Psychische Leiden möglichst früh behandeln

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Tages-Anzeiger – Donnerstag, 8. November 2012
Wissen
Wissen im Bild Der grösste Rotor der Welt
Diese Hälfte eines gigantischen Rotorblattes gehört zum grössten Flügel einer Offshore-Windanlage, der je gebaut wurde.
Er ist mit 75 Metern beinahe so lang wie
die Tragfläche eines Airbus 380. Die
Windturbine besteht aus drei solchen Rotorblättern. Im Juni waren sie noch in
einer Halle im dänischen Aalborg gelagert. Nun werden sie im dänischen Osterild getestet und treiben dabei eine 6-Megawatt-Turbine an. Damit kann ein einziges
«Windrad» laut dem Hersteller Siemens
den Strom produzieren, der den Jahresbedarf von 6000 Haushalten deckt.
Bei solchen Dimensionen ist Ingenieurkunst gefragt. Wären die Rotorblätter laut Siemens nach herkömmlicher
Technologie gebaut worden, würden sie
10 bis 20 Prozent mehr wiegen. Die Entwickler verwendeten jedoch leichte
Glasfasern und konstruierten hälftig die
Rotorblätter aus einem Guss ohne Leimfugen. Das macht sie trotz dem leichten
Material stabil. Glasfasern sind verhältnismässig kostengünstig und robust genug, um den gigantischen Kräften des
Windes zu widerstehen. Je leichter die
Rotoren sind, desto weniger Material
braucht es für die gesamte Anlage, vom
Maschinenraum über den Turm bis hin
zum Fundament. Das wirkt sich deutlich
auf die Kosten aus.
Die Megawindanlage ist ein grosser
Fortschritt. Die erste Siemens-Turbine
hatte vor dreissig Jahren eine Leistung,
die 200-mal geringer war. (ml)
Foto: PD
Psychische Leiden
möglichst früh behandeln
Nachrichten
Energietechnik
Fortschritt bei Stromnetzen
für Windenergie
Zürcher Psychiater arbeiten an einer Studie zur Früherkennung von Schizophrenie
und manisch-depressiven Störungen bei Jugendlichen.
Von Felix Straumann
Annika* weiss genau, dass sie ihn gesehen hat: den Mann, der mit seinem Kopf
unter dem Arm die Strasse überquerte.
Nicht nur einmal, sondern immer wieder an verschiedenen Tagen. Im nächsten Augenblick war der Geist jeweils
wieder verschwunden, ohne dass ihn
ausser dem 13-jährigen Mädchen jemand
gesehen hätte. Sie will deshalb auch niemandem davon erzählen, obwohl die Erscheinungen sie beunruhigen.
Später spricht Annika trotzdem über
die Geister – mit Miriam Gerstenberg,
Assistenzärztin beim Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst (KJPD) des
Kantons Zürich. «Solche Wahrnehmungsstörungen sind in dem Alter relativ häufig», sagt die Psychiaterin. Das
Problem sei, dass die Wahrnehmungen
oft sehr subtil und schwer fassbar seien.
Etwa der Eindruck, dass sich ein Bilderrahmen für kurze Zeit verschiebt oder
das Gesicht der Lehrerin vorübergehend
entstellt ist. Man müsse deshalb sehr genau nachfragen.
Annika gilt als Risikopatientin. Ihre
Wahrnehmungsstörungen könnten sich
zu einer schweren psychischen Erkrankung entwickeln, glauben Psychiater.
Das Mädchen ist deshalb unter den 91 Jugendlichen im Alter von 13 bis 18 Jahren,
bei denen Zürcher Forscher die Früherkennung von schizophrenen Psychosen und manisch-depressiven, auch bipolar genannten Störung untersuchen.
Die Studie, an der auch Miriam Gerstenberg beteiligt ist, findet im Rahmen des
Zürcher Impulsprogramms zur nach­
haltigen Entwicklung der Psychiatrie
(ZInEP) statt. Sie gehört zu den weltweit
ersten Untersuchungen, die das Thema
Früherkennung bei Kindern und Jugendlichen bearbeitet.
Grosse Vorbehalte
Die Früherkennung hat sich seit einigen
Jahren zu einer der Hauptrichtungen in
der Psychiatrie entwickelt, insbesondere in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dies nachdem man bei Erwachsenen
festgestellt hat, dass bei den meisten von
Psychose Betroffenen erste Symptome
bereits in der Kinder- und Jugendzeit
auftraten. Ob Essstörungen, Autismus,
Persönlichkeitsstörungen oder das Zappelphilipp-Syndrom ADHS – psychische
Leiden sollen möglichst vorzeitig erkannt werden. «Je früher wir behandeln,
umso besser ist der Verlauf und die Prognose für die Betroffenen», sagt Susanne
Walitza, Ärztliche Direktorin des KJPD
des Kantons Zürich.
Allerdings stossen die Bemühungen
der Psychiater auf grosse Vorbehalte. Die
Befürchtung: Unangepasste Kinder werden zu Unrecht als psychisch krank oder
zu Risikofällen erklärt und psychiatrisiert. Solche Kritik wurde beispielsweise
auch vor einigen Jahren beim grossen Nationalen Forschungsprogramm Sesam
laut. Dieses wollte die psychische Entwicklung von 3000 Kindern ab der
Schwangerschaft systematisch erforschen, musste unter anderem deshalb
2008 aber in einem frühen Stadium abgebrochen werden.
In der Praxis scheinen solche Befürchtungen allerdings unbegründet. Eher das
Gegenteil ist das Problem: «Therapeuten
fürchten sich davor, dass sie ihre Patienten voreilig als psychisch krank abstempeln könnten», sagt Gerstenberg. Dies sei
ein grosses Dilemma, denn das führe
dazu, dass ein Arzt sich selbst bei schweren Fällen davor scheue, die korrekte
Diagnose und damit zum Teil auch die
entscheidenden Weichen für die spezifische Behandlung zu stellen. «Im Mittel
dauert es bei Kindern und Jugendlichen
vom Auftreten erster Symptome bis zur
Diagnosestellung sechs Jahre und selbst
nach Ausbruch einer Psychose mit voller
Symptomatik noch sechs Monate.»
Patienten entlastet
Annika und die anderen in der Zürcher
Studie litten bereits unter ihrem Zustand, bevor sie fachliche Hilfe in Anspruch nahmen. So auch die Jugend­
lichen, welche die vor einigen Jahren
eingerichtete Früherkennungssprechstunde des KJPD aufsuchen. «Sie kommen, weil sie nicht verstehen, was bei ihnen passiert», sagt Maurizia Franscini,
welche die Sprechstunde leitet und an
der Studie beteiligt ist. Dies passt zu den
Ergebnissen einer noch unveröffentlich-
ten Studie der Universität Bern, die feststellte, dass bei Erwachsenen mit Psychose-Risikosymptomen mehr als die
Hälfte bereits von sich aus Hilfe gesucht
hat (Text unten).
Bereits das Gespräch mit dem Therapeuten entlastet die Patienten. Sie merken, dass sie nicht die einzigen sind. «Indem sie über ihre Probleme sprechen
können, wird ein Tabu gebrochen», sagt
Franscini. Die Folge ist das Gegenteil der
verbreiteten Befürchtungen: weniger
Stigma und Abstempelung. Zudem lernen die Jugendlichen, dass ihr Schicksal
trotz Psychosefrühsymptomen nicht besiegelt ist. Franscini: «Bei Erwachsenen
Kritiker befürchten, dass
unangepasste Kinder
voreilig als psychisch
krank erklärt und
psychiatrisiert werden.
erkrankt rund ein Viertel derjenigen mit
hohem Psychoserisiko tatsächlich.» Bei
Jugendlichen sei dies noch nicht klar.
Die erste Phase der Studie, die seit
zweieinhalb Jahren läuft, ist nun abgeschlossen, und es werden keine neue Studienteilnehmer mehr aufgenommen. Am
vergangenen Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Kinder- und
Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
(SGKJPP) in Zürich stellte Miriam Gerstenberg erste Resultate vor. «Es ist erstaunlich, in welche Richtung sich die Jugendlichen entwickeln», sagt sie. So hätten Jugendliche im Vergleich zu Erwachsenen häufig unspezifischere Symptome.
Dazu zählen zum Beispiel Gedanken, die
durcheinandergeraten oder von anderen
Gedanken unterbrochen werden, sozia-
Häufigkeit Drei Prozent leiden unter Risikosymptomen
Rund ein Prozent der Bevölkerung ist oder
war bereits von einer Psychose betroffen,
gehäuft im jungen Erwachsenenalter zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr. Allein im
Kanton Zürich erkranken jedes Jahr gegen
700 Erwachsene neu, bei Jugendlichen sind
keine genauen Zahlen bekannt. In ähnlicher
Grössenordnung bewegt sich die Häufigkeit
der manisch-depressiven, auch bipolar
genannten Störung, wobei die Angaben
widersprüchlich sind. Viele sind bereits vor
dem 25. Lebensjahr zum ersten Mal betroffen. Früherkennungsprojekte laufen an
verschiedenen Orten in der Schweiz. Neben
jener in Zürich widmet sich an der Universität
Bern eine zweite grössere Schweizer Studie
auch Kindern und Jugendlichen. Am Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft
für Kinder- und Jugendpsychiatrie und
Psychotherapie (SGKJPP) präsentierten
Berner Forscher erste Zahlen zur Verbreitung
von Psychose-Risikosymptomen bei 16 bis
40-Jährigen. Von 1200 zufällig ausgewählten
Personen waren in den letzten drei Monaten
2,8 Prozent davon betroffen. Die Hälfte davon
litt an einer zusätzlichen psychischen Störung. Ähnlich viele haben wegen ihrer Beschwerden bereits Hilfe gesucht. (fes)
ler Rückzug oder Gefühle von Unwirklichkeit («alles fühlt sich an wie im Film»)
– häufig verbunden mit einem Leistungsknick in der Schule.
Die Geister verschwinden
Für die Studie mussten Annika und die
anderen Jugendlichen umfangreiche
Interviews und neuropsychologische
Tests absolvieren. Hinzu kamen Blutuntersuchungen und Aufnahmen des
­Gehirns der Jugendlichen. Ausserdem
wollen die Forscher künftig mittels Genanalysen den Einfluss der Vererbung analysieren. Wie stabil sich die Symptome
bei den Jugendlichen entwickeln, muss
noch ausgewertet werden. Es deutet sich
jedoch an, dass Risikosymptome für eine
Psychose insbesondere bei Jugendlichen
häufig wieder verschwinden. So auch bei
Annika. Ein halbes Jahr später, als sie erneut bei der Therapeutin ist, erwähnt sie
die Geister nicht mehr. Sie erinnert sich
nicht einmal mehr daran, diese jemals gesehen zu haben. Dennoch bleibt sie Risikopatientin. Ihr machen Stimmungsschwankungen zu schaffen, und sie
musste zwischenzeitlich wegen einer Depression zur Therapie in eine Klinik.
Für die kommenden Jahre erwarten
die Forscher zahlreiche weitere Ergebnisse. Auch zu möglichen präventiven
Therapien, die sie ebenfalls im Rahmen
der Studie untersuchen. Die Zürcher
Psychiater bieten den Betroffenen zurzeit ein sogenanntes Gruppentraining
zur Vorbeugung von psychischen Krisen
an. Darin lernen die Jugendlichen vor allem einen besseren Umgang mit Stress
und Gefühlen, etwa durch eine andere
Interpretation von Lebenssituationen.
«Wahnvorstellungen und auch Depressionen werden häufig durch falsche Annahmen oder Fehlinterpretationen der
Umwelt verstärkt», erklärt Franscini.
Auch Medikamente wie Antidepressiva oder Antipsychotika sind bei starken Symptomen ebenfalls ein Thema.
Allerdings ist über den Nutzen bei einer
Frühbehandlung wenig bekannt, und es
gibt für Kinder und Jugendliche keine offiziellen Richtlinien. «Es ist daher wichtig, eine möglichst geringe Dosis zu finden, die ausreichend auf die Zielsymptomatik wirkt», so Franscini.
Annika hat die frühe Intervention
wahrscheinlich tatsächlich geholfen. So
kann sie wieder zur Schule gehen und ist
dort gut gestartet. Gerstenberg: «Das Psychoserisiko und der Leidensdruck haben
sich inzwischen klar vermindert.»
* Name geändert
Ingenieure des Elektrokonzerns ABB haben es laut dem Unternehmen geschafft,
eine Sicherung für HochspannungsGleichstrom-Übertragungsnetze (HGÜ)
zu entwickeln. Damit können lange
Stromtrassen – wie etwa von Windparks
der Nordsee in den Süden – stabiler betrieben werden. Schutzschalter waren
bisher das fehlende Glied für einen
­flächendeckenden Durchbruch dieser
Technik. Bei der Gleichstromübertragung sind die Verluste im Gegensatz zum
gängigen Wechselstrom-Transfer auf langen Strecken geringer. Damit liessen sich
die Stromverluste um bis zu 50 Prozent
senken. Die neuen Schutzschalter lösen
ein Kernproblem der HGÜ. Bislang wurden die Verbindungen meist genutzt,
um zwei Punkte miteinander zu verbinden. Nun können mehrere Verbraucher
wie etwa Industriebetriebe angeschlossen werden. (SDA)
Gesundheit
Dosierung von Medikamenten
für Kinder online prüfen
Welches Medikament in welcher Dosierung für ein Kind passt, ist manchmal
schwierig zu bestimmen. Das Kinderspital Zürich hat deshalb eine Datenbank
lanciert, welche Ärzten, Apothekern und
Kinderspitälern gratis Auskunft gibt. Abrufbar sind Informationen des jeweiligen
Herstellers, Forschungserkenntnisse und
Erfahrungen aus der klinischen Praxis
des Kinderspitals. (SDA)
www.kinderdosierungen.ch
Zoologie
Urbanisation verändert
Verhalten der Vögel
Stadtvögel verändern im Gegensatz zu
ihren Verwandten auf dem Land ihre
Überlebensstrategien. Eine internationale Studie in der Fachzeitschrift «Ani­
mal Behaviour» zeigt, dass sich der Respekt vor Feinden bei Vögeln in Stadt­
gebieten mit wechselnder Umgebung
verändert. So passen sie sich neuen Bedrohungen wie etwa Katzen an, und die
üblichen Feinde wie Greifvögel werden
nebensächlich. Urbanisation hat demnach einen direkten Einfluss auf das Verhalten der Vögel. (ml)
Stadtvögel wie die Amsel passen sich den
Bedrohungen in der Stadt an. Foto: PD
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