Einführung-1. Vorlesung - Lehrstuhl für Rechts

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Dietmar von der Pfordten Vorlesung: Einführung in die Rechts- und Sozialphilosophie
SS 2004
1. Vorlesung: Einführung: Wozu Rechtsphilosophie?
Was ist Rechtsphilosophie?
I. Wozu Rechtsphilosophie?
Welche Argumente sprechen für Jura-Studierende gegen oder für die Rechtsphilosophie
1. Argumente dagegen
- Kern des Studiums sind die dogmatischen Fächer (Öffentliches Recht etc.)
- nicht unmittelbar berufsrelevant
- abstrakt und trocken
2. Argumente dafür
- wissenschaftliches Studium des Rechts umfaßt auch die Grundlagenfächer
- die Grundlagenfächer erlauben ein vertieftes Verständnis des Rechts und sind
deshalb für gute Juristen bei schwierigen Fällen durchaus berufsrelevant
- die Philosophie ist in der Tat in weiten Teilen abstrakt. Aber: Abstraktere
und konkretere Erkenntnisse unseres Denksystems sind kontinuierlich miteinander verbunden und erlauben wechselseitig die Verbesserung des Verständnisses, so daß das abstrakte Denken auch für konkrete Problemlösungen relevant ist. Das abstrakte Denken ist deshalb bis zu einem gewissen
Grade unvermeidlich. Im übrigen erlaubt es eine Horizonterweiterung.
3. Funktionen des Studiums der Rechtsphilosophie für Jurastudierende
(1) Aufklärungsfunktion: umfassende Aufklärung über das Phänomen Recht
(2) Bildungsfunktion
(3) Anwendungsfunktion für die Rechtsdogmatik
4. Funktionen des Studiums der Rechtsphilosophie für Philosophiestudierende
Die Philosophie hat keinen eigenen Gegenstand wie die Physik die Materie und die
Grundkräfte, die Biologie das Leben oder die Rechtswissenschaft das Recht. Das
bedeutet: Die Philosophie muß immer auch auf Erkenntnisse der Einzelwissenschaft bezogen sein. Die Rechtsphilosophie ermöglicht diesen Bezug zu einer Einzelwissenschaft. Dabei liegt die Verbindung der Philosophie zum Recht besonders
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nahe, weil das Recht mit seiner Vielgestaltigkeit der Gegenstände und Methoden
der Philosophie ähnelt (wie die Mathematik).
II. Anknüpfungspunkte für die Rechtsphilosophie im deutschen Recht
Im tatsächlich geltenden (=positiven) Recht finden sich folgende Hinweise auf
nichtpositive, rechtsphilosophische Bezüge:
(1) Präambel des Grundgesetzes (GG): „In Verantwortung vor Gott und den
Menschen ...“
(2) Art. 1 GG: Menschenwürde, Art. 2-19 GG Grundrechte = kodifizierte
Rechtsphilosophie
(3) Art. 2 I GG; §§ 138, 242 BGB, 226 StGB: „Sittengesetz“
(4) Art. 20 III GG: Bindung der Exekutive und Jurisdiktion an „Gesetz und
Recht“
(5) Radbruchsche Formel: Durchbrechung des positiven Rechts im Falle des
NS-Rechts und DDR-Rechts (Mauerschützenprozesse)
III. Was ist Rechtsphilosophie?
Der Gegenstand philosophischen Fragens sind Begriffe als die grundlegendsten
Elemente unseres Denksystems. Deshalb ist es wichtig, zunächst einmal die verwendeten Begriffe zu analysieren. Bei den thematischen Leitbegriffen der Vorlesung Rechtsphilosophie und Sozialphilosophie, aber auch Politische Philosophie fällt auf, daß
sie jeweils aus zwei Teilen bestehen: „Recht“ „Soziales“ und „Politik“ als erster Teil
sowie „Philosophie“ als zweiter Teil.
Der erste Teil, also „Recht“ bzw. „Soziales“, benennt den Gegenstand, der untersucht wird.
Der zweite Tei, also „Philosophie“ bezieht sich dagegen auf die Methode bzw. das
Untersuchungsziel.
Was ist der Gegenstand der Rechtsphilosophie? Eine erste Antwort ist einfach: das
Recht – präziser: das tatsächlich bestehende, das heißt das sogenannte „positiven“
Recht, also tatsächlich bestehende und damit geltende Verfassungsnormen, Gesetze, Verordnungen, Satzungen, Gerichtsurteile, Gewohnheitsrecht etc. Das positive
Recht als Gegenstand der Forschung erlaubt eine Abgrenzung der Rechtsphilosophie zu anderen Teildisziplinen der Philosophie, etwa der Natur-, Sprach-, oder
Kunstphilosophie.
Allerdings ist das positive Recht nicht nur Gegenstand der Rechtsphilosophie, sondern auch weiterer juristischer Disziplinen, etwa der Rechtsdogmatik (Öffentliches Recht,
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Zivilrecht, Strafrecht), der Rechtssoziologie oder der Rechtsgeschichte. Zur näheren Bestimmung der Forschungsbereichs der Rechtsphilosophie muß man also weiter fragen:
Wodurch unterscheidet sich die Rechtsphilosophie in ihrer Perspektive auf das positive Recht von diesen anderen nichtphilosophischen Disziplinen? Um diese Frage
beantworten zu können, muß man den Blick vom Untersuchungsgegenstand Recht
lösen und die Methode und das Untersuchungsziel ins Auge fassen unter dem sich
diese anderen juristischen Disziplinen mit dem positivem Recht beschäftigen:
Die Rechtsdogmatik interpretiert das geltenden Rechts einer bestimmten Rechtsordnung aus einer internen Anwenderperspektive, also aus der Perspektive von Richtern
und Verwaltungsbeamten etc. Dabei integriert die Rechtsdogmatik theoretische
Analyse und empirische Beschreibung. Aber ihr eigentlicher Charakter ist der einer
„Normwissenschaft“, ihr eigentlicher Zweck ein normativer: die praktische Ausgestaltung und Anwendung des geltenden Rechts. Auch die Mehrzahl der Rechtswissenschaftler an der Universität nehmen diese Anwenderperspektive ein, etwa
wenn sie zivilrechtliche öffentlich-rechtliche oder strafrechtliche Artikel und
Kommentare für die Praxis verfassen. Die Anwenderperspektive wird von den
Rechtswissenschaftlern allerdings nicht selten rechtspolitisch ergänzt. Das heißt: Es
werden auch Vorschläge gemacht, wie Gesetze, Verordnungen und Satzungen zu
verändern wären. Fragt man nach einer normativen, nicht rechtsimmanenten Begründung derartiger rechtspolitischer Vorschläge, so überschreitet man das Gebiet
der Rechtsdogmatik und kommt zur Rechtsphilosophie bzw. Rechtsethik.
Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie und Rechtsgeschichte beziehen sich anders als
die Rechtsdogmatik nicht aus einer internen, sondern aus einer externen Perspektive
auf das geltende Recht. Sie berücksichtigen häufig nicht nur eine Rechtsordnung
wie typischerweise die Rechtsdogmatik, sondern verschiedene bestehende, vergangene und zukünftige Rechtsordnungen. Die Rechtssoziologie beschreibt die Wechselwirkung des Rechts mit anderen Wirklichkeitsbereichen, insbesondere das Verhältnis
von Recht und Gesellschaft. Die Rechtsgeschichte beschreibt das historische Recht und
seine Ausgestaltungsformen.
Die Rechtsphilosophie beschränkt sich dagegen nicht bloß auf die Beschreibung des
Rechts aus einer externen Perspektive wie die Rechtssoziologie und Rechtsgeschichte, sondern strebt eine philosophische Betrachtung des Rechts an. Was unter
einer derartigen philosophischen Betrachtung zu verstehen ist, hängt von dem fundamentalen Verständnis der Aufgabe der Philosophie ab. Ohne hier in eine detaillierte Diskussion dieser fundamentalen Frage nach der Aufgabe der Philosophie
eintreten zu können, läßt sich zumindest sagen, daß die philosophische Betrachtung
eines Gegenstandes gegenüber der einzelwissenschaftlichen Untersuchung eine umfassendere, einzelwissenschaftliche Ergebnisse integrierende Perspektive anstrebt.
Diese umfassendere philosophische Betrachtung des Rechts führt im Falle der
Rechtsphilosophie zu zwei wesentlichen Subdisziplinen:
Die Rechtsethik unterzieht das Recht einer rechtsexternen normativen Rechtfertigung
bzw. Kritik. Oder anders formuliert: Sie fragt als Herzstück der Rechtsphilosophie
nach der Gerechtigkeit des positiven Rechts, wobei es nicht nur um eine systeminterne Kohärenz geht, wie bei der Rechtsdogmatik, sondern um die Beurteilung im
Hinblick auf einen Gerechtigkeitsmaßstab, der nicht positiviert ist. Ihre Verwirkli-
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chung finden rechtsethische Überlegungen zum einen – wie schon erwähnt wurde
– in der Rechtspolitik (für Gesetze, Satzungen und Verordnungen) und zum anderen in der sog. juristischen Methodenlehre, also in der dogmatischen Methodenreflexion zur Anwendung des Rechts in Gerichtsurteilen und Verwaltungsentscheidungen.
Die Rechtstheorie analysiert dagegen die fundamentalen Strukturen des Rechts, etwa
seine System- und Institutionenbildung, seine Begriffsprägung, seine Sprachverwendung, seine Erkenntnisgewinnung, seine Normlogik und seine implizite Handlungstheorie. Dabei spielen philosophische Nachbardisziplinen und ihre einzelwissenschaftlichen Pendants eine Rolle, also etwa Politische Philosophie und Politikwissenschaft, Sprachphilosophie und Linguistik, Erkenntnistheorie und Psychologie, Logik und Mathematik, Handlungstheorie und Entscheidungspsychologie.
Auch hier besteht ein Verhältnis zur Rechtspolitik und juristischen Methodenlehre.
Die Rechtstheorie klärt über die Instrumente der Rechtssetzung und Rechtsanwendung auf, z. B. über die sprachliche Funktion von Rechtsnormen.
Man kann die Rechtsphilosophie also gegenüber den anderen rechtswissenschaftlichen Disziplinen folgendermaßen charakterisieren: Anders als die Rechtsdogmatik
beschäftigt sie sich nicht aus einer internen Anwenderperspektive mit dem Recht, sondern
aus einer externen Perspektive. Anders als andere Grundlagenfächer wie die Rechtsgeschichte oder die Rechtssoziologie ist diese Perspektive aber nicht nur eine beschreibende Beobachterperspektive, sondern umfassend und damit auch normativ
(das heißt vorschreibend sowie wertend) und analytisch.
Aufgrund ihrer normativ-rechtfertigenden Fragestellung ist die Rechtsethik Teil der
allgemeinen Ethik und damit der allgemeinen Philosophie. Aufgrund ihrer umfassenden Fragestellung ist die Rechtstheorie Teil anderer philosophischer Teildisziplinen, wie der Handlungstheorie, der Logik, der Sprachphilosophie und der Erkenntnistheorie und damit auch der allgemeinen Philosophie. Von anderen Disziplinen der Philosophie unterscheidet sich die Rechtsphilosophie durch ihren Untersuchungsgegenstand: das Recht.
Die Rechtsphilosophie nimmt also mit ihren beiden Teilgebieten Rechtsethik und
Rechtsphilosophie eine Zwitterstellung zwischen Philosophie und Rechtswissenschaft
ein – oder sollte dies zumindest tun. Dabei geschieht die Abgrenzung zu den anderen Subdisziplinen der Philosophie und Rechtswissenschaft auf unterschiedliche
Weise und jeweils durch das Element, das die Rechtsphilosophie auch zum Gegenstand der anderen Wissenschaft macht. Der Untersuchungsgegenstand des Rechts
macht die Rechtsphilosophie zum Teil der Rechtswissenschaft und grenzt sie
gleichzeitig innerhalb der Philosophie von deren anderen Subdisziplinen ab. Die
philosophische Untersuchungsmethode macht die Rechtsphilosophie zum Teil der
Philosophie und grenzt sie gleichzeitig innerhalb der Rechtswissenschaft von ihren
anderen Subdisziplinen ab:
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Philosophie
Rechtswissenschaft
praktische Philosophie theoretische Philosophie
Ethik
Rechtsphilosophie Rechtssoziologie Rechtsgeschichte Rechtsdogmatik
angewandte Ethik
Rechtspolitik
juristische Methodenlehre
Rechtsethik
Rechtstheorie
Dieses friedliche Bild einer vernünftigen Arbeitsteilung zwischen Rechtsethik und
Rechtstheorie innerhalb einer Rechtsphilosophie, die sowohl innerhalb der Philosophie als auch innerhalb der Rechtswissenschaft eine Disziplin unter anderen darstellt, beschreibt allerdings nur den heutigen Ist- und Sollzustand. Wendet man den
Blick dagegen auf die historische Entwicklung der Disziplin, so ist das Bild nicht so
friedlich, sondern von Ausweitungs- Eingrenzungs- und Verdrängungsbemühungen gekennzeichnet. Nachdem das Naturrecht (=die Annahme überpositiver natürlicher Normen) als Vorläufer der Rechtsphilosophie im 17. und 18. Jahrhundert
weite Teile der praktischen Philosophie dominiert hatte,1 wollte Hegel in seinen
“Grundlinien der Philosophie des Rechts” von 1821 das Recht zu einem umfassenden philosophischen Weltgebäude in Beziehung setzen. Dieser hohe Anspruch
der Rechtsphilosophie wurde in Deutschland besonders gepflegt und ist von vielen
auch noch im 19. und 20. Jahrhundert aufrecht erhalten worden – in einem Zeitraum, in dem die Philosophie als „Königin der Wissenschaften“ ihrerseits entthront
wurde. In diesem Zeitraum lassen sich allerdings bereits verschiedene Gegenbewegungen feststellen. Neue Fächer wie „Rechtslehre“, „Rechtstheorie“, „Verfassungslehre“ und “Staatslehre“ signalisieren die radikale Abkehr von den hohen Ansprüchen der Rechtsphilosophie und des Naturrechts und den Umschlag in das andere
Extrem des Rechtspositivismus. Dabei wurde nicht nur der ambitionierte Anspruch, das Recht zur gesamten Philosophie in Beziehung zu setzen, verworfen,
sondern auch die gemäßigtere rechtsethische Verbindung zur praktischen Philoso1 Vgl. zur Entwicklung des Begriffs Rechtsphilosophie vor Hegel: Dietmar von der Pfordten, ...
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phie mit reduzierter metaphysischer Aufladung. „Wissenschaft muß wertfrei sein“,
hieß nunmehr das Credo. Erlaubt war deshalb für manche nur eine Beschreibung
und Analyse des bestehenden Rechts und seiner allgemeinen Strukturen. Nach
1945 führte in Deutschland der Zusammenbruch der politischen Ordnung und der
Weltanschauung vieler Menschen, sowie eine fälschliche Zuschreibung der Verantwortung für die Wehrlosigkeit der deutschen Juristen gegenüber der Diktatur an
den Rechtspositivismus zu einer kurzen Renaissance des Naturrechts und damit der
Rechtsphilosophie in ihrer ambitionierten Form. Man schrieb über Themen wie
„Recht und Zeit“ und übersah die zunehmenden Skepsis in anderen Wissenschaften und anderen Ländern gegenüber zu hoch gesteckten metaphysischen Fundierungsansprüchen - eine Skepsis die sich auch bei den Dogmatikern innerhalb der
Rechtswissenschaft ausbreitete.
In den späten 60er, 70er und 80er Jahren folgte diesem Höhenflug dann die Ernüchterung und der Umschlag in das andere Extrem. Mit etwa 20 bis 30 Jahren
Verspätung orientierten sich nun viele am positivistischen Wissenschaftsideal, das
im angelsächsischen Raum - unter wesentlichem Anteil deutschsprachiger Emigranten wie Wittgenstein, Carnap, Kelsen und Popper - in den 30er, 40er und 50er Jahren en vogue war. Man betrieb nunmehr - wenn man sich nicht völlig auf die
Rechtsdogmatik beschränkte - vor allem Rechtstheorie, also Normentheorie,
Rechtslogik, Sprachanalyse, Rhetorik, Argumentationstheorie, Begriffsanalyse, und
Rechtssoziologie. Die Rechtsphilosophie sollte durch Rechtstheorie und Rechtssoziologie ersetzt werden. Andere arbeiteten nur noch historisch und widmeten sich
der Interpretation rechtsphilosophischer Klassiker. Dies Entwicklung setzte beinahe genau zu dem Zeitpunkt ein, als im angelsächsischen Raum die Zweifelhaftigkeit
der reinlichen Trennung von deskriptiver und normativer Sprache sowie der
Sprachanalyse als Fundament alles Denkens erkannt wurde und die gegenläufige
Entwicklung zu einer sachorientierten praktischen Philosophie begann, die das verstärkte Interesse an der Ethik mit ausgelöst hat. Insbesondere die politische Philosophie hat im angelsächsischen Raum seit Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre eine erhebliche Intensivierung erlebt, die mit Namen wie John Rawls, Robert
Nozick und Ronald Dworkin verbunden ist. Während viel Fachphilosophen in
Deutschland die Tragweite dieser neuen Entwicklung erkannten, findet sie unter
Juristen immer noch zu wenig Beachtung. Dieses - man möchte fast sagen: typisch
deutsche - Wechselbad zwischen überhohen Ansprüchen und völligem Verzicht
gepaart mit großer Ernüchterung hat sich natürlich auf die Akzeptanz der Rechtsphilosophie vor allem bei den rechtsdogmatisch orientierten Kollegen negativ ausgewirkt. Manche Rechtsdogmatiker haben heute ein distanziertes Verhältnis zur
Rechtsphilosophie.
Der Schwerpunkt der Vorlesung wird auf der Rechtsethik liegen. Dies hat drei
Gründe:
Zum ersten ist die rechtsethische Frage nach der Gerechtigkeit für den nicht mit
der Rechtsphilosophie Vertrauten – sei er nun Philosoph oder Jurist – im Regelfall
zugänglicher und interessanter als rechtstheoretische Analysen, die einzelwissen-
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schaftliche oder philosophische Spezialkenntnisse voraussetzen und in vielen Fällen
sehr detailliert sein müssen.
Zum zweiten sind rechtsethische Ergebnisse unmittelbar für juristische Entscheidungen relevant. Dies gilt für die Rechtspolitik. Es gilt aber auch für die Rechtsanwendung durch Richter und Verwaltungsbeamte, wobei dann die juristischen Methodenlehre das Vermittlungsglied darstellt. Rechtstheoretische Erkenntnisse spielen zwar in der Praxis auch eine Rolle, aber nur eine, die Grenzen setzt und Instrumente bereitstellt. Zur inhaltlichen Gestaltung des positiven Rechts kann die
Rechtstheorie dagegen keine Handreichung geben.
Zum dritten sollte man sich klar machen, daß bis ins neunzehnte Jahrhundert nicht
zwischen Rechtsethik und Rechtstheorie unterschieden wurde, wobei die rechtsethische Frage nach der Gerechtigkeit des Rechts dominierte. Eine stärkere Berücksichtigung der Rechtsethik spiegelt also auch die historische Schwerpunktsetzung der Diskussionslage wieder.
IV. Philosophie
Soziales, Politik und Recht sind von Menschen gemachte oder zumindest beeinflußte Phänomene. Wir können diese Phänomene im Gegensatz zu reinen Naturphänomenen nicht verstehen, wenn wir nicht verstehen, welchem Ziel sie dienen
und welche Absichten (=Intentionen) die Menschen mit ihnen und im Rahmen des
Handelns in ihren Organisationen und Institutionen verfolgen. Trotz dieser Einschränkung des Verstehens haben auch soziale Phänomene eine sinnliche Erfahrungsbasis. Es sind also empirische Phänomene. Wir hören die Mitglieder einer Familie miteinander sprechen. Wir sehen, wie sie sich umarmen oder streiten. Wir beobachten
die Situation von Arbeitnehmern in Betrieben usw.
Die Sozialwissenschaft ist folglich in weiten Teilen eine empirische Wissenschaft, ebenso die Politikwissenschaft. Auch die Rechtswissenschaft hat mit den Normen des
geltenden Rechts zumindest einen empirischen Ausgangspunkt. Dann stellt sich natürlich die Frage, welche Aufgabe noch einer Philosophie dieser sozialen Phänomene,
welche Aufgabe der Sozialphilosophie, Politischen Philosophie und Rechtsphilosophie neben der Sozialwissenschaft, Politikwissenschaft und Rechtswissenschaft als
Einzelwissenschaften zukommt?
Oder allgemeiner gefragt: Welche Aufgabe hat die Philosophie generell im Verhältnis zu den Einzelwissenschaften? Ich kann hier meine Antwort nur kurz skizzieren.
Sie lautet folgendermaßen: Wenn das Gesamt unserer Weltwahrnehmung einzelwissenschaftlich aufgespalten wird, dann muß zur Sicherung von Widerspruchsfreiheit
(=Konsistenz) und näherem Zusammenhang (=Kohärenz) dieser Einzelteile ein abstraktester weltanschaulich-philosophischer Rahmen zur Verfügung stehen. Dieser Rahmen
kann kein Fundament sein, aus dem sich einzelwissenschaftliche Ergebnisse ableiten lassen, wie das beispielsweise noch Descartes glaubte, sondern nur eine Art
„ordnender Reflexion“ der abstraktesten Begriffe und Sätze. Im Hinblick auf empirische Phänomen wie soziale Beziehungen, Politik und Recht wird die Sozialphilosophie also nach den abstraktesten und damit diesen konkreten Phänomenen zu
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Grunde liegenden Annahmen fragen. Wir können aus diesen abstrakten philosophischen Annahmen die konkreten sozialen Phänomene nicht ableiten. Wir könne
also z. B. aus dem Begriff des Politischen nicht ableiten, wie einzelne politische
Entscheidungen beschaffen sind oder getroffen werden sollen. Aber andererseits
können wir einzelne politische Entscheidungen nur verstehen, wenn wir sie nicht
nur als einzelne Entscheidungen wahrnehmen, sondern eben als politische Entscheidungen begreifen und damit als Konkretisierung unseres abstrakten Begriffs
von Politik.
V. Die zwei Teile der Philosophie und der Rechtsphilosophie:
Theorie und Ethik
Die Philosophie zerfällt wiederum in zwei Teile: theoretische Philosophie und praktische
Philosophie, oder kürzer: Theorie und Ethik. Entsprechend zerfällt – wie wir sahen –
die Rechtsphilosophie in Rechtstheorie und Rechtsethik. Dieser Unterscheidung
liegen die zwei fundamental unterschiedlichen menschlichen Zugangsweisen zur
Welt zu Grunde: Erkennen und Handeln.
1. Theorie: Die theoretische Philosophie bezieht sich auf Fragen des Seins, Erkennens
und Aussprechens der untersuchten Gegenstände. Sie enthält als zentrale Teilgebiete
die Ontologie/Metaphysik, Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie. Im Hinblick
auf die Phänomene des Sozialen, Politischen und des Rechts beschäftigt sich die
theoretische Philosophie v. a. mit Fragen wie: Was ist Politik? Wie kommen politische Entscheidungen zu Stande? Wie wird politisches Handeln erkannt? In welchen
Sprachformen vollzieht sich Politik? Was ist die Struktur des Rechts? Wie erfolgt
die Begriffsbildung in Recht und Politik? Welcher Logik folgen Normen? usw. Aus
dem Bereich der theoretischen Philosophie wird in dieser Vorlesung nur die Frage
nach den Begriffen Politik und Recht thematisiert.
2. Ethik: Die praktische Philosophie fragt nach dem Sozialen als Gegenstand unseres Handelns. Sie thematisiert insbesondere Fragen der Gerechtigkeit. Der Schwerpunkt der Vorlesung wird auf diesem praktischen Teil der Sozialphilosophie bzw.
Politischen Philosophie liegen. Diese Schwerpunktbildung bedingt auch die oben
schon angekündigte Konzentration auf die Politische Philosophie und Rechtsphilosophie, während die Sozialphilosophie vernachlässigt wird. Warum? Der Grund
liegt darin, daß das Soziale als solches nicht so einfach Gegenstand der Ethik sein
kann, weil die Gesamtheit sozialer Beziehungen nicht Ergebnis menschlicher
Handlungen ist. So ist z. B. vielleicht jedes einzelne Kind geplant, aber die Bevölkerungsentwicklung als Ganze ist mehr oder minder zufälliges Ergebnis der Einzelhandlungen. Ähnlich ist die Situation z. B. bei der Auflösung von Großfamilien
und der zunehmenden Bildung von Singlehaushalten und Kleinfamilien. Jeder einzelne Mensch wählt die ihm angemessene Lebensform. Das führt dann zu einem
sozialen Trend. Diesen Trend kann man nicht als gerecht oder ungerecht bewerten,
weil niemand für ihn verantwortlich ist. Die politischen Institutionen können natür-
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lich versuchen, derartige Trends zu beeinflussen. Man denke an die sog. Ein-KindPolitik in China, um die Bevölkerungsexplosion zu stoppen. Aber zum einen sind
wir damit schon bei der politischen Philosophie angelangt und zum anderen sind
die Möglichkeiten der Politik zur gesellschaftlichen Steuerung um so stärker begrenzt je weiter sie sich von der klassischen Regierungsaufgabe des Schutzes ihrer
Bürger nach innen und nach außen entfernt und versucht, das soziale Leben zu gestalten. Ein gutes Beispiel ist das Phänomen der Lüge. Eine Lüge ist nicht strafbar
oder auch nur rechtlich verboten, obwohl sie zu sozialen Problemen führt. Der
Grund liegt darin, daß Lügen in derart starkem Maße Teil des Alltags sind, daß eine
politisch-rechtliche Regelung praktisch wirkungslos wäre. Die Politik setzt sich im
übrigen sehr schnell dem Vorwurf des Totalitarismus aus, wenn sie versucht, alle
Bereiche des sozialen Zusammenlebens zu normieren.
Es gilt also: Die Beurteilung eines Zustands als gerecht oder ungerecht durch die Ethik
setzt eine Handlung oder zumindest eine Handlungsmöglichkeit und auf irgendeine
Weise durch vorhergehendes Handeln begründete Verantwortlichkeit für den Zustand voraus. Diese Voraussetzung ist für das Soziale als Ganzes nicht anzunehmen, sondern allenfalls für einzelne Folgen oder Resultate. Deshalb kann es in einem weiteren Sinn keine wirkliche Sozialethik geben, sondern nur eine politische
Ethik, eine Rechtsethik, eine Wirtschaftsethik der Unternehmen etc. Diese Alternativen der kollektiven Ethik unterscheiden sich von der Individualethik in Folgendem: Die kollektive Ethik hat es immer mit dem Handeln von Kollektiven oder deren
Repräsentanten zu tun, während sich die Individualethik auf das Handeln der einzelnen
Menschen als einzelner bezieht.
VII. Die Frage nach der Gerechtigkeit
Der zentrale Gegenstand dieser Vorlesung wird die Frage nach der Gerechtigkeit politischer Entscheidungen sein. Beispiele:
Wie sollen die Menschen verdienen? Darf es große Einkommensunterscheide geben?
Wie erfolgt eine gerechte Besteuerung? Muß eine Steuer von allen Bürgern unabhängig von ihrem Einkommen oder Vermögen den gleichen Betrag fordern (sog.
Kopfsteuer) oder darf der Betrag proportional oder sogar progressiv, d. h. überproportional, steigen. Ist es z. B. gerecht, daß eine Sekretärin etwa 10 Prozent ihres
Einkommens als Einkommensteuer abführen muß, während eine Richterin 30 oder
40 Prozent zu zahlen hat?
Wie intensiv darf der Staat in unsere Menschen und Bürgerrechte eingreifen? Ist z.
B. die Regelung der Ladenöffnungszeiten mit dem Verbot des Sonntagsverkaufs
mit dem Recht auf Berufsfreiheit vereinbar?
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Was berechtigt die politische Gemeinschaft, junge Männer für einen längeren Zeitraum teilweise ihrer Handlungsfreiheit zu berauben und zum Wehr- oder Ersatzdienst einzuziehen?
Wie soll Eigentum anerkannt und geschützt werden? Muß es auch anerkannt werden, wenn es zu Verzerrungen im politischen Wettbewerb führt? Man denke an die
Medienmacht des italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi.
Warum sollen wir überhaupt die Existenz von Staaten akzeptieren, die mit Verpflichtungen und Zwang regieren?
Es gibt viele denkbare Gerechtigkeitsmaßstäbe, z. B.:
Jedem das Gleiche.
Jedem nach seinen Bedürfnissen.
Jedem nach seiner Leistung.
Jedem nach seinem Verdienst.
Jedem nach seiner Stellung im Gemeinwesen
Jedem das Seine.
Jedem so daß alle am Meisten haben.
Jedem so, daß die Ärmsten am Meisten haben. usw.
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