners Philosophie auf der Ebene der Begriffe und auch inhaltlich
von Kant abhängt. Während Kant die Antwort auf die Frage sucht, was der Mensch mit
Sicherheit erkennen kann, möchte Rahner wissen, wie der Mensch Gott erfahren kann?1287
Das Zentrum der Unterschiede zwischen Rahner und Kant besteht also darin, „dass das
Transzendentale bei Kant strikt auf die im strengen Sinn apriorischen subjektiven
Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis bezogen ist, die Notwendigkeit und
Allgemeinheit beanspruchen und aus denen sich ableiten lässt, in welcher Weise die
Gegenstände der Erfahrung erscheinen, bei Rahner dagegen einen Seins- und Gottesbezug in
sich birgt. Deshalb bringt bei Kant der Ausdruck ‚transzendentale Erkenntnis‘, bei Rahner der
Ausdruck ‚transzendentale Offenbarung‘ den jeweiligen Ansatz auf den Begriff.“1288
Hier kann nicht im Einzelnen auf alle Streitpunkte der Kontroverse zwischen Rahner und von
Balthasar eingegangen werden, sondern nur auf solche, die mit den unterschiedlichen
1281
Vgl. Claudia Kolf-van Melis: „Tod des Subjekts? Eine Auseinandersetzung mit Karl Rahner und Michael
Foucauld“. Vortrag in der Karl Rahner Akademie Köln vom 14. Oktober 2003, S. 6 von 13. Quelle:
http://www.kath.de/akademie/rahner/Download/Vortraege/inhalt-online/_kolf-tod.htm (letzter Aufruf: 22.07.
2015).
1282
Vgl. ebd.
1283
Vgl. ebd.
1284
Vgl. Michael Bongardt: Einführung in die Theologie der Offenbarung, S. 98.
1285
Vgl. Walter Kern – Josef Pottmeyer – Max Seckler: Handbuch der Fundamentaltheologie, Bd. 4: Traktat
Theologische Erkenntnislehre (Tübingen – Basel 2000), S. 255.
1286
Vgl. ebd.
1287
Vgl. Nikolaus Knoepfler: Der Begriff „transzendental“ bei Karl Rahner. Zur Frage seiner Kantischen Herkunft, S. 195.
1288
Ebd., S. 184.
184
Methoden der beiden Protagonisten in Zusammenhang stehen und von zentraler theologischer
Bedeutung sind. Von Balthasar nimmt 1939 in einer Rezension zu Rahners Buch Geist in
Welt Stellung zu Rahners transzendentalem Ansatz. Er referiert zunächst die Erkenntnislehre,
und befasst sich im Anschluss daran kritisch mit dem Begriff des „Vorgriffs“ und fragt:
„[W]ie muß dieser Vorgriff verstanden werden, wenn Offenbarung echte Seinseröffnung und
nicht (modernistisch) Explikation eines im Vorgriff Vorgewussten sein soll? Ungangbar ist
der Weg, der den Sinn des Vorgriffs auf die reine Ermöglichung der sinnlichen Synthesis
beschränken will, wobei die Unendlichkeit des Horizonts in keiner Weise bewusst und
gegenständlich würde. Denn diese rein faktische Verborgenheit ließe sich vielleicht auch
natürlich beheben: es könnte (in natürlicher ‚Mystik‘) das informierende Licht des intellectus
agens bewusst und angeschaut werden (und solche Mystik müsste dann – man denke an
Plotin, Schelling usw.! – für sich selbst schon alle historische Offenbarung im Rücken
haben).“1289 Trotz dieser Kritik zeigt sich von Balthasar gegen Ende versöhnlich. Er vermisst
zwar noch „eine stärkere Wendung zur Objektmetaphysik“,1290 aber er sieht durchaus Wege
(„vielleicht“) offen für eine „Intersubjektivität“.1291 Jahre später versucht von Balthasar eine
Antwort auf Rahners Geist in Welt in Wahrheit der Welt. Dort folgt er seinem eigenen Ansatz
und betont die Objektmetaphysik und die Intersubjektivität. Am 4. Dezember 1945 schreibt er
in einem Begleitbrief, als er Wahrheit der Welt seinem Oberen zur Zensur vorlegt: „ Ich
glaube, es ist die erste ignatianische Erkenntnistheorie. Maréchal und Rahner tun
Unmögliches, wenn sie als SJ Thomisten sind. Es ist eine Stillosigkeit, die durch alles
hindurchgeht.“1292 Auch in diesem Brief zeigt sich eine deutliche und elitär anmutende
Ablehnung des philosophischen Ansatzes von Rahner. 1961 hebt er die philosophischen
Erkenntnisse seines Versuches in Herrlichkeit I (Schau der Gestalt) auf die theologische
Ebene.1293
Die eigentliche Wende in den Beziehungen der beiden Protagonisten geschieht erst nach der
Veröffentlichung von Cordula oder der Ernstfall (1966), einer nachkonziliaren Schrift. Kam
es noch im Jahre 1964 anlässlich des 60. Geburtstages beider Protagonisten zu einer
gegenseitigen positiven Würdigung,1294 so war Cordula oder der Ernstfall für Rahner, seine
Freunde und Mitarbeiter wie beispielsweise Herbert Vorgrimler wie ein Paukenschlag.
Vorgrimler, der nach zwölfjähriger Freundschaft mit Urs von Balthasar seine Freundschaft
aufkündigte, äußerte sich in einem Vortrag unter der Überschrift „Theologische Positionen
Karl Rahners im Blick auf Hans Urs von Balthasar“: „[…] Und dann musste ich seine
Entfremdung, ja Feindseligkeit gegen Rahner miterleben, seit seinem Bändchen »Cordula
1289
Hans Urs von Balthasar: Rezension „Karl Rahner, Geist in Welt“ (Rezension). In: Zeitschrift für Katholische
Theologie 63 (1939), S. 377.
1290
Vgl. ebd., S. 378.
1291
Vgl. ebd.
1292
Manfred Lochbrunner: Hans Urs von Balthasar und seine Theologenkollegen (Würzburg 2009), S. 164.
Zitiert nach: Hans Urs von Balthasar: „Brief an Richard Gutzwiller“, Basel, 4.12.1945. Das Original befindet
sich im Jesuitenarchiv Zürich.
1293
Vgl. Manfred Lochbrunner: Hans Urs von Balthasar und seine Theologenkollegen, S. 255.
1294
Vgl. ebd. S. 189ff.
185
oder der Ernstfall« (1966), wo es um Rahners Theorie vom »anonymen Christsein« ging, ihre
Zusammenstöße in der Frage des geweihten Priestertums und seiner Reform in der
Internationalen Theologiekommission in Rom 1969/70.“1295 Heute kann man die Brisanz der
Schrift nur schwer verstehen, da das zentrale Thema nicht ein Angriff auf Rahner, sondern
eine Theologie des Martyriums war.1296 Erst im dritten Teil von Cordula oder der Ernstfall
(„Die Suspension des Ernstfalls“) folgt eine Kritik der These Karl Rahners bezüglich des
„anonymen Christentums“.1297 Von Balthasar stellt einen Zusammenhang zwischen Rahners
transzendental-anthropologischem Ansatz und dem „anonymen Christsein“ her und sieht
darin eine „Suspension des Ernstfalls“.1298 Der Ernstfall bedeutet, dass ein Christ bereit sein
muss, das Martyrium auf sich zu nehmen. Er wirft Rahner einen theologischen
Evolutionismus vor, dessen Ausgangspunkt der Aufstieg des Menschen sei und nicht das
Herabsteigen Gottes. Das bedeute das Fehlen einer Kreuzestheologie.1299 Von Balthasar
bemängelt zudem in der zweiten Auflage von Cordula oder der Ernstfall“ nach Reaktionen
von Lesern, die sein Urteil über Rahner als befremdlich empfunden hatten, die negativen
Auswirkungen der Theologie Rahners in der Praxis.1300 Rahner war enttäuscht über die
massive Kritik, gab jedoch keine direkte und detaillierte Antwort. Viele Theologen und
theologisch interessierte Laien standen ihm aber bei, was im damaligen kirchenhistorischen
Kontext nicht zur „Unterscheidung der Geister“ führte, sondern eher zur Lagerbildung 1301
Werfen wir noch einen kurzen Blick auf andere Konfliktfelder, in denen Rahner von
Balthasar widersprochen hat. 1302 Da ist zunächst die Theologie der Gnade. Sie beruht nach
Rahner auf drei Grundpfeilern: 1. der Universalität des göttlichen Heilswillens, was besagt,
dass die Gnade als Anruf „ontisch und ontologische Realität“ jedes Menschen ist; 2. spricht
Rahner vom „übernatürlichen Existential“, d.h., dass jeder Mensch durch die Gnade auf die
Annahme der Offenbarung dauerhaft ausgerichtet ist; 3. Ist die namenlose Offenbarung
Gottes zu nennen, in der sich Gott gnadenhaft allen Menschen mitteilt. Des weiteren kritisiert
Rahner die Trinitätstheologie von Balthasars. Rahner wollte auf den Personbegriff zur
Kennzeichnung der göttlichen Hypostasen aus Sorge vor einem vulgären Tritheismus
verzichten, während von Balthasar, der nicht tritheistisch dachte, die Perichorese der
1295
Herbert Vorgrimler: „Theologische Positionen Karl Rahners im Blick auf Hans Urs von Balthasar“. Vortrag
in der Karl Rahner Akademie Köln vom 12. Januar 2000, S. 1 von 11. Quelle:
https://www.kath.de/akademie/rahner/Download/Vortraege/inhalt-online/_vorgrimler-rahner.html (letzter Aufruf: 11.07.2015).
1296
Vgl. Manfred Lochbrunner: Hans Urs von Balthasar und seine Theologenkollegen, S. 201.
1297
Vgl. Hans Urs von Balthasar: Cordula und der Ernstfall (Einsiedeln 1968), S. 85ff.
1298
Vgl. ebd. S. 86.
1299
Vgl. ebd. S. 92.
1300
Vgl. Hans Urs von Balthasar: Cordula und der Ernstfall, S. 124 ff.
1301
Vgl. Manfred Lochbrunner: Hans Urs von Balthasar und seine Theologenkollegen. S. 212. Vgl. auch Wenn
das Salz dumm wird. 100 Jahre Hans Urs von Balthasar – und immer noch nicht genug? Dokumentation des
Symposions zum 100. Geburtstag von Hans Urs von Balthasar am 01. 06. 2005 (S. 21ff.: „Das Statement Karl
Rahners“) Quelle http://www.ktf.uni-bonn.de/Einrichtungen/dogmatik-u-propaedeutik/Dokumentation.pdf (letzter Aufruf: 22.07.2015).
1302
Zum Folgenden vgl. Gerhard Pollmeier: „Wahrheit der Welt“ als erste Skizze der Trilogie (Frankfurt a.M.
2008), S 15ff. Vgl. auch Karl-Heinz Weger: „Zur Theologie Karl Rahners“. In: Hans Dieter Mutschler (Hrsg.):
Gott neu buchstabieren. Zur Person und Theologie Karl Rahners (Würzburg 1994) S. 81-96, hier S. 88
186
göttlichen Personen ins Zentrum seiner Trinitätstheologie stellte (vgl. Richard von Sankt
Victor).1303 Sodann bestehen Unterschiede zwischen der Christologie Rahners und der von
Balthasars. Rahner war Vertreter eines strikt „chalkedonischen Konzepts“ beim „Verständnis
der „hypostatischen Union“ zwischen der göttlichen und der menschlichen Natur in der einen
Person Jesu von Nazareth. Von Balthasar vertrat demgegenüber ein „neuchalkedonisches
Konzept“, das lehramtlich mit den Entscheidungen des Konzils von Konstantinopel (553)
zusammenhängt. Gegenüber dem Neuchalkedonismus („Unus ex sanctissima trinitate passus
est“, DH 432) hält der strenge Chalkedonismus daran fest, dass der Gottmensch Jesus von
Nazareth nur in seiner Menschheit „gelitten habe“. Klar ist, dass diese Unterschiede sich auf
die gesamte Christologie und Soteriologie auswirken mussten. Noch ein letzter Streitpunkt
soll genannt werden, der verdeutlicht, dass die theologischen Ansichten beider Protagonisten
nicht harmonisch zusammenpassten. Es handelt sich um das hyper hemon, das „für euch“
bzw. „für uns“. Rahner betrieb Dogmatik in Offenheit zur Exegese, so dass sich die Exegeten
in seiner Theologie wiedererkennen konnten.1304 Urs von Balthasar bezieht sich in seiner
Interpretation auf die Traditionsformel 1 Kor 15, 3: „Denn ich habe euch in erster Linie
überliefert, was ich auch empfangen habe, dass Christus für unsere Sünden gestorben ist nach
den Schriften“. Auch Rahner kennt diese Stelle, aber er ist mit dem Exegeten Heinz
Schürmann der Ansicht, dass es eine ältere, ursprünglichere Formulierung gebe, die sich auf
die Pro-Existenz bezieht, so dass mit dem „für uns“ in Hinsicht auf den Tod Jesu gemeint
war: „So, wie Jesus sein ganzes Leben in den Dienst anderer gestellt hatte, damit es anderen
zugute komme, so wollte er dieses Dasein-für-andere treu und konsequent in seinem Tod
durchgehalten wissen, sein Eintreten bei dem Vater, zu dem er im Tode gehen würde, für
andere, uns zugute.“1305 Vorgrimler weist darauf hin, dass nach Heinz Schürmann und
anderen angesehenen Exegeten mit der Pro-Existenz ursprünglich kein stellvertretender
Sühnetod gemeint war, sondern dies eine spätere Interpretation, also eine Deutemöglichkeit
unter anderen sei.1306
Es zeigt sich, dass beide Protagonisten ähnliche Ziele verfolgten, aber durch unterschiedliche
Herkunft und unterschiedliche religionsphilosophische Voraussetzungen zu verschiedenen
Thesen im dogmatischen Bereich gekommen sind. Die Kritik ging oft von Balthasar aus, so
dass Rahner nur noch reagieren konnte. Er antwortete nicht direkt, sondern in seinen
theologischen Schriften oder indirekt durch seine Schüler und theologischen Freunde. Dass
die Zusammenarbeit zwischen Rahner und von Balthasar für einen Entwurf einer Dogmatik
auf dem Zenzenhof bei Innsbruck im Sommer 1939 nicht fortgesetzt wurde, lag wohl nicht an
1303
Vgl. zum Folgenden: Werner Löser: Kleine Hinführung zu Hans Urs von Balthasar, S. 86f.
Vgl. Herbert Vorgrimler: „Theologische Positionen Karl Rahners im Blick auf Hans Urs von Balthasar“, S. 3
von 11.
1305
Ebd. S. 2.
1306
Vgl. ebd., S. 2f.
1304
187
der Unterbrechung der Arbeit durch historisch widrige Umstände, sondern an den
unterschiedlichen dogmatischen Konzepten.1307
1307
Vgl. Manfred Lochbrunner: „Hans Urs von Balthasars Trilogie der Liebe“. In: Forum katholische Theologie
11 (1995), S. 161-181.
188
7 Resümee: Beiträge Heideggers und Balthasars zum
Wahrheitsverständnis
Im Gang der vorliegenden Untersuchung wurde das Wahrheitsverständnisses von Balthasars
und Heideggers einer eingehenden Analyse unterzogen und wichtige Kritiker aus Philosophie
und Theologie in den Blick genommen. Nun soll ein Resümee der Beiträge der beiden
Protagonisten zum Wahrheitsverständnis für eine verantwortliche philosophische wie
theologische Urteilsbildung im Hinblick auf die Frage nach der Wahrheit gezogen werden..
Die Schwierigkeit besteht angesichts der extrem unterschiedlichen Würdigungen der beiden
Protagonisten durch die Kritiker, vor allem im Fall Martin Heideggers, darin, einen Maßstab
zu finden, der den beiden Protagonisten gerecht wird. Während der Philosoph Johannes B.
Lotz Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit „in die Nähe etwa von Kants Kritik der reinen
Vernunft“1308 rückt, spricht Adorno bekannterweise despektierlich vom „Jargon der
Eigentlichkeit“. Es lohnt diesbezüglich, sich die Überlegungen des 6. Kapitels der vorliegende
Untersuchung noch einmal zu vergegenwärtigen, vor allem im Hinblick auf Habermas und
Levinas auf der einen Seite und Welte auf der anderen. Zu all diesen Problemen kommt, dass
die endgültige Beurteilung Heideggers auch wegen der noch nicht abgeschlossenen
Gesamtausgabe seiner Werke auf sich warten lässt. Meines Erachtens wird Heidegger immer
ein sehr kontrovers diskutierter Philosoph bleiben und dies nicht nur wegen seiner
Seinsphilosophie, sondern auch wegen seines Verhaltens in der Zeit des Nationalsozialismus
und danach. Im Falle von Hans Urs von Balthasar ist eine Urteilsbildung leichter, verhalten
sich doch die Kritiker nicht so extrem kontrovers wie bei Heidegger, sondern versuchen
immer wieder, die beiden wichtigsten philosophisch-theologischen Konzepte im Bereich der
katholischen Theologie des 20. Jahrhunderts, die von Balthasars und Rahners, miteinander ins
Gespräch zu bringen.
7.1 Beiträge Heideggers zum Wahrheitsverständnis
Trotz aller Schwierigkeiten soll im Folgenden versucht werden, den Beitrag Heideggers für
eine verantwortliche philosophische und theologische Urteilsbildung im Hinblick auf sein
Wahrheitsverständnis zu würdigen. Setzen wir an beim theologischen Aspekt der
Wahrheitsfrage, die vor allem für Exegeten in der Auseinandersetzung mit Johannes und
Paulus wichtig geworden ist. Auf Bultmann wurde schon im Verlauf der Untersuchung immer
wieder hingewiesen. Im Zusammenhang mit dem Johannesevangelium hat die katholische
Theologin Martina Roesner – ungeachtet der Tatsache, dass Heidegger den christlichen
Logosbegriff bei Johannes für Jesus Christus ablehnt, der als ein Seiendes (endlich) dem nicht
1308
Vgl. Johannes B. Lotz: „Was von Heideggers Denken ins künftige Philosophieren einzubringen ist“. In:
Jürgen Busche et al.: Martin Heidegger – Fragen an sein Werk. Ein Symposion (Stuttgart 1977), S. 28-32, hier
S. 28.
189
zu identifizierendem Sein gegenübersteht1309 – darauf aufmerksam gemacht, das es bei
Heidegger auch Stellen gibt, „die in unverkennbarer Weise vom Johanneischen Paradigma
des außerzeitlichen Anfangs, des nichtkausalen Ursprungs und des immanenten Hervorgangs
geprägt sind, ohne ausdrücklich darauf Bezug zu nehmen.“1310 Martina Roesner zitiert eine
eindrucksvolle Stelle aus Über den Anfang. Dort heißt es: „Der Anfang »ist« die Wesung des
Seyns. Seyn »ist« – empfängt sich selbst in der Anfängnis. Die Wesung des Seins ist im
ersten Anfang die Entbergung, die Unverborgenheit (Wahrheit). »Wahrheit« gehört deshalb in
das Wesen des Seyns und muss allein von hier gedacht werden.“1311 Die Wahrheit wird als
Wesung des Seins gedacht, was bedeutet, dass die Wahrheit vom Sein nicht verschieden ist.
Außerdem kann man Entsprechungen zum Johannesevangelium erkennen, insofern das Sein
der Anfang ist und die ursprüngliche Wahrheit in „empfangend-zeugender Weise“
hervorbringt.1312
Auch der evangelische Theologe Hans Hübner sieht Entsprechungen des Heideggerschen
Wahrheitsbegriffes mit johanneischer ebenso wie mit paulinischer Theologie. Hübner bezieht
seine Interpretation zunächst auf das Ereignisdenken des späteren Heidegger: „Dem
Ineinander von Ereignis, Seyn, Da-sein und Wort bei Martin Heidegger, zugleich auch nach
der bei ihm aufweisbaren Korrespondenz vom Zuspruch und Hören des Seyns, entspricht im
Neuen Testament, vor allem bei Paulus und Johannes, das Ineinander von Evangelium als
Macht Gottes – genauer: von Evangelium als worthafter Präsenz des mächtigen Gottes – und
Hören Gottes (genitivus obiectivus) bzw. Hören des sich im menschlichen Wort des
göttlichen Evangeliums aussprechenden Gottes. Der einerseits im Zuspruch des Seyns und der
andererseits im Zuspruch Gottes (diesmal: genitivus subiectivus) angesprochene Mensch ist
durch solchen Zuspruch ein anderer geworden.“1313 Hübner vergleicht die Gedanken
Heideggers über die Wahrheit in „Vom Wesen der Wahrheit“ mit Röm 1,16f. und Joh 1.1 und
nennt Gott einen „Deus hermeneuticus“, der sich offenbart und zugleich verbirgt. 1314 Auch bei
Heidegger gehört zum vollen Wesen der Wahrheit – in Parallelität zu Paulus und Johannes –
einerseits die Erschlossenheit (Unverborgenheit), andererseits die Verborgenheit, wobei die
Verborgenheit der Wahrheit Gottes nicht als eine Verborgenheit zu verstehen ist, die etwas
versagt oder nicht zulässt, vielmehr ist das in Gott Verborgene verborgen, weil Gott es in
souveräner Weise verbirgt oder weil es unser Erkenntnisvermögen übersteigt. Hübner geht
dann der Frage nach, ob Wahrheit (ἀλήθεια) im Johannesevangelium nicht in erster Linie statt
1309
Vgl. Martina Roesner: „Logos und Anfang – Zur Johanneischen Dimension in Heideggers Denken“ In:
Norbert Fische – Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hrsg.): Heidegger und die christliche Tradition, S. 33-54,
hier S. 47.
1310
Ebd.
1311
Martin Heidegger: Über den Anfang (GA 70), S. 42f.
1312
Vgl. Martina Roesner: Logos und Anfang – Zur Johanneischen Dimension in Heideggers Denken, S. 47.
1313
Hans Hübner: „Wahrheit und Wort: Heideggers ‚Vom Wesen der Wahrheit‘ und Wahrheit im Johannesevangelium. In: Jiří Mrázek – Jan Roskovec (Hrsg.): Testimony and Interpretation. Early Christology in its
Judeo-Hellenistic Milieu. Studies in Honor of Petr Pokorný, S. 202.
1314
Vgl. ebd., S. 202f.
190
Aussagewahrheit Wahrheit als Unverborgenheit bedeutet.1315 Falls diese Frage positiv im
Sinne der Unverborgenheit beantwortet werden kann, ist auch die fundamental-ontologische
Analyse des Heideggerschen Wahrheitsverständnisses von theologischer Bedeutung, auch
wenn der Parallelismus insofern Grenzen hat, als das Wahrheitsverständnis der
Fundamentalanalyse ein endliches Da-sein voraussetzt und ohne dieses endliche Da-sein nicht
nach Wahrheit gefragt werden könnte. Hübner fragt: „Ist auch Joh[annesʼ] existenziale
Wahrheit als existenziale Wahrheit gedacht? Geht im Joh die Frage nach der Existenz in
ihrem inneren Gefüge, wie in [Vom] W[esen der] W[ahrheit] auf die Frage nach dem Sein zu?
Meint Wahrheit dann auch Wirklichkeit, Wirklichkeit Gottes?“1316
Aus den von Hübner aus dem Neuen Testament ausgewählten Stellen möchte ich Joh 14,6
herausgreifen, wo Jesus dem Thomas verkündet: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das
Leben […].“ Hübner lehnt sich bei der Interpretation dieser Stelle eng an die Philosophie
Heideggers an: „Die zum geschichtlichen Logos gewordene göttliche Wahrheit ist als die sich
aus der Ewigkeit ‚Herausstellende‘ und sich in den Kosmos (= Menschenwelt) ‚Hineinstellende‘ und somit in diesen Kosmos hinein Ek-sistierende in ihrer geschichtlichen Existenz
Ek-sistenz geworden.“1317 Also lässt sich der Gedanke des Johannesevangeliums, dass die
Wahrheit Wahrheit des Seins Gottes ist und außerdem Existenz-Wahrheit, in Parallelität zu
Heidegger verstehen, wenn man mit der gebotenen Vorsicht interpretiert.
Aber nicht nur Exegeten haben von Heidegger profitiert, wenn sie sich mit der
Fundamentalanalyse und dem seynsgeschichtlichen Denken befasst haben, sondern auch die
katholischen Religionsphilosophen bzw. Dogmatiker wie Welte, von Balthasar, Rahner oder
Lotz u.a. – unter ihnen vor allem Bernhard Welte, der die Ansicht vertrat, dass Heideggers
Einfluss auf die Theologie zukünftig noch zunehmen werde. Welte hatte in seiner
Religionsphilosophie im Anschluss an Heidegger die These vertreten, dass das Nichts die
Grundlage jeglichen Seins-und Wahrheitsverständnisses sei. Durch die Beschäftigung mit
Heidegger sollen wichtige Fragen, die sich der Theologie in Zukunft stellen werden, in die
Wahrheitssuche der Theologie einbezogen werden, beispielsweise die Frage nach dem Fehl
Gottes oder die Frage nach der Herrschaft des vorstellenden Denkens in der Theologie . Auch
Lotz war der Ansicht, dass die Seinsphilosophie Heideggers bedeutsam für die Zukunft der
Philosophie sei. Nicht nur, dass er Sein und Zeit in die Nähe von Kants Kritik der reinen
Vernunft stellt, sondern er verweist in seinem Nachruf auf die Bedeutung der
Seinsphilosophie Heideggers: „Trotz aller gegenteiligen Strömungen kommt Heideggers
Durchbruch zum Sein selbst eine unersetzliche Bedeutung fürs künftige Philosophieren zu.
Dasselbe gilt für die damit gegebene Sicht des Menschen als Sachwalters des Seins sowie für
den im Sein sich öffnenden Zugang zu Gott, während das Versinken des Menschen im
Seienden sowohl dieser Zugang als auch das eigentliche Wesen des Menschen verloren
1315
Vgl. ebd., S. 216.
Ebd.
1317
Ebd., S. 218.
1316
191
gehen.“1318 In ähnlicher Weise dachte Hans Urs von Balthasar über Heidegger, denn er sah
bei aller Kritik in Heideggers Seinsphilosophie einen Ansatz „für eine mögliche Philosophie
der Herrlichkeit“. Er benutzt, ohne das immer kenntlich zu machen, etliche Begriffe der
Heideggerschen Philosophie, um letztlich auch eine Antwort auf Heideggers Denkansatz zu
finden. Ähnlich verhielt es sich mit Karl Rahner. Rahner wurde als Student Heideggers nicht
zu einem Heideggerianer, aber man kann die These vertreten, dass Geist in Welt auch in
Auseinandersetzung mit Heidegger entstanden ist.1319 Thomas von Aquin und Kant in der
Interpretation Maréchals standen zwar im Vordergrund der philosophischen Bemühungen
Rahners, aber es gab auch Anregungen durch Heidegger.1320 Die Auseinandersetzung mit
Heidegger zeigt das Bemühen Rahners, auch Gegenwartsphilosophen als Interpretationshilfen
für die Theologie mit einzubeziehen. In einem Aufsatz äußert er sich 1967 zum Verhältnis
von Philosophie und Theologie. Er stellt fest, dass die Theologie gegenwärtig einer großen
Zahl sich widersprechender Philosophien gegenüberstehe, die sich durch die Theologie nicht
„integrieren“ lassen1321 und fordert deshalb, dass der Theologe „innerhalb der Theologie“ zu
philosophieren habe,1322 wozu das Studium der Philosophie eine conditio sine qua non ist.
Auch Philosophen und Theologen, die jedwede Seinsphilosophie oder die Metaphysik im
traditionellen Verständnis generell ablehnen, kamen nicht umhin, sich mit Heideggers
Wahrheitsverständnis zu beschäftigen. Das wurde deutlich am Beispiel von Habermas und
Levinas. Habermas entwickelte im Laufe seines persönlichen Denkweges, der auch von einer
Kritik der Heideggerschen Philosophie geprägt war, ein Wahrheitsverständnis innerhalb
seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ mit dem Ergebnis einer „Konsenstheorie der
Wahrheit“, wobei nur im Diskurs festgestellt werden könne, was als vernünftig zu gelten
habe. Er akzeptiert E. Tugendhats Kritik am apophantischen Wahrheitsbegriff Heideggers.
Trotz aller Kritik an Heidegger lautet sein Urteil, dass Sein und Zeit das „bedeutendste
philosophische Ereignis seit Hegels »Phänomenologie« ist.
Was Levinas betrifft, so ist auch sein Denkweg nicht zu verstehen ohne die
Auseinandersetzung mit Heidegger. Auch er kritisiert das Wahrheitsverständnis Heideggers,
kommt aber zu einem anderen Ergebnis als Habermas, obwohl er sich wie Habermas überlegt,
wie eine Wiederkehr der Shoa vermieden werden kann. Er entwickelt keine Konsenstheorie
der Wahrheit, sondern geht aus von einer Kritik der abendländischen Philosophie, die ihn
dazu führt, der Wahrheit einen ethischen Aspekt zuzusprechen. Dieser ethische Aspekt der
Wahrheit zeigt sich im Respekt vor dem Antlitz des Anderen, damit dem Anderen
1318
Johannes B. Lotz: Was von Heideggers Denken ins künftige Philosophieren einzubringen ist. In: Jürgen
Busche et al.: Martin Heidegger – Fragen an sein Werk. Ein Symposion, S. 32.
1319
Vgl. Albert Raffelt: „Geist in Welt: einige Anmerkungen zur Interpretation“. In: Harald Schöndorf (Hrsg.):
Die Philosophischen Quellen der Theologie Karl Rahners, S. 57-80, hier S. 72.
1320
Vgl. ebd., S. 73.
1321
Vgl. Heinrich Watzka SJ: Wozu (noch) Philosophie im Theologiestudium?“ Quelle: http://www.sanktgeorgen.de/leseraum/watzka6.pdf, S. 5 von 10 (letzter Aufruf: 22.07.2015). Vgl. dazu auch Karl Rahner: Philosophie und Philosophieren in der Theologie“. In: Ders.: Schriften zur Theologie, Bd. VIII (Einsiedeln 1967) S.
66-87, hier S. 73.
1322
Vgl. ebd., S. 68.
192
Gerechtigkeit widerfahren und auf diese Weise gleichsam Zeugnis für die Wahrheit abgelegt
werden kann. Man muss Verantwortung für den Anderen übernehmen als Bedingung der
Wahrheit. Obwohl Levinas Heideggers Begriff der Wahrheit als Erschlossenheit ablehnt und
auch den Heideggerschen Begriff des Seins einer kritischen Betrachtung unterzieht
(Exteriorität), erkennt er in Heidegger den größten Philosophen des 20. Jahrhunderts.
Heidegger gehört in der Zwischenzeit zwar schon zu den Klassikern der
Philosophiegeschichte, aber besonders durch die Vermittlung von Karl Lehmann, Bernhard
Welte, Karl Rahner, Gustav Siewerth, Max Müller, Hans Urs von Balthasar und deren
Schüler hat er auch Wirkung auf die unmittelbare Gegenwart der Theologie.
7.2 Beiträge von Balthasars zum Wahrheitsverständnis
Bei der Würdigung von Balthasars liegt das Augenmerk hauptsächlich auf dem
philosophischen Wahrheitsbegriff, die philosophische Gotteslehre, das Verhältnis zwischen
geschöpflicher und göttlicher Wahrheit eingeschlossen. Es ist sicherlich von Balthasars
Verdienst, die Bedeutung der Wahrheitsfrage für Philosophie und Theologie erkannt zu
haben. Auch Walter Kasper weist auf die Bedeutung der theologischen Wahrheitsforschung
hin.1323 Die Vorschläge von Rudolf Bultmann, Gotthold Hasenhüttl, Hans Küng und
Leonardo Boff sind für ihn nicht überzeugend. Kasper moniert: „Die Krise der Metaphysik in
der Philosophie schlägt inzwischen voll auf die Theologie durch. Das führte dazu, dass das
traditionell metaphysische Wahrheitsverständnis weithin entweder durch ein positivistisches
oder durch ein sogenanntes geschichtliches Wahrheitsverständnis ersetzt wurde.“1324 Eine
Folge dieses unreflektierten Wahrheitsverständnisses war beispielsweise die Reaktion auf
Hans Küng in der Unfehlbarkeitsdebatte. In dieser Debatte ging es nicht in erster Linie um die
Unfehlbarkeit des päpstlichen Lehramtes, sondern „um den Wahrheitsanspruch aller
biblischen und dogmatischen Bekenntnisaussagen und damit um den theologischen
Wahrheitsbegriff insgesamt.“1325 Kasper weist demgegenüber auf Hans Urs von Balthasars
(zum Zeitpunkt dieser Bezugnahme noch unvollständige) Theologik als einen
„hoffnungsvolle[n] genuin theologische[n] Neuansatz“1326 und dessen theologischen
Wahrheitsbegriff hin. Ungeachtet dessen entscheidet sich Kasper schließlich für den
transzendentalen Ansatz Karl Rahners: „Wenn wir fragen, welche Art der Metaphysik in
unserem Kulturraum der Theologie heute angemessen ist, dann scheint mir das bleibend
gültige Anliegen und das bleibende Verdienst K. Rahners und des Wegs, den er der Theologie
gewiesen hat, deutlich zu werden.1327 Diese Entscheidung für den Ansatz Karl Rahners
mindert aber keinesfalls die Bedeutung von Balthasars in Hinsicht auf die Frage nach der
Wahrheit der Welt und nach dem Verhältnis von geschöpflicher und göttlicher Wahrheit in
1323
Walter Kasper: „Das Wahrheitsverständnis der Theologie“. In: Ders.: Theologie und Kirche, Bd. 2 (Mainz
1999). S. 28-50, hier S. 29.
1324
Ebd., S. 32.
1325
Ebd., S. 31.
1326
Ebd., S. 29.
1327
Ebd., S. 43.
193
philosophischer und theologischer Hinsicht. Beide Ansätze haben ihr je eigenen Stärken für
eine zukünftige Theologie der Wahrheit. Denn: „So sehr freilich die Theologie Metaphysik
voraussetzt, so setzt sie doch keine bestimmte Metaphysik voraus. Sie ist offen für jede Art
der Metaphysik, die selbst für die Theologie bzw. für die theologische Dimension, das heißt
für das Absolute offen ist.“1328
Wenn wir uns nun abschließend noch einmal von Balthasars Wahrheitsverständnis zu
vergegenwärtigen versuchen, so ist zunächst als das Besondere seines Wahrheitsbegriffes
festzuhalten, dass die Wahrheit eine transzendentale Eigenschaft des Seins ist und nicht in
erster Linie eine Eigenschaft der Erkenntnis. Die Wahrheit erhält so eine ontische
Dimension.1329 Sein und Wahrheit können zusammengesehen werden und ebenso die übrigen
transzendentalen Bestimmungen (circumcessio). Auf diese Weise entsteht eine enge und
unzertrennliche Einheit des Seins. Es gelingt von Balthasar jenseits der Schultheologie auf der
Grundlage der transzendentalen Eigenschaften seine Philosophie und Theologie aufzubauen.
Dadurch ergibt sich ein geschlossenes Bild der Philosophie und auch der Theologie, das auf
der einen Seite nicht mit dem Anspruch der systematischen Wissenschaft auftritt, auf der
anderen Seite aber kohärent ist. Während in Theologik I die philosophischen Grundlagen der
Wahrheit dargestellt werde, geht von Balthasar in Theologik II und Theologik III der Frage
nach, wie sich göttliche, unendliche Wahrheit in menschliche, endliche Wahrheit übersetzen
lässt. Dieser Wahrheitsbegriff enthält zwei Bedeutungsebenen: 1. als a-leitheia im Sinne von
Erschlossenheit, Enthülltheit, Unverborgenheit, Aufgedecktheit (philosophischer Aspekt) und
2. als emeth im Sinne von Treue, Beständigkeit und Zuverlässigkeit (biblischer Aspekt).
Durch den ersten Teil des Vorbegriffs der Wahrheit schließt sich von Balthasar dem
fundamentalontologischen Verständnis der Wahrheit bei Heidegger an.1330 Auf diese Weise
gelingt es von Balthasar den philosophischen mit dem biblischen Wahrheitsbegriff zu
verbinden, und er vermeidet so den von Walter Kasper kritisierten „biblizistischen
Positivismus und Fundamentalismus“.1331 Er entspricht in seinem Wahrheitsverständnis dem,
was das II. Vatikanischen Konzil unter Mysterium Christi versteht, „welches die ganze
Geschichte der Menschheit durchzieht. Von daher fordert es eine engere Verbindung von
Philosophie und Theologie, als sie in dem neuscholastischen Schema von philosophischen
Unterbau und theologischem Überbau bestanden hat.“1332
Ein zweiter Baustein seiner Seinsphilosophie ist die Analogia entis-Lehre, die er in der
Auseinandersetzung mit Karl Barth zu einer Analogia caritatis-Lehre weiterentwickelt. Das
ermöglicht in Übereinstimmung mit dem IV. Laterankonzil ein Seins- und
Wahrheitsverständnis, in dem endliche und unendliche Wahrheit, philosophischer und
theologischer Wahrheitsbegriff miteinander verbunden sind und jeder doppelte
1328
Ebd., S. 42.
Vgl. Thomas Schuhmacher: Perichorein, S. 25, Fußnote 39.
1330
Vgl. Jörg Disse: „Person und Wahrheit in der Theologie Hans Urs von Balthasars“, S. 379.
1331
Vgl. Walter Kasper: „Das Wahrheitsverständnis der Theologie“, S. 41.
1332
Ebd., S. 41 (Paraphrase nach Optatam totius 15).
1329
194
Wahrheitsbegriff vermieden wird. Von Balthasar gelingt es, jede Widersprüchlichkeit zu
vermeiden und einen Wahrheitsbegriff „bei gleichzeitiger Vielfalt der Wahrheitsebenen“ 1333
zu denken. Mit Hilfe der Seinsanalogie bekämpft von Balthasar Gnostizismus, Agnostizismus
und Pantheismus und legt das Fundament einer Schöpfungstheologie. Auch das Moment der
Zeit, das in der Scholastik vernachlässigt worden war, wird von Balthasar in seine
Philosophie der Analogie integriert, und zwar im Zusammenhang seines Nachdenkens über
die existentielle Bedeutung der „Situation“ für das menschliche Leben, auch in Anlehnung an
Heidegger, der das Thema „Zeit“ in seine Seinsphilosophie als ontologischen Sachverhalt
integriert hatte.
Ein weiterer wichtiger Baustein der balthasarschen Seinsphilosophie ist die Realdistinktion,
die Frage nach dem Unterschied zwischen Sein und Wesen. Dieser Baustein war für ihn der
Wichtigste, um einen Dialog mit der Lebens- und Existentialphilosophie führen zu können.
Auch die Analyse der Zeit, wird im Kontext der Realdistinktion philosophisch vertieft und
trägt wesentlich zum Verständnis des theologischen Wahrheitsbegriffes bei. Walter Kasper
weist in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der Metaphysik für eine „geschichtlich
bzw. heilsgeschichtlich“1334 ausgerichtete Theologie hin. Von Balthasar versteht die
Geschichtlichkeit der Wahrheit als bedeutsam für ein Verständnis des menschlichen
Erkennens im Lichte der Gesamtwahrheit. Der Mensch könne trotz aller Bemühungen in jeder
Situation seines Lebens um die Erkenntnis der Wahrheit nie zur Erkenntnis der
Gesamtwahrheit kommen. Geschichtlich betrachtet stehen Philosophen wie Theologen immer
wieder je neu vor der Aufgabe, dem Anspruch der Wahrheit zu entsprechen.
Ein Baustein der Seinsphilosophie Hans Urs von Balthasars kann nicht oft genug
hervorgehoben werden: die „Metaphysik der Singularität“. Und dass nicht nur als Beitrag zur
Kritik der Ideologien des 20. Jahrhunderts wie Faschismus und Kommunismus, sondern auch
zu einer Philosophie über das Wesen des Menschen. Die „Metaphysik der Singularität“ von
Balthasars korrespondiert mit dem biblischen Wahrheitsbegriff (emeth), bei dem es um
Festigkeit, um die von Gott versprochene und im Glauben angenommene „Treue-Wahrheit“
geht.1335 Diese Wahrheit ist nicht in erster Linie die Wahrheit der Metaphysik, sondern der
persönlichen Beziehung Gottes zu den Menschen, die auf Vertrauen gründet. Der Mensch
verlässt sich im Glauben auf die Treue Gottes, auf Gottes Zuverlässigkeit und die
Beständigkeit der göttlichen Heilszusage. Diese Heilszusage gilt jedem einzelnen Menschen
wie auch allen Völkern und Nationen. Der Einzelne verliert sein Gesicht nicht hinter seiner
Nation. Das Angebot Gottes – der Bund mit Israel – richtet sich durch Einzelne – Abraham,
Mose, die Propheten – an Israel und später durch die Apostel als Vertreter der Stämme Israels
an die ganze Menschheit. Die Treue-Wahrheit Gottes bezieht sich sowohl auf die Einzelnen
als auch auf die Allgemeinheit. Jede Ideologie, die das Volk in den Mittelpunkt stellt und den
Einzelnen mit Füßen tritt, wird durch Balthasars „Metaphysik der Singularität“ in die
1333
Vgl. ebd., S. 30.
Vgl. ebd., S. 42.
1335
Vgl. ebd., S. 34.
1334
195
Schranken verwiesen. Wie Walter Kasper, der sich auf Ignace de la Potterie bezieht, der die
Ursprünge des johanneischen Wahrheitsverständnisses im Spätjudentum entdeckt, in der Zeit,
in der biblisches und griechisches Erbe in eine Synthese zusammengeführt worden sind,1336
versucht auch von Balthasar, biblisches, griechisches und darüber hinaus thomistisches und
neuzeitliches Denken über die Wahrheit zusammenzuführen und fruchtbar zu machen für die
Theologie.
Von Balthasar wird auch in Zukunft einen Einfluss auf die Theologie haben, weil die
Wahrheitsfrage von grundlegender Wichtigkeit für die aktuelle theologische Diskussion ist.
Seine Bedeutung zeigt sich nicht zuletzt daran, dass sein Denken über den deutschen
Sprachraum hinaus weltweite Beachtung gefunden hat, vor allem in Frankreich, Italien,
Spanien und auch im angelsächsischen Bereich, wobei Peter Henrici sicher zuzustimmen ist,
wenn er vermutet, „dass der französische Kultur-und Sprachraum jener ist, in dem Balthasars
Werk heute noch (oder heute schon) seine tiefsten Auswirkungen zeigt.“1337
1336
Vgl. ebd., S. 36 (nach Ignace de la Potterie: La vérité dans Saint Jean (Rom 1977).
Peter Henrici SJ: „Hans Urs von Balthasar und der französische Katholizismus“. In: Walter Kardinal Kasper
(Hrsg.): Logik der Liebe und Herrlichkeit Gottes (Ostfildern 2006), S. 163-175, hier S. 175.
1337
196
8 Abkürzungsverzeichnis Heidegger Balthasar
8.1 Martin Heidegger
EM: Einführung in die Metaphysik (GA 40)
FD: Die Frage nach dem Ding (GA 41)
G oder GL: Gelassenheit (GA 13 und 16)
GP: Die Grundprobleme der Phänomenologie
HW: Holzwege (GA 5)
ID: Identität und Differenz
N I/II: Nietzsche Bd. I/II (GA 6.1/2)
Sch: Schellings Abhandlung » Über das Wesen der menschlichen Freiheit«
SD: Zur Sache des Denkens (GA 14)
SG: Der Satz vom Grund (GA 10)
SU: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Das Rektorat 1933/43 (GA 16)
SuZ: Sein und Zeit (GA 2)
US: Unterwegs zur Sprache GA 12)
VA: Vorträge und Aufsätze (GA7)
WD: Was heißt Denken? (GA 8)
WdW: Vom Wesen der Wahrheit
WM: Wegmarken (GA 9)
Zoll: Zollikorner Seminare
ZSD: Zur Sache des Denkens
8.2 Hans Urs von Balthasar
H I: Herrlichkeit, Bd. I
H II/1: Herlichkeit, Bd. II/1
H II/2: Herrlichkeit; Bd. II/2
H III/1: Herrlichkeit, Bd. III/1
TD I: Theodramatik Bd,. I
TD II/1: Theodramatik Bd. II/1
TD II/2: Theodramatik Bd. II/2
TD III: Theodramatik Bd. III
TD IV: Theodramatik Bd. IV
TL I: Theologik, Bd. I
TL II: Theologik, Bd. II
Tl III: Theologik, Bd. III
W: Wahrheit der Welt
197
9 Literaturverzeichnis
9.1 Primärliteratur
9.1.1 Heidegger, Martin ( Gesamtausgabe und Einzelschriften)
GA 1: Frühe Schriften (1912–1916). Hrsg. Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Frankfurt a.M.
1978).
GA 2: Sein und Zeit (1927). Hrsg. Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Frankfurt a.M. 1977).
GA 5: Holzwege. Hrsg. Friedrich Wilhelm von Herrmann (Frankfurt a.M. 1977).
GA 9 Wegmarken. Hrsg. Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Frankfurt a.M. 1976).
GA 14 Zur Sache des Denkens. Hrsg. Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Frankfurt a.M.
2007).
GA 15 Seminare (1951‒1973). Hrsg. Curd Ochwadt, (Frankfurt a.M. 1986).
GA 16 Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. Hrsg. Hermann Heidegger (1910–
1976) (Frankfurt a.M. 2000).
GA 17 Einführung in die phänomenologische Forschung. Marburger Vorlesung vom WS
1923‒24, Hrsg. Friedrich-Wilhelm v. Herrmann (Frankfurt a. M. 1994).
GA 24 Die Grundprobleme der Phänomenologie. Marburger Vorlesung vom SS 1927, Hrsg.
Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Frankfurt a.M. 1975).
GA 39 Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein« (Freiburger Vorlesung vom WS
1934/35), Hrsg. Susanne Ziegler (Frankfurt a.M. 1980).
GA 53 Hölderlins Hymne »Der Ister« (Freiburger Vorlesung vom SS 1942). Hrsg. Walter
Biemel (Frankfurt a.M. 1984).
GA 54 Parmenides (Freiburger Vorlesung vom WS 1942). Hrsg. Manfred S. Frings (Frankfurt a.M. 1982).
GA 61 Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung. (Freiburger Vorlesung vom WS 1921/22). Hrsg. Walter Bröcker und Käte
Bröcker-Oltmanns (Frankfurt a. M. 1985).
GA 63 Ontologie. Hermeneutik der Faktizität (Freiburger Vorlesung vom SS 1923). Hrsg.
Käthe Bröcker-Oltmanns (Frankfurt a.M. 1988).
GA 65 Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Hrsg. Friedrich-Wilhelm von Herrmann
(Frankfurt a.M. 1989).
GA 66 Besinnung. Hrsg. Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Frankfurt a.M. 1997).
GA 71 Das Ereignis. Hrsg. Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Frankfurt a.M. 2009).
Was ist Metaphysik? (Frankfurt a.M. 2007).
Unterwegs zur Sprache. 14. Aufl. (Stuttgart 2007).
Gelassenheit. 14. Aufl. (Stuttgart 2008).
9.1.2 Hans Urs von Balthasar
Apokalypse der deutschen Seele, Bd. I (Einsiedeln 1998).
198
Apokalypse der deutschen Seele, Bd 3: Die Vergöttlichung des Todes (Salzburg – Leipzig
1939).
„Rilke und die religiöse Dichtung“. In: Stimmen der Zeit 63 (1932), S. 185-192.
Rezension zu Johannes B. Lotz, „Sein und Wert und Karl Rahner, Geist in Welt“. In: Zeitschrift für katholische Theologie 63 (1939), S. 371-379.
„Heideggers Philosophie vom Standpunkt des Katholizismus“. In: Stimmen der Zeit 137
(1939), S. 1-5.
Wahrheit, Ein Versuch. Erstes Buch: Wahrheit der Welt (Einsiedeln 1947).
Der Christ und die Angst (Einsiedeln 1951).
Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, Band III/1. Im Raum der Metaphysik (Einsiedeln
1965), S. 769-787.
Cordula und der Ernstfall. 2. Aufl. (Einsiedeln 1967).
Spiritus Creator (Einsiedeln 1967).
Theologie der drei Tage (Einsiedeln – Zürich – Köln 1969).
Romano Guardini. Reform aus dem Ursprung. Franz Heinrich (Hrsg.): Münchener Akademie-Schriften, Bd. 53 (München 1970).
Theologik, Bd. 1. Wahrheit der Welt. (Einsiedeln 1985).
Prüfet alles, das Gute behaltet (Ostfildern 1986).
Epilog (Einsiedeln 1987)
Gelebte Kirche. Bernanos (Freiburg i.Br. 1988).
Die Entwicklung der musikalischen Idee. Versuch der Synthese der Musik. (Freiburg i. Br.
1990).
Von den Aufgaben der Katholischen Philosophie in der Zeit. (Freiburg i.B. 1998).
9.1.3 Primärliteratur (Jürgen Habermas, Emmanuel Levinas, Bernhard
Welte)
9.1.3.1 Habermas, Jürgen
Philosophisch-politische Profile (Frankfurt a.M. 1981).
Der philosophische Kurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen (Frankfurt a.M. 1988).
„Heideggers Werk und Weltanschauung“ (Vorwort). In: Victor Farias: Heidegger und der
Nationalsozialismus (Frankfurt am Main 1989).
Habermas, Jürgen – Josef Ratzinger: Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion (Freiburg – Basel – Wien 2005).
9.1.3.2 Levinas, Emmanuel
Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität (Freiburg – München 1987).
Vom Sein zum Seienden (Freiburg ‒ München 1997).
9.1.3.3 Welte, Bernhard
„Die Hölderlin-Verse zur Beisetzung Martin Heideggers. Versuch einer Deutung (1976)“. In:
199
Bernhard Caspar (Hrsg.): Denken in Begegnung mit den Denkern. II. Hegel – Nietzsche –
Heidegger. Bernhard Welte: Gesammelte Schriften, Band II/2 (Freiburg i.Br. [u.a.] 2007), S.
191-198.
„Denken und Sein. Gedanken zu Martin Heideggers Werk und Wirkung“. In : Bernhard
Caspar (Hrsg.): Denken in Begegnung mit den Denkern. II. Hegel – Nietzsche – Heidegger.
Bernhard Welte: Gesammelte Schriften, Band II/2 (Freiburg i.B. [u.a.]. 2007), S. 199-207.
„Die Lichtung des Seins. Bemerkungen zur Ontologie Martin Heideggers“ In: Bernhard
Caspar (Hrsg.): Denken in Begegnung mit den Denkern. II. Hegel – Nietzsche – Heidegger.
Bernhard Welte: Gesammelte Schriften, Band II/2 (Freiburg i.Br. 2007).
„Das Licht des Nichts: Von der Möglichkeit neuer religiöser Erfahrung“. In: Bernhard Welte:
Gesammelte Schriften, Band III/3 (Freiburg i.Br. 2008), S. 118-164.
9.2 Sekundärliteratur
Albus, Michael: „Geist und Feuer“. In: Herder Korrespondenz 30 (1976), S. 75-76.
Barth, Karl: Der Götze wackelt. (Basel 1961).
Barth, Karl: Kirchliche Dogmatik.III/3. Die Lehre von der Schöpfung (Zürich 1950).
Berger, David: : „Neben viel Lob auch Schatten – Zum 100. Geburtstag von Hans Urs von
Balthasar“. Quelle: http:// www.stjosef.at/artikel/urs_von_balthasar_berger.htm (letzter Aufruf: 17.07.2015).
Bongardt, Michael: Einführung in die Theologie der Offenbarung (Darmstadt 2005).
Böderl, Artur: „Ästhetik“. In: HelmuthVetter (Hrsg.): Wörterbuch der phänomenologischen
Begriffe (Hamburg 2004), S. 48.
Brasser Martin: Wahrheit und Verborgenheit. Interpretationen zu Heideggers Wahrheitsverständnis von „Sein und Zeit“ bis „Vom Wesen der Wahrheit“. Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften. Reihe Philosophie Band 2003 (Würzburg 1997).
Brachtendorf, Johannes: „Heideggers Metaphysikkritik in der Abhandlung: Nietzsches
Wort »Gott ist tot«“. In: Norbert Fischer – Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hrsg.): Die
Gottesfrage im Denken Martin Heideggers (Hamburg 2011), S. 105-127.
Brugger, Walter (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. Zehnte, verbesserte Auflage (Freiburg – Basel – Wien 1963).
Casanova, Marco: „Die Sprache des Ereignisses“. In: Emmanuel Mejia – Ingeborg Schüßler
(Hrsg.): Heideggers Beiträge zur Philosophie Internationales Kolloquium vom 20.-22. Mai
2004 an der Universität Lausanne (Schweiz) (Frankfurt a.M. 2009), S. 383-392.
Chibueza Uzondo, Celeszine: Die Fundierung des Erkennens im „Verstehen“ in Heideggers
Sein und Zeit und danach. Europäische Hochschulschriften, Reihe XX, Philosophie, Bd./Vol.
705 (Frankfurt a.M. 2007).
Coriando, Paola Ludovica: „Seinsbedürfnis: Zum »letzten Gott« in Heideggers »Beiträgen
zur Philosophie«“. In: Norbert Fischer – Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hrsg.): Die Gottesfrage im Denken Martin Heideggers (Hamburg 2011), S. 89-103.
Critchley, Simon: „Heidegger und Rudolf Carnap. Kommt nichts aus nichts?“ In: Dieter
Thomä (Hrsg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (Stuttgart – Weimar 2003),
S. 355-361.
200
Demmerling, Christof: „Heidegger und die Frankfurter Schule. Walter Benjamin, Max
Horkheimer, Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas“. In: Dieter Thomä (Hrsg.): HeideggerHandbuch. Leben – Werk – Wirkung (Stuttgart – Weimar 2003), S. 361-369.
Disse, Jörg: Metaphysik und Singularität: Eine Hinführung am Leitfaden der Philosophie
Hans Urs von Balthasars (Freiburg 1994).
Disse, Jörg: „Person und Wahrheit in der Theologie Hans Urs von Balthasars“. In: Peter Reifenberg – Anton van Hooff (Hrsg.): Gott für die Welt (Mainz 2001), S. 376-384.
Drewes, Hans-Anton: „Karl Barth und Hans Urs von Balthasar – ein Baseler Zwiegespräch“.
In: Magnus Striet – Jan Tück (Hrsg.): Die Kunst Gottes verstehen (Freiburg i.Br. 2005), S.
367-383.
Enders, Markus: „»Alle weltliche Schönheit ist für den antiken Menschen die Epiphanie
göttlicher Herrlichkeit«. Zur vorchristlichen Wahrnehmung des Schönen in der heidnischen
Antike nach Hans Urs von Balthasar“. In: Walter Kardinal Kasper (Hrsg.): Logik der Liebe
und Herrlichkeit Gottes. Hans Urs von Balthasar im Gespräch (Ostfildern 2006), S. 26-44.
Enders, Markus: „Die Schönheit der Seinsordnung im Lichte der Herrlichkeit Gottes“. In:
Walter Kardinal Kasper (Hrsg.): Logik der Liebe und Herrlichkeit Gottes. Hans Urs von
Balthasar im Gespräch (Ostfildern 2006), S. 76-92.
Enders, Markus: „Grundzüge philosophischer und theologischer Hermeneutik der Wahrheit
in der Theologik des Hans Urs von Balthasar“. In: Philotheos International Journal for Philosophy and Theology 3 (2003), S.274-293.
Engel, Manfred: „Mit Nietzsche auf der Suche nach Gott“. In: Ders. [Hrsg,]: Rilke, Gedichte
1895–1910 I, S. 735-740.
Espinet, David – Tobias Keiling (Hrsg): Heideggers Ursprung des Kunstwerks (Frankfurt
a.M. 2011).
Figal, Günter: Martin Heidegger zur Einführung (Hamburg 1996).
Figal, Günter: (Hrsg.): Heidegger Lesebuch (Frankfurt a.M. 2007).
Figal, Günter: Gottesvergessenheit. In: In: Ders. (Hrsg.): Zu Heidegger. Antworten und Fragen (Frankfurt a.M. 2009), S. 145-162.
Figal, Günter„Wie philosophisch zu verstehen ist. Zur Konzeption des Hermeneutischen bei
Heidegger“. In: Ders. (Hrsg.): Zu Heidegger Antworten und Fragen (Frankfurt a.M. 2009), S.
163-172.
Flatscher, Matthias: „Sorge“. In: Helmuth Vetter (Hrsg.): Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe (Hamburg 2004), S. 493f.
Frede, Dorothea: „Sein. Zum Sinn von Sein und Seinverstehen“. In: Dieter Thomä (Hrsg.):
Heidegger Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (Stuttgart ‒ Weimar 2003), S. 80-86.
Frede, Dorothea: „Wahrheit. Vom aufdeckenden Erschließen zur Offenheit der Lichtung“.
In: Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (Stuttgart ‒ Weimar 2003), S. 127-134.
Gadient, Lorenz: Wahrheit als Anruf der Freiheit. Hans Urs von Balthasars theodramatischer Erkenntnisbegriff in vergleichender Auseinandersetzung mit der transzendentalphilosophischen Erkenntniskritik Reinhard Lauths. Münchener Theologische Studien Bd. 55 (St.
Ottilien 1999).
Garhammer, Erich – Georg Langenhorst (Hrsg.): Schreiben ist Totenerweckung. Theologie und Literatur (Würzburg 2005).
201
Greisch, Jean: „Der philosophische Umbruch in den Jahren 1928‒32. Von der Fundamentalontologie zur Metaphysik des Daseins“. In: Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch.
Leben – Werk – Wirkung (Stuttgart ‒ Weimar 2003), S. 115-126.
Greisch, Jean: „Eine phänomenologische Wende der Theologie“. In: Walter Kardinal Kasper
(Hrsg.): Logik der Liebe und Herrlichkeit Gottes (Ostfildern 2006), S. 371-385.
Grondin, Jean: „Heidegger und Augustin. Zur hermeneutischen Wahrheit“. In: Ewald Richter (Hrsg.): Die Frage nach der Wahrheit (Frankfurt am Main 1997), S. 165-177.
Großheim, Michael: :„Phänomenologie des Bewusstseins oder Phänomenologie des ‚Lebens‘? Husserl und Heidegger in Freiburg“. In: Günter Figal (Hrsg.): Heidegger und Husserl
(Frankfurt a.M. 2009).
Guardini, Romano: „Bemerkungen über Sinn und Weise des Interpretierens“. In: Ders.:
Sprache – Dichtung – Deutung. Gegenwart und Geheimnis (Mainz – Paderborn 1992), S.
231-234.
Guerriero, Elio: Hans Urs von Balthasar. Eine Monographie – (Einsiedeln – Freiburg 1993).
Haeffner, Gerd: „Abendgespräch mit Martin Heidegger“. In: Theologie und Philosophie 82
(2007), S. 392-398.
Haeffner, Gerd: „Heideggers „Seins“-Frage. Beitrag zur Klärung“. In: Theologie und Philosophie 85 (2010) 2, S. 161-184.
Harries, Karsten„Das Geviert“. In : Dieter Thomä (Hrsg.) Heidegger Handbuch, S. 296.
Haupt, Sabine: „Vom Geist zur Seele. Hans Urs von Balthasars theologisierte Geistesgeschichte im Kontext der zeitgenössischen Germanistik und am Beispiel seiner NovalisAuslegung“. In: Barbara Hallensleben – Guido Vergauwen (Hrsg.): Letzte Haltungen. Hans
Urs von Balthasars «Apokalypse der deutschen Seele» – neu gelesen. Studia oecumenica
Friburgensia 48 (Fribourg 2006), S. 40-62.
Henrici, Peter: „Zur Philosophie Hans Urs von Balthasars“. In: Karl Lehmann/Walter Kasper (Hrsg.): Hans Urs von Balthasar. Gestalt und Werk (Köln 1989), S. 237-259.
Henrici, Peter: „Die Trilogie Hans Urs von Balthasars. Eine Theologie der europäischen
Kultur“. In: Internationale katholische Zeitschrift »Communio« 34 (2005), S. 117-127.
Henrici, Peter: „Die Trilogie Hans Urs von Balthasars als Anregung für die katholische Theologie“. In: Walter Kardinal Kasper (Hrsg.): Logik der Liebe und Herrlichkeit Gottes. Hans
Urs von Baslthasar (Ostfildern 2006), S. 339-349.
Henrici, Peter: „Hans Urs von Balthasar und der französische Katholizismus“. In: Walter
Kardinal Kasper (Hrsg.): Logik der Liebe und Herrlichkeit Gottes (Ostfildern 2006), S. 163175.
Herrmann, Friedrich-Wilhelm von: Der Begriff der Phänomenologie bei Heidegger und
Husserl. Wissenschaft und Gegenwart. Geisteswissenschaftliche Reihe, Heft 63 (Frankfurt
a.M. 1981).
Herrmann, Friedrich-Wilhelm von: Hermeneutische Phänomenologie des Daseins. Eine
Erläuterung von „Sein und Zeit“. Band 1. „Einleitung: die Exposition der Frage nach dem
Sinn von Sein“ (Frankfurt a.M. 1987).
Herrmann, Friedrich-Wilhelm von: Weg und Methode. Zur hermeneutischen Phänomenologie des seinsgeschichtlichen Denkens. Wissenschaft und Gegenwart: Geisteswissenschaftliche Reihe 66 (Frankfurt am Main 1990).
202
Herrmann, Friedrich-Wilhelm von: Wege ins Ereignis: Zu Heideggers »Beiträgen zur Philosophie« (Frankfurt a.M. 1994).
Herrmann, Friedrich-Wilhelm von Wahrheit, Freiheit, Geschichte. Eine systematische Untersuchung zu Heideggers Schrift Vom Wesen der Wahrheit (Frankfurt a.M. 2002).
Herrmann, Friedrich-Wilhelm von: „Die drei Wegabschnitte der Gottesfrage im Denken
Martin Heideggers“. In: Norbert Fischer – Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hrsg.): Die
Gottesfrage im Denken Martin Heideggers (Hamburg 2011), S 31-45.
Horster, Detlef: Jürgen Habermas zur Einführung (Hamburg 1999).
Hübner Hans: „Wahrheit und Wort: Heideggers ‚Vom Wesen der Wahrheit‘ und Wahrheit
im Johannesevangelium“. In: Mrázek Jirí – Jan roskovec (Hrsg.): Testimony and Interpretation. Early Christology in its Judeo-Hellenistic Milieu. Studies in Honor of Petr Pokoruý
(London [u.a.] 2004), S. 202-222.
Inishev, Ilya: „Von der Lebenswelt zur Seinsgeschichte. Verwandlungen des Philosophiebegriffes Martin Heideggers“. In: Emmanuel Mejia – Ingeborg Schüßler (Hrsg.): Heideggers
Beiträge zur Philosophie (Franfurt 2009), S. 134.
Jahraus, Oliver: Martin Heidegger. Eine Einführung (Stuttgart 2004).
Jamme, Christoph: „Phänomenologie, Heidegger und Husserl“. In: Dieter Thomä (Hrsg.):
Heidegger Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (Stuttgart – Weimar 2003), S. 37-47.
Jung, Matthias: Die frühen Freiburger Vorlesungen und andere Schriften 1919-1932. Aufbau einer eigenen Philosophie im historischen Kontext. In: Dieter Thomä (Hrsg.) Heidegger
Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (Stuttgart – Weimar 2003), S. 13-22.
Jung, Matthias: „Zum Verhältnis von Philosophie und Theologie im Denken Martin Heideggers. Konstellation zwischen Vereinnahmung und Distanz“. In: Dieter Thomä (Hrsg.):
Heidegger Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (Stuttgart – Weimar 2003), S. 474-481.
Jüngel, Eberhard: „Gott entsprechendes Schweigen? Theologie in der Nachbarschaft des
Denkens von Martin Heidegger“. In: Jürgen Busche et al.: Martin Heidegger – Fragen an
sein Werk. Ein Symposion (Stuttgart 1977), S. 37-45.
Kasper, Walter: „Das Wahrheitsverständnis der Theologie“. In: Ders.: Theologie und Kirche, Bd. 2 (Mainz 1999), S. 28-50.
Kehl, Medard: „Herausgefordert vom neuzeitlichen Denken:Romano Guardini“. In: Ders.:
Und Gott sah, dass es gut war. Eine Theologie der Schöpfung (Freiburg – Basel – Wien
2006), S. 218-236.
Kern, Andrea: „»Der Ursprung des Kunstwerkes«. Kunst und Wahrheit zwischen Stiftung
und Streit“. In: Dieter Thomä (Hrsg.) Heidegger Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (Stuttgart – Weimar 2003), S. 162-174.
Kern, Walter – Josef Pottmeyer – Max Seckler: Handbuch der Fundamentaltheologie, Bd.
4: Traktat Theologische Erkenntnislehre (Tübingen – Basel 2000).
Klun, Branko: „Die Gottesfrage in Heideggers ‚Beiträgen‘“. In: Theologie und Philosophie
81 (Freiburg ‒ Basel – Wien 2006), S. 529-547.
Klun, Branko: Gott jenseits des Seins und die >analogia alteritatis< bei Levinas“. In: Norbert
Fischer – Jakub Sirovátka (Hrsg.): Die Gottesfrage in der Philosophie Emmanuel Levinas
(Hamburg 2013), S. 205-230.
Knoepfler; Nikolaus: Der Begriff „transzendental“ bei Karl Rahner. Zur Frage seiner Kantischen Herkunft. Innsbrucker theologische Studien, Band 39 (Innsbruck 1995).
203
Körner, Bernhard: „Mystik und Spiritualität – ein locus theologicus? Erste Hinweise an
Hand der Theologie von Hans Urs von Baltasar“. In: Rivista teologica di Lugano 6 (2001), S.
221-238.
Krenski, Thomas: Hans Urs von Balthasar.Das Gottesdrama (Mainz 1995).
Krenski, Thomas: „‚Kind oder Enkel von Trennung‘. Zur Wahrheits-Form der trinitarischen
Gottes- und Erlösungslehre Hans Urs von Balthasars“. In: Magnus Striet – Jan Tück (Hrsg.):
Die Kunst Gottes verstehen (Freiburg i.Br. 2005), S. 181-219.
Krenski, Thomas: „La Muse qui est la Grace. Theologische Ästhetik“. In: Ders.: Haus Urs
von Balthasars Literaturtheologie. THEOS. Studienreihe Theologischer Forschungsergebnisse, Bd. 76 (Hamburg 2007), S. 123-153.
Kuschel, Karl-Josef: „Theologen und ihre Dichter. Analysen zur Funktion der Literatur bei
Rudolf Bultmann und Hans Urs von Balthasar“. In: Theologische Quartalsschrift 172 (1992),
S. 98-116.
Küng, Hans: Musik und Religion. Mozart ‒ Wagner ‒ Bruckner (München ‒ Zürich 2006).
Lafont, Christina: „Hermeneutik und Linguistic Turn“. In: Hauke Brunkhorst – Regina
Kreide – Cristina Lafont (Hrsg.): Habermas Handbuch (Stuttgart 2009), S. 29-34.
Landmesser, Christof: Wahrheit als Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft. Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, Bd. 113 (Tübingen 1999).
Langhorst, Georg: Theologie & Literatur. Ein Handbuch (Darmstadt 2005).
Legnowski Peter: „Die letzte »säkulare Verwirklichung der Herrlichkeit«. Zur Goetherezeption Hans Urs von Balthasars“. In: Walter Kardinal Kasper (Hrsg.): Logik der Liebe und
Herrlichkeit Gottes, Hans Urs von Balthasar im Gespräch (Ostfildern 2006), S. 134-145.
Lochbrunner, Manfred: Analogia Caritatis. Freiburger Theologische Studien, Band 120
(Freiburg i.Br. 1981).
Lochbrunner, Manfred: „Guardini und Balthasar. Auf der Spur einer geistigen Wahlverwandtschaft“. In: Forum katholische Theologie 12 (1996), S. 229-246.
Lochbrunner, Manfred: „Romano Guardini und Hans Urs von Balthasar. Integration von
Theologie und Literatur“. In: Internationale katholische Zeitschrift »Communio« 34 (Freiburg
2005), S. 168-185.
Lochbrunner, Manfred: „Romano Guardini und Hans Urs von Balthasar“. In: Ders.: Hans
Urs von Balthasar und seine Philosophenfreunde (Würzburg 2005), S. 55-89.
Lochbrunner, Manfred: Hans Urs von Balthasar und seine Theologenkollegen. Sechs Beziehungsgeschichten (Würzburg 2009).
Lotz, Johannes B.: „Analogie“. In: Walter Brugger (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. 10.
verbesserte Auflage (Freiburg – Basel – Wien 1963), S. 9-11.
Lotz, Johannes B.: „Nichts“. In: Walter Brugger (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. 10.
verbesserte Auflage (Freiburg – Basel – Wien 1963), S. 216.
Lotz, Johannes B.: „Zur Frage nach Gott in der Seinsphilosophie nach Martin Heidegger“.
In: Stimmen der Zeit 204 (1986), S. 744-754.
Lotz, Johannes B.: „Was von Heideggers Denken ins künftige Philosophieren einzubringen
ist“. In: Jürgen Busche et al.: Martin Heidegger – Fragen an sein Werk. Ein Symposion
(Stuttgart 1977), S. 28-32.
204
Löser, Werner: „Das Sein – ausgelegt als Liebe: Überlegungen zur Theologie Hans Urs von
Balthasars“. In: Internationale katholische Zeitschrift »Communio« 4 (1975), S. 410-424.
Löser, Werner: Im Geiste des Origenes: Hans Urs von Balthasar als Interpret der Theologie
der Kirchenväter. Frankfurter Theologische Studien, Bd. 23 (Frankfurt a.M. 1976).
Löser, Werner: Kleine Hinführung zu Hans Urs von Balthasar (Freiburg i.Br. 2005).
Löser, Werner: „Der herrliche Gott. Hans Urs von Balthasars ‚theologische Ästhetik‘“. In:
Rainer Kampling (Hrsg.): Herrlichkeit. Zur Deutung einer theologischen Kategorie (Paderborn 2008), S. 269-293.
Löser, Werner: „Der christliche Beitrag zur Metaphysik. Hans Urs von Balthasar im Gespräch mit Martin Heidegger“. In: Thomas Schmidt u.a. (Hrsg.): Herausforderungen der Modernität. Religion in der Moderne 25 (Würzburg 2012), S. 19-34.
Luckner, Andreas: Martin Heidegger: »Sein und Zeit«. Ein einführender Kommentar. Studienkommentar zur Philosophie. 2., korr. Auflage (Paderborn [u.a.] 2007)
Marten, Rainer: »: „»Der Begriff der Zeit«. Eine Philosophie in der Nußschale“. In: Dieter
Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (Stuttgart – Weimar 2003), S.
22.
Melis, Dr. Claudia Kolf van: „Tod des Subjekts? Eine Auseinandersetzung mit Karl Rahner
und Michael Foucauld“. Vortrag in der Karl Rahner Akademie Köln vom 14. Oktober 2003,
S.
1-13.
Quelle:
http://www.kath.de/akademie/rahner/Download/Vortraege/inhaltonline/_kolf-tod.htm (letzter Aufruf: 22.07.2015).
Mende, Dirk: „‚Brief über den »Humanismus«‘ Zu den Metaphern der späten Seinsphilosophie“. In: Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (Stuttgart –
Weimar 2003), S. 247-258.
Menke, Karl-Heinz: „Trotz dieser Polemik: Worauf es von Balthasar ankommt“. In: Wenn
das Salz dumm wird. 100 Jahre Hans Urs von Balthasar – und immer noch nicht genug?
DOKUMENTATION des Symposions zum 100. Geburtstag von Hans Urs von Balthasar am
01.06.2005 (Universität Bonn): http://www.ktf.uni-bonn.de/Einrichtungen/dogmatik-upropaedeutik/Dokumentation.pdf (letzter Aufruf: 10.07.2015).
Möllenbeck, Thomas: Endliche Freiheit, unendlich zu sein. Zum metaphysischen Anknüpfungspunkt der Theologie mit Karl Rahner, Hans Urs von Balthasar und Johannes Duns
Scotus. Paderborner Theologische Studien, Bd. 53 (Paderborn [u.a.] 2012).
Muck, Otto: „Thomas – Kant – Maréchal: Karl Rahners transzendentale Methode“. In: Harald Schöndorf (Hrsg.): Die philosophischen Quellen der Theologie Karl Rahners. Quaestiones Disputatae 213 (Freiburg – Basel – Wien 2005), S. 31-56.
Müller, Wolfgang W.: „Hans Urs von Balthasar im Gespräch mit Karl Barth“. In: Wolfgang
W. Müller (Hrsg.): Karl Barth-Hans Urs von Balthasar. Eine theologische Zwiesprache (Zürich 2006), S. 11-26.
Neidl, Walter M.: „Kritische Erwägungen zum metaphysischen Rezeptionshorizont bei Gustav Siewerth“. In: Peter Reifenberg (Hrsg.): Gott für die Welt: Henri de Lubac, Gustav Siewerth und Hans Urs von Balthasar in ihren Grundanliegen (Mainz 2001), S. 132-145.
Pieper, Josef: „Heideggers Wahrheitsbegriff“. In: Berthold Wald (Hrsg.) Schriften zum Philosophiebegriff (Hamburg 1995), S. 186-198.
Pollmeier, Gerhard: „Wahrheit der Welt“ als erste Skizze der Trilogie (Frankfurt a.M.
2008).
205
Polt, Richard: „»Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)«. Ein Sprung in die Wesung des
Seins“. In: Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (Stuttgart –
Weimar 2003), S. 184-193.
Pöggeler, Otto: Der Denkweg Martin Heideggers (Pfullingen 1963).
Pöltner, Günther: „Philosophie als »Korrektion« der Theologie. Heideggers Bestimmung
des Verhältnisses von Philosophie und Theologie“. In: Norbert Fischer – Friedrich-Wilhelm
von Herrmann (Hrsg.): Die Gottesfrage im Denken Martin Heideggers, S. 69-88.
Raffelt, Albert: „Martin Heidegger und die christliche Theologie. Eine Orientierung mit
Blick auf die katholische Rezeption“. In: Norbert Fischer – Friedrich-Wilhelm von Herrmann
(Hrsg.): Die Gottesfrage im Denken Martin Heideggers (Hamburg 2007), S. 195-221.
Rahner, Karl: „Der Papst könnte dazulernen. Gespräch mit Siegfried von Korzfleisch“. In:
Ders. :Sämtliche Werke, Bd. 31 (Freiburg i. Br. 2007).
Rahner, Karl: Philosophie und Philosophieren in der Theologie. In: Ders. : Schriften zur
Theologie, Bd. VIII (Einsiedeln 1967), S. 66-87.
Reijen, Willem van: Martin Heidegger (Paderborn 2009).
Rentsch, Thomas: „»Sein und Zeit«. Fundamentalontologie als Hermeneutik der Endlichkeit“. In: Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (Stuttgart –
Weimar 2003), S. 51-80.
Roesner, Martina: „Logos und Anfang – Zur Johanneischen Dimension in Heideggers Denken“ In: Norbert Fische – Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hrsg.): Heidegger und die
christliche Tradition (Hamburg 2007), S. 33-54.
Sandbothe, Mike: „Zeit – Von der Grundverfassung des Daseins zur Vielfalt der ZeitSprachspiele“. In: Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch. Leben – Werk – Wirkung
(Stuttgart – Weimar 2003), S. 87-92.
Schindler, David C.: Hans Urs von Balthasar and the Dramatic Structure of Truth: A Philosphical Investigation (New York 2004).
Schindler, David C.: „Metaphysics within the Limits of Phenomenology: Balthasar and Husserl on the Nature of the Philosophical Act“. In: Teologia y vida I (2009), S. 243- 258.
Schöndorf, Harald: „Die Bedeutung der Philosophie bei Karl Rahner“. In: Ders. (Hrsg.): Die
philosophischen Quellen der Theologie Karl Rahners. Quaestiones Disputatae 213 (Freiburg
– Basel – Wien 2005), S. 13-29.
Schuhmacher, Thomas: Perichorein. Zur Konvergenz von Pneumatologik und Christologik
in Hans Urs von Balthasars theodramatischem Entwurf einer Theologik. Wortmeldung 7
(München 2007).
Seubold, Günter: „Ereignis“. In: Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch. Leben – Werk
– Wirkung (Stuttgart – Weimar 2003), S. 302-306.
Splett, Jörg: „Der Christ und seine Angst erwogen mit Hans Urs von Balthasar“. In: Peter
Reifenberg – Anton van Hooff (Hrsg.): Gott für die Welt. Henri de Lubac, Gustav Siewerth
und Hans Urs von Balthasar in ihren Grundanliegen. Festschrift für Walter Seidel) (Mainz
2001), S. 315-331.
Staudigl, Barbara: Emmanuel Levinas (Göttingen 2009).
Stegmaier, Werner: „Heidegger und Emmanuel Levinas. Bruch mit der Neutralität des
Seins“. In: Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (Stuttgart –
Weimar 2003), S. 417-424.
206
Stegmaier, Werner: Emmanuel Levinas zur Einführung (Hamburg 2009).
Steinfath, Holmer: „Heidegger und Ernst Tugendhat. Die Sprachanalytische Transformation
der Philosophie Heideggers“. In: Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch. Leben – Werk
– Wirkung (Stuttgart – Weimar 2003), S. 408-410.
Sturma, Dieter: „Die Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger.
Kontroverse Transzendenz“. In: Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch. Leben – Werk –
Wirkung (Stuttgart – Weimar 2003), S. 110-115.
Thomä, Dieter: „Heidegger und Leo Strauss. »Here is the Great Trouble. The only Great
Thinker in our time is Heidegger«“. In: Ders. (Hrsg.): Heidegger Handbuch. Leben – Werk –
Wirkung (Stuttgart – Weimar 2003), S. 380-384.
Thurnher, Rainer: „Heideggers Distanzierung von der metaphysisch geprägten Theologie
und Gottesvorstellung“. In: Norbert Fischer – Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hrsg.): Die
Gottesfrage im Denken Heideggers (Hamburg 2011), S. 175-194.
Tietz, Udo: „Heidegger und Ludwig Wittgenstein. Diesseits des Pragmatismus- Jenseits des
Pragmatismus“. In: Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch. Leben – Werk – Wirkung
(Stuttgart – Weimar 2003), S. 345- 355.
Vass, Balint: Die geschichtliche Bewertung des endlichen Seins in der Theologie Hans Urs
von Balthasars (Budapest 2010).
Vedder, Ben: „Die Faktizität der Hermeneutik. Ein Vorschlag“. In: Heidegger Studies 12
(1996), S. 95-107.
Vetter, Helmuth: „Geschick“. In: Ders. (Hrsg.): Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe (Hamburg 2004), S. 227.
Vetter, Helmuth: „Phänomenologie, phänomenologisch“. In: Ders. (Hrsg.): Wörterbuch der
phänomenologischen Begriffe (Hamburg 2004), S. 410-425.
Vetter, Helmuth: „Verstehen“. In: Ders. (Hrsg.): Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe (Hamburg 2004), S. 590-592.
Volpi, Franco: „Der Rückgang auf die Griechen in den zwanziger Jahren. Eine hermeneutische Perspektive auf Aristoteles, Platon und die Vorsokratiker im Dienst der Seinsfrage“. In:
Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (Stuttgart – Weimar
2003), S. 26-37.
Vorgrimler, Herbert: „Theologische Positionen Karl Rahners im Blick auf Hans Urs von
Balthasar“. Vortrag in der Karl Rahner Akademie Köln vom 12. Januar 2000, S. 1 von 11.
Quelle: https://www.kath.de/akademie/rahner/Download/Vortraege/inhalt-online/_vorgrimlerrahner.html (letzter Aufruf: 11.07.2015).
Watzka, Heinrich: Wozu (noch) Philosophie im Theologiestudium?“ Quelle:
http://www.sankt-georgen.de/leseraum/watzka6.pdf, S. 1 von 10 (letzter Aufruf: 22.07.2015).
Weger, Karl-Heinz: „Zur Theologie Karl Rahners“. In: Hans Dieter Mutschler (Hrsg.): Gott
neu buchstabieren. Zur Person und Theologie Karl Rahners (Würzburg 1994), S. 81-96.
Wiercinski, Andrzey: „Hermeneutik der Gabe. Die Wechselwirkung von Philosophie und
Theologie bei Hans Urs von Balthasar“. In: Walter Kardinal Kasper (Hrsg.): Logik der Liebe
und Herrlichkeit Gottes. Hans Urs von Balthasar im Gespräch (Ostfildern 2006), S. 350-370.
Wild, Jakob Henry: Rainer Maria Rilke. Sein Weg zu Gott (Zürich – Leipzig 1936).
Würfel, Stefan Bodo: „Endzeit-Philologie. Hans Urs von Balthasars germanistische Anfänge“. In: Barbara Hallensleben – Guido Vergauwen (Hrsg.): Letzte Haltungen. Hans Urs von
207
Balthasars «Apokalypse der deutschen Seele» – neu gelesen. Studia oecumenica Friburgensia
48 (Fribourg 2006), S. 63-82.
Zaborowski, Holger: „Wahrheit und die Sachen selbst. Der philosophische Wahrheitsbegriff
in der phänomenologischen und hermeneutischen Tradition der Philosophie des 20. Jahrhunderts: Edmund Husserl, Martin Heidegger und Hans Georg Gadamer“. In: Markus Enders –
Jan Szaif (Hrsg.): Die Geschichte des philosophischen Begriffs der Wahrheit (Berlin – New
York 2006), S. 337-367.
208
Herunterladen