Identität und Gruppenzugehörigkeit unter Jugendlichen – Versuch

Werbung
Identität und Gruppenzugehörigkeit unter Jugendlichen – Versuch einer Theorie
Die Frage „welche Musik hörst du so?“ hat unter Schülern und jungen Studierenden eine große Bedeutung. So wird die Antwort des Gefragten dann auch meistens entweder durch Zustimmung oder Ablehnung kommentiert, anstatt sie einfach zur Kenntnis zu nehmen, wie es bei anderen Fragen der Fall wäre. Das hat mehrere Gründe: Zum einen dient der (zur Schau gestellte) Musikgeschmack der Symbolisierung von Zugehörigkeit zu einer Gruppe (oder soziales Milieu) und gleichzeitig der Abgrenzung von anderen Gruppen. Der Frager kommuniziert durch seinen zustimmenden oder ablehnenden Kommentar entweder, dass der Gefragte ins Schwarze getroffen hat, die „richtige antwort“ gegeben hat, also dass sie zur selben Gruppe gehören und sich bemühen sich gut zu verstehen ­ oder er macht durch seinen ablehnenden Kommentar deutlich, dass sein Gegenüber schlechte Chancen hat zur eigenen Gruppe zu gehören und schafft Distanz. Der gleiche Musikgeschmack als Zulassungsvoraussetzung für den Beitritt zu einer Gruppe ist gerade in Gruppe wichtig, die sich selbst fast ausschließlich über den Musikgeschmack konstituieren, sich selbst, oder genauer gesagt, ihre Identität definieren und erschaffen. Der gemeinsame Musikgeschmack ist das einzige, was sie zusammenhält und was Gemeinsamkeit schafft, da sie sonst keine gemeinsamen Interessen haben und sich nicht gegenseitig als Gruppenmitglieder erkennen könnten.
Da Musik nicht gesehen werden kann, es aber das Bedürfnis gibt neue Menschen möglichst schnell in eine der Kategorien „gehört zu meiner Gruppe“ oder „gehört nicht zu uns“ einordnen zu können, wird der gemeinsame Geschmack, bzw. die Ästhetik noch etwas ausgeweitet und auf den Kleidungsstil, Sprachstil usw. übertragen. Kurz: es wird ein Lebensstil entwickelt, durch den sich die Gruppenmitglieder sehr schnell erkennen können. Und damit es keine Verwirrung gibt, wird von den Gruppenmitglieder darauf geachtet, dass sich möglichst alle Mitglieder an diesen Stil halten. Erreicht wird das zum Beispiel durch Anerkennung des Kleidungsstils eines angepassten Mitglieds („Das sieht cool aus!“) ) oder Missachtung des Kleidungsstils oder Sprachstils eines unangepassten Gruppenmitglieds, die verbal und non­verbal kommuniziert wird und bis zum Ausschluss aus der Gruppe führen kann. Um keine Verunsicherung aufkommen zu lassen, wird sich gegenseitig kontinuierlich bestätigt, dass der eigene Lebensstil (inklusive Kleidungsstil, politischer Einstellung und Musikgeschmack, usw.) der richtige ist und es werden meistens nur Freundschaften geschlossen mit Personen, die einen ähnlichen Lebensstil pflegen. Bourdieu fasst es zusammen mit den Worten, dass sich der Habitus ein Umfeld sucht, in dem er gut funktioniert und bestätigt wird. Habituelle Ähnlichkeiten ziehen sich an. Menschen kennenzulernen, die einen anderen Lebensstil haben, würde zur Verunsicherung der eigenen Identität führen. Dass diese Methode innerhalb des gesellschaftlichen Mainstreams und in rechten Gruppen angewandt wird, ist offensichtlich und bedarf keiner weiteren Erklärung, da die Oberflächlichkeit im Umgang miteinander und die materielle Orientierung der Grupppenmitglieder nicht nur Erkennungsmerkmal sondern häufig sogar der einzige Inhalt dieser Gruppen sind. Viel überraschender ist, dass auf diese Weise auch einige sich selbst als links und gesellschaftskritisch definierende politische Gruppen ihre Gruppenzugehörigkeit symbolisieren. Z.B. gilt es in einigen Gruppen als cool Adidas Allstars, Chucks und Doc Martens Stiefel zu tragen, aber es wird scharf kritisiert wenn jemand Nike Schuhe trägt, weil das Markenfetischismus sei und außerdem die Arbeitsbedingungen, unter denen die Nike Schuhe hergestellt werden, katastrophal sind. Die Kritik ist berechtigt und zutreffend, es wird jedoch ignoriert, dass genau die selbe Kritik auch auf Adidas Allstars, Chucks, und Doc Martens Stiefel zutrifft. Es wird darüber hinweggesehen, weil diese Schuhe der Symbolisierung von Gruppenzugehörigkeit dienen und in einigen Gruppen, in denen die politischen Inhalte (im Laufe der Jahre) weitgehend in den Hintergrund getreten sind (und sich eine immer homogenere Gruppe herausgebildet hat, die sich ständig gegenseitig ihre Ideologie bestätigt, weil Andersdenkende entweder frustriert ausgetreten sind oder ausgetreten wurden und die Energie, Kreativität und lebendigen sachlichen Diskussionen immer mehr von machtpolitischen Kämpfen und persönlichen Eitelkeiten verdrängt worden sind) sie sogar notwendig sind, um zu verhindern, dass die Gruppen auseinander fällt, da es das Einzige ist, was sie noch verbindet.
Wenn die Inhalte und Ideen im Vordergrund stehen und das Kriterium für Gruppenzugehörigkeit sind, dann bedarf es keiner weiteren Symbole, da die Inhalte selbst Gruppenzugehörigkeit zeigen.
Sehr große Wut wird bei mancher dieser Gruppen hervorgerufen, wenn neue Gruppen entstehen, die für ihren Musik­, Kleidungs­, und Sprachstil Elemente aus den bereits vorhandenen Gruppen übernehmen und in einen neuen Still integrieren und kombinieren. Sie ziehen die Wut einiger bereits etablierter Gruppen auf sich, weil die von den etablierten Gruppen sorgsam gezogenen Grenzen und die fein säuberliche Distinktion (Bourdieu) der eigenen Gruppe von anderen Gruppen durch den Stil der neu entstehenden Gruppe verwischt wird. Es wird für sie schwieriger zu erkennen, ob jemand zur eigenen Gruppe gehört und ihr Lebensstil und damit auch ihre Identität ist nicht mehr exklusiv. Dadurch lässt sich z.B. auch die Verachtung, die sich zum Teil bis hin zu Hass und Gewalt steigert, erklären, die Menschen entgegen schlägt, die von anderen Menschen als „Emos“ klassifiziert werden. Elemente aus den Lebensstilen der Gruppen, die sich über die Musikrichtungen „Hip­Hip“, „Punk“, „Gothic“, „Rock“, usw. definieren, werden zu einem neuen Lebensstil integriert und somit die Grenzen verwischt und überschritten. Da die wahren Ursachen der Verachtung neuer Gruppen durch etablierte Gruppen entweder nicht bewusst reflektiert oder ganz bewusst verheimlicht werden, ist die Kritik der etablierten Gruppen an den Emos häufig, dass sie „zu kommerziell und oberflächlich“ seien, was in noch größerem Maße auf die heute weitgehend kommerzialisierten Lebensstile der etablierten Gruppen zutrifft (Z.B. Rock, Punk, etc.).
Warum werden so große Anstrengungen unternommen, um Zugehörigkeit zu einer Gruppe und Distinktion von anderen Gruppen zu symbolisieren? Eine Ursache ist, dass viele Menschen über die Gruppenzugehörigkeit auch einen Teil der eigenen, individuellen Identität definieren. Wird nun die Gruppenidentität unklar, dann wird auch die eigene Identität undeutlich, was zu großer Verunsicherung beim Individuum führt.
Zurückzuführen ist das ganze wahrscheinlich auf zwei Grundbedürfnisse der Menschen:
Zum einen auf as das Bedürfnis nicht alleine zu sein. Also das Bedürfnis mit gleichgesinnten in einer Gemeinschaft zu sein.
Und zum anderen das Bedürfnis eine Identität zu haben. Diese beiden Bedürfnisse hängen zusammen, da Menschen ihre Selbsteinschätzung und ihre Identität auf den Reaktionen aufbauen, die sie durch ihr Handeln bei anderen Menschen hervorrufen (und durch die sie Informationen über sich selbst erhalten, jedoch nur aus der Perspektive der anderen. Die Reaktion der anderen ist in gewisser Weise ein Negativabdruck des eigenen Handelns, der Informationen über einen selbst und die Wirkung des eigenen Handels beinhaltet. So ist auch der Satz zu verstehen: „Alles was wir über uns selbst wissen, wissen wir von anderen.“ Oder George Herbert Meads Hinweis, dass wir uns selbst immer mit den Augen der anderen sehen.
Die Selbsteinschätzung viele Menschen ist häufig nur eine Kopie(oder: Übernahme) einer Fremdeinschätzung. Sie schätzen sich so ein, wie sie von anderen Menschen eingeschätzt werden. Auf der Suche nach Identität sind sie bereit die gesellschaftlichen Erwartungen, Einschätzung und die ihnen aufgrund ihrer sozialen Herkunft zugeordnete Identität zu übernehmen und zu ihrer eigenen Identität zu machen. Besonders deutlich wird das, wenn Menschen sagen, dass sie etwas einfach nicht können, aber auf die Frage, warum sie etwas nicht können entweder keine Antwort geben können oder auf ihre Natur verweisen oder, wenn man hartnäckig nachfragt, sagen, dass ihnen von anderen Menschen gesagt worden ist, dass sie es nicht können. Das wird ihnen kommuniziert, indem sie z.B. in der Schule schlechte Noten bekommen und kein Abitur haben und von dem Zeitpunkt an der Überzeugung sind, sie seien zu dumm um zu studieren. Bourdieu zufolge dient die Schule dazu, Kindern aus Arbeiterfamilien davon zu überzeugen, dass sie nicht intelligent und zu dumm zum studieren seien. Durch das scheinbar objektive Kriterium der Note wird vor allem den Kindern aus Arbeiterfamilien über viele Jahre hinweg immer wieder mit herablassendem Verständnis („Ich möchte dir keine schlechte Note geben, aber du bist einfach schlecht“) gesagt, dass sie dümmer sind als andere – bis sie es irgendwann selber glauben. Sie haben die Fremdeinschätzung zu ihrer eigenen Identität gemacht. Das Problem ist, dass die Erkenntnis, das Schulerfolg gerade in Deutschland vor allem von der sozialen Herkunft abhängt, kaum diejenigen erreicht, die darunter leiden müssen. Sie begreifen ihre strukturelle Benachteiligung als ihr persönliches Versagen, dass auf mangelnde Intelligenz zurückzuführen sei.
Wenn die Benachteiligten bereits selbst glauben, dass sie dumm sind und es zum Teil ihrer Identität gemacht haben und ihre Erwartungen, Hoffnungen und Ansprüche an das Leben dementsprechend reduzieren, ist es nur noch ein kleiner Schritt sie davon zu überzeugen, dass es gerecht sei, wenn sie in Armut und Ausgrenzung leben müssen und dass auch unvorstellbare soziale Ungleichheiten, in denen die Lohnunterschiede das 100fache übersteigen, gerechtfertigt sind, da jeder einen seiner Leistung entsprechenden einen Lohn erhält. Sie leben demnach in Armut, da sie dumm oder faul oder beides seien. Und gerade die Massenmedien haben einen großen Anteil daran, dass ArbeiterInnen und Arbeitslose auch im weiteren Leben immer wieder in „objektiven Reportagen“ gezeigt oder sogar „bewiesen“ bekommen, dass sie selbst Schuld an der Armut, in der sie leben, seien und ihre Lebenssituation auf ihre angebliche Faulheit und Dummheit zurückzuführen sei. Da sie häufig ein geringes Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl haben, sind sie besonders anfällig für diese Form der Manipulation. Sie glauben es und erziehen in diesem Glauben ihre Kinder.
Zugute kommt dieser Ideologie der Effekt, dass wenn es bereits geschafft wurde, dass viele Menschen an etwas glauben, auch der größte Teil der restlichen Menschen anfängt daran zu glauben, aufgrund der Annahme, dass wenn viele Menschen etwas sagen, es nicht falsch sein könne.
So ist zu erklären, warum es trotz unvorstellbar großer sozialer Ungleichheit, nur zu geringen Protesten kommt und es nur wenige Versuche gibt die soziale Ungleichheit zu stürzen. Die ausgegrenzten und in Armut lebenden Menschen glauben zu einem großen Teil daran, dass die gesellschaftliche Position und die Höhe des Lohns, die Menschen erreichen, durch Talent und Fleiß bestimmt wird und eine niedere Position ausschließlich auf einen Mangel an Talent und Fleiß zurückzuführen sei. Ähnlich wie im Mittelalter große Teile der Bevölkerung davon ausgingen, dass ihre gesellschaftliche Position ihnen durch eine göttliche Ordnung zugewiesen wurde – die Funktion des Fernsehens und der Schule übernahm in diesem historischen Zeitabschnitt die Kirche ­ und es deshalb auch über lange Zeiträume und trotz großer Armut nur wenig Protest und größere Veränderungsversuche gab, so sind auch heute Arme auf der ganzen Welt davon überzeugt, dass sie in der gerechten sozialen Position sind, die ihnen von der Leistungsgesellschaft zugewiesenen wurde, die jedem Menschen seiner Leistung entsprechend einen gerechten Platz in der Gesellschaft zuweist. Die Funktion des Glaubens an eine göttliche Ordnung wird heute ersetzt durch den Glauben an den Mythos der Leistungsgesellschaft (vgl. Hartmann, 2002: Der Mythos von den Leistungseliten, Frankfurt am Main: Campus).
Die Aufgabe der herrschaftskritischen und demokratischen SoziologInnen ist es, diese Ideologien, Manipulationen und Propaganda für alle Menschen sichtbar zu machen, sie in all ihren Formen und Wirkungsweisen aufzudecken, zu analysieren, verständlich zu erklären und die herrschaftskritische Theorie gemeinsam mit den Betroffenen weiterzuentwickeln und die benachteiligten Menschen an ihre eigenen Fähigkeiten und Entwicklungspotenziale zu erinnern und ihnen durch Anerkennung und Respekt dabei zu helfen selbst aktiv zu werden und wieder ihr Selbstwertgefühl aufzubauen und selbst ihr Recht auf ein Leben ohne Armut und Unterdrückung einfordern und sich dementsprechend verhalten. 
Herunterladen