Harnwegsinfektionen - Deutsches Apotheken Portal

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ZERTIFIZIERTE FORTBILDUNG
Senföle in der Therapie von
Harnwegsinfektionen
2 PUNKTE
für Apotheker/PTA
Von der
Apothekerkammer
INHALT
Teil 1: Anatomische Grundlagen und Ätiologie
Teil 2: Diagnostik und Therapieoptionen
Teil 3: Beratung in der Apotheke
Einleitung
Jede zweite Frau erkrankt mindestens einmal in ihrem Leben an einer Harnwegsinfektion.
Häufig suchen die Betroffenen zunächst Rat in der Apotheke. Deshalb ist es wichtig, dass
Apotheker/innen und PTA fundierte Empfehlungen geben können und darüber hinaus erkennen, in welchen Fällen ein Arztbesuch Vorrang hat.
In aktuellen Leitlinien wird empfohlen, auch bei unkomplizierten Harnwegsinfekten sofort
eine Antibiotikatherapie einzuleiten. Gerade bei Escherichia-coli-Bakterien, die die überwiegende Zahl der Infekte verursachen, verschärft sich jedoch die Resistenzlage zunehmend.
Und auch die Nebenwirkungen einer Antibiotikatherapie können belastend sein.
Bei leichteren unkomplizierten Harnwegsinfekten und im Rahmen der Rezidivprophylaxe
können auch pflanzliche Antiinfektiva eingesetzt werden. Die in Kreuzblütlern wie Meerrettich und Kapuzinerkresse enthaltenen Senföle wirken beispielsweise nachweislich antimikrobiell, jedoch ohne die natürliche Darmflora zu beeinträchtigen.
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ZERTIFIZIERTE FORTBILDUNG
Senföle in der Therapie von
Harnwegsinfektionen
Teil 1: Anatomische Grundlagen und Ätiologie
Um das Krankheitsbild „Harnwegsinfektion“ mit seinen
Ursachen und Symptomen zu verstehen, ist es wichtig,
die anatomischen Gegebenheiten der Niere und der
ableitenden Harnwege zu kennen.
Niere
1.1 Die Nieren
Die Nieren sind paarige, unterhalb des Zwerchfells
und beiderseits der Wirbelsäule gelegene Organe von
bohnenförmiger Gestalt. An der medial gelegenen Konkavität (= Wölbung nach innen) befindet sich der Hilus
(Nierenpforte), an dem die Gefäße (Arteria renalis, Vena
renalis) sowie der Ureter (Harnleiter) ein- bzw. austreten.
Der Längsdurchmesser einer Niere beträgt bei Erwachsenen ca. 10–12 cm, der Querdurchmesser 5–7 cm und
das Gewicht etwa 120–200 g.
Harnleiter
Nierenbecken
Harnröhre
Blase
Abb. 1: Darstellung von Nieren und harnableitendem
System
Die Nieren erfüllen lebenswichtige Funktionen:
u
Ausscheidung von Stoffwechselprodukten (z. B. Harnstoff ), Fremdstoffen (Xenobiotika)
und ihren Metaboliten
u
Kontrolle des Wasser- und Elektrolythaushalts
u
Konstanthaltung des extrazellulären Flüssigkeitsvolumens (Isovolämie), der osmotischen
Konzentration (Isotonie) und des Ionengleichgewichts (Isoionie)
u
Regulation des Säure-Basen-Haushalts und Aufrechterhaltung des physiologischen
pH-Werts (Isohydrie)
u
(langfristige) Blutdruckregulation mittels des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems
(RAAS)
u
Abbau von Plasmaproteinen und Peptidhormonen
Zudem synthetisieren die Nieren wichtige Hormone (Calcitriol, Erythropoietin) und dienen
als Erfolgsorgan für extrarenal gebildete Hormone (z. B. Adiuretin, Aldosteron, Calcitonin,
natriuretische Peptide, Parathormon). [1]
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Senföle in der Therapie von
Harnwegsinfektionen
1.1.1 Aufbau der Nieren
Die Nieren sind von einer bindegewebigen Kapsel überzogen. Im Inneren kann man schon
makroskopisch die Nierenrinde (Cortex renis), das Nierenmark (Medulla renalis) und das
Nierenbecken (Pelvis renalis), aus dem der Ureter austritt, unterscheiden. Die Markschicht ist durch 8–17
Nierenrinde
Nierenmark
Kapsel
Pyramiden gekennzeichnet, deren Spitzen zum Zentrum
Nierenzusammenlaufen. Diese Spitzen werden auch als Nierenpapille
Nierenpapillen bezeichnet und sind von schlauchförmigen NieA. renalis
becken
renkelchen überzogen. Letztere fangen den Endharn auf
Nieren
und leiten ihn in den Sammelraum des Nierenbeckens.
kelch
Über die aus der Aorta entstammende Arteria renalis
wird die Niere mit Blut versorgt. Nach Eintritt in den Hilus
verzweigt sich die Arterie in die Arteriae interlobares,
die entlang der Säulen zwischen den Markpyramiden
aufsteigen. An der Pyramidenbasis werden sie zu arkadenförmige Ästen, aus denen die Arteriae interlobulares
hervorgehen. Von diesen zweigen in regelmäßigen Abständen die Vasa afferentia ab, die die Nierenkörperchen
(s. 1.1.2 Nephron) versorgen.
In jedem Nierenkörperchen bildet das Vas afferens ein
Kapillarknäuel, das sich wiederum zu einem Vas efferens vereinigt. An dieses Kapillarsystem schließt sich ein
zweites, das peritubuläre Kapillarsystem an, welches
die Tubuli und Sammelrohre (s. 1.1.2 Nephron) mit Blut
versorgt. Das venöse Blut wird schließlich über die Vena
renalis aus der Niere herausgeleitet. [1]
V. renalis
Ureter
Columna
renalis
Abb. 2: Längsschnitt durch die Niere
Vas
efferens
Bowman-Kapsel
Vas
afferens
Glomeruluskapillare
Abb. 3: Nierenkörperchen
1.1.2 Nephron
Jede menschliche Niere enthält ca. eine Million funktionelle Einheiten, die als Nephrone bezeichnet werden.
Ein Nephron besteht aus einem Nierenkörperchen und
dem Tubulusapparat. Das Nierenkörperchen setzt sich
aus dem Kapillarknäuel (Glomerulus) und der BowmanKapsel zusammen. Der Tubulusapparat besteht aus dem
proximalen Tubulus, einem Überleitungsstück, dem distalen Tubulus und dem Sammelrohr. Die geraden Teile
des proximalen und distalen Tubulus und das Überleitungsstück werden auch als Henle-Schleife bezeichnet. [1]
Proximaler
Tubulus
Glomerulus
Proximaler
Tubus
Sammelrohr
Distaler
Tubulus
HenleSchleife
Überleitungsstück
Abb. 4: Abb. 4: Schematische Darstellung eines
Nephrons
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1.2 Harnbildung
In den Glomeruli wird aus dem durchfließenden Blutplasma der Primärharn abgepresst, der
nahezu eiweißfrei ist. Stoffe sind nur bis zu einer bestimmten Molekularmasse filtrierbar (bis
5000 Dalton), sodass Proteine den intakten Nierenfilter praktisch nicht passieren können. Pro
Tag werden etwa 180 Liter Primärharn produziert. Das heißt, dass das gesamte Plasmavolumen von ca. drei Litern etwa 60-mal pro Tag durch die Nieren gereinigt wird.
Im Tubulus- und Sammelrohrapparat wird der abfiltrierte Primärharn durch zahlreiche Resorptions- und Sekretionsprozesse in den Endharn (Urin) überführt, der über den Ureter in
die Harnblase geleitet wird. Der größte Teil der gelösten Bestandteile und 99 % des Wassers
werden über aktive und passive Prozesse rückresorbiert und dem Blutkreislauf wieder zugeführt. Die pro Tag gebildete Harnmenge liegt zwischen 500 und 3000 ml. Im Durchschnitt
sind es 1500 ml. Der physiologische pH-Wert des Harns beträgt 4,8 bis 7,5. [1]
1.2.1 Glomeruläre Filtrationsrate
Die Glomeruläre Filtrationsrate (GFR) ist das pro Zeiteinheit in sämtlichen Glomeruli abgepresste Filtratvolumen. Normalwerte sind im frühen Erwachsenenalter bei Männern 125 ml/
min und bei Frauen 110 ml/min. [1]
1.3 Die ableitenden Harnwege
Die ableitenden Harnwege setzen sich aus den Harnleitern (= Ureteren), der Harnblase und
der Harnröhre (= Urethra) zusammen.
1.3.1 Harnleiter (Ureteren)
Die zwei Harnleiter sind dünne, ca. 30 cm lange Schläuche, die in die Harnblase münden.
Die Mündungen sind jeweils durch eine klappenartige Schleimhautfalte verschlossen. Diese
„Ventile“ und der schräge Durchtritt der Harnleiter durch die muskuläre Blasenwand verhindern, dass der Urin während der Blasenkontraktion zurückfließt. [1]
1.3.2 Harnblase
Die Harnblase dient als Reservoir für den Harn und ist ein sog. Hohlorgan. Sie kann beim
Erwachsenen ca. 0,6–1 Liter fassen. Die Empfindung der Blasenfüllung tritt aber bereits bei
einer Ansammlung von 150–300 ml Urin ein. Zu Beginn der Füllung steigt der Druck in der
Blase etwas an, bleibt dann bei weiterer Volumenzunahme aber konstant. Bevor sich der
Druck bei noch stärkerer Füllung weiter erhöhen würde, setzt die aktive Blasenentleerung
(= Miktion) ein. Die Blasenmuskulatur erhält somit einen weitgehend konstanten Blasentonus.
Die Innenwand der Harnblase ist mit einem Übergangsepithel ausgekleidet, das bei geleerter Blase Falten wirft. Die Blasenwand besteht aus drei Schichten glatter Muskelfasern (Detrusor vesicae). An der Mündung zur Harnröhre verdicken sich die glatten Muskelfasern zum
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inneren Schließmuskel (Sphincter internus). Der äußere Schließmuskel (Sphincter externus)
besteht hingegen aus quergestreifter Muskulatur des Beckenbodens. [1]
1.3.3 Harnröhre (Urethra)
Die männliche und die weibliche Harnröhre sind sehr unterschiedlich ausgeprägt. Die männliche Harnröhre ist ca. 20 cm lang und ihr Anfangsteil wird von der Prostata umschlossen. Sie
dient sowohl als Kanal für Urin als auch für das Sekret der Prostata. Im Gegensatz dazu ist die
weibliche Harnröhre weniger als 5 cm lang, sodass Bakterien leichter die Harnblase erreichen können. Aus diesem Grund leiden Frauen weitaus häufiger unter Harnwegsinfekten als
Männer. [1]
1.3.4 Blasenentleerung (Miktion)
Die Blasenentleerung wird willkürlich ausgelöst, läuft dann aber reflektorisch ab. An diesem Vorgang sind die Kontraktion des Detrusormuskels, die Erweiterung der Harnröhre im
Bereich des inneren Sphinkters, die Erschlaffung des äußeren Sphinkters und die Kontraktion
der Bauch- und Beckenmuskulatur beteiligt. Die Empfindung des Harndrangs wird ab einem
Füllvolumen von 150 ml durch Zunahme afferenter Nervenimpulse hervorgerufen. Die
Kontraktion des Detrusormuskels wird über parasympathische efferente Fasern des Nervus
splanchnicus pelvicus initiiert, die Erschlaffung des äußeren Schließmuskels über willkürmotorische Fasern des Nervus pudendus. Unterdrückbar ist der Miktionsreflex durch hemmende Impulse aus dem Mittelhirn, insbesondere aus der Großhirnrinde. [1]
1.4 Harnwegsinfekte
Harnwegsinfekte werden häufig durch gramnegative Bakterien (selten grampositive Bakterien, Pilze, Viren) verursacht. Bei Harnwegsinfektionen handelt es sich in der Regel um aszendierende (= aufsteigende) Infektionen. Die Bakterien gelangen z. B. durch eine Schmierinfektion zur äußeren Harnröhrenöffnung und wandern die Harnröhre hinauf bis in die Harnblase.
Das Gewebe, das die Harnwege auskleidet, reagiert auf die Infektion mit Entzündung. Wegen
der deutlich kürzeren Harnröhre sind Frauen häufiger betroffen als Männer.
1.4.1 Klassifikation von Harnwegsinfekten
Harnwegsinfekte können anatomisch in obere und untere Harnwegsinfekte eingeteilt werden.
1.4.2 Infektionen der unteren Harnwege (Zystitis)
Unter Zystitis versteht man eine Entzündung der Blasenschleimhaut, in schweren Fällen
auch der ganzen Blasenwand. Sie wird überwiegend durch gramnegative Stäbchen (Escherichia coli) verursacht, in seltenen Fällen auch durch grampositive Kokken, Mykoplasmen,
Ureaplasmen, Hefen, Chlamydien, Viren und durch chemische oder mechanische Reize
(Katheter, Geschlechtsverkehr, Zytostatika, Strahlentherapie). [2]
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Harnwegsinfektionen
Typische Symptome einer Zystitis:
• Dysurie/Algurie = schmerzhafte Miktion
• Pollakisurie = häufige Miktion
• imperativer Harndrang = Harndrang bei unphysiologisch niedriger Blasenfüllung
• Schmerzen oberhalb der Symphyse
• Tenesmen = Blasenkrampf, dauerhafter Blasenschmerz
Differentialdiagnosen sind z. B. Entzündungen der Scheide, Urethritis, genitale Infektionen
und bei Männern Prostatitis. [2]
1.4.3 Infektionen der oberen Harnwege (Pyelonephritis)
Die Pyelonephritis wird auch als Nierenbeckenentzündung bezeichnet und ist eine bakterielle Entzündung des Niereninterstitiums und Nierenbeckenkelchsystems. Erreger sind v. a.
Enterobacteriaceae, Pseudomonas, Enterokokken, Staphylokokken. Frauen sind 2- bis 3-mal
häufiger betroffen als Männer. [2]
Typische Symptome einer Pyelonephritis:
•Flankenschmerz
• klopfschmerzhaftes Nierenlager
• Fieber > 38° C (evtl. Schüttelfrost)
•Dysurie
•Pollakisurie
• Übelkeit und Erbrechen
• Abgeschlagenheit und Durstgefühl
Neben der Einteilung nach anatomischen Kriterien hat sich die Einteilung nach klinischen
Kriterien bewährt. Letztere wird auch in aktuellen Leitlinien verwendet.
1.4.4 Unkomplizierte Harnwegsinfekte
Harnwegsinfekte werden als unkompliziert eingestuft, wenn es sich um Infektionen bei Patienten ohne relevante funktionelle oder anatomische Anomalien, Nierenfunktionsstörungen
oder Begleiterkrankungen handelt. Unkomplizierte Harnwegsinfekte können isoliert oder
rezidivierend auftreten. [3]
1.4.5 Komplizierte Harnwegsinfekte
Als kompliziert werden Harnwegsinfekte bei Patienten mit besonderen Risikofaktoren für
einen schweren Verlauf oder Folgeschäden (z. B. Kinder, Schwangere, Männer oder immunsupprimierte Patienten) eingestuft. [3]
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Junge und prämenopausale Frauen
• Geschlechtsverkehr
Ältere und postmenopausale Frauen
• Harnwegsinfektionen vor der Menopause
• Anwendung von Spermiziden und/oder
Diaphragma
• Harninkontinenz
• neuer Sexualpartner
• Mutter mit einer Historie von
Harnwegsinfekten
• Harnwegsinfektionen während der
Kindheit
• atrophische Vaginitis aufgrund von
Östrogenmangel
• Zystozele
• unvollständige Blasenentleerung
• Blutgruppen-Antigen-Sekretorstatus
• Katheterisierung
Tab. 1: Risikofaktoren für unkomplizierte Harnwegsinfekte bei Frauen [4]
Risikofaktoren für einen komplizierten Verlauf:
•Schwangerschaft
• funktionelle Veränderungen, z. B. Niereninsuffizienz oder Blasenentleerungsstörungen
• anatomische Veränderungen, z. B. Nierensteine, Prostatavergrößerung oder Harnblasentumore
• Störungen der Immunität, z. B. bei Diabetes mellitus, Leberinsuffizienz oder HIV
• Fremdkörper, z. B. Harnblasenkatheter
1.4.6 Asymptomatische Bakteriurie
Als asymptomatische Bakteriurie wird die symptomlose Ausscheidung von Bakterien mit
dem Urin bezeichnet. Eine antibiotische Behandlung wird nur in Ausnahmefällen, z. B. bei
Schwangeren oder vor operativen Eingriffen, empfohlen. [3] [5]
1.4.7 Rezidivierende Harnwegsinfekte
Als rezidivierend werden Harnwegsinfekte bezeichnet, wenn sie mehr als dreimal pro Jahr
auftreten oder mindestens zweimal innerhalb der letzten sechs Monate aufgetreten sind. Es
handelt sich in der Regel um unkomplizierte Infekte. Nach dem ersten Harnwegsinfekt erleiden 20–36 % betroffener junger Frauen innerhalb eines Jahres ein Rezidiv. [3]
1.4.8 Harnwegsinfektionen in der Schwangerschaft
Harnwegsinfektionen und asymptomatische Bakteriurien treten häufig in der Schwangerschaft auf, da sich Nieren und Harntrakt anatomisch und physiologisch verändern. Während
der Schwangerschaft sind die Nierendurchblutung und die GFR um 30–40 % erhöht. Dadurch sinkt die Konzentration infektionshemmender Substanzen im Urin. Zudem könnten
der geringere urethrale Tonus und die Harnleitererweiterung im oberen Bereich die Erregeraszension (= Aufsteigen von Erregern) begünstigen. Hinzu kommt die geänderte immunologische Situation der Schwangeren.
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Senföle in der Therapie von
Harnwegsinfektionen
Wegen der Gefahr einer Erregeraszension wird derzeit eine antibiotische Therapie bei
Schwangeren mit asymptomatischer Bakteriurie und unkomplizierten Harnwegsinfekten
empfohlen. [3]
1.5 Erregerspektrum
In etwa 77 % der Fälle verursacht das gramnegative Darmbakterium Escherichia coli unkomplizierte Harnwegsinfekte, gefolgt von Staphylococcus saprophyticus (3,5 %), Klebsiella
pneumoniae (3,5 %) und Proteus mirabilis (3,4 %). Tabelle 1 gibt einen Überblick über die
typischen Erreger bei Frauen mit unkomplizierter Zystitis, wobei zwischen den Daten aus
Deutschland und den gesamten Daten der sog. ARESC-Studie (9 europäische Länder und
Brasilien) unterschieden wird. [3]
ARESC Deutschland
Erreger
n
%
Escherichia coli
243
76,7
Proteus mirabilis
15
4,7
Klebsiella pneumoniae
8
2,5
Enterobacter spp.
4
1,3
Citrobacter spp.
2
0,6
Andere Enterobacteriaceae
5
1,6
Non Enterobacteriaceae
0
0
Staphylococcus saprophyticus
9
2,8
Staphylococcus aureus
7
2,2
Andere Koagulase-negative Staphylokokken 14
4,4
Enterococcus spp.
8
2,5
Streptococcus spp.
2
0,6
Gesamt
317
100
ARESC Gesamt
n
%
2315
76,7
104
3,4
107
3,5
34
1,1
29
1,0
36
1,2
6
0,2
108
3,5
32
1,1
68
2,3
123
4,1
56
1,9
3018
100
Tab. 2: Erregerspektrum bei Frauen mit unkomplizierter Zystitis [3]
1.6 Diagnostik
1.6.1 Anamnese
Bei Vorliegen der typischen Symptome (Dysurie, Pollakisurie, imperativer Harndrang) ist die
Wahrscheinlichkeit, dass eine Harnwegsinfektion vorliegt, so hoch, dass neben der Urinuntersuchung mittels Teststreifen meist keine weitere Diagnostik erfolgt. Bei komplizierten
Verläufen wird eine umfassendere Diagnostik (z. B. Urinkultur, Ultraschalluntersuchung,
Blasenspiegelung) durchgeführt, die an dieser Stelle nicht im Detail besprochen wird. [3]
8
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1.6.2 Teststreifen
Mittels Teststreifen kann der Urin (in der Regel Mittelstrahlurin) auf bestimmte Parameter getestet werden,
die typisch für Harnwegsinfekte sind. Die Teststreifen
sind frei verkäuflich, sodass Patienten diese auch ohne
Rezept in der Apotheke kaufen können.
1.6.3 Nitrit
Nitrit wird als Abbauprodukt von Bakterien gebildet,
die das Enzym Nitratreduktase besitzen. Erst ab einer
bestimmten Bakterienkonzentration wird Nitrit im Urin
Abb. 5: Urinuntersuchung mittels Teststreifen
nachweisbar (> 4 Stunden Verweildauer in der Blase).
Bei Pollakisurie kann das Ergebnis durch die kürzere Verweildauer in der Blase verfälscht werden. Hinzu kommt, dass nicht alle Bakterien Nitrit bilden
können, z. B. einige Pseudomonaden und grampositive Erreger (Enterokokken und Staphylokokken). Der Nitrittest ist zwar insgesamt spezifisch, jedoch wenig sensitiv. [3]
1.6.4 Leukozyten
Leukozyten im Urin weisen auf eine entzündliche Reaktion hin. Mit den Teststreifen wird die
Leukozytenesterase als indirekter Indikator für das Vorhandensein von Leukozyten erfasst.
Auch Infektionen im Genitalbereich können zu einem (falsch) positiven Testergebnis führen.
Der Nachweis der Leukozyten ist deshalb weniger spezifisch als der Nitritnachweis. [3]
1.6.5 Blut/Protein
Der Nachweis von Blut im Urin ist hochsensitiv zur Entdeckung einer Harnwegsinfektion,
aber wenig spezifisch. Der Nachweis von Proteinen hat keine Bedeutung für die Diagnose
einer Harnwegsinfektion. [3]
1.6.6 Eintauchnährböden
Die Keimzahlbestimmung mittels Eintauchnährboden kann in der Apotheke durchgeführt
werden. Dazu gibt der Patient eine Probe Mittelstrahlurin in einen sterilen Einmalbecher. Bis
zu zwei Stunden nach dem Harnlassen wird der Nährboden in die Urinprobe getaucht und
für 24 Stunden in der Apotheke bebrütet, z. B. im Apothekenlabor. An einer Vergleichsskala
kann schließlich der Keimgehalt pro Milliliter abgelesen werden. Mit diesem Test kann eine
Bakteriurie mit hohen Erregerzahlen (≥ 100.000 Keime) ausgeschlossen werden. Der Ausschluss einer Bakteriurie mit geringer Erregerzahl (< 100.000) ist hingegen nicht möglich.
Eintauchnährböden sind in erster Linie geeignet, um negative Befunde oder ein signifikantes
Wachstum von E. coli nachzuweisen. [3]
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Senföle in der Therapie von
Harnwegsinfektionen
Teil 2: Therapieoptionen bei unkomplizierten Harnwegsinfekten
Als Therapieoptionen stehen neben den verschreibungspflichtigen Antibiotika auch zahlreiche Arzneimittel in der Selbstmedikation zur Verfügung, unter anderem pflanzliche Arzneimittel auf Basis von Senfölen aus z. B. Kapuzinerkressenkraut und Meerrettichwurzel.
2.1 Antibiotika
Bei akuten unkomplizierten Harnwegsinfektionen wird aktuell die Kurzzeitbehandlung mit
einem Antibiotikum empfohlen. Mittel der ersten Wahl sind derzeitig Fosfomycin, Nitrofurantoin und Pivmecinillam. [4] Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) sieht aber in der alleinigen symptomatischen Therapie (abwartendes
Verhalten mit gesteigerter Trinkmenge) eine vertretbare Alternative zur sofortigen antibiotischen Behandlung. [5]
Die Spontanheilungsrate der akuten unkomplizierten Zystitis liegt bei ca. 30–50 %, nur in ca.
2 % der Fälle ist zu befürchten, dass sich eine Pyelonephritis entwickelt. Ziel der Therapie ist
deshalb in erster Linie, die (oft quälenden) klinischen Symptome unter Kontrolle zu bringen.
Dies erreicht man mit einer sofortigen Antibiotikatherapie im Vergleich zu Placebo in einer
signifikant kürzeren Zeit, vorausgesetzt der Erreger ist empfindlich. [3]
Wirkstoff
Mittel der ersten Wahl
Fosfomycin
Pivmecillinam
Nitrofurantoin retardiert
Nitrofurantoin
Standarddosierung
Therapiedauer
1 x 3000 mg
2 x 400 mg
2 x 100 mg
4 x 50 mg
1 Tag
3 Tage
5 Tage (nur Frauen)
7 Tage
2 x 400 mg
2 x 250 mg
1 x 500 mg
1 x 250 mg
2 x 200 mg
3 Tage
3 Tage
3 Tage
3 Tage
3 Tage
Fluorchinolone
Norfloxacin
Ciprofloxacin
Ciprofloxacin RT
Levofloxacin
Ofloxacin
Cephalosporine (Gruppe 2/3 für 3 Tage)
Cefuroxim
Cefpodoxim
Cefixim
Ceftibuten
2 x 200 mg
2 x 100 mg
2 x 200 mg
1 x 400 mg
3 Tage
3 Tage
3 Tage
3 Tage
Bei Kenntnis der lokalen Resistenzsituation (Resistenz bei E. coli < 20 %)
Trimethoprim
2 x 200 mg
Cotrimoxazol (Trimethop- 2 x 160 mg/800 mg
rim / Sulfamethoxazol)
Tab. 3: Antibiotikatherapie bei akuten unkomplizierten Harnwegsinfekten bei Frauen [4] [6]
10
5 Tage
3 Tage
ZERTIFIZIERTE FORTBILDUNG
Senföle in der Therapie von
Harnwegsinfektionen
Wegen zunehmender Resistenzen sind Gyrasehemmer (= Fluorchinolone) und Cephalosporine für obere und komplizierte Harnwegsinfektionen reserviert. Deshalb kommen
in der Akuttherapie mittlerweile wieder ältere Antibiotika wie Nitrofurantoin zum Einsatz.
Nitrofurantoin darf jedoch nur dann eingesetzt werden, wenn effektivere und risikoärmere
Antibiotika ausscheiden. In Deutschland ist es zusätzlich ab einer GFR unter 60 ml/min kontraindiziert. Vor Beginn der Behandlung muss zudem die Leberfunktion überprüft werden,
da es bei Leberfunktionsstörungen zu starken Nebenwirkungen kommen kann. Zudem
besteht unter Nitrofurantoin das Risiko interstitieller Pneumonien oder Lungenfibrosen, vor
allem bei längerfristiger Einnahme. Somit ist in der Erstlinientherapie Fosfomycin zu bevorzugen, dessen Einsatz jedoch durch gastrointestinale Nebenwirkungen limitiert sein kann.
Es darf unterhalb einer GFR von 20 ml/min ebenfalls nicht mehr eingesetzt werden. Nitroxolin wird derzeit auf seine Eignung zur Erstlinientherapie geprüft. [6]
2.1.1 Resistenzsituation von E. coli gegenüber Antibiotika
Insgesamt ist die Resistenzsituation von E. coli in Europa alarmierend. Es wird ein Anstieg
an Breitspektrum-β-Lactamase-bildenden Bakterien (ESBL) beobachtet, die gegenüber den
meisten Antibiotika (außer Carbapenemen) resistent sind. Auch die steigenden Resistenzraten gegenüber Breitspektrum-Antibiotika (Fluorchinolone, Cephalosporine) sind kritisch zu
betrachten. [4]
Einer deutschen Untersuchung zufolge lag bei Frauen mit unkomplizierten und komplizierten Harnwegsinfektionen die Resistenzrate von E. coli gegenüber Amoxicillin, Amoxicillin/
Clavulansäure, oralen Cephalosporinen der Gruppe 1 und Cotrimoxazol zwischen 25 und
40 %. Gegenüber Fluorchinolonen waren 9 % der Isolate resistent. Niedrigere Resistenzraten
von E. coli zeigten sich gegenüber Nitrofurantoin (2 %) und oralen Cephalosporinen der
Gruppe 3 (3 %). Im Rahmen der länderübergreifenden ARESC-Studie reagierte E. coli am
empfindlichsten auf Fosfomycin, gefolgt von Mecillinam, Ciprofloxacin und Nitrofurantoin.
[3]
2.2 Alternative Therapieoptionen
In der Selbstmedikation stehen zahlreiche Präparate zur Behandlung von Harnwegsinfekten
zur Verfügung. Viele Präparate sind pflanzlicher Natur, z. B. Aquaretika zur Durchspülung der
Harnwege. Doch auch Analgetika (z. B. Ibuprofen, Paracetamol) und Spasmolytika (z. B. Butylscopolamin) können zur Symptombesserung beitragen, wobei auch diese mit Nebenwirkungen behaftet sind. Im Folgenden wird im Besonderen auf die pflanzlichen, antibiotisch
wirksamen Senföle eingegangen, die aufgrund ihrer ursächlichen Wirkung eine besonders
sinnvolle Behandlungsoption bei unkomplizierten Harnwegsinfekten darstellen.
11
ZERTIFIZIERTE FORTBILDUNG
Senföle in der Therapie von
Harnwegsinfektionen
2.2.1 Ausgewählte Therapieoptionen bei unkomplizierten Harnwegsinfektionen
in der Selbstmedikation: [7]
Aquaretika:
• Aus- und Durchspülen der Blase, als Tee oder Tabletten
• Beispiele: Goldrutenkraut (wirkt zusätzlich leicht spasmolytisch), Birkenblätter, Hauhechelwurzel, Schachtelhalmkraut, Orthosiphonblätter
• Kontraindikationen: Schwangerschaft, Ödeme infolge eingeschränkter Herz- oder Nierenfunktion
• Hinweis: Begleitend sollte ausreichend Flüssigkeit (mind. zwei Liter pro Tag) aufgenommen
werden
Desinfizienta:
• leicht desinfizierender Effekt, unterstützende Keimreduktion
• Ausscheidung über die Nieren und Anreicherung in der Blase
• Beispiele: Bärentraubenblätter (Arbutin), Schachtelhalmkraut, Orthosiphonblätter
• Kontraindikationen: Schwangerschaft und Stillzeit, eingeschränkte Herz- und Nierentätigkeit
• Hinweis: Arbutinhaltige Arzneimittel sollten nicht länger als jeweils eine Woche und höchstens fünfmal im Jahr eingenommen werden (Leberschäden)
Analgetika:
• schmerzlindernde und ggf. antientzündliche Wirkung
• Beispiele: Ibuprofen, Paracetamol
• Kontraindikationen: Je nach Wirkstoff beachten
Spasmolytika:
• Tonussenkung der überaktiven Blasenmuskulatur
• Beispiele: Butylscopolamin, Flavoxat
• Kontraindikationen: mechanische Stenosen des Verdauungssystems, Refluxösophagitis,
Verengung oder Verschluss der ableitenden Harnwege, Engwinkelglaukom, Blasenentleerungsstörungen, Tachyarrhythmien, Kinder < 12 Jahre
2.3 Pflanzliche Antiinfektiva: Senföle (Isothiocyanate)
Bei der Behandlung von Harnwegsinfekten hat sich der Einsatz von pflanzlichen Arzneimitteln, die antibiotisch wirksame Senföle (Isothiocyanate – ITCs) enthalten, bewährt. Diese
können zur Akuttherapie bei unkomplizierten Atem- und Harnwegsinfekten, begleitend
zu einer Antibiotikatherapie oder bei akuten rezidivierenden Atem- und Harnwegsinfekten
12
ZERTIFIZIERTE FORTBILDUNG
Senföle in der Therapie von
Harnwegsinfektionen
eingenommen werden. Den Studien zufolge haben diese eine entzündungshemmende
Wirkung und wirken nicht nur gegen Bakterien, sondern auch gegen Viren und Pilze. [8] [9]
[10] [11]
Ein weiterer Vorteil gegenüber Antibiotika ist, dass die Senföle aufgrund ihrer Resorption im
oberen Darmtrakt nicht die physiologische Darmflora angreifen. Deshalb haben Senföle im
Gegensatz zu Antibiotika keine durch die Beeinträchtigung der Darmbakterien verursachten
Nebenwirkungen. [8] Neben dem breiten antibakteriellen Wirkspektrum sowie gleichzeitiger
antiphlogistischer Effekte bewirken die Pflanzenstoffe auch eine Inhibierung des bakteriellen
Kommunikationssystems Quorum sensing (QS).
So kann durch ITCs aus Kapuzinerkresse und Meerrettich die Biofilmbildung deutlich gehemmt werden, mit denen sich manche Erreger vor Antibiotika schützen. Aufgrund der
unterschiedlichen Angriffspunkte bei den Bakterien und den daraus resultierenden multimodalen Wirkmechanismen sind keine Resistenzentwicklungen gegen die Isothiocyanate zu
erwarten. [8] [11]
2.3.1 Vorkommen
Die inaktiven Vorstufen der Senföle, Glucosinolate, sind besonders in der Pflanzenfamilie der
Kreuzblütler (Brassicaceae) und Kreuzblütlerartigen (Brassicales) vertreten.
Beispiele für Kreuzblütler:
• Brokkoli (Brassica oleracea var. italica)
• Kapuzinerkresse (Tropaeolum majus)
• Meerrettich (Armoracia rusticana)
• Senfe (z. B. Sinapis alba L.)
Glucosinolate sind sekundäre Pflanzenstoffe, die dem Schutz vor Schädlingen und der Abwehr pathogener Mikroorganismen dienen. Sekundäre Pflanzenstoffe zeichnen sich dadurch
aus, dass sie in speziellen Zelltypen hergestellt werden und für die Pflanzen nicht lebensnotwendig sind.
Beispiele für antimikrobiell wirksame sekundäre Pflanzenstoffe:
• Terpene und Phenylpropane in ätherischen Ölen (z. B. Thymian, Pfefferminze, Eukalyptus,
Kamille)
• Allicin (z. B. Knoblauch, Bärlauch)
• Arbutin (z. B. Bärentraube) CAVE: Arbutinhaltige Arzneimittel ohne ärztlichen Rat nicht
länger als eine Woche und nicht öfter als fünfmal pro Jahr anwenden!
• Saponine (z. B. Efeu)
• Isothiocyanate/Senföle (z. B. Kapuzinerkresse, Meerrettich)
• Gerbstoffe (z. B. Heidelbeeren, Rosmarin)
13
ZERTIFIZIERTE FORTBILDUNG
Senföle in der Therapie von
Harnwegsinfektionen
Glucosinolate sind schwefel- und stickstoffhaltige Verbindungen, die von der Pflanze aus
Aminosäuren synthetisiert werden. Sie setzen sich aus einer Glucoseeinheit, einer Sulfatgruppe und einer schwefelhaltigen Gruppierung mit einem Aglukonrest zusammen. Ihre
biologische Aktivität entwickeln sie erst, wenn sie durch Hydrolyse in die aktiven Substanzen überführt werden. Hierfür ist ein spezielles Enzym, die Myrosinase (β-Thioglucosidase),
notwendig. Die Myrosinase hydrolisiert unter Mitwirkung des Coenzyms Ascorbinsäure die
Glucosinolate unter Abspaltung der Glucose in verschiedene Spaltprodukte, z. B. Isothiocyanate, Thiocyanate, Nitrile.
Das Enzym ist in einer intakten Pflanzenzelle von seinem Substrat, dem chemisch stabilen
Glucosinolat, räumlich getrennt. Erst wenn die Pflanze verletzt wird, kommt es zu einer
Enzym-Substrat-Interaktion, gefolgt von Hydrolyse und Freisetzung der biologisch aktiven
Abwehrstoffe. [14] [15]
Glucosinolate
R
C
S
Glucose
H2C=CH–CH2–N=C=S
Allylisothiocyanat
NOSO3-
CH2–N=O=S
H2O
Benzylisothiocyanat
Myrosinase
Glucose
Phenethylisothiocyanat
Isothiocyanate
O
H3O–S–CH2–CH2–CH2–CH2–N=C=S
=
HSO4-
Sulforaphan
R–N=C=S
Abb. 6: Hydrolyse von Glucosinolaten
2.3.2 Stoffwechsel
Isothiocyanate werden im oberen Gastrointestinaltrakt (Dünndarm) aufgrund ihrer lipophilen Eigenschaften schnell und vollständig resorbiert. Damit wird die Darmflora in tieferen
Darmabschnitten nicht beeinträchtigt. Die Blut-Hirn-Schranke können Isothiocyanate nicht
überwinden.
Der Transport von der mukosalen zur intestinalen Seite des Dünndarms über das Dünndarmepithel erfolgt vermutlich passiv. Im Blut werden die Isothiocyanate an Erythrozyten
und Serumproteine gebunden und sind somit an den beabsichtigten Wirkorten (Niere/
ableitende Harnwege, Lunge) biologisch verfügbar. Demnach werden bei entsprechender
Dosierung auf diese Weise therapeutisch wirksame Konzentrationen der Isothiocyanate im
Urin erreicht. [15]
14
ZERTIFIZIERTE FORTBILDUNG
Senföle in der Therapie von
Harnwegsinfektionen
2.3.3 Arzneimittel mit Meerrettichwurzel und
Kapuzinerkressenkraut
Die Arzneipflanzen Meerrettich und Kapuzinerkresse
enthalten nach derzeitigen Erkenntnissen Isothiocyanate als wirksamkeitsbestimmende Bestandteile. Die
aus diesen Pflanzen isolierten Isothiocyanate sind in
verschiedenen Studien untersucht worden und zeigen
schon in geringer Menge eine ausgeprägte antimikrobielle Wirkung. [8] [9] Pharmazeutisch werden die Arzneidrogen Kapuzinerkressenkraut (Tropaeoli majoris herba)
und Meerrettichwurzel (Armoraciae rusticanae radix)
verwendet.
Abb. 7: Meerrettichwurzel (Armoraciae rusticanae)
2.3.3.1 Wirkmechanismus
Studien belegen, dass Isothiocyanate, wie z. B. Benzylisothiocyanate, sowohl eine bakteriostatische als auch eine
bakterizide Wirkung aufweisen. Die bakteriostatische
Wirkung beruht auf einer Reaktion der Isothiocyanate
mit Sulfhydrylgruppen von Proteinen (Enzymen), die für
den Zellstoffwechsel von Bakterien relevant sind. Auch
der Virenstoffwechsel wird durch Benzylsenföl beeinträchtigt, ebenso wie die Virussynthese. Die Hemmung
der Biofilm-Produktion gelingt durch Störung des bakteriellen Kommunikationssystems QS. Die in Kapuziner- Abb. 8: Kapuzinerkresse (Tropaeoli majoris herba)
kresse und Meerrettich enthaltenen Isothiocyanate üben
somit einen hemmenden Effekt auf das QS aus. [16] Die
antiinflammatorische Wirkung wird laut den aktuellsten Studien auf die duale Hemmung
des 5-LOX- und COX-Signalpfades durch die Benzylisothiocyanate zurückgeführt. [8] [9] [17]
In vitro wurde darüber hinaus eine antimykotische Wirkung für Benzylsenföl gezeigt, die wie
bei Bakterien auf der Reaktion von Isothiocyanaten mit Sulfhydrylgruppen von Proteinen
beruht.
Arzneidroge
Glucosinolate
Biologisch aktive
Isothiocyanate
Kapuzinerkressenkraut
(Tropaeoli majoris herba)
Glucotropaeolin
Benzylisothiocyanat
(Hauptbestandteil: ≥ 90 %) (Benzylsenföl: ≥ 90 %)
Meerrettichwurzel
(Armoraciae rusticanae
radix)
Sinigrin
Allylisothiocyanat
(Allylsenföl: ≥ 85 %)
Gluconasturtiin
2-Phenylethylisothiocyanat
(2-Phenylethylsenföl: ca.
15 %)
Tab. 4: Glucosinolate und aktive Isothiocyanate, die in Meerrettichwurzel und Kapuzinerkressenkraut enthalten sind [14]
15
ZERTIFIZIERTE FORTBILDUNG
Senföle in der Therapie von
Harnwegsinfektionen
2.3.3.2 Wirkspektrum
Für die in Meerrettichwurzel enthaltenen Isothiocyanate Allylsenföl und 2-Phenylethylsenföl sowie das in Kapuzinerkressenkraut enthaltene Benzylsenföl konnte in verschiedenen
Studien ein breites antimikrobielles Wirkspektrum nachgewiesen werden. Dabei zeigten
sich sogar resistente Keime, z. B. MRSA und resistente Formen von E. coli, sensitiv gegenüber
Senfölen. [8] [9] [11] [18] [19]
Erreger
Benzylsenföl
(Kapuzinerkressenkraut)
Allylsenföl und
2-Phenylethylsenföl
(Meerrettichwurzel)
Kombination:
80 mg Meerrettichwurzel,
200 mg Kapuzinerkressenkraut
Grampositive
Bakterien
Entero- und
Staphylokokken
Grampositive Bakterien, insbesondere
Streptokokken
(besonders 2-Phenylethylsenföl)
Ausgeprägte Wirkung:
Staphylococcus aureus
(MSSA und MRSA),
Staphylococcus pyogenes
Gramnegative Bakterien, insbesondere
Pseudomonas aeruginosa, Klebsiella pneumoniae (besonders
Allylsenföl)
Besonders starke Wirkung:
Haemophilus influenzae,
Moraxella catarrhalis
Gramnegative
Bakterien
Escherichia coli,
Haemophilus influenzae, Proteus
mirabilis, Acinetobacter, Enterobacter spp.
Weniger empfindlich:
Enterokokken (besonders
E. faecium)
Ausgeprägte Wirkung:
Escherichia coli, Pseudomonas aeruginosa*
Weniger empfindlich:
Klebsiella pneumoniae
Viren
Influenzaviren,
Hühnerpockenviren, Enzephalitisviren, Newcastleviren,
Rickettsien
Keine Studien vorhanden, vermutlich wie
bei Benzylsenföl
Hefen/Pilze
Candida
Fadenpilze, Sprosspilze, Schimmelpilze,
Hefen
Tab. 5: Wirkspektrum von in Meerrettichwurzel und Kapuzinerkressenkraut enthaltenen Senfölen [8] [9]} [11] [16] [18] [19] [20]
* Hinweis: Ausgeprägte Wirkung gegen Pseudomonas aeruginosa in der Studie nur bei kombinierter Gabe von Meerrettichwurzel und Kapuzinerkressenkraut geprüft
Die Studienergebnisse zeigen, dass die Kombination aus Meerrettichwurzel und Kapuzinerkresse bei der Behandlung von Harnwegsinfekten sinnvoll ist. Ein entsprechendes Arzneimittel, das 80 mg Meerrettichwurzel und 200 mg Kapuzinerkressenkraut als arzneilich wirksame
Bestandteile enthält, ist in Deutschland verfügbar. Es wird entsprechend diesem breiten
Wirkspektrum bei unkomplizierten Infekten sowie akuten entzündlichen Erkrankungen der
Bronchien, Nebenhöhlen und ableitenden Harnwege eingesetzt.
16
ZERTIFIZIERTE FORTBILDUNG
Senföle in der Therapie von
Harnwegsinfektionen
2.3.3.3 Studien zur klinischen Wirksamkeit
Die antimikrobielle Wirksamkeit von Senfölen ist schon seit langem bekannt und wird seit
Jahrhunderten zur Infektionsbekämpfung eingesetzt. Die Wirksamkeit und Verträglichkeit
der kombinierten Gabe von Meerrettichwurzel und Kapuzinerkressenkraut bei unkomplizierten Infekten ist mittlerweile durch verschiedene Studien belegt. Aufgrund eines multimodalen Wirkmechanismus sind Resistenzentwicklungen bisher noch nicht verzeichnet und
sind auch nicht zu erwarten. Im Gegenteil, die Kombination von Senfölen aus Meerrettich
und Kapuzinerkresse führt zu einem erweiterten Wirkspektrum, das sogar „Problemkeime“
wie P. aeruginosa oder multiresistente Erreger einschließt. [8] [10]
In zwei prospektiven Kohortenstudien wurde die o. g. Pflanzenkombination mit Standardtherapeutika (Antibiotika) verglichen. Im Jahr 2006 wurde eine Studie in 251 Arztpraxen (Allgemeinärzte, Internisten, Urologen) mit insgesamt 1649 Patienten (> 4 Jahre, unkomplizierte
Harnwegsinfektion) durchgeführt. Die Prüfgruppe (n = 1223) erhielt das Pflanzenarzneimittel
mit den arzneilich wirksamen Bestandteilen Meerrettichwurzel und Kapuzinerkressenkraut
während die Kontrollgruppe (n = 426) mit einem Standard-Antibiotikum behandelt wurde.
Vor und nach der Therapie wurde das Beschwerdebild anhand einer standardisierten Symptombewertung (Symptomscore) dokumentiert. Zudem erfasste der Arzt den Krankheitsverlauf, die Patientenzufriedenheit und die Wirksamkeit der Therapie. Bei Harnwegsinfekten (n
= 479) konnte der Beschwerdegrad mittels Pflanzenarzneimittel bei acht Tagen Therapiedauer im Mittel um 81,2 % reduziert werden. Bei Erhalt der Antibiotikatherapie lag die mittlere
Reduktion des Beschwerdegrads bei 87,9 %. Die Nebenwirkungsrate lag hingegen in der
Prüfgruppe signifikant unter der der Kontrollgruppe (1, 5 % vs. 6,8 %, p < 0,001). [13]
Eine weitere prospektive Kohortenstudie aus dem Jahr 2007 untersuchte die klinische
Wirksamkeit von Meerrettichwurzel/Kapuzinerkressenkraut im Vergleich zu Antibiotika oder
anderen Medikamenten bei Kindern > 4 Jahre und Jugendlichen (< 18 Jahre) mit einer akuten Sinusitis, Bronchitis oder Harnblasenentzündung. In die Studie wurden jeweils 21 bzw.
22 Arztpraxen mit je 271–297 Patienten eingeschlossen. Zusammenfassend konnte gezeigt
werden, dass Kinder in den genannten Indikationen von einer Behandlung mit dem Pflanzenarzneimittel ebenso profitieren wie von einer Behandlung mit Antibiotika. Bei Patienten
mit akuter Bronchitis oder akutem Harnwegsinfekt wurde das pflanzliche Präparat signifikant besser vertragen. [22] Die Wirksamkeit von Meerrettichwurzel/Kapuzinerkressenkraut in
der Behandlung von akuten rezidivierenden Harnwegsinfekten gegenüber Placebo wurde in
einer weiteren randomisierten Doppelblindstudie untersucht (s. u.).
2.4 Akute rezidivierende Harnwegsinfekte
Maßnahmen zur Verlängerung der symptomfreien Phase zwischen erneut auftretenden akuten Harnwegsinfekten sind z. B. Verhaltensänderungen, die Reduzierung von Risikofaktoren,
nicht antibiotische Maßnahmen und antibiotische Prophylaxe. Rezidivierende akute Infekte
müssen ärztlich betreut werden, da z. B. auch anatomische oder andere Ursachen vorliegen
können.
17
ZERTIFIZIERTE FORTBILDUNG
Senföle in der Therapie von
Harnwegsinfektionen
2.4.1 Verhaltensänderungen und Vermeiden von Risikofaktoren
Als Risikofaktoren für akute rezidivierende Harnwegsinfekte gelten unter anderem eine zu
geringe Flüssigkeitsaufnahme und unzureichende Hygienemaßnahmen, z. B. verzögertes
Urinieren nach dem Geschlechtsverkehr, Abwischen von hinten nach vorne nach dem Toilettengang, Scheidenspülungen und das Tragen luftundurchlässiger Unterwäsche. Jedoch
konnte in Studien bisher kein Zusammenhang zwischen diesen Verhaltensweisen und dem
Auftreten akuter rezidivierender Harnwegsinfekte gezeigt werden. Im Zusammenhang mit
akuten rezidivierenden Infekten steht in erster Linie Geschlechtsverkehr, aber auch die Anwendung von Spermiziden, ein neuer Sexualpartner oder Harnwegsinfekte in der Kindheit
bzw. in der mütterlichen Anamnese (s. Tab. 1). [4]
2.4.2 Nichtantibiotische Prophylaxe
• Immunisierung: Inaktiviertes Escherichia-coli-Konzentrat wird zur Immunisierung bei
rezidivierenden und chronischen Harnwegsinfekten eingesetzt und steht in Kapselform
zur Verfügung. Das Präparat zeigte in randomisierten Studien ein gutes Sicherheitsprofil
und wird in der europäischen Leitlinie zur Prophylaxe empfohlen. Für den intramuskulär zu
applizierenden Impfstoff fehlen hingegen größere Phase-III-Studien. Kleinere Phase-II-Studien geben Hinweise auf die Wirksamkeit. [4]
• Probiotika (Lactobacillus sp) → Herstellung und Erhaltung eines intakten Vaginalmilieus.
Die Wirksamkeit von Milchsäurebakterien, im Besonderen L. rhamnosus GR-1, L. reuteri RC14 und Lactobacillus crispatus, zur Prophylaxe rezidivierender Harnwegsinfekte (vaginal/
oral) ist derzeit noch nicht belegt. Die Studienlage ist nicht ausreichend für eine abschließende Bewertung. [4]
• Cranberry (Vaccinium macrocarpon) → Hemmung der Bakterien-Adhäsion an die Blasenschleimhaut. Eine aktuelle Metaanalyse von 24 Studien ergab, dass die Einnahme von
Cranberrypräparaten das Auftreten symptomatischer Harnwegsinfekte nicht signifikant
reduzieren konnte, auch nicht für spezielle Patientengruppen, z. B. Kinder oder Schwangere. Zuvor hatten verschiedene Studien auf eine Wirkung bei rezidivierenden Harnwegsinfekten gedeutet. [4] Bei akuten Infekten konnte bislang keine Wirkung gezeigt werden.
•D-Mannose → Hemmung der Bakterien-Adhäsion an die Blasenschleimhaut. Eine Placebo-kontrollierte, nicht verblindete Studie deutet darauf hin, dass die Einnahme von
einmal täglich zwei Gramm D-Mannose ebenso effektiv wie die einmal tägliche Einnahme
von 50 mg Nitrofurantoin das Auftreten rezidivierender Harnwegsinfekte verhindert. Eine
Leitlinien-Empfehlung ergibt sich aus diesen Erkenntnissen jedoch noch nicht. [4]
• Ansäuern des Harns (pH < 6), z. B. durch L-Methionin, hochdosierte Ascorbinsäure, Preiselbeersaft → verminderte Wachstumsrate von pathogenen Erregern. Wirksamkeit nicht
abschließend belegt.
• Bei postmenopausalen Frauen: Lokale Anwendung östrogenhaltiger Zubereitungen (z. B.
Salben, Zäpfchen). Es besteht allerdings ein Risiko für das Auftreten vaginaler Irritationen.
[4]
18
ZERTIFIZIERTE FORTBILDUNG
Senföle in der Therapie von
Harnwegsinfektionen
2.4.3 Antibiotische Prophylaxe
Zur Prophylaxe rezidivierender Harnwegsinfekte kann die kontinuierliche bzw. postkoitale
Gabe eines niedrig dosierten Antibiotikums unter Abwägung der Nebenwirkungen bzw. der
Beeinflussung der Darmflora (Diarrhö-Risiko) für einen Zeitraum von drei bis sechs Monaten
in Betracht gezogen werden. Eine weitere Möglichkeit ist, der Patientin eine Stand-By-Therapie zu verschreiben, sodass sie bei Beschwerden eigenständig eine Antibiotikatherapie
einleiten kann. Bei Schwangeren wird vorzugsweise der Wirkstoff Cephalexin eingesetzt. [4]
Postkoital
Cotrimoxazol
Trimethoprim
Nitrofurantoin
Cephalexin
80/400 mg
100 mg
50–100 mg
250 mg
Minimalprophylaxe zur Nacht für 6 Monate
Cotrimoxazol
Trimethoprim
Nitrofurantoin
Cephalexin
Fosfomycin
40/200 mg (auch 3 x pro Woche)
100 mg
50–100 mg
125–250 mg
3 g alle 10 Tage
Tab. 6: Antibiotika zur Rezidivprophylaxe [6]
2.4.4 Akute rezidivierende Harnwegsinfekte
Die antimikrobiell wirksame Kombination aus Meerrettichwurzel und Kapuzinerkressenkraut
kann ebenfalls zur Behandlung von akuten rezidivierenden Harnwegsinfekten eingesetzt
werden. Wie bereits erläutert, sind auch bei langfristiger Einnahme dieser Pflanzenkombination keine Resistenzentwicklungen zu erwarten. Auch sind Einnahmehäufigkeit und -dauer
nicht beschränkt. Mit einer randomisierten Doppelblindstudie (219 Patienten, 18–75 Jahre,
überwiegend Frauen) konnte gezeigt werden, dass die Einnahme dieser Pflanzenkombination die Anzahl der erneut auftretenden akuten Infektionen gegenüber Placebo signifikant
vermindert (0,43 vs. 0,77, p = 0,035, Per-Protocol-Analyse über gesamten Studienzeitraum).
Im Rahmen der Studie wurde das pflanzliche Arzneimittel über einen Zeitraum von 90 Tagen
und in einer Dosierung von zweimal täglich zwei Tabletten eingenommen. [12]
19
ZERTIFIZIERTE FORTBILDUNG
Senföle in der Therapie von
Harnwegsinfektionen
Teil 3: Abgabe und Beratung in der Apotheke
Stellt sich eine Patientin oder ein Patient mit Harnwegsinfektion in der Apotheke vor, ist es
wichtig, mit gezielten Fragen festzustellen, ob eine Selbstmedikation in Frage kommt. Auch
begleitend zu einer Antibiotikatherapie können apothekenpflichtige Arzneimittel zur Linderung der oft quälenden Symptome beitragen.
Eine Selbstmedikation ist nur bei einer akuten unkomplizierten Harnwegsinfektion oder zur
Unterstützung einer ärztlichen Therapie sinnvoll. Bei akuten rezidivierenden Harnwegsinfekten ist ebenfalls die Behandlung mit apothekenpflichtigen Präparaten möglich, soweit die
Erkrankung ärztlich abgeklärt ist.
3.1 Wichtige Fragen bei Patienten mit Harnwegsinfektionen [7] [23] [24]
Zu Beginn des Beratungsgesprächs ist zu klären, für wen das Arzneimittel bestimmt ist. Es
kann mitunter vorkommen, dass die Betroffenen wegen zu starker Beschwerden eine andere
Person in ihrem Auftrag in die Apotheke schicken. Zudem sollten das Alter und andere Begleitumstände, z. B. eine Schwangerschaft, mit einbezogen werden.
3.1.1 Für wen ist das Arzneimittel?
•Alter
• Begleitumstände, z. B. Schwangerschaft oder Stillzeit
•Geschlecht
Kinder und Schwangere mit Symptomen einer Harnwegsinfektion sollten immer zunächst
an einen Arzt verwiesen werden. Ebenso männliche Patienten, da Harnwegsinfekte bei
ihnen selten auftreten und Differentialdiagnosen (z. B. Prostatitis) ärztlich abgeklärt werden
müssen.
3.1.2 Hinterfragen der Eigendiagnose
• Welche Beschwerden liegen vor?
• Seit wann liegen die Beschwerden vor?
• Wie häufig treten die Beschwerden auf?
• Weitere Begleitsymptome?
Bei einer akuten Reizung der Blase einhergehend mit den typischen Symptomen Dysurie
und Pollakisurie sowie einer Beschwerdedauer unter fünf Tagen ist eine Selbstmedikation
möglich. Sollten sich die Beschwerden verschlimmern oder sollte nach fünf Tagen keine Besserung eingetreten sein, muss ein Arzt zu Rate gezogen werden. Treten die Infekte häufiger
als dreimal pro Jahr auf oder sind sie häufiger als zweimal innerhalb der letzten sechs Monate aufgetreten, handelt es sich um einen rezidivierenden Harnwegsinfekt, der von einem
Arzt behandelt werden sollte.
20
ZERTIFIZIERTE FORTBILDUNG
Senföle in der Therapie von
Harnwegsinfektionen
3.1.3 Grenzen der Selbstmedikation bei Harnwegsinfekten: [7]
• erstmalig auftretende akute Blasenreizung
• chronische Reizblase
• Dauer der Beschwerden über mehr als fünf Tage
• häufig rezidivierende Beschwerden
• Symptome: starke, krampfartige Schmerzen bei Harndrang (Tenesmen) und Wasserlassen;
veränderter Geruch oder Farbe des Urins; Fieber > 39 °C; Flankenschmerzen; Übelkeit und
Erbrechen → Hinweise auf Infektion der oberen Harnwege (Pyelonephritis) bzw. Differentialdiagnosen
• Schwangerschaft, Stillzeit
• Stoffwechselerkrankungen, z. B. Diabetes mellitus
3.1.4 Weitere Fragen:
• Wurden die Beschwerden schon ärztlich abgeklärt?
• Welche Erfahrungen wurden ggf. mit Arzneimitteln gemacht?
• Liegen andere Erkrankungen vor?
• Welche Arzneimittel werden regelmäßig angewendet?
Wurden die Beschwerden schon ärztlich abgeklärt, kann ggf. eine begleitende Therapie
mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln empfohlen werden. Zu beachten ist zudem, dass
bestimmte Medikamente (z. B. Diuretika) den Harndrang beeinflussen können.
3.1.5 Auswahl und Beurteilung des Arzneistoffs und des Fertigarzneimittels
Das Arzneimittel ist nach pharmakologisch-toxikologischen Kriterien entsprechend der Beschwerden und der Wirksamkeit des Arzneistoffs auszuwählen. Dabei sind die patientenspezifischen Faktoren wie Alter, Geschlecht, Allergien, Überempfindlichkeiten, andere Erkrankungen
und Nebenwirkungen des jeweiligen Arzneistoffs miteinzubeziehen. Weitere Kriterien sind die
Anzahl der Inhaltsstoffe, Dosierung, Darreichungsform und Packungsgröße.
3.1.6 Informationen zum Arzneimittel
Bei jeder Abgabe eines Arzneimittels ist der Patient ausreichend über dieses zu informieren.
Folgende Punkte sollten angesprochen werden: [23]
•Standarddosierung
•Anwendung
•Anwendungsdauer
• Wirkung und Nutzen des Arzneimittels
• Häufige und relevante unerwünschte Arzneimittelwirkungen
•Warnhinweise
• Grenzen der Selbstmedikation
21
ZERTIFIZIERTE FORTBILDUNG
Senföle in der Therapie von
Harnwegsinfektionen
3.1.7 Unterstützende Maßnahmen bei Harnwegsinfekten
Zusätzlich zur Einnahme eines Antibiotikums bzw. anderer Arzneimittel kann der Patient bei
einer Harnwegsinfektion von unterstützenden Maßnahmen profitieren: [5] [7]
• Wärmeanwendungen, ansteigende Sitz- oder Fußbäder, Wärmflasche
• ausreichend trinken, mehr als zwei Liter pro Tag
• regelmäßige und vollständige Blasenentleerung
• Unterkühlung vermeiden, ausreichend warme Kleidung
• hinreichende Hygiene, jedoch keine übermäßige Intimpflege (Intimsprays und Scheidenspülungen meiden, von vorne nach hinten abwischen)
• Miktion nach Koitus
• Kontrolle des Urins mit Teststreifen auf Nitrit und Leukozyten bzw. auf den pH-Wert
3.2 Beratung bei akuten rezidivierenden Harnwegsinfekten
Treten Harnwegsinfekte häufiger als dreimal pro Jahr auf oder sind sie mindestens zweimal
innerhalb der letzten sechs Monate aufgetreten, handelt es sich um einen rezidivierenden
Infekt. In einem solchen Fall ist eine ärztliche Behandlung unerlässlich. Eine Selbstmedikation kommt dann infrage, wenn die Patientin sich bereits in ärztlicher Behandlung befindet.
Die für die Selbstmedikation zur Verfügung stehenden Therapieoptionen wurden in Kapitel
2.4 beleuchtet. Da akute rezidivierende Infekte häufig mit Geschlechtsverkehr in Zusammenhang stehen, kann es sinnvoll sein, die Patienten diesbezüglich insbesondere auf die unterstützenden Maßnahmen hinzuweisen: Miktion nach Koitus, keine übermäßige Intimpflege,
ggf. Wechsel der Verhütungsmethode.
22
ZERTIFIZIERTE FORTBILDUNG
Senföle in der Therapie von
Harnwegsinfektionen
3.3 Exemplarische Beratungsgespräche
P = Patient/in
A = Apothekenmitarbeiter/in
1. Erwachsene Kundin mit einem Rezept über ein Antibiotikum
P : Guten Tag, ich möchte gerne dieses Rezept einlösen.
A : Guten Tag, gerne. Der Arzt hat Ihnen ein Antibiotikum aufgeschrieben, das einmalig eingenommen
wird. Dazu lösen Sie das Pulver in einem Glas Leitungswasser auf und trinken es sofort aus. Die Einnahme
sollte entweder zwei Stunden vor oder zwei Stunden nach dem Essen erfolgen.
P : Danke, ich hoffe es wirkt schnell, denn ich habe sehr starke Beschwerden. Ich habe mich
unterkühlt, ansonsten habe ich nie Probleme mit Blasenentzündungen. Können Sie mir vielleicht
zusätzlich etwas empfehlen, bis das Antibiotikum wirkt?
A : Wie äußern sich Ihre Beschwerden denn genau?
P : Es brennt beim Wasserlassen und ich muss andauernd zur Toilette.
A : Nehmen Sie noch weitere Arzneimittel ein oder haben Sie andere Erkrankungen?
P : Nein.
A : Sind Sie gerade schwanger oder stillen Sie derzeit?
P : Nein.
A : Gut, allgemein empfehle ich Ihnen, viel Wasser oder Tee zu trinken, mehr als zwei Liter pro Tag.
Ergänzend können spezielle Arzneitees, z. B. mit Birken- oder Orthosiphonblättern, die Durchspülung der
Harnwege fördern. Auch Wärme, z. B. durch Auflegen einer Wärmflasche oder eines Kirschkernkissens, ist
ein sehr gutes Mittel, um die Krämpfe und Schmerzen zu lindern. Ergänzend möchte ich Ihnen außerdem
ein pflanzliches Arzneimittel empfehlen, das eine Kombination aus Meerrettichwurzel und Kapuzinerkressenkraut enthält. Es kann das Antibiotikum mit seiner zusätzlichen antibakteriellen und antientzündlichen
Aktivität unterstützen. Von diesem Arzneimittel nehmen Sie dreimal täglich vier Tabletten ein, bis die
Symptome vollständig abgeklungen sind.
P : Vielen Dank, das Medikament nehme ich noch dazu.
23
ZERTIFIZIERTE FORTBILDUNG
Senföle in der Therapie von
Harnwegsinfektionen
2. Erwachsene Patienten mit akuten rezidivierenden Harnwegsinfekten
P : Guten Tag, ich hätte gerne etwas zur Vorbeugung von Blasenentzündungen.
A : Guten Tag, wie häufig haben Sie denn Blasenentzündungen und welche Beschwerden haben Sie?
P : Ich habe immer wieder mit Blasenentzündungen zu kämpfen, mehrmals im Jahr, manchmal
sogar jeden Monat. Ich bin auch schon in ärztlicher Behandlung, möchte aber erst einmal nicht
dauerhaft ein Antibiotikum einnehmen. Deshalb möchte ich mich nach pflanzlichen oder anderen
Alternativen bei Ihnen erkundigen.
A : Wissen Sie was die Blasenentzündungen auslöst? Es kann z. B. einen Zusammenhang mit Geschlechtsverkehr oder Intimhygiene geben.
P : Genau, ersteres ist bei mir das Problem.
A : Um einer Blasenentzündung nach dem Geschlechtsverkehr vorzubeugen, sollten Sie direkt danach
Wasserlassen. Außerdem empfiehlt es sich, immer ausreichend viel zu trinken, am besten mindestens zwei
Liter Wasser pro Tag. So werden die Bakterien ggf. ausgespült, bevor sie eine Infektion verursachen. Auf
chemische Verhütungsmittel, z. B. Zäpfchen, Gels, Salben oder Diaphragmen sollten Sie verzichten.
P : Danke für die Hinweise. Gibt es auch Arzneimittel, die ich ohne Rezept bekomme, die mir zusätzlich helfen können, nicht erneut eine Blasenentzündung einzufangen?
A : Ja, ich zeige Ihnen zwei Optionen: Zum einen besteht die Möglichkeit, z. B. mit L-Methionin den
pH-Wert des Urins so zu beeinflussen, dass Bakterien sich im Milieu des Urins nicht mehr wohl fühlen.
Die Bakterien, die Harnwegsinfekte üblicherweise verursachen, wachsen bevorzugt in einem neutralen
Milieu, das genannte Arzneimittel führt zu einem eher sauren pH-Wert des Urins. Den pH-Wert Ihres Urins
können Sie auch mit speziellen Teststreifen überprüfen. Eine weitere Option ist ein pflanzliches Arzneimittel, das Meerrettichwurzel und Kapuzinerkressenkraut enthält. Die beiden Pflanzen enthalten Senföle, die
antimikrobiell wirken. Für Blasenentzündungen ist in den meisten Fällen das Darmbakterium Escherichia
coli verantwortlich, gegen das die Pflanzenkombination nachweislich wirksam ist.
P : Ich würde gerne das pflanzliche Arzneimittel ausprobieren, das Sie genannt haben.
A : Gerne, von diesem Arzneimittel nehmen Sie zweimal täglich zwei Tabletten ein. Die Anwendungshäufigkeit und -dauer ist nicht begrenzt. Als Nebenwirkungen können bei empfindlichen Patienten Magen-Darm-Beschwerden auftreten, bei der niedrigen Dosierung ist dies aber nicht zu erwarten.
P : Danke und auf Wiedersehen!
24
ZERTIFIZIERTE FORTBILDUNG
Senföle in der Therapie von
Harnwegsinfektionen
Quellen:
[1] Mutschler, E. et al. Mutschler Arzneimittelwirkungen. Lehrbuch der Pharmakologie, der klinischen Pharmakologie und Toxikologie. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, 10. Auflage 2013.
[2] Hildebrandt, H. (Leitung). Pschyrembel. Klinisches Wörterbuch. de Gruyter, Berlin, New York, 1996.
[3] S3-Leitlinie. Epidemiologie, Diagnostik, Therapie und Management unkomplizierter bakterieller ambulant erworbener Harnwegsinfektionen
bei erwachsenen Patienten. Deutsche Gesellschaft für Urologie federführend, 2010.
[4] Grabe, M., Bishop, M. C., Bjerklund-Johansen, B. E. et al. Guidelines on urological infections. European Association of Urology, 2015.
[5] S3-Leitlinie. Brennen beim Wasserlassen. Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin, 2009.
[6] Zieschang, M., Walter, S. Alles Cipro? Unkomplizierte Harnwegsinfektionen werden heute anders behandelt. Arzneiverordnung in der Praxis.
Band 42, 2015.
[7] Lennecke, K., Hagel, K., Przondziono, K. Selbstmedikation. Leitlinien zur pharmazeutischen Beratung. Deutscher Apotheker Verlag, Stuttgart,
4. Auflage, 2011.
[8] Conrad, A., Engels, I., Kolberg, T., Frank, U. In vitro Untersuchung zur antibakteriellen Wirksamkeit einer Kombination aus Kapuzinerkressenkraut (Tropaeoli majoris herba) und Meerrettichwurzel (Armoraciae rusticanae radix). Drug Res 56: 842–849, 2006.
[9] Marzocco, S. et al. Anti-inflammatory activity of horseradish (Armoracia rusticana) root extracts in LPS-stimulated macrophages. Food Funct
6: 3778–3788, 2015.
[10] Márton, M. R. et al. Determination of bioactive, free isothiocyanates from a glucosinolate-containing phytotherapeutic agent: a pilot study
with in vitro models and human intervention. Fitoterapia 85: 25–34, 2013.
[11] Conrad, A. et al. Broad Spectrum Antibacterial Activity of a Mixture of Isothiocyanates from Nasturtium (Tropaeoli majoris herba) and Horseradish (Armoraciae rusticanae radix). Drug Res 63: 65–68, 2013.
[12] Albrecht, U., Goos, K. H., Schneider, B. Eine randomisierte, Placebo-kontrollierte Doppelblindstudie eines pflanzlichen Arzneimittels aus
Kapuzinerkresse und Meerrettich in der Prophylaxe von rezidivierenden Harnwegsinfekten. Curr Med Res Opin 23(10): 2415–2422, 2007.
[13] Goos, K. H., Albrecht, U., Schneider, B. Wirksamkeit und Verträglichkeit eines pflanzlichen Arzneimittels mit Kapuzinerkressenkraut und Meerrettich bei akuter Sinusitis, akuter Bronchitis und akuter Blasenentzündung im Vergleich zu anderen Therapien unter den Bedingungen der
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