1 Prof. Dr. Reinhard Singer Wintersemester 2009/2010 Fälle zum Grundkurs Zivilrecht Fall 32: Inhaltsirrtum Die Konrektorin einer Mädchenrealschule, Frl. Hackenbruch, hatte wegen eines akuten Notfalls beim Fabrikanten Frech "25 Gros Rollen" Toilettenpapier bestellt. Gros bedeutet 12 x 12 Stück. Frech nimmt den Auftrag dankend an und liefert der Schule 3.600 Rollen Toilettenpapier. Dies entsprach einer Menge, die den Bedarf der Schule auf mehrere Jahre gedeckt hätte. Kann Frl. Hackenbruch die Bestellung anfechten, wenn sie irrtümlich der Auffassung war, "Gros" sei der Ausdruck für eine bestimmte Verpackungsart? Literatur: LG Hanau, NJW 1979, 721; Brox/Walker, AT, Rn. 359 ff.; Larenz/Wolf, AT, § 36 Rn. 20 ff.; Medicus, AT, Rn. 745; zur Vertiefung: Kornblum, JuS 1980, 258 ff.; Singer/Müller, Jura 1988, 485. Variante: Wie wäre es, wenn Lieferant Frech durch Zufall bemerkt hätte, dass Frl. Hackenbruch tatsächlich nur 25 Rollen Toilettenpapier bestellen wollte? Fall 33: Rechtsfolgenirrtum Die im 5. Monat schwangere Arbeitnehmerin Sanft war als Serviererin im Cafe des Arbeitgebers Groll beschäftigt. Wegen diverser Beschwerden der Gäste stellte Groll die Sanft zur Rede und schlug ihr vor, das Arbeitsverhältnis in beiderseitigem Einvernehmen aufzulösen. Die Bitte von Sanft, ihr Bedenkzeit bis zum nächsten Tag zu gewähren, schlug Groll aus. Daraufhin unterzeichnete Sanft die Auflösungsvereinbarung. Einen Tag später erschien Sanft erneut bei Groll mit der Bitte, die Vereinbarung rückgängig zu machen. Sie sei nämlich im 5. Monat schwanger. Vorsorglich erkläre sie die Anfechtung der Aufhebungsvereinbarung, da sie sich über die rechtlichen Konsequenzen ihrer Erklärung nicht im Klaren gewesen sei. Ist die Anfechtung wirksam? Literatur: BAG NJW 1983, 2958; Medicus, AT, Rn. 750; Brox/Walker, AT, Rn. 377; Larenz/Wolf, AT, § 36 Rn. 73 ff. Fall 34: Irrtum bei Preisauszeichnung Kern erstand in der Galerie Graffiti die Grafik "Papagenos". Die im Laden anwesende Verkäuferin Voll hatte auf Anfrage als Kaufpreis € 850,00 genannt. Kern hatte den Preis akzeptiert und sich mit Voll dahingehend geeinigt, dass das Bild noch für weitere 290,00 € gerahmt und von ihm am nächsten Tag abgeholt werden sollte. Als Kern das Bild in Empfang nehmen wollte, verlangte die Verkäuferin weitere € 1.650,00 mit folgender Begründung: Sie habe gestern nicht in die aktuelle Liste von 2007, sondern versehentlich in die veraltete Liste von 2006 geschaut, wo noch € 850,00 als Preis ausgewiesen sei. In der neuen Liste von 2007, die der Galerieinhaber Iltis aufgestellt hat, seien als Preis € 2.500,00 bezeichnet gewesen, die der zwischenzeitlich gestiegenen Bedeutung des Künstlers Rechnung trage. Besteht die Möglichkeit, den Kaufvertrag anzufechten? Wie ist die Rechtslage, wenn sich Galerieinhaber Iltis bei der persönlich vorgenommenen Preisauszeichnung vertippt hat? Literatur: LG Bremen, NJW 1992, 915; LG Hamburg NJW-RR 1986, 156; Brox/Walker, AT, Rn. 416 ff.; Larenz/Wolf, AT, § 36 Rn. 1 ff., 58 ff.; Medicus, AT, Rn. 757 ff. 2 Fall 35: "Rubel-Fall" Abel und Bebel waren deutsche Reichsangehörige und hielten sich im Jahre 1920 in Moskau auf. Dort hat Abel dem Bebel, der Kriegsgefangener war, für die Durchführung der Heimreise 30.000,00 Sowjetrubel vorgestreckt und sich dafür einen Schuldschein ausstellen lassen, in dem sich Bebel verpflichtete, dem Abel innerhalb von zwei Monaten nach Rückkehr in die Heimat 7.500,00 M zurückzuzahlen. Als Abel die geschuldete Summe verlangte, weigerte sich Bebel mit der Begründung, die ihm als Darlehen gewährten 30.000,00 Rubel hätten zur Zeit ihrer Hingabe einen Kurswert von 300,00 M gehabt. Beide Parteien seien davon ausgegangen, dass damals der Rubel einen Wert von 0,25 DM hatte. In Wirklichkeit hatte er einen Wert von 0,01 DM. Literatur: RGZ 105, 406; s. ferner Literatur zu Fall 34. Fall 36: Silber-Fall V macht dem K ein Angebot über 200 kg Silber fein zum Preis von 320 RM. K legte jedoch Wert auf Silber 1000 fein. daraufhin rechnet V in Gegenwart des K im Kopf den Preis für 1000 fein auf der Grundlage des Preises von 320 RM für 800 fein aus und verlangt aufgrund eines Rechenfehlers 360 RM statt richtig 400 RM. Kann v von K den richtigen Preis (400 RM) verlangen oder sich von dem ungünstigen Geschäft lösen? Literatur: RGZ 101, 107; Larenz/Wolf § 36 Rn. 61; MünchKomm./Kramer, § 119 Rn. 92. Fall 37: "Jahresmiete-Fall" Voll bietet Boll ein Mietshaus in Berlin zum Kauf an. Bei den Verhandlungen über den Kaufpreis macht Voll deutlich, dass der Kaufpreis das 11fache der Jahresmiete betragen soll. Diese Preisberechnung war auf dem Grundstücksmarkt in Berlin üblich. Man einigte sich schließlich auf einen Kaufpreis von 790.000,00 €. Dabei war Voll von einer Jahresmiete in Höhe von 72.000,00 € ausgegangen. Später stellte sich heraus, dass Voll bei der Zusammenrechnung der Mietzinseinnahmen Wertverbesserungszuschläge übersehen hatte. Die tatsächliche Jahresmiete unter Berücksichtigung der Wertverbesserungszuschläge betrug knapp 90.000,00 €. Voll verlangt von Boll daraufhin eine Nachzahlung von € 198.800,00 (18.000,00 € x 11). Zu Recht? Literatur: BGH NJW 1981, 1551; John, JuS 1983, 176; s. ferner Literatur zu Fall 34. Fall 38: Erkannter und ausgenutzter Motivirrtum Die Stadt B schrieb im Frühjahr Tischlerarbeiten für einen Neubau öffentlich aus. Die Angebotsfrist endete am 15. 4. 1993, die Zuschlagsfrist am 15. 5. 1993. A reichte am 13. 4. ein Angebot über 305.000.DM ein, die nachfolgenden Angebote waren wesentlich höher. Der 6. Bieter berechnete bereits 476.000.DM. Am 28. April schrieb A an das Bauamt, dass ihm bei der Kalkulation ein Fehler unterlaufen sei, weil irrtümlich nicht die Transport- und Montagekosten einberechnet worden seien. Er bat deshalb darum, sein Angebot aus der Wertung zu nehmen. Die Stadt entgegnete, dass der Kalkulationsirrtum unbeachtlich sei und verlangte von A Ersatz der Mehrkosten in Höhe von 248.254.- DM, die durch die anderweitige – freihändige – Vergabe an zwei andere Unternehmen entstanden seien. Literatur: BGHZ 139, 177; Medicus, Bürgerliches Recht, Rn. 134; Singer, JZ 1999, 342.