Friederike Rese Erfahrung als eine Form des Wissens VERLAG

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Rese (48629) / p. 1 /27.2.14
Friederike Rese
Erfahrung als eine
Form des Wissens
VERLAG KARL ALBER
A
Rese (48629) / p. 2 /27.2.14
Diese Monographie bietet eine systematische und grundlegende Untersuchung des Wissens der Erfahrung, die im Bereich der Erkenntnistheorie angesiedelt ist und aus der Perspektive der philosophischen
Hermeneutik und Phänomenologie formuliert ist. Damit ist sie für die
Philosophie wie auch für andere Wissenschaften relevant. Die philosophischen Autoren, die in dieser Analyse des Wissens der Erfahrung
aufgegriffen werden, erstrecken sich von der Antike bis in die Moderne. Im ersten Teil der Untersuchung schließt die Autorin vor allem
an Aristoteles’, Hegels und Kants Analysen des Begriffs der Erfahrung
an. Im zweiten Teil betrachtet sie unter den Hauptbegriffen des Ortes,
des Leibes, der Sprache und der Zeit die existentiellen Bedingungen,
unter denen das Wissen der Erfahrung zustandekommt. Gerade weil
Erfahrung wesentlich an die menschliche Existenz gebunden ist und
zu deren Konstitution beiträgt, unterliegt sie denselben Bedingungen
wie die menschliche Existenz überhaupt.
Mit der Thematik der Erfahrung befindet man sich an einer
Schnittstelle von Mensch und Welt. Denn in der Erfahrung ist der
Mensch auf die Welt bezogen. Und durch die Erfahrung wird der
Mensch erst zu demjenigen oder zu derjenigen, der oder die er jeweils
ist. Erfahrung ist also nicht nur für den Aufbau des Wissens, sondern
auch für die Subjektivität des Menschen konstitutiv. Das Wissen der
Erfahrung bezieht sich jedoch nicht allein auf die Lebenserfahrung des
Menschen, sondern es kann jeden Gegenstand und jedes Geschehen
betreffen, das in der Welt begegnet. Es ist grundlegend für andere
Formen des Wissens. Außerdem begleitet Erfahrung jede andere Form
des Wissens, denn jeder Zuwachs an Wissen hat die Struktur der Erfahrung.
Die Autorin:
Friederike Rese, PD Dr. phil., ist zur Zeit als Privatdozentin im Fach
Philosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg tätig. Sie hat
Philosophie und Germanistik an den Universitäten Münster und Tübingen studiert. 2002 wurde sie in Freiburg im Fach Philosophie promoviert und 2010 habilitiert.
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Friederike Rese
Erfahrung
als eine Form
des Wissens
Verlag Karl Alber Freiburg / München
Rese (48629) / p. 4 /27.2.14
Originalausgabe
© VERLAG KARL ALBER
in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2014
Alle Rechte vorbehalten
www.verlag-alber.de
Satz: SatzWeise, Föhren
Herstellung: Difo-Druck, Bamberg
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei)
Printed on acid-free paper
Printed in Germany
ISBN 978-3-495-48629-0
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Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
Teil I: Begriff der Erfahrung
1. Erfahrung als eine Form des Wissens . . . . . .
§ 1. Erfahrung und Wahrnehmung . . . . . . . .
§ 2. Erfahrung und andere Formen des Wissens . .
§ 3. Erfahrung und praktisches Wissen . . . . . . .
§ 4. Ist Erfahrung ein Wissen? . . . . . . . . . . .
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2. Prozeß der Erfahrung . . . . . . . . . . . . .
§ 5. Erfahrung als Prozeß im Bewußtsein . . .
§ 6. Transformation des Verstehenshorizontes .
§ 7. Das Moment des Umschlags (μεταβολή) .
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3. Transzendentale Bedingungen von Erfahrung
§ 8. Transzendentales vs. empirisches Subjekt .
§ 9. Sinnlichkeit und Verstand . . . . . . . . .
§ 10. Raum und Zeit . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Die Konstellation der Erfahrung
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§ 11. Skizze der Konstellation der Erfahrung . . . . . . . .
§ 12. Verwandte Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . .
§ 13. Methodische Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . .
149
166
174
Teil II: Bedingungen von Erfahrung
1. Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
§ 14. Körper an einem Ort . . . . . . . . . . .
§ 15. Konstitution und Erstreckung des Ortes .
§ 16. Ort des Menschen . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
2. Leib . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
§ 17. Haut als Grenze zwischen Leib und Ort . . . . . . . . 216
§ 18. Leib, Körper und Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
§ 19. Kritische Auseinandersetzung mit einem Versuch der
Aufhebung der Grenze zwischen Leib und Welt . . . .
§ 20. Genauere Betrachtung der Grenze zwischen
Leib und Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
§ 21. Die menschliche Seele und die beiden Bewegungen der
Grenzüberschreitung . . . . . . . . . . . . . . . . .
239
253
258
3. Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
§ 22. Vorprädikative Momente von Erfahrung .
§ 23. Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . .
§ 24. Verstehenshorizont . . . . . . . . . . .
§ 25. Narrativität . . . . . . . . . . . . . . .
§ 26. Fiktionalität . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Zeit . . . . . . . . . . . .
§ 27. Zeit und Erfahrung .
§ 28. Erinnerung . . . . .
§ 29. Geburt und Tod . . .
§ 30. Geschichtlichkeit . .
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§ 31. Erfahrung als Transformation des Subjekts . . . . . .
§ 32. Wirklichkeit zwischen Subjekt und Welt . . . . . . . .
§ 33. Erfahrung und philosophische Reflexion . . . . . . . .
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399
Schlußkapitel
Literaturverzeichnis
6
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Einleitung
Erfahrung ist ein genuin philosophisches Thema. Was Erfahrung ist
und unter welchen Bedingungen sie zustandekommt, kann in einer
philosophischen Untersuchung auf eine Weise erfaßt werden, die sich
von den Thematisierungen von Erfahrung in anderen Wissenschaften
unterscheidet und doch für diese äußerst relevant ist. Auch für die
einzelnen Wissenschaften ist der Erfahrungsbegriff von großer Bedeutung, und auch sie haben jeweils ihre eigene Weise des Zugangs zum
Thema der Erfahrung sowie ihr eigenes methodisches Verständnis des
Erfahrungsbegriffs. Doch die grundlegende philosophische Einsicht,
die Aristoteles zur Abgrenzung der philosophischen Ontologie von
den, in den verschiedenen Wissenschaften gewonnenen Erkenntnissen
bewegt hat, 1 gilt auch für die Thematik der Erfahrung. Das, was Erfahrung ist und unter welchen Bedingungen sie zustandekommt, kann in
einer philosophischen Untersuchung auf eine besondere und für die
anderen Wissenschaften relevante Weise erfaßt werden. Denn eine
philosophische Untersuchung vermag Erfahrung in den für sie wesentlichen Strukturen zu beschreiben. Diese Strukturen von Erfahrung lassen sich zum Teil direkt erfassen und zum Teil über die Bedingungen
erläutern, die dem Wissen und der Erkenntnisweise der Erfahrung zugrundeliegen. Deshalb ist die folgende Untersuchung in zwei Teile gegliedert: Ihr erster Teil ist dem Begriff der Erfahrung gewidmet, und
ihr zweiter Teil gilt den Bedingungen von Erfahrung.
Da in beiden Teilen der Untersuchung wesentliche Strukturen
von Erfahrung beschrieben werden sollen, könnte man die gesamte
Untersuchung auch als eine Ontologie der Erfahrung bezeichnen. Als
eine Ontologie der Erfahrung betrifft sie die Strukturen, welche in
einer Vielzahl einzelner Erfahrungen wiederkehren. Diese einzelnen
Erfahrungen können Teil der alltäglichen Wirklichkeit sein. Sie können aber auch einzelne, herausgehobene Erfahrungen meinen, wie sie
für Begegnungen mit Werken der Kunst, des Theaters, der Musik oder
aber auch für Begegnungen mit der Natur charakteristisch sind. We1
Vgl. Aristoteles, Metaphysik, Griechisch – Deutsch, Neubearbeitung der Übersetzung von Hermann Bonitz, hrsg. von Horst Seidl, 2 Bde, Felix Meiner Verlag:
Hamburg 31989; hier: Metaphysik, IV1, 1003a21–26.
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Einleitung
sentlich ist: Auch wenn es eine unendliche Mannigfaltigkeit individuell
verschiedener Erfahrungen gibt, lassen sich in ihnen allgemeine wiederkehrende Strukturen und Bedingungen erkennen. Und eben diese
bilden den Gegenstand der folgenden Untersuchung.
Erfahrungen gehören zur menschlichen Existenz. Sie gehören zu
ihr so notwendig wie der Leib des Menschen, seine Sprache, sein Aufenthalt an einem bestimmten Ort und seine Lebenszeit. Sie erschließen
dem Menschen die Welt, sind konstitutiv für sein Wissen und für seine
Subjektivität. Das Wissen der Erfahrung bezieht sich jedoch nicht
allein auf die Lebenserfahrung des Menschen, sondern es kann jeden
Gegenstand und jedes Geschehen betreffen, das in der Welt begegnet.
Es ist grundlegend für andere Formen des Wissens wie zum Beispiel
das praktische Wissen des Handelnden, das Wissen der Wissenschaften
und die Philosophie. Erfahrung stellt also zunächst eine spezifische
Form des Wissens dar, die sich auf signifikante Weise von anderen
Formen des Wissens unterscheidet. Außerdem, und dies ist als ein
zweiter Gesichtspunkt festzuhalten, begleitet Erfahrung jede andere
Form des Wissens. Denn jede Veränderung im Wissen um etwas hat
die Struktur der Erfahrung. In der Erfahrung verändert sich die Beschaffenheit des Wissens um etwas. Durch sie wird das bereits vorhandene Wissen in eine andere Gestalt des Wissens überführt. Dieser Wissenszuwachs hat die Struktur eines Prozesses der Erfahrung im
Bewußtsein. Auf diese Weise lassen sich eingangs zwei Erfahrungsbegriffe voneinander abheben: (1) Erfahrung als eine Form des Wissens
und (2) Erfahrung als ein Prozeß im Bewußtsein, der jede Veränderung
von Wissen überhaupt begleitet.
Mit der Thematik der Erfahrung befindet man sich an einer
Schnittstelle von Mensch und Welt. Denn in der Erfahrung ist der
Mensch auf die Welt bezogen. Und durch die Erfahrung wird der
Mensch erst zu demjenigen oder zu derjenigen, der oder die er jeweils
ist. Erfahrung ist also nicht nur für den Aufbau des Wissens, sondern
auch für die Subjektivität des Menschen konstitutiv. Deshalb bildet das
historisch-konkrete Individuum den Fluchtpunkt der folgenden Betrachtung von Erfahrung. Aber wie läßt sich das Wissen der Erfahrung
genauer bestimmen? Und unter welchen Bedingungen tritt es auf? Um
die erste dieser beiden Fragen zu beantworten, werde ich im ersten Teil
der Untersuchung den Begriff der Erfahrung unter Aufnahme einiger
klassischer Autoren aus der Philosophiegeschichte – nämlich unter
Aufnahme von Aristoteles, Hegel und Kant – genauer analysieren. Im
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Einleitung
zweiten Teil der Untersuchung soll die zweite der beiden Fragen beantwortet werden, indem die Bedingungen betrachtet werden, unter denen Erfahrung dem Menschen zuteilwird. Diese Bedingungen sind der
Ort, der Leib, die Sprache und die Zeit. Gerade weil Erfahrung wesentlich an die menschliche Existenz gebunden ist und zu deren Konstitution beiträgt, unterliegt sie denselben Bedingungen wie die menschliche Existenz überhaupt.
Es ist wichtig zu bemerken, daß so allgemeine Bedingungen wie
der Ort des Menschen, sein Leib, seine Sprache und seine Lebenszeit,
grundlegende Bedingungen von Erfahrung darstellen. Denn Erfahrungen macht der Mensch notwendigerweise als ein Lebewesen, das leiblich existiert, Sprache hat und zu einer bestimmten Zeit immer nur an
einem bestimmten Ort sein kann. Erfahrungen gehören in die Lebenszeit eines Menschen, und das Wissen der Erfahrung wird als solches in
der Zeit synthetisiert und zustandegebracht. Je nach dem Vergangenheits- und dem Zukunftshorizont gewinnen Erfahrungen eine andere
Gestalt; Erfahrung ist also wesentlich geschichtlich verfaßt. Die Existenz bzw. das Leben des Menschen und seine Erfahrung sind also notwendig aufeinander bezogen.
Das Wissen der Erfahrung ist dennoch nicht auf die Thematik der
Lebenserfahrung reduzierbar. Denn in der Lebenserfahrung liegt nur
eine bestimmte Form von Erfahrung vor, eben solche Erfahrung, die
sich auf das Leben des Menschen und die Lebensführung bezieht. Hier
soll das Wissen der Erfahrung aber auf eine umfassendere Weise in
Betracht kommen, nämlich als ein Wissen, das sich grundsätzlich auf
jeden Gegenstand in der Welt und auf alles in der Welt Begegnende
beziehen kann. In der Erfahrung wird dieser Gegenstand oder dasjenige, das in der Welt begegnet, dem Erfahrenden erschlossen und
zugänglich gemacht. Das Wissen der Erfahrung macht jemanden also
mit etwas in der Welt vertraut, und in der Zunahme des Wissens der
Erfahrung wächst die Vertrautheit mit der Welt. Im Wissen der Erfahrung ist der Erfahrende aber zugleich auf sich selbst bezogen, nämlich
auf seine Subjektivität, die die Grundlage für die Erfahrungen in der
Welt darstellt. Leib und Sprache erschließen dem Menschen die Welt,
und dies geschieht jeweils an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit.
Im ersten Teil der Untersuchung gilt es, den Begriff der Erfahrung
genauer zu bestimmen. Das Wissen der Erfahrung, oder anders gesagt:
die Erkenntnisweise der Erfahrung wird häufig mit derjenigen der
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Einleitung
Wahrnehmung verwechselt. Das soll in der folgenden Untersuchung
jedoch nicht geschehen. Denn das Wissen der Erfahrung geht über das
Vermögen der Wahrnehmung hinaus. Was die Erfahrung von der
Wahrnehmung unterscheidet, ist vor allem das Moment des Begriffs
und der Sprache. Und dennoch ist die Erfahrung auf die Wahrnehmung
bezogen. Denn eine Vielzahl von Wahrnehmungen bilden die Grundlage für das Wissen der Erfahrung und werden in ihm zu einer Einheit
synthetisiert. Dieses Verhältnis von Wahrnehmung und Erfahrung
werde ich mit Aristoteles thematisieren. Mit Aristoteles wird außerdem deutlich, daß Erfahrung eine Form des Wissens darstellt, die
grundlegend für andere Formen des Wissens ist. Mit ihm gelangt Erfahrung als eine spezifische Form des Wissens in den Blick.
Erfahrung ist jedoch auch etwas, das alle Formen des Wissens begleitet und für jeden Zuwachs an Wissen charakteristisch ist. Diese
zweite Bedeutung des Erfahrungsbegriffs werde ich mit Hegel thematisieren. Denn Hegel begreift Erfahrung als einen Prozeß im Bewußtsein, der sich auch als eine „Umkehrung des Bewußtseins“ bestimmen
läßt. Statt von einer „Umkehrung des Bewußtseins“ könnte man auch
von einer Veränderung im Wissen des Erfahrenden sprechen. Diese
Veränderung ist mit Hegel über das Strukturmoment der Negation
genauer bestimmbar. Ein bereits vorhandenes Wissen wird negiert
und in eine andere Gestalt des Wissens überführt. Auf diese Weise
ändert sich das Wissen und findet Erfahrung statt. Mit Hegel wird also
das prozeßhafte Moment der Erfahrung als einer Bewegung im Bewußtsein sichtbar, während mit Aristoteles eher der resultative Charakter des Wissens der Erfahrung hervortritt, welches auf der Begegnung mit einer Vielzahl von Wahrnehmungen beruht.
Außerdem unterliegt die Erfahrung als eine bestimmte Form des
Wissens bestimmten Bedingungen, die schon von Immanuel Kant thematisiert worden sind: der Sinnlichkeit und dem Verstand sowie Raum
und Zeit. Diese Bedingungen gilt es als solche zu würdigen, bevor ich
sie dann im zweiten Teil der Untersuchung aus phänomenologischer
und hermeneutischer Perspektive reformulieren werde: Der Raum
wird dann begreifbar als der Ort, an dem jemandem eine Erfahrung
zuteilwird, die Sinnlichkeit wird erweitert zum Leib, der Verstand wird
erweitert zur Sprache und die physikalisch begriffene Zeit wird übersetzt in die historisch-existentiell begriffene Zeit. Die spezifischen
Merkmale des Wissens der Erfahrung sind eng an diese Bedingungen
der menschlichen Existenz geknüpft. Deshalb ist ein wesentliches An10
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Einleitung
liegen dieser Untersuchung, das Wissen der Erfahrung in der menschlichen Existenz zu situieren und es von den Bedingungen der menschlichen Existenz aus neu zu denken.
Der zweite Teil der Untersuchung ist eben diesen grundlegenden
Bedingungen menschlicher Erfahrung gewidmet: dem Ort, dem Leib,
der Sprache und der Zeit. Der Ort ist dasjenige, was den Menschen
umgibt. Vom Ort hängt es ab, welche Erfahrungen ein Mensch machen
kann. Für den Menschen ist es jedoch etwas anderes, an einem Ort zu
sein als für die Dinge. Denn der Mensch existiert leiblich und kann
empfinden. Außerdem hat er die Sprache. Auf diese Weise ist der
Mensch auf das ihm in der Welt Begegnende bezogen. Leib und Sprache vermitteln zwischen dem Erfahrenden und dem Erfahrenen. Sie
stellen sozusagen die inneren Bedingungen der Erfahrung dar. Und dies
geschieht unter den äußeren Bedingungen des Raumes und der Zeit,
oder mit Blick auf das historisch-konkrete Individuum gesagt: eines
bestimmten Ortes und einer historisch konkreten Zeitspanne. Deshalb
werde ich nach einer Thematisierung des Ortes den Leib und die Sprache als Bedingungen von Erfahrung betrachten. In einem letzten Abschnitt kommt die Zeit als Voraussetzung von Erfahrung in den Blick.
Diese Bedingungen von Erfahrung sind zugleich transzendentale
Bedingungen. Denn sie sind die Bedingungen einer jeden möglichen
Erfahrung. Dennoch sind sie an das empirische Subjekt gebunden.
Denn nur das empirische Subjekt lebt an einem konkreten Ort, hat
einen Leib, die Sprache und existiert während einer historisch-konkreten Zeit. Da in der Untersuchung jedoch nicht bestimmte einzelne empirische Subjekte und deren Erfahrungen beschrieben werden sollen,
sondern die Bedingungen von Erfahrung allgemein thematisiert werden sollen, kommt den auf diese Weise thematisierten Bedingungen
von Erfahrung ein transzendentaler Status zu, obwohl der Fokus auf
dem empirischen Subjekt bzw. dem historisch-konkreten Individuum
und dessen Existenzbedingungen liegt.
Im Schlußkapitel der Untersuchung werde ich die in der Erfahrung geschehende Transformation des Subjekts genauer betrachten.
Es wird sich zeigen, daß das Subjekt der Erfahrung aufgrund seiner
allgemeinen Eigenschaften als Lebewesen, das einen Leib und Sprache
hat, als Person anzusprechen ist und daß es als historisch konkreter
Träger von Erfahrung ein jeweils einzigartiges historisches Individuum
darstellt. Die Wirklichkeit der Erfahrung konstituiert sich zwischen
den beiden Polen des Subjektes und der Welt. Und Erfahrung selbst
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Einleitung
bildet schließlich ein Wissen, das sich – ähnlich wie das praktische Wissen der „Nikomachischen Ethik“ des Aristoteles nur im Umriß, aber
auf diese Weise doch äußerst genau – begrifflich in seiner Grundstruktur über die für es charakteristischen Momente erfassen läßt. Dies ist
die Aufgabe der folgenden philosophischen Untersuchung.
Diese Untersuchung hat eine längere Geschichte. Vor ungefähr
zehn Jahren habe ich begonnen, mich mit dem Thema der Erfahrung
auseinanderzusetzen, und dies aus mehreren Gründen: In der Philosophiegeschichte sind zu bestimmten Zeiten bestimmte Themen vorherrschend, oder mit Hegel gesagt: Philosophie ist ihre Zeit in Gedanken
gefaßt. Ich habe angenommen, daß die Thematik der Erfahrung in den
nächsten Jahren zu einer der zentralen Fragestellungen der zeitgenössischen Philosophie werden würde. War bislang die praktische Philosophie und die Frage nach dem menschlichen Handeln vorherrschend –
im Rahmen der philosophischen Debatte, aber auch in meiner eigenen
Forschung – so war absehbar, daß eine Hinwendung zur theoretischen
Philosophie und zur Frage der Erfahrung stattfinden würde. Denn im
Handeln steht das Sein des Menschen hinsichtlich der Aktivitäten des
Menschen im Blick. In der Erfahrung scheint hingegen der Aspekt der
Passivität zu überwiegen. Daß Erfahrung aber neben der für sie charakteristischen Passivität auch aktive Momente aufweist, werde ich in
der folgenden Untersuchung zeigen.
Außerdem führt der Begriff der Erfahrung in das Zentrum der
menschlichen Existenz. Das Wissen der Erfahrung unterliegt einer
eigentümlichen Spannung zwischen Leib und Sprache. Und es wird
jeweils an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit zuteil.
Diese Situiertheit von Erfahrung in der menschlichen Existenz hat
mich zusätzlich für den Begriff der Erfahrung eingenommen. Nicht
zuletzt sind es auch eine Reihe persönlicher Erfahrungen gewesen, die
mich veranlaßt haben, über den Begriff der Erfahrung und über Erfahrung als eine Form des Wissens nachzudenken. Erfahrung gehört zum
menschlichen Leben so notwendig hinzu, daß ohne sie ein Fortschritt
im menschlichen Leben nicht denkbar wäre. Denn nur durch Erfahrung lernen wir und sind auf das in der Welt Begegnende bezogen. Es
gibt im Leben sowohl die positiven und lebenssteigernden Erfahrungen
als auch die negativen und lebensbeeinträchtigenden Erfahrungen. Beide Arten von Erfahrung sind bekannt.
Ich hoffe, daß diese Untersuchung viele Leser, auch über den engeren Kreis des Faches der Philosophie hinaus, erreichen wird. Sie wur12
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Einleitung
de im Jahr 2010 als Habilitationsschrift von der Fakultät für Philosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg angenommen. Allen
am Habilitationsverfahren Beteiligten möchte ich herzlich danken. Der
Text der Habilitationsschrift wurde von mir unverändert für den Druck
übernommen. Er wurde lediglich um eine neue Einleitung ergänzt und
um ca. 15 Seiten gekürzt. Allen Kollegen, Freunden und Studierenden,
die mir während der Entstehung der Untersuchung erlaubt haben, meine Ideen mit ihnen zu diskutieren, und die mich während der Entstehung der Untersuchung und bis zu ihrer Drucklegung auf verschiedene Weise unterstützt haben, möchte ich herzlich danken. Der
Wissenschaftlichen Gesellschaft in Freiburg danke ich für einen Druckkostenzuschuß und dem Karl-Alber-Verlag für die Aufnahme in die
Reihe für Philosophie.
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Teil I
Begriff der Erfahrung
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1. Erfahrung als eine Form des Wissens
Erfahrung ist eine Form des Wissens. Als eine solche steht sie in einem
bestimmten Verhältnis zu anderen Formen des Wissens. Diese Beobachtung führt zu folgenden Fragen: Wie verhält sich Erfahrung zu
anderen Formen des Wissens? Kann sie selbst bereits als ein Wissen im
eigentlichen Sinne angesprochen werden, oder bildet sie nur eine Vorstufe eines Wissens im eigentlichen Sinne? Und: Welche Bedeutung
kommt der Erfahrung dann für die anderen Formen des Wissens zu?
Aristoteles hat diese Fragen in einer Textpassage am Anfang der Metaphysik maßgeblich und für alle weiteren Untersuchungen zu diesen
Fragen richtungsweisend erörtert. 1 Deshalb bildet der Anfang der aristotelischen Metaphysik die Textgrundlage für das folgende Kapitel.
An den Stellen, an denen es erforderlich ist, werde ich diese Textpassage um weitere Textauszüge aus den aristotelischen Schriften ergänzen. 2
Am Anfang der Metaphysik gibt Aristoteles einen Überblick über
verschiedene Formen der Erkenntnis; unter ihnen befindet sich auch
die Erkenntnisweise der Erfahrung (ἐμπειρία). 3 Die Erkenntnisweise
der Erfahrung (ἐμπειρία) gehört für Aristoteles in eine Reihe mit anderen Formen des Wissens. Die gesamte Reihe der Formen des Wissens
dient dazu, die Entstehung des philosophischen Wissens zu erklären.
Vgl. Aristoteles, Metaphysik I 1–2, 980a21–983a23.
Zum Erfahrungsbegriff bei Aristoteles sind die folgenden beiden neueren Monographien erschienen: Michel Siggen, L’expérience chez Aristote, Peter Lang
Verlag: Bern 2005, sowie Ralf Elm, Klugheit und Erfahrung bei Aristoteles, Ferdinand Schöningh Verlag: Paderborn 1996. Die Studie von Michel Siggen thematisiert den aristotelischen Begriff der Erfahrung sowohl im Hinblick auf die verschiedenen Erkenntnisvermögen, die der Mensch hat und die zum Teil auch den
Tieren zukommen, als auch im Hinblick auf seine Einordnung in die Reihe der
verschiedenen Formen des Wissens. Die Untersuchung von Ralf Elm stellt die
Bedeutung des Erfahrungsbegriffs für Aristoteles’ praktische Philosophie in den
Vordergrund. Während die Studie von Siggen vor allem als Übersicht zu den Textstellen geeignet ist, die für Aristoteles’ Begriff der Erfahrung relevant sind, zeichnet die Untersuchung von Ralf Elm ein hermeneutischer Zugriff aus, der Zusammenhänge zwischen verschiedenen Dimensionen des Erfahrungsbegriffs zu
erfassen vermag.
3 Vgl. Aristoteles, Met. I 1, 980a21–982a2.
1
2
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Erfahrung als eine Form des Wissens
Die Erfahrung folgt auf die Wahrnehmung (αἴσθησιϚ) und geht dem
Wissen der Kunstfertigkeit (τέχνη) vorweg. Auf das Wissen der
Kunstfertigkeit folgen weitere Formen des Wissens: die praktische Vernünftigkeit (ϕρόνησιϚ) als das Wissen des Handelnden, die Wissenschaft (ἐπιστήμη) und das philosophische Wissen (σοϕία). Das Ordnungsprinzip dieser Genealogie des philosophischen Wissens ist die
zunehmende Allgemeinheit des Gewußten. Während die Wahrnehmung auf das Einzelne bezogen ist, geht die Erfahrung (ἐμπειρία) über
das Einzelne hinaus, insofern als sie es erlaubt, verschiedene Wahrnehmungen unter einem allgemeinen Gesichtspunkt zusammenzunehmen. 4 Deshalb ist das Wissen der Erfahrung allgemeiner als dasjenige
der Wahrnehmung. Jedoch sind erst die Kunstfertigkeit (τέχνη) und
die Wissenschaft (ἐπιστήμη) auf ein wahrhaft Allgemeines bezogen. 5
Und: Erst im philosophischen Wissen (σοϕία) werden die ersten Prinzipien von allem, was ist, erkannt. 6 Obwohl Aristoteles in dieser Textpassage eine Geneaologie des philosophischen Wissens zu geben versucht, läßt sich auf ihrer Grundlage auch untersuchen, wie sich das
Wissen der Erfahrung zu den anderen Formen des Wissens verhält.
Unter dieser Perspektive soll diese Textpassage im folgenden behandelt
werden.
In der aristotelischen Bestimmung des Verhältnisses von Erfahrung zu anderen Formen des Wissens ist es zunächst einmal wesentlich, die aristotelische Abgrenzung der Erfahrung (ἐμπειρία) von der
Wahrnehmung (αἴσθησιϚ) hervorzuheben. Denn vor allem im englischen Empirismus wird der Erfahrungsbegriff häufig mit demjenigen
der Wahrnehmung identifiziert. So neigt zum Beispiel John Locke dazu, Erfahrung mit Wahrnehmung gleichzusetzen. 7 Diese Tendenz wird
Vgl. Aristoteles, Met. I 1, 980b28–981a2.
Vgl. Aristoteles, Met. I 1, 981a5–7; Met. I 1, 981a15–27.
6
Vgl. Aristoteles, Met. I 1, 981b28–29.
7
Eine der Grundüberzeugungen John Lockes ist es, daß alle Vorstellungen des
Verstandes in der Erfahrung begründet liegen, vgl. John Locke, Versuch über
den menschlichen Verstand, Felix Meiner Verlag: Hamburg 52000, II. Buch,
Kap. 1, Abschn. 2, S. 108. Der Verstand wird von Locke als tabula rasa beschrieben, vgl. ebd., S. 107. Anschließend fragt Locke: „Woher hat er [der Verstand] all
das Material für seine Vernunft und für seine Erkenntnis? Ich antworte darauf
mit einem einzigen Wort: aus der Erfahrung. Auf sie gründet sich unsere gesamte
Erkenntnis, von ihr leitet sie sich schließlich her. Unsere Beobachtung, die entweder auf äußere sinnlich wahrnehmbare Objekte gerichtet ist oder auf innere Operationen des Geistes, die wahrnehmen und über die wir nachdenken, liefert un4
5
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Erfahrung als eine Form des Wissens
in der angelsächsischen Tradition durch den englischen Begriff
„perceptual experience“ 8 verstärkt, in dem Wahrnehmung und Erfahrung sogar in einer Bezeichnung miteinander verbunden sind, so daß
es zunehmend schwieriger wird, einen Unterschied zwischen ihnen
auszumachen. Geht man hingegen auf den aristotelischen Ansatz zur
Bestimmung des Verhältnisses der Formen des Wissens zurück, so
wird deutlich, daß die Erkenntnisweise der Erfahrung von derjenigen
der Wahrnehmung verschieden ist. In wenigen Sätzen formuliert Aristoteles die Kriterien, die eine Abhebung der Erkenntnisweise der Erfahrung von derjenigen der Wahrnehmung ermöglichen und dennoch
eine innere Bezogenheit der Erfahrung auf die Wahrnehmung erkennen lassen. Ganz im Sinne des von Martin Heidegger entwickelten
Verfahrens der philosophischen Destruktion überlieferter Begrifflichkeiten, 9 beginnt meine Auseinandersetzung mit dem Erfahrungsserm Verstand das gesamte Material des Denkens. Dies sind die beiden Quellen
der Erkenntnis, aus denen alle Ideen entspringen, die wir haben oder naturgemäß
haben können.“ Ebd., S. 108. In dieser Passage unterscheidet Locke zwischen zwei
Quellen der Erkenntnis: der sinnlichen Wahrnehmung äußerer Dinge („sensation“) und der Beobachtung der eigenen Verstandestätigkeiten („reflection“). Beide
stellen Arten von Erfahrung dar. Auch die Betrachtung der eigenen Verstandestätigkeiten wird in Begriffen der Wahrnehmung beschrieben, obwohl die Wahrnehmung hier auf innere Prozesse, oder wie man auch sagen könnte: auf Bewußtseinsakte, bezogen ist. Deshalb kann man behaupten, daß John Locke Erfahrung
vor allem als Wahrnehmung denkt, sei es als Wahrnehmung äußerer Gegenstände
oder als Wahrnehmung innerer Bewußtseinsakte.
8 Zur neueren philosophischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Sinneswahrnehmung, das im Englischen auch unter dem Begriff „perceptual experience“ diskutiert wird, vgl. Tamar Szabo Gendler/John Hawthorne (Hg.), Perceptual Experience, Oxford University Press: Oxford 2006.
9
Der hier vorgeschlagene Rückgang auf Aristoteles steht in der Tradition des von
Martin Heidegger entwickelten Verfahrens der Destruktion. Heidegger hat dieses
Verfahren in seinem sogenannten Natorp-Bericht beschrieben, vgl. Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation), hrsg. von Hans-Ulrich Lessing, in: Dilthey-Jahrbuch für
Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften 6 (1989), S. 237–269, hier:
S. 249 f. Mit dem Verfahren der Destruktion ist ein Abbau der Deutungen von
philosophischen Begriffen gemeint, welche im Verlauf der Philosophiegeschichte
entwickelt worden sind, deren Nachteil jedoch darin besteht, daß sie das ursprüngliche Verständnis desjenigen, was mit einem philosophischen Begriff gemeint ist,
verstellen. Dieses ursprüngliche Verständnis philosophischer Grundbegriffe
meint Heidegger durch eine Lektüre der aristotelischen Schriften wiederzugewinnen. Deshalb schließt Heidegger an Aristoteles an, um Zugang zu dem ursprüng-
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Erfahrung als eine Form des Wissens
begriff deshalb mit einer Bestimmung des Verhältnisses von Wahrnehmung und Erfahrung im Rückgang auf Aristoteles.
In der Eingangspassage der Metaphysik wirft Aristoteles außerdem selbst die Frage auf, inwiefern man die Erkenntnisinhalte, die mit
dem Begriff der Erfahrung bezeichnet werden, tatsächlich als ein Wissen ansprechen kann. 10 Ebenso wie der Erfahrung eine Zwischenstellung zwischen der Wahrnehmung und dem Wissen der Kunstfertigkeit
(τέχνη) zukommt, so ist ihr Status bezüglich der Frage, ob sie selbst als
eine Form des Wissens zu bezeichnen ist, ambivalent. Aufgrund der
Nähe der Erfahrung zur Wahrnehmung könnte man der Erfahrung
den Status eines Wissens absprechen. Aufgrund der Nähe der Erfahrung zur Kunstfertigkeit scheint allerdings auch die Erfahrung bereits
eine, wenn auch vorläufige, Form des Wissens darzustellen. Eine Auseinandersetzung mit der Eingangspassage der Metaphysik erlaubt es
also nicht nur, die Bedeutung der Erfahrung für die anderen Formen
des Wissens zu untersuchen, sondern auch die Frage nach ihrem eigenen Status als einer Form der Erkenntnis bzw. des Wissens zu klären.
Daß alle genannten Formen des Wissens mit Aristoteles tatsächlich unter dem Begriff des Wissens bzw. dem Begriff der Erkenntnis
betrachtet werden können, bestätigt der erste Satz der Metaphysik. In
ihm weist Aristoteles ausdrücklich daraufhin, daß es in der Natur des
Menschen liege, nach Wissen zu streben. 11 Das griechische Wort für
Wissen ist ein substantivierter Infinitiv: εἰδέναι. Es bedeutet: etwas
wissen, etwas erkennen, aber auch einfach nur etwas kennen. 12 Dieser
griechische Infinitiv hat eine ähnliche Mehrdeutigkeit wie das englische Wort to know. Denn auch das englische Wort to know kann bedeuten, daß man mit etwas einfach nur vertraut ist, es kennt und in
lichen Verständnis verschiedener philosophischer Grundbegriffe zu haben. Ohne
dieses Vorgehen als ein philosophisches Allheilmittel zu betrachten, halte ich es
im Bezug auf den Begriff der Erfahrung ebenfalls für sinnvoll, auf Aristoteles’
Ausführungen zum Begriff der Erfahrung zurückzugehen. Gerade die Verschiedenheit von Sinneswahrnehmung und Erfahrung wird von Aristoteles noch deutlich gesehen, während spätere Autoren, vor allem die Autoren des britischen Empirismus, dazu neigen, den Unterschied zwischen Sinneswahrnehmung und
Erfahrung zu marginalisieren.
10
Vgl. Aristoteles, Met. I 1, 981a24–27.
11
Vgl. Aristoteles, Metaphysik I 1, 980a21–22.
12
Menge-Güthling, Langenscheidts Großwörterbuch Griechisch-Deutsch, hrsg.
von Hermann Menge, Berlin 271991, S. 205.
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Erfahrung als eine Form des Wissens
diesem Sinne um es weiß. Es kann aber auch bedeuten, daß man etwas
über ein bloßes Vertrautsein mit diesem hinaus kennt und um seine
Beschaffenheit weiß. Eine solche Art des genaueren Kennens von etwas
bzw. Wissens um etwas würden wir als Wissen im eigentlichen Sinne
bezeichnen. 13 Wenn es aber so ist, daß dem griechischen Wort εἰδέναι
eine ähnliche Mehrdeutigkeit zukommt wie dem englischen Wort to
know, dann stellt sich auch für das Wissen der Erfahrung die Frage,
inwiefern mit ihm eigentlich ein Wissen bezeichnet ist, in dem jemand
bloß mit etwas vertraut ist und in diesem Sinne darum weiß oder aber,
ob das Wissen der Erfahrung auch Züge aufweist, die es in die Nähe
eines Wissens im eigentlichen Sinne rücken.
Doch was heißt es eigentlich, etwas zu wissen? Was heißt ‚Wissen‘ ? Da diese Frage sehr umfassend ist, werde ich sie an dieser Stelle
nur vorläufig beantworten können. Einen Anhaltspunkt in der Beantwortung dieser Frage bietet Martin Heideggers Interpretation der
Anfangspassage von Aristoteles’ Metaphysik. In dieser Interpretation
hebt Heidegger hervor, daß die Formen des Wissens, als Formen des
εἰδέναι, allesamt Weisen des ἀληθεύειν seien. 14 Er beruft sich bei dieser Aussage auf den Beginn des sechsten Buchs von Aristoteles’ Nikomachischer Ethik, 15 eine Textpassage, in der Aristoteles eine ganz ähnliche Reihe von Formen des Wissens vorstellt wie in der Metaphysik,
mit dem einzigen Unterschied, daß in dieser Passage der Begriff der
Wilfrid Sellars weist in seiner Abhandlung Empiricism and the Philosophy of
Mind auf diesen Unterschied zwischen den beiden Bedeutungen von to know hin,
vgl. Wilfrid Sellars, Empiricism and the Philosophy of Mind, Harvard University Press: Cambridge, Mass./London, England 1997, S. 17 f. Sellars erwähnt hier
zwei Arten des Wissens: referentielles vs. nicht-referentielles Wissen. Während
das nicht-referentielle Wissen eine bloße Vertrautheit mit etwas meint und von
den Sinnesdatentheoretikern auf Sinneswahrnehmungen bezogen wird, die nichtreferentiell gegeben sein sollen, vgl. ebd., S. 17 f., versucht Sellars diese Beschreibung der Gegebenheit von Sinneswahrnehmungen zu widerlegen und zu zeigen,
daß selbst sinnliche Wahrnehmungen auf Schlüssen beruhen als ein inferentielles
Wissen darstellen, vgl. dazu Sellars Analyse der Logik des Erscheinen („logic of
looks“), Sellars, Empiricism and the Philosophy of Mind, S. 32–46, bes. S. 38.
Anders als für die Sinnesdatentheoretiker, die die Welt in einen Atomismus von
Sinnesdaten zersplittern, sind für Sellars in die Wahrnehmung Überzeugungen
integriert, welche propositional verfaßt sind und aufgrund derer sich etwas auf
eine bestimmte Weise zeigt bzw. auf eine bestimmte Weise erscheint.
14
Vgl. Martin Heidegger, Platon. Sophistes. Gesamtausgabe, Bd. 19, Vittorio
Klostermann: Frankfurt am Main 1992, S. 65–69.
15 Vgl. Aristoteles, EN VI 3–13; bes. EN VI 3, 1139b14–17.
13
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Erfahrung als eine Form des Wissens
Erfahrung fehlt und daß es sich bei den hier genannten Formen des
Wissens um Weisen handeln soll, „in denen die Seele entdeckend ist“
(οἷϚ ἀληθεύει ἡ ψυχή) 16. Diese Aktivität der Seele, nämlich das ἀληθεύειν, legt Heidegger folgendermaßen aus:
Das ἀληθεύειν ist eine Seinsweise des Daseins, und zwar, sofern es sich
zu einem Seienden, zur Welt bzw. zu sich selbst, verhält. Das Seiende,
das in griechischem Sinne das eigentliche Sein ist, ist die Welt bzw. das
ἀεί. Da das Sich-Aufhalten-dabei in seinem Sein von dem Wobei her
bestimmt wird, sind die Seinsweisen des Daseins aus dem Verhalten
dazu zu interpretieren. 17
Für die verschiedenen Formen des Wissens bedeutet dies aber, daß der
Mensch in ihnen auf die Welt und sich selbst hin geöffnet ist und daß
er in ihnen die Welt und sich selbst erkennt. Da dies für alle Formen
des Wissens gilt, ist die Abgrenzung der Erfahrung gegenüber den anderen Formen des Wissens besonders dringlich. Außerdem scheint in
dieser Textpassage der Nikomachischen Ethik sowie in Heideggers
Deutung die Nähe von Wissen und Wahrheit auf. Denn das ἀληθεύειν, von dem Aristoteles spricht und das Heidegger als Entdeckendsein der Seele übersetzt, ist eine Aktivität, die die ἀλήθεια, die Wahrheit, oder in Heideggers Übersetzung: die Unverborgenheit, hervorbringt. Wissen ist notwendig auf Wahrheit bezogen, insofern jeder,
der etwas weiß, dieses, worum er weiß, in seinem Sein entdeckt hat.
Dies gilt auch für die Erkenntnisweise der Erfahrung. Sie entdeckt etwas in seinem Sein, oder genauer gesagt: Das Sein desjenigen, das in
der Erfahrung entdeckt wird, ändert sich für denjenigen, der eine Erfahrung macht. Da aber auch die anderen Formen des Wissens der Aktivität des Entdeckens, des ἀληθεύειν, unterliegen, ist eine Abgrenzung der Erfahrung von den anderen Formen des Wissens bzw. des
Erkennens notwendig. Um die Einordnung des Wissens der Erfahrung
in das Ganze der menschlichen Erkenntnis zu ermöglichen, beginne ich
mit der Abgrenzung der Erfahrung von der Wahrnehmung.
16
17
Aristoteles, EN VI 3, 1139b15.
Heidegger, Platon. Sophistes, S. 69.
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