G EORDNETE T EXTSAMMLUNG M ARX ’ T HESEN ZU ÜBER F EUERBACH Dieses Dokument ist eine Zusammenstellung von Marx und Engels-Klassikern, die dazu dienen soll, die Thesen über Feuerbach besser verstehen zu können, indem passende Stellen zu den Thesen und gewissen Ausdrücken in diesen (z.B. „der Erzieher muss selbst erzogen werden“) angefügt wurden. Die Zusammenstellung ist keineswegs vollständig. Auch wurden, abgesehen von einer Ausnahme, nur Textstellen von Marx und Engels als „Erläuterungen“ herbeigezogen; ganz einfach weil diese online zugänglich sind. Weiter bildet das Dokument natürlich keinen geschlossen zusammenhängenden Text. Es soll als Textgrundlage für den Lesekreis dienen. Für die weitere Vertiefung empfiehlt sich das Kapitel ‚Weltveränderung oder die elf Thesen von Marx über Feuerbach‘ aus Ernst Blochs Das Prinzip Hoffnung, von dem auch die Gliederung (I. menschlich-sinnliche Tätigkeit und Praxis, II. Entfremdung, III. Materialismus, IV. Theorie und Praxis, V. Weltveränderung) fast eins-zu-eins übernommen wurde. I. „menschlich-sinnliche Tätigkeit“ und Praxis (Thesen 5, 1, 3) „Feuerbach, mit dem abstrakten Denken nicht zufrieden, will die Anschauung; aber er fa sst die Sinnlichkeit nicht als praktische menschlich-sinnliche Tätigkeit.“ (Marx, Thesen über Feuerbach, MEW 3, These 5) „Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv. Daher die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus vom dem Idealismus - der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt entwickelt. Feuerbach will sinnliche - von den Gedankenobjekten wirklich unterschiedne Objekte: aber er fasst die menschliche Tätigkeit selbst nicht als gegenständliche Tätigkeit. Er betrachtet daher im »Wesen des Christenthums« nur das theoretische Verhalten als das echt menschliche, während die Praxis nur in ihrer schmutzig-jüdischen Erscheinungsform gefasst und fixiert wird. Er begreift daher nicht die Bedeutung der »revolutionären«, der »praktischkritischen« Tätigkeit.“ (These 1) „Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergisst, dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss. Sie muss daher die Gesellschaft in zwei Teile - von denen der eine über ihr erhaben ist - sondieren. Das Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden.“ (These 3) 1 Tätige Seite vom Idealismus entwickelt: „Das Grosse an der Hegelschen Phänomenologie1 [...] ist also einmal, dass Hegel die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozess fasst, [...] dass er also das Wesen der Arbeit fasst und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eignen Arbeit begreift.“2 Idealismus kennt aber die wirkliche, sinnliche Tätigkeit nicht: „Weil Hegel hier [in der Phänomenologie des Geistes] das Selbstbewusstsein an die Stelle des Menschen setzt, so erscheint die verschiedenartigste menschliche Wirklichkeit nur als eine bestimmte Form, als eine Bestimmtheit des Selbstbewusstseins. Eine blosse Bestimmtheit des Selbstbewusstseins ist aber eine »reine Kategorie«, ein blosser »Gedanke«, den ich daher auch im »reinen« Denken aufheben und durch reines Denken überwinden kann. In Hegels »Phänomenologie« werden die materiellen, sinnlichen, gegenständlichen Grundlagen der verschiedenen entfremdeten Gestalten des menschlichen Selbstbewusstseins [vgl. ‚II. Entfremdung‘] stehengelassen, und das ganze destruktive Werk hatte die konservativste Philosophie zum Resultat, weil es die gegenständliche Welt, die sinnlich wirkliche Welt überwunden zu haben meint, sobald es sie in ein »Gedankending«, in eine blosse Bestimmtheit des Selbstbewusstseins verwandelt hat und den ätherisch gewordenen Gegner nun auch im »Äther des reinen Gedankens« auflösen kann. [...] Hegel macht den Menschen zum Menschen des Selbstbewusstseins, statt das Selbstbewusstsein zum Selbstbewusstsein des Menschen, des wirklichen, daher auch in einer wirklichen, gegenständlichen Welt lebenden und von ihr bedingten Menschen zu machen. Er stellt die Welt auf den Kopf und kann daher auch im Kopf alle Schranken auflösen, wodurch sie natürlich für die schlechte Sinnlichkeit, für den wirklichen Menschen bestehen bleiben.“3 Gegenstand, Wirklichkeit, Sinnlichkeit als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; objektiv und subjektiv: Feuerbach „sieht nicht, wie die ihn umgehende sinnliche Welt nicht ein unmittelbar von Ewigkeit her gegebenes, sich stets gleiches Ding ist, sondern das Produkt der Industrie und des Gesellschaftszustandes, und zwar in dem Sinne, dass sie ein geschichtliches Produkt ist, das Resultat der Tätigkeit einer ganzen Reihe von Generationen, deren Jede auf den Schultern der vorhergehenden stand, ihre Industrie und ihren Verkehr weiter ausbildete, ihre soziale Ordnung nach den veränderten Bedürfnissen modifizierte. Selbst die Gegenstände der einfachsten »sinnlichen Gewissheit« sind ihm nur durch die gesellschaftliche Entwicklung, die Industrie und den kommerziellen Verkehr gegeben. Der Kirschbaum ist, wie fast alle Obstbäume, bekanntlich erst vor wenig Jahrhunderten durch den Handel in unsre Zone verpflanzt worden und wurde deshalb erst durch diese Aktion einer bestimmten Gesellschaft in einer bestimmten Zeit der Anm.: Die Phänomenologie des Geistes ist ein Werk von Hegel, das den „Weg des natürlichen Bewusstseins […] zum wahren Wissen“ (ebenda, S. 72) wiedergeben will. Dieser „Erkenntnisweg“ wird von Hegel gefasst als ein „wechselwirkender“ „wechselseitiger“ Prozess zwischen dem erkennenden Ich und dem erkannten Gegenstand. Für diesen „Bildungsweg“ bedeutet das folgendes (und natürlich noch viel mehr): a) Hegel versteht diesen Erkenntnisweg dergestalt, dass das erkennende Subjekt durch die Erkenntnis die objektiven Gegenstände verändert – was natürlich eine „idealistische Schrulle“ ist, denn unmittelbar verändern sich die Gegenstände nicht durch Erkenntnis. b) Es verändert sich aber eben auch das erkennende Subjekt durch den Gegenstand und durch dessen Erkenntnis (das erkennende Subjekt wird in der Phänomenologie vom Bewusstsein zum Selbstbewusstsein, dann zur Vernunft und zuletzt zum Geist). 2 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, MEW 43, S. 574. 3 Marx, Die heilige Familie, MEW 2, S. 203-204. Von mir kursiv gesetzt. 1 2 »sinnlichen Gewissheit« Feuerbachs gegeben. [...] Feuerbach hat allerdings den grossen Vorzug vor den »reinen« Materialisten, dass er einsieht, wie auch der Mensch »sinnlicher Gegenstand« ist; aber abgesehen davon, dass er ihn nur als »sinnlichen Gegenstand«, nicht als »sinnliche Tätigkeit« fasst, da er sich auch hierbei in der Theorie hält, die Menschen nicht in ihrem gegebenen gesellschaftlichen Zusammenhange, nicht unter ihren vorliegenden Lebensbedingungen, die sie zu Dem gemacht haben, was sie sind, auffasst, so kommt er nie zu den wirklich existierenden, tätigen Menschen, sondern bleibt bei dem Abstraktum »der Mensch« stehen [...] Er kommt also nie dazu, die sinnliche Welt als die gesamte lebendige sinnliche Tätigkeit der sie ausmachenden Individuen aufzufassen, und ist daher gezwungen, wenn er z.B. statt gesunder Menschen einen Haufen skrofulöser, überarbeiteter und schwindsüchtiger Hungerleider sieht, da zu der »höheren Anschauung« und zur ideellen »Ausgleichung in der Gattung« seine Zuflucht zu nehmen, also gerade da in den Idealismus zurückzufallen, wo der kommunistische Materialist die Notwendigkeit und zugleich die Bedingung einer Umgestaltung sowohl der Industrie wie der gesellschaftlichen Gliederung sieht.“4 Erziehung des Erziehers I: „Sie [die materialistische Geschichtsauffassung] zeigt, dass [...] in ihr [der Geschichte] auf jeder Stufe ein materielles Resultat, eine Summe von Produktionskräften, ein historisch geschaffnes Verhältnis zur Natur und der Individuen zueinander sich vorfindet, die jeder Generation von ihrer Vorgängerin überliefert wird, eine Masse von Produktivkräften, Kapitalien und Umständen, die zwar einerseits von der neuen Generation modifiziert wird, ihr aber auch andrerseits ihre eignen Lebensbedingungen vorschreibt und ihr eine bestimmte Entwicklung, einen speziellen Charakter gibt - dass also die Umstände ebensosehr die Menschen, wie die Menschen die Umstände machen. [...] Diese vorgefundenen Lebensbedingungen der verschiedenen Generationen entscheiden auch, ob die periodisch in der Geschichte wiederkehrende revolutionäre Erschütterung stark genug sein wird oder nicht, die Basis alles Bestehenden umzuwerfen, und wenn diese materiellen Elemente einer totalen Umwälzung, nämlich einerseits die vorhandnen Produktivkräfte, andrerseits die Bildung einer revolutionären Masse, die nicht nur gegen einzelne Bedingungen der bisherigen Gesellschaft, sondern gegen die bisherige »Lebensproduktion« selbst, die »Gesamttätigkeit«, worauf sie basierte, revolutioniert nicht vorhanden sind, so ist es ganz gleichgültig für die praktische Entwicklung, ob die Idee dieser Umwälzung schon hundertmal ausgesprochen ist - wie die Geschichte des Kommunismus dies beweist.“5 Erziehung des Erziehers II: „Es bedarf keines grossen Scharfsinnes, um aus den Lehren des Materialismus von der ursprünglichen Güte und gleichen intelligenten Begabung der Menschen, der Allmacht der Erfahrung, Gewohnheit, Erziehung, dem Einflusse der äussern Umgebung auf den Menschen, der hohen Bedeutung der Industrie, der Berechtigung des Genusses etc. seinen notwendigen Zusammenhang mit dem Kommunismus und Sozialismus einzusehen. [...] Wenn der Mensch von den Umständen gebildet wird, so muss man die Umstände menschlich bilden.“6 4 Marx und Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 43-45. Teilweise von mir kursiv gesetzt. Marx und Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 38-39. Von mir kursiv gesetzt. 6 Marx, Die heilige Familie, MEW 2, S. 138. Von mir kursiv gesetzt. 5 3 II. Entfremdung (Thesen 4, 6, 7) „Feuerbach geht aus von dem Faktum der religiösen Selbstentfremdung, der Verdopplung der Welt in eine religiöse und eine weltliche Welt. Seine Arbeit besteht darin, die religiöse Welt in ihre weltliche Grundlage aufzulösen. Aber dass die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt und sich ein selbständiges Reich in den Wolken fixiert, ist nur aus der Selbstzerrissenheit und Sichselbstwidersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären. Diese selbst muss also in sich selbst sowohl in ihrem Widerspruch verstanden als praktisch revolutioniert werden. Also nachdem z.B. die irdische Familie als das Geheimnis der heiligen Familie entdeckt ist, muss nun erstere selbst theoretisch und praktisch vernichtet werden.“ (These 4) „Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Feuerbach, der auf die Kritik dieses wirklichen Wesens nicht eingeht, ist daher gezwungen: 1. von dem geschichtlichen Verlauf zu abstrahieren und das religiöse Gemüt für sich zu fixieren, und ein abstrakt - isoliert - menschliches Individuum vorauszusetzen; 2. Das Wesen kann daher nur als »Gattung«, als innere, stumme, die vielen Individuen natürlich verbindende Allgemeinheit gefasst werden.“ (These 6) „Feuerbach sieht daher nicht, dass das »religiöse Gemüt« selbst ein gesellschaftliches Produkt ist und dass das abstrakte Individuum, das er analysiert, in Wirklichkeit einer bestimmten Gesellschaftsform angehört.“ (These 7) Religiöse Entfremdung: In „der religiösen Welt [...] scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten.“7 Selbstzerrissenheit und Sichselbstwidersprechen dieser weltlichen Grundlage in Form von entfremdeter Arbeit: a) Entfremdung vom Produkt: „Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihn als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber. Das Produkt der Arbeit ist die Arbeit, die sich in einem Gegenstand fixiert, sachlich gemacht hat, es ist die Vergegenständlichung der Arbeit. Die Verwirklichung der Arbeit ist ihre Vergegenständlichung. Diese Verwirklichung der Arbeit erscheint in dem nationalökonomischen Zustand als Entwirklichung des Arbeiters, die Vergegenständlichung als Verlust und Knechtschaft des Gegenstandes, die Aneignung als Entfremdung [...] Die Verwirklichung der Arbeit erscheint so sehr als Entwirklichung, dass der Arbeiter bis zum Hungertod entwirklicht wird. Die Vergegenständlichung erscheint so sehr als Verlust des Gegenstandes, dass der Arbeiter der notwendigsten Gegenstände, nicht nur des Lebens, sondern auch der Arbeitsgegenstände, beraubt ist. [...] Die Entäussrung [ungefähr = Entfremdung] des Arbeiters in seinem Produkt hat die Bedeutung, nicht nur, dass seine Arbeit zu einem Gegenstand, zu einer äussern Existenz wird, 7 Marx, Das Kapital I, MEW 23, S. 86. 4 sondern dass sie ausser ihm, unabhängig, fremd von ihm existiert und eine selbständige Macht ihm gegenüber wird, dass das Leben, was er dem Gegenstand verliehn hat, ihm feindlich und fremd gegenübertritt.“ – b) Entfremdung der Tätigkeit: „Entfremdung zeigt sich nicht nur im Resultat, sondern im Akt der Produktion, innerhalb der produzierenden Tätigkeit selbst. Wie würde der Arbeiter dem Produkt seiner Tätigkeit fremd gegenübertreten können, wenn er im Akt der Produktion selbst sich nicht sich selbst entfremdete? Das Produkt ist ja nur das Resümee der Tätigkeit, der Produktion. Wenn also das Produkt der Arbeit die Entäusserung ist, so muss die Produktion selbst die tätige Entäusserung, die Entäusserung der Tätigkeit, die Tätigkeit der Entäusserung sein. In der Entfremdung des Gegenstandes der Arbeit resümiert sich nur die Entfremdung [...] in der Tätigkeit der Arbeit selbst. [...] Seine Arbeit ist [...] nicht freiwillig, sondern gezwungen, Zwangsarbeit. Sie ist daher nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse ausser ihr zu befriedigen. Ihre Fremdheit tritt darin rein hervor, dass, sobald kein physischer oder sonstiger Zwang existiert, die Arbeit als eine Pest geflohen wird. [...] Endlich erscheint die Äusserlichkeit der Arbeit für den Arbeiter darin, dass sie nicht sein eigen, sondern eines andern ist, dass sie ihm nicht gehört, dass er in ihr nicht sich selbst, sondern einem andern angehört. [Denn er verkauft seine Arbeitskraft.] Wie in der Religion die Selbsttätigkeit der menschlichen Phantasie, des menschlichen Hirns und des menschlichen Herzens unabhängig vom Individuum, d. h. als eine fremde, göttliche oder teuflische Tätigkeit, auf es wirkt, so ist die Tätigkeit des Arbeiters nicht seine Selbsttätigkeit. Sie gehört einem andren, sie ist der Verlust seiner selbst.“8 Mensch keine abstrakte Gattung: „Feuerbach [kann] aus dem ihm selbst tödlich verhassten Reich der Abstraktionen den Weg nicht finden [...] zur lebendigen Wirklichkeit. [...] Weder von der wirklichen Natur noch von den wirklichen Menschen weiss er uns etwas Bestimmtes zu sagen. Vom Feuerbachschen abstrakten Menschen kommt man aber nur zu den wirklichen lebendigen Menschen, wenn man sie in der Geschichte handelnd betrachtet. [...] Aber der Schritt, den Feuerbach nicht tat, musste dennoch getan werden; der Kultus des abstrakten Menschen [...] musste ersetzt werden durch die Wissenschaft von den wirklichen Menschen und ihrer geschichtlichen Entwicklung.“9 Die Welt muss praktisch, nicht nur in Gedanken aufgehoben und verändert werden: Die „kommunistischen Arbeiter [...] glauben nicht durch »reines Denken« ihre Industrieherren und ihre eigne praktische Erniedrigung wegräsonieren zu können. [...] Sie wissen, dass Eigentum, Kapital, Geld, Lohnarbeit u. dgl. durchaus keine ideellen Hirngespinste, sondern sehr praktische, sehr gegenständliche Erzeugnisse ihrer Selbstentfremdung sind, die also auch auf eine praktische, gegenständliche Weise aufgehoben werden müssen, damit nicht nur im Denken, im Bewusstsein, sondern [...] im Leben der Mensch zum Menschen werde. Die kritische Kritik10 belehrt sie dagegen, dass sie in der Wirklichkeit aufhören, Lohnarbeiter zu sein, wenn sie den Gedanken der Lohnarbeit im Gedanken aufheben, wenn sie im Gedanken aufhören, sich als Lohnarbeiter zu 8 Marx, Ökonomisch-Philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, MEW 43, S. 511 ff. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, MEW 21, S. 289-290. Von mir kursiv gesetzt. 10 Anm.: Die „kritische Kritik“ ist eine philosophische „Richtung“ zu Marxens Zeiten. 9 5 gelten, und dieser überschwenglichen Einbildung gemäss sich nicht mehr für ihre Person bezahlen lassen. Als absolute Idealisten, als ätherische Wesen können sie hinterher auch natürlich vom Äther des reinen Gedankens leben. Die kritische Kritik belehrt sie, dass sie das wirkliche Kapital aufheben, wenn sie die Kategorie des Kapitals im Denken überwältigen“.11 Das „religiöse Gemüt“ ist ein gesellschaftliches Produkt: „Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, ausser der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewusstsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, [...] ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist. [...] Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes. [...] Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist. [...] Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche. [...] Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muss gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift. [...] Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“12 III. Materialismus (Thesen 9, 10) „Das Höchste, wozu der anschauende Materialismus kommt, d.h. der Materialismus, der die Sinnlichkeit nicht als praktische Tätigkeit begreift, ist die Anschauung der einzelnen Individuen und der bürgerlichen Gesellschaft.“ (These 9) „Der Standpunkt des alten Materialismus ist die bürgerliche Gesellschaft; der Standpunkt des neuen die menschliche Gesellschaft, oder die gesellschaftliche Menschheit.“ (These 10) Materialismus und Idealismus ganz allgemein: „Was ist das Ursprüngliche, der Geist oder die Natur?“ a) Einerseits, sozusagen erkenntnistheoretisch, ist derjenige ein Materialist, der „die 11 12 Marx, Die heilige Familie, MEW 2, S. 55-56. Von mir kursiv gesetzt. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEW 1, S. 378 ff. 6 wirkliche Welt - Natur und Geschichte - so aufzufassen [versucht], wie sie sich selbst einem jeden gibt, der ohne vorgefasste idealistische Schrullen an sie herantritt“ b) Andererseits, sozusagen in Bezug auf die „Weltanschauung“: „Diejenigen, die die Ursprünglichkeit des Geistes gegenüber der Natur behaupteten, also in letzter Instanz eine Weltschöpfung irgendeiner Art annahmen [...] bildeten das Lager des Idealismus. Die andern, die die Natur als das Ursprüngliche ansahen, gehören zu den verschiednen Schulen des Materialismus.“13 Historischer, gesellschaftlicher Materialismus: „Feuerbach [hat] darin ganz recht, dass der bloss naturwissenschaftliche Materialismus zwar die »Grundlage des Gebäudes des menschlichen Wissens ist, aber nicht das Gebäude selbst«. Denn wir leben nicht nur in der Natur, sondern auch in der menschlichen Gesellschaft, und auch diese hat ihre Entwicklungsgeschichte und ihre Wissenschaft nicht minder als die Natur.“14 Dialektischer Materialismus: „Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment15 in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase. Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus - politische Formen des Klassenkampfs und seine Resultate - Verfassungen, nach gewonnener Schlacht durch die siegende Klasse festgestellt usw. Rechtsformen, und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu Dogmensystemen, üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form. Es ist eine Wechselwirkung aller dieser Momente, worin schliesslich durch alle die unendliche Menge von Zufälligkeiten (d. h. von Dingen und Ereignissen, deren innerer Zusammenhang untereinander so entfernt oder so unnachweisbar ist, dass wir ihn als nicht vorhanden betrachten, vernachlässigen können) als Notwendiges die ökonomische Bewegung sich durchsetzt. [...] Wir machen unsere Geschichte selbst, aber erstens unter sehr bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen. Darunter sind die ökonomischen die schliesslich entscheidenden. Aber auch die politischen usw., ja selbst die in den Köpfen der Menschen spukende Tradition, spielen eine Rolle, wenn auch nicht die entscheidende. [...] Es wird schwerlich gelingen, die Existenz jedes deutschen Kleinstaates der Vergangenheit und Gegenwart [...] ökonomisch zu erklären, ohne sich lächerlich zu machen.“16 13 Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, MEW 21, S. 274 ff. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, MEW 21, S. 280 f. 15 «Das Moment» ist ein oft verwandter Ausdruck in dialektischer Philosophie: «Moment» drückt aus, dass ein Ganzes verschiedene Seite – oder eben: «Momente» – hat, wobei a) die verschiedenen Seiten oder «Momente» oft einander widersprechen, also das Ganze in sich widersprüchlich ist; b) das Ganze nur als das «Verhältnis» oder die «Beziehung» dieser verschiedenen Seiten ist; c) und zuletzt steckt im Begriff des «Moments», dass die Seiten keine isolierten Dinge sind, sondern in einer Beziehung zu den anderen Seiten, und also Teil eines Ganzen. – Beispielsweise könnte man Bourgeoisie und Proletariat als «Momente» der bürgerlichen Gesellschaft verstehen: sie stehen a) in Widerspruch zueinander; b) die bürgerliche Gesellschaft (das «Ganze») ist nur als das Verhältnis, die Beziehung von Bourgeoisie und Proletariat; und c): Die Klasse der Bourgeoisie «ist nicht zu haben» ohne diejenige des Proletariats und umgekehrt. 16 Engels, Engels an Joseph Bloch, MEW 37, S. 463 f. 14 7 IV. Theorie und Praxis „Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme - ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muss der Mensch die Wahrheit, i.e. die Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens – das von der Praxis isoliert ist – ist eine rein scholastische Frage.“ (These 2) „Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizism[us] veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und im Begreifen dieser Praxis.“ (These 8) Bewusstsein ist ein Produkt der Praxis: „Jetzt erst, nachdem wir bereits vier Momente, vier Seiten der ursprünglichen, geschichtlichen Verhältnisse betrachtet haben [Produktion des materiellen Lebens, Erzeugung neuer Bedürfnisse, Fortpflanzung und deren Verhältnisse], finden wir, dass der Mensch auch »Bewusstsein« hat. Aber auch dies nicht von vornherein, als »reines« Bewusstsein. Der »Geist« hat von vornherein den Fluch an sich, mit der Materie »behaftet« zu sein, die hier in der Form von bewegten Luftschichten, Tönen, kurz der Sprache auftritt. Die Sprache ist so alt wie das Bewusstsein - die Sprache ist das praktische, auch für andre Menschen existierende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Bewusstsein, und die Sprache entsteht, wie das Bewusstsein, erst aus dem Bedürfnis, der Notdurft des Verkehrs mit andern Menschen [...] Das Bewusstsein ist also von vornherein schon ein gesellschaftliches Produkt und bleibt es, solange überhaupt Menschen existieren.“17 Praxis als Beweis: „The proof of the pudding is in the eating. [Man prüft den Pudding, indem man ihn isst.] In dem Augenblick, wo wir diese Dinge, je nach den Eigenschaften, die wir in ihnen wahrnehmen, zu unserm eignen Gebrauch anwenden, in demselben Augenblick unterwerfen wir unsre Sinneswahrnehmungen einer unfehlbaren Probe auf ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit.“18 Gegenseitiges Beeinflussen von Theorie und Praxis: „statt der Theorie nur angeklebt zu sein, dergestalt also, dass der Gedanke seine »Anwendung« rein wissenschaftlich gar nicht braucht, dass die Theorie ihr Selbstleben wie ihre immanente Selbstgenügsamkeit auch im Beweis weiterführt, oszillieren eben, nach Marx wie Lenin, Theorie und Praxis beständig. Indem beide wechselnd und wechselseitig ineinander schwingen, setzt die Praxis ebenso Theorie voraus, wie sie selber wieder neue Theorie zum Fortgang einer neuen Praxis entbindet und nötig hat. Höher ist der konkrete Gedanke nie gewertet worden als hier, wo er das Licht zur Tat wurde, und höher nie die Tat als hier, wo sie zur Krönung der Wahrheit wurde.“19 Theorie als Mittel und Bedingung für revolutionäre Praxis: „Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift. Die Theorie ist fähig, die Massen zu ergreifen, sobald sie ad hominem [am Menschen] demonstriert, und sie demonstriert ad hominem, sobald sie radikal wird. Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der 17 Marx und Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 30 f. Meine Kursivsetzung. Engels, MEW 22, S. 296 19 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, S. 315. Von mir kursiv gesetzt. 18 8 Mensch selbst. [...] Die Revolutionen bedürfen nämlich eines passiven Elementes, einer materiellen Grundlage. Die Theorie wird in einem Volke immer nur so weit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist. [...] Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen, und sobald der Blitz des Gedankens gründlich in diesen naiven Volksboden eingeschlagen ist, wird sich die Emanzipation der Deutschen [natürlich nicht nur der Deutschen ] zu Menschen vollziehn. [...] Die einzig praktisch mögliche Befreiung Deutschlands [wiederum: nicht nur] ist die Befreiung auf dem Standpunkt der Theorie, welche den Menschen für das höchste Wesen des Menschen erklärt“.20 V. Weltveränderung „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern.“ (These 11) ... sollte jetzt diskutierbar sein 20 Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEW 1, S. 385 ff. 9