Der Schachbrettfalter (M. galathea) in ökologisch unterschiedlichen

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ELEMENTE DER NATURWISSENSCHAFT
80 2004
Der Schachbrettfalter (M. galathea) in ökologisch
unterschiedlichen Lebensräumen des Kulturlandes
Johannes Wirz und Daniel Kuster
Zusammenfassung
Das Verhalten des Schachbrettfalters (Melanagria galathea) wurde in Lebensräumen unterschiedlicher
ökologischer Qualität und mit verschiedenem Umfeld untersucht. Einzeltierbeobachtungen (ETB) lieferten
ein differenziertes Bild der Dauer und Häufigkeiten der typischen Verhaltensweisen und zeigten, dass artund geschlechtsspezifische Verhaltensweisen zwar identifiziert, jedoch nur in Ausnahmefällen unabhängig
vom aktuellen Lebensraumbezug bewertet werden können. Eine detaillierte Quantifizierung, die im Vergleich
zu qualitativen Beschreibungen reflektiert wird, liefert unerwartete Einsichten in die Präferenzen für
Nektarpflanzen, die Unterschiede und Dynamik von Interaktionen mit anderen Insekten sowie die Bedeutung
von Größe und Geometrie der Untersuchungsgebiete. Eine Reihe von Kriterien, die bei Schutz- und
Pflegebemühungen beachtet werden sollten, werden angeführt.
Summary
The behaviour of the marbled white butterfly (Melanagria galathea) in habitats with distinct ecological
qualities and different surroundings is investigated. Observations on individual butterflies are used as a tool
to develop a differentiated view of duration and frequencies of typical activities. Species and sex-specific
behaviours can be identified, but in only a few cases prove to be independent of habitat-specific qualities. In
comparison with the benefits and limitations of qualitative approaches, a detailed quantification is justified
and reveals unexpected results with respect to preference for nectar-plants, to differences and dynamics of
interactions with other insects, and to the significance of size and geometry of habitats. Some criteria to
facilitate the protection and development of populations of the marbled white are presented.
Einleitung
Viele einstmals häufige Tagfalterarten des Kulturlandes wie das Große Ochsenauge, das Kleine Wiesenvögelchen, der Schachbrettfalter, Bläulinge und das Gewöhnliche Widderchen sind in den letzten Jahrzehnten wegen der Intensivierung der
Landnutzung entweder verschwunden (Jeanneret et al. 2000) oder in kleinräumige
Reliktstandorte – Säume entlang von Wegen, Feldern und Böschungen – verdrängt
worden (Bosshard/Kuster 2001). Verschiedene Faktoren beeinflussen das Überleben von Tagfaltergemeinschaften: die Größe der Areale, die Qualität ihrer botanischen Ausstattung und ihrer Vegetationsstruktur, ihre Vernetzung und Entfernung
zu ähnlichen Biotoptypen sowie Lage, Exposition und Geometrie (Hering/Beinlich
26
1995, Ellingson o.J.). Kleine Restflächen sind einer Vielzahl von negativen Einflüssen ausgesetzt: in der intensiv betriebenen Landwirtschaft mechanischem Stress
durch das Befahren mit Maschinen sowie chemischer Verschmutzung durch den
unvermeidbaren Eintrag von Dünger und Pflanzenschutzmitteln (Klaus et al. 2001).
Diese Faktoren betreffen alle Entwicklungsstadien einer Schmetterlingsart: Ei, Larve, Puppe und Imago.
Kleine Populationen zeigen außerdem eine erhöhte Anfälligkeit für intrinsische
Populationsschwankungen, z.B. als Folge einer genetischen Verengung durch Inzucht,
aber auch für äußere Umwelteinflüsse, und leiden unter Auswanderung von Tieren
aus dem Biotop.
Die Kenntnis ausgewählter Arten in weitgehend optimalen Lebensräumen erlaubt,
wesentliche Ansprüche an Habitate herauszuarbeiten und mit Orten verminderter
Qualität zu vergleichen.
In der vorliegenden Arbeit haben wir Schmetterlinge in drei Untersuchungsgebieten beobachtet. Neben phänologischen Erhebungen der Blütenpflanzen und
einer Abschätzung der Artenvielfalt und Häufigkeit von Schmetterlingen haben wir
mit Einzeltierbeobachtungen (ETB) am Schachbrettfalter (M. galathea) versucht,
die Bedingungen für den Erhalt oder gar die Entwicklung überlebensfähiger Populationen dieser Art zu identifizieren. Das Verhaltensrepertoire dieses Schmetterlings ist in einem früheren Artikel ausführlich beschrieben worden (Kuster/Wirz
2002). Als wiesengebundene Art war er früher im schweizerischen Mittelland häufig. Heute sind nur noch kleine Restpopulationen vorhanden, die praktisch überall
gefährdet sind. Mit relativ kurzen Flugdistanzen ist er für ETB gut geeignet.
Die Falter wurden in Arealen mit unterschiedlichen Biotopqualitäten studiert:
auf einer von Wald umschlossenen Kiefern-Wacholder-Weide, in einer kleinräumig
gegliederten und extensiv genutzten Wiesen- und Ackerlandschaft sowie an einer
Böschung, die in einem ökologisch armen Umfeld einen stark gefährdeten Reliktstandort darstellt.
Methoden
In allen Untersuchungsgebieten wurden während der Flugzeit des Schachbrettfalters
(Mitte Juni bis Ende Juli) Blütenvielfalt und -häufigkeit sowie die Vegetationsstruktur
dokumentiert. Auf repräsentativen Flächen wurden alle blühenden Kräuter gezählt.
In Transektzählungen (siehe Pollard/Yates 1993) wurde auf ausgemessenen Weglängen in fünf Meter breiten Streifen das Vorkommen der häufigen Schmetterlingsarten ermittelt und eine grobe Schätzung der Dichte und Populationsgröße des
Schachbrettfalters vorgenommen.
ETB (vgl. Kuster/Wirz 2002) wurden an mehreren Tagen und zu unterschiedlichen
Tageszeiten bei Temperaturen über 20 °C und bei wolkenlosem Himmel durchgeführt. In 12 Jucharten betrug die Beobachtungsdauer 2:10 Stunden für Männchen
und 7:14 Stunden für Weibchen, auf der Latschgetweid 3:19 Stunden für Männchen
und 4:01 Stunden für Weibchen. In Oltingue schließlich wurden Männchen während
8:39 Stunden, Weibchen während 14:02 Stunden beobachtet. Die Aufnahmen mit
Minidisk-Recordern wurden transkribiert und die Dauer der Verhaltensaktivitäten
27
und ihre Häufigkeiten ermittelt. Die Dauer der verschiedenen Aktivitäten wurde
prozentual zur gesamten Beobachtungszeit berechnet. Die prozentuale Häufigkeit
der Aktivitäten wurde auf die Summe aller einzelnen Aktivitäten bezogen. Für die
quantitativen Vergleiche wurden die verschiedenen Flugaktivitäten wie Patrouillierflug
der Männchen, Flüge während Interaktionen, Flüge zur Ortsveränderung und Flüge
des Weibchens nach Eiablage in einer Rubrik zusammengefasst. Auch haben wir darauf verzichtet, die Verhaltensweisen der immobilen Phasen zu differenzieren. Ruhen
und Sonnen auf Blüten sowie Nektarsaugen wurden unter der Rubrik «Blütenbesuch»
zusammengefasst, da Letzteres ca. 90 Prozent der gesamten Dauer ausmachte (vgl.
Sonntag 1982, Kuster/Wirz 2002).
Interaktionen des jeweils beobachteten Tieres wurden in drei Kategorien unterteilt: Begegnungen mit Artgenossen 1. des gleichen oder 2. des anderen Geschlechts
sowie 3. mit anderen Insekten, d.h. vor allem mit Schmetterlingen anderer Arten,
Honigbienen und Hummeln.
Die Untersuchungsgebiete
Die drei Untersuchungsgebiete unterscheiden sich bez. Größe, Bewirtschaftung und
Landnutzung in der unmittelbaren Umgebung (siehe Tab. 1). 12 Jucharten (Abb. 1a)
ist eine unter Naturschutz stehende Böschung am Rande von nach den Richtlinien
der integrierten Produktion bewirtschafteten Äckern in der Nähe einer Industriezone und einer stark befahrenen Straße. Die verbrachende Trespenwiese ist Teil
einer Böschung, die sich auf ca. 600 Meter Länge zwischen den Äckern und einem
Weg entlang zieht, abgetrennt vom Rest durch einen neu angepflanzten Waldgürtel
(Abb. 2a). Die Vegetation zeigt im oberen Bereich deutlich Düngereintrag vom Acker
her. Entsprechend dicht präsentiert sich die Vegetationsstruktur (Abb. 3a), die neben wenigen linealischen Strukturen den Eindruck eines dichten, beinahe verfilzten Teppichs hinterlässt. Die Artenzahl der Nektarpflanzen für Schmetterlinge ist
niedrig und ihre Häufigkeit gering (Tab. 1). Die Qualität des Umraumes ist minderwertig. In 75 Meter Abstand vom Zentrum des Biotops liegen nur noch drei Pro-
Größe [ha]
Typ
Anzahl relevanter
Nektarpflanzen [pro Are]
Umfeld
12 Jucharten
0.2
Trespensaum
17.5*
Latschgetweid
2.1
Kiefern-Wacholder-Weide
123**
Oltingue
0.84
Glatthafer-Wiese
1124***
kleine Insel, umgeben
von Naturwiese, Wald,
Ackerland und
Industriegebiet
von Wald völlig
umschlossener
Trespenrasen
eingebettet in eine
Mosaiklandschaft
mit großem
Strukturreichtum
* Wiesenflockenblume, Knautie, Hornklee, Karthäusernelke
** Wiesenflockenblume, Knautie, Hornklee, Bergklee, Karthäusernelke
*** Wiesenflockenblume, Knautie, Weißklee, Esparsette, Rotklee
Tab. 1: Einige Eckdaten der drei Untersuchungsgebiete
28
Abb. 1: Größe und Lage der beiden Untersuchungsgebiete 12 Jucharten (a) und Latschgetweid (b)
zent eines gedachten Kreisumfanges in der Trespenwiese. Zwölf Prozent liegen im
Wald, 33 Prozent im Ackerland und 36 Prozent über Straßen und Industrie. Neu
angelegte Straßenränder, eine Naturwiese und eine Kleegraswiese in der näheren
Umgebung liefern wertvolle Nektarquellen. Die Böschung wird nach botanischen
Gesichtspunkten gepflegt und Anfang August gemäht.
Die Latschgetweid, eine Kiefern-Wacholder-Weide im Birstal, wurde ursprünglich als Schafweide extensiv genutzt und steht ebenfalls unter Naturschutz (Abb. 1b).
Die artenreiche Trespenwiese liegt auf einem Südhang und ist lückenlos von Wald
umgeben (Abb. 2b). Die Vegetation des Magerrasens ist locker mit einer klaren
Gliederung der Schichten und auffälligen vertikalen Strukturen von Gräsern und
blühenden Kräutern (Abb. 3b). Die Zahl der Nektarpflanzen erscheint auf den ersten Blick relativ bescheiden (Tab. 1), ist jedoch bezogen auf die Gesamtfläche des
Areals stattlich. Auch hier drohen einzelne Flächen zu verbuschen. Mit einem detaillierten Pflegeplan wird durch Mosaikmahd versucht, den ursprünglichen Zustand zu erhalten. Die erste Teilfläche wurde im Jahr 2000 am 1. Juli, die letzte am
15. August gemäht.
Das Untersuchungsgebiet in Oltingue ist eine 0.84 Hektar große, artenreiche Glatthaferwiese (siehe Kuster/Wirz 2002 und Abb. 2c), die in einer kleinräumig gegliederten und extensiv genutzten Grün- und Ackerlandschaft liegt. Abb. 3c zeigt ihre
Vegetationsstruktur. Die Blütenzahl der schmetterlingsrelevanten Pflanzen ist im Vergleich zu den beiden anderen Standorten enorm (Tab. 1). Die Abgrenzung gegen
umliegende Biotope wirkt eher gekünstelt, was sich auch im häufigen Wechsel der
Falter von einem zum anderen Areal zeigt. Die Untersuchungsfläche wird Ende Juni
gemäht. Auf Grund der optimalen Vernetzung gibt es jedoch genügend Ausweichflächen für Nahrungsaufnahme oder Eiablagen in der unmittelbaren Nachbarschaft.
29
a
b
c
Abb. 2: Blick in die Untersuchungsgebiete zur Hauptflugzeit des Schachbrettfalters,
(a) 12 Jucharten, (b) Latschgetweid, (c) Oltingue
30
a
b
c
Abb. 3: Transsektbilder aus den Flächen zur Hauptflugzeit des
Schachbrettfalters:
(a) 12 Jucharten, (b) Latschgetweid, (c) Oltingue
31
Stimmungsbilder
Stimmung und Wahrnehmungsvielfalt wurden für den Standort Oltingue detailliert
beschrieben (Kuster/Wirz 2002). 12 Jucharten steht dazu im allergrößten Kontrast!
Die Böschung ist eine Zumutung. Bereits der Anmarsch wird durch Autolärm von
der Straße und von der nahen Motorfahrzeug-Prüfstelle getrübt. Je nach Kultur
dröhnen vom Acker her die landwirtschaftlichen Maschinen. Ähnlich wie das Areal
selber, das wegen seiner geringen Größe und der bescheidenen botanischen Ausstattung leicht übersehen wird, lenken auch die wenigen Schmetterlinge kaum die
Aufmerksamkeit auf sich. Erst in unmittelbarer Nähe fallen die wenigen Schachbrettfalter auf, glänzt ein einsamer Bläuling auf einer Rotkleeblüte auf oder können
vereinzelte Bienen beobachtet werden. Vor jeder Begehung fragt man sich unwillkürlich, ob die Schmetterlinge überhaupt noch vorhanden sind.
Völlig konträr präsentiert sich die Situation auf der Latschgetweid. Egal zu welcher Tageszeit man das Biotop besucht, flattert ein Heer von Schmetterlingen über
und durch die lockere Vegetation. Auch hier scheint die Blütenvielfalt zunächst spärlich, doch die vielen Insekten lenken den Blick zielgerichtet auf die vielen Blumen.
Der Motorenlärm von den Straßen wird durch die Abgeschlossenheit des Ortes zwar
nicht akustisch, aber erlebnismäßig weitgehend abgedämpft. Wie lärmig auch dieses
Untersuchungsgebiet ist, wird erst bei der späteren Transkription der aufgezeichneten Tonaufnahmen deutlich! Über der Weide segelt der Weiße Waldportier, auf
Hornkleebeständen sitzen unzählige Bläulinge und in der Vegetation streifen Schachbrett und Großes Ochsenauge in unübersehbarer Zahl. Setzt man sich hin, so sind
Begegnungen mit Heuschrecken garantiert – am auffälligsten die kleine Goldschrecke
mit ihrem unverkennbaren metallischen Glanz. Trichterspinnen haben überall ihre
Fangnetze gebaut, Käfer krabbeln über Gräser, und an den Stämmen der einzeln
stehenden Kiefern können große Ameisenstraßen beobachtet werden, auf denen Tiere zu den Läusen hochsteigen und mit prall gefülltem Hinterleib wieder hinunterkrabbeln. In frühen Morgenstunden trifft man auf äsende Rehe.
Ein methodenkritischer Einschub
Immer wieder wird in Kreisen goetheanistischer Wissenschaftler die Frage nach
dem Sinn einer quantifizierenden Vorgehensweise gestellt. In der Tat muss ein Verzicht auf Erlebnisfülle, auf Gestalt- und Farbreichtum zugunsten von abstrahierten
Zahlen- und Größenverhältnissen gut begründet sein. Aus einem Spektrum von
Gründen, die für eine solche Vorgehensweise sprechen, möchten wir zwei genauer
erläutern. Der erste hängt mit der Diskrepanz zwischen vollmenschlichem, «atmosphärischem» Erleben (Kuster/Wirz 1996, Bockemühl 1997) und der Präzision von
Beobachtungen durch Reduktion zusammen. Der Versuch, sich möglichst vorbehaltlos mit einer Situation oder einer Landschaftsatmosphäre zu verbinden, bringt
auch bei guter Übung stets eine «Unschärfe» für Details mit sich. Prüft man sich in
der Nachbereitung einer erlebnisgesättigten Beobachtung kritisch, so kann man
bemerken, dass im Erleben von Stimmungen willkürlich oder unbewusst eine Selektion aus der riesigen Fülle von Objekten, Vorgängen und Einzelheiten vorgenommen wird. Als Beobachtender und Wahrnehmender ist man Teil der Ganzheit, die
32
man zu erfassen sucht, und deshalb auch Gestalter derselben (Hauskeller 2003). Versucht man darüber hinaus, Vergleiche von verschiedenen Landschaften und ihren
Stimmungen anzustellen, so bemerkt man bald, was Goethe (1795) in den zoologischen Schriften sehr schön charakterisiert hat, dass mit Recht unendlich viele Möglichkeiten des Vergleichens bestehen, die aber dazu führen, das «Ganze» nur im Allgemeinen, unscharf zu erfassen.
Mit der Reduktion des ganzheitlichen Erlebens auf einzelne Merkmale oder Verhaltensweisen geht zunächst der Gesamtzusammenhang verloren. Die analytische
Vorgehensweise hilft Details und Konturen zu gewinnen. Wenn vorher «Erleben an
der Sinneserscheinung» die Eigenart der Zuwendung charakterisiert, so ist es jetzt
das «Erleben der gedanklich hergestellten Beziehungen», das im kreativen Umgang
mit den erhobenen Daten ebenfalls – und im Glücksfall sogar originär – Beiträge zu
einem integralen Verständnis leistet. Deshalb hat Goethe so sehr auf eine Vereinheitlichung der Beschreibungen von Knochen, ihrer Größe, Lage und Zahl gedrängt
und die Tabelle als geeignetes Werkzeug zur Entwicklung einer Typusbiologie empfohlen. Was eine Untersuchung quantitativer Beziehungen unbedingt von einer ganzheitlichen Betrachtungsweise übernehmen muss, ist Achtung und Respekt, Anteilnahme und Staunen. Umgekehrt profitiert dieselbe zweifelsohne von der Präzision
reduzierter Beobachtungen und ihrer gedanklichen Bearbeitung. Nicht ein «Entweder-Oder», sondern ein «Sowohl-als-auch» kennzeichnet Bemühungen einer integralen Biologie.
Die Schmetterlingsfauna
Die stimmungshaften Erlebnisse finden im Artenspektrum der Schmetterlinge und
ihren Häufigkeiten eine zahlenmäßige Entsprechung. Da mit Ausnahme von Oltingue
in den beiden anderen Gebieten nur während wenigen Wochen Transektzählungen
durchgeführt wurden, bleiben die Erhebungen unvollständig. In 12 Jucharten wurden sechs, auf der Latschgetweid 22 Arten beobachtet. Die Zahl fällt für diesen Standort
sicher zu gering aus, da nach Birrer (persönliche Mitteilung) hier praktisch alle Falter
der mesothermophilen Magerrasen fliegen – eine Fluggemeinschaft mit ca. 50 Arten
(Schweizerischer Bund für Naturschutz 1987). In Oltingue wurden 32 Arten beobachtet, welche die Bedeutung einer reich strukturierten, kleinräumig gegliederten und
extensiv genutzten Mosaiklandschaft bestätigen.
Ein grobe Abschätzung der Dichte der beiden häufigsten Schmetterlinge –
Schachbrettfalter und Großes Ochsenauge (Maniola jurtina) – wurde vorgenommen, indem die Zahlen der Schmetterlinge durch die jeweiligen Transektflächen
geteilt wurden. In 12 Jucharten betrug der Wert für das Schachbrett (und das Ochsenauge) 1.8 (0) Tiere pro Are, auf der Latschgetweid 10.8 (4.1) Tiere und in Oltingue
überraschenderweise lediglich 0.9 (2.8) Falter. Bezogen auf die Gesamtfläche der
Untersuchungsgebiete ergibt eine Hochrechnung in 12 Jucharten, dem Reliktbiotop
in einem fragmentierten Umfeld, eine Populationsgröße von knapp 30 Tieren, auf
der Latschgetweid, einem weitgehend abgeschlossenen Lebensraum, eine von ca.
1300 Tieren. In der offenen Mosaiklandschaft Oltingue macht eine ähnliche Abschätzung keinen Sinn. Durch die Größe der Kulturlandschaft und das vielfältige
33
Mosaik mit traditioneller Bewirtschaftung stehen den Schmetterlingen viele Lebensräume in optimaler Qualität zur Verfügung. Erstaunlich ist, dass in 12 Jucharten
die Reliktpopulation sich wohl als Folge einer gezielten Pflege des Geländes bis
heute erhalten hat.
Die Verhaltensaktivitäten
Das Repertoire der Verhaltensaktivitäten des Schachbrettfalters ist auf den ersten
Blick relativ beschränkt (Kuster/Wirz 2002). Bei den Männchen sind es zeitlich lange Patrouillierflüge knapp über der Pflanzendecke, bei denen sie über weite Distanzen im Zickzackflug nach Weibchen suchen. Daneben gibt es Verfolgungsflüge von
kurzer Dauer über der Vegetation oder hoch in die Luft hinauf schraubend, die z.T.
mit großen Distanzen verbunden sind. Dabei werden alle Schmetterlinge mit hellen
Flügeln, dunkel gefärbte Formen jedoch nur selten angepeilt: ein Hinweis auf das
visuelle Selektionsvermögen bei der Partnersuche. Kurzflüge beim Blütenwechsel
von weniger als einem Meter stehen den langen, geradlinigen Flügen über der Vegetation bei gezielten Ortsveränderungen polar gegenüber. Daneben können Nektarsaugen mit Flügelbewegungen, Sonnen mit ausgebreiteten Flügeln und Ruhen mit
geschlossenen Flügeln unterschieden werden – selten finden lang andauernde Paarungen tief in der Vegetation statt.
Die Weibchen sind bedeutend weniger mobil. Meist sitzen sie nektarsaugend auf
Blüten. Flüge sind häufig kürzer als ein Meter und dienen dem Wechsel von Blüte
zu Blüte (siehe auch Sonntag 1982). Einmal begattet, wehren sie weitere Annäherungen von Männchen ausnahmslos ab. Nach erfolgreicher Eiablage fliegen sie 10
bis 20 Meter weit über die Vegetation. Weibchen saugen mit ruhig gestellten, meist
offenen, seltener geschlossenen Flügeln. Sie sonnen und ruhen wie die Männchen.
Eiablagen in der Vegetation dauern ca. drei, oft auch länger als 20 Minuten.
Gesondert zu betrachten sind die so genannten Turns, d.h. Verhaltensweisen entlang der Habitatgrenzen. An «harten» Grenzen, z.B. Wald und Straßen, aber auch
Wegen, kehrt der Falter unmittelbar in den Lebensraum zurück. «Weiche» Grenzen,
z.B. Grünland, Äcker oder Hecken, werden überflogen. Die Rückkehr ins Areal
erfolgt in mehr oder weniger weiten Runden. Haben sich die Tiere zu weit vom
Habitat entfernt, fliegen sie nicht mehr zurück: Auswanderung hat stattgefunden.
Über Äckern sind schnelle gradlinige Flüge zu beobachten, die mehrere 100 Meter
betragen können; über blütenreichen Standorten wechselt das Verhalten wieder zu
Nektaraufnahme. Bei hoher Vegetation oder locker gesäten Kulturen wie Mais setzen Männchen ihren Patrouillierflug auch im Acker fort.
Die Dauer der Verhaltensaktivitäten
In Übereinstimmung mit den unmittelbaren Eindrücken sind die Männchen auf allen
Standorten wesentlich mobiler als die Weibchen (Abb. 4a und 4b). Die Flugaktivitäten
der Männchen betragen zwischen 45 und 75 Prozent der gesamten Beobachtungsdauer, bei den Weibchen sind es weniger als 25 Prozent. Umgekehrt verhält es sich
mit der Dauer der Blütenbesuche. Männchen verbringen 30 bis maximal 45 Prozent
der Zeit auf Blüten, bei den Weibchen sind es, unabhängig vom Gebiet, um die 75
34
Dauer der Verhaltensaktivitäten – Weibchen
Dauer der Verhaltensaktivitäten – Männchen
Abb. 4: Die prozentuale Verteilung der Dauer der verschiedenen Verhaltensweisen von Weibchen und Männchen
des Schachbrettfalters
35
Prozentuale Häufigkeit der Aktivitäten – Weibchen
Prozentuale Häufigkeit der Aktivitäten – Männchen
Abb. 5: Die prozentualen Häufigkeiten der Aktivitäten des
Schachbrettfalters; Blütenbesuche auf der Wiesenfockenblume
(C. jacea), der Feldwitwenblume (Knautia) und allen anderen
Blüten (andere) differenziert;
36
Prozent. Die Interaktionen, für Weibchen nach der Begattung eine Belästigung, für
Männchen Teil der Paarungsstrategie, nehmen bei beiden Geschlechtern lediglich um
die 5 Prozent der gesamten Beobachtungsdauer in Anspruch.
Die Dauer aller Verhaltensaktivitäten variiert bei den Weibchen unabhängig vom
Standort nur in geringen Grenzen, sieht man von der Eiablage ab, die auf der
Latschgetweid länger ausfiel als auf den beiden anderen Standorten. Dieser Unterschied ist unseres Erachtens auf einen glücklichen Zufall zurückzuführen, weil
Eiablagen nur selten zu beobachten waren.
Anders verhält es sich bei den Aktivitäten der Männchen. Die Flugdauer in
Oltingue ist bedeutend länger als auf den beiden anderen Standorten. Entsprechend fallen die Blütenbesuche wesentlich kürzer aus. Über die Gründe wird weiter unten noch zu sprechen sein. Die Unterschiede weisen auf einen Befund hin,
den andere Autoren auf morphologischem Gebiet bezüglich der oft auffälligen Färbung der Männchen von Schmetterlingen oder Vögeln gegenüber den «Tarntrachten»
der Weibchen festgestellt haben. Die umgebungsbedingte Dauer der Verhaltensaktivitäten der Männchen ist ein Hinweis dafür, dass sie Standortqualitäten stärker
zur Erscheinung bringen als die Weibchen, welche sie verinnerlichen und ganz in
den Dienst der Fortpflanzung stellen (Suchantke 1965). Beim Schachbrett zeigen
sich diese Unterschiede nicht in der Tracht, die bei beiden Geschlechtern ähnlich
ausfällt, sondern im dynamischen Umgang mit den Qualitäten des Lebensraumes.
Auffällig ist auch die geringere Dauer der Interaktionen von Männchen gegenüber
jenen der Weibchen. Der Unterschied in Oltingue fällt wiederum am ausgeprägtesten
aus. Angesichts der Paarungsstrategie – Männchen suchen aktiv Weibchen auf – würde man umgekehrte Verhältnisse erwarten (siehe unten). Und weshalb in der relativ
individuenarmen Biozönose in 12 Jucharten die Interaktionen, ganz besonders bei
den Weibchen, prozentual länger ausfallen als in Oltingue, ist nicht unmittelbar
einleuchtend. Ein Blick auf die Häufigkeiten der Verhaltensweisen hilft weiter.
Die Häufigkeiten des Fluges
Die Ermittlung der prozentualen Dauer von Aktivitäten ergibt ein relativ statisches
Bild des Verhaltens der Schmetterlinge. Wie in der direkten Feldbeobachtung einzelne Ereignisse in der Abfolge mit anderen auffallen, so kann mit der Frequenz
oder Häufigkeit der Verhaltensaktivitäten Sequenz und Dynamik derselben ermittelt werden.
In den Abbildungen 5a und 5b sind die Häufigkeiten von Flug, Blütenbesuch,
Interaktionen und Turns dargestellt. Die Anzahl der Flugbewegungen von Männchen
und Weibchen unterscheidet sich nur wenig. Bezogen auf die durchschnittliche Flugdauer heißt das, dass die Flüge der Männchen 2.5 bis 4 Mal länger dauern als bei den
Weibchen. Bei Letzteren stehen die meisten Flüge im Dienste der Nahrungssuche
und -aufnahme; beim Blütenwechsel sind die Distanzen oft weniger als ein Meter
kurz und dauern nur Sekundenbruchteile (siehe auch Kuster/Wirz 2002). Solche Flüge gibt es bei den Männchen zwar auch, die Mehrzahl geht jedoch auf das Konto von
Patrouillierflügen und die Suche nach Weibchen. Für beide Geschlechter gilt, dass
die Häufigkeiten in 12 Jucharten am geringsten, in Oltingue am höchsten sind.
37
Blütenbesuche
In 12 Jucharten und auf der LatschFlockenblume
Knautie
andere
getweid stehen die Blütenbesuche in
Weibchen
12 Jucharten
59 [63]
20 [23]
21 [14]
einem direkten Verhältnis zur HäufigLatschgetweid
12 [-]
79 [100]
9 [-]
keit der Hauptnektarpflanzen. Beide
Oltingue
70 [70]
27 [26]
3 [4]
Geschlechter fliegen in 12 Jucharten
Männchen
bevorzugt Wiesenflockenblumen
12 Jucharten
90 [100]
2 [-]
8 [-]
(Centaurea jacea) (Abb. 5a und 5b,
Latschgetweid
8 [5]
78 [95]
13 [-]
Tab. 2) an, die 7 Mal häufiger vorOltingue
49 [64]
49 [35]
2 [1]
kommen als Knautien. Die Weibchen
besuchen jedoch in 40 Prozent aller Tab. 2: Prozentuale Häufigkeiten und Dauer [ ] der
Blütenbesuche
Fälle auch Blüten anderer Arten. Außerdem zeigt sich bei den Weibchen
eine gute Korrelation zwischen Häufigkeit und Dauer des Blütenbesuchs, Männchen
saugen dagegen ausschließlich auf der bevorzugten Flockenblume. Auf der Latschgetweid wird die Witwenblume (Knautia arvensis) bevorzugt, die ca. 25 Mal verbreiteter ist als die Flockenblume. Obwohl auch andere Blüten als Knautien aufgesucht
werden, spielen sie als Nektarquellen praktisch keine Rolle, wie die Dauer der Besuche mit 95 bis 100 Prozent auf den Witwenblumen zeigt.
In Oltingue sind die Verhältnisse komplizierter. Hier zeigen die Weibchen eine 2.5
Mal höhere Präferenz für die Wiesenflockenblume, die 4 Mal seltener ist als die
Knautie! Offensichtlich ist die Häufigkeit der Blüten kein entscheidendes Kriterium.
Die Dauer des Blütenbesuchs korreliert mit der Häufigkeit, d.h. dass die angeflogenen Blüten in der Regel auch als Nektarquelle genutzt werden. Anders steht es bei
den Männchen, die beide Blütentypen mit gleicher Häufigkeit anfliegen. Die Verweildauer auf den Wiesenflockenblumen ist aber knapp doppelt so lang wie auf den
Witwenblumen (siehe auch Kuster/Wirz 2002). Man muss annehmen, dass die beiden
Blüten von den Männchen in diesem Untersuchungsgebiet visuell nicht unterschieden werden. Spielen Nektarmenge und -qualität eine selektierende Rolle für die unterschiedlich lange Verweildauer? Es wäre interessant zu untersuchen, ob die Präferenz
für die Wiesenflockenblume in Oltingue eine Eigenschaft der dortigen Schachbrettpopulation und damit eventuell eine Adaptation an den Standort darstellt oder ob die
Vorliebe umgekehrt Folge der hohen Attraktivität der Witwenblumen für andere Insekten ist, die diese Nektarquelle erfolgreich besetzen und verteidigen.
Interaktionen
Die Dauer der Interaktionen mit weniger als fünf Prozent der Gesamtbeobachtungszeit ist bei beiden Geschlechtern auf allen drei Arealen gering. Die Häufigkeiten
sprechen jedoch eine andere Sprache (Abb. 5a und 5b). Bei beiden Geschlechtern
sind sie in derselben Größenordnung wie die Frequenz der Blütenbesuche! Dass Begegnungen von Männchen und Weibchen mit anderen Insekten – Schmetterlingen,
Bienen, Hummeln – auf der Latschgetweid und besonders in Oltingue häufiger sind
(siehe Tab. 3) als in 12 Jucharten, ist direkter Ausdruck der Artenvielfalt und der
großen Zahl an blütenbesuchenden Insekten auf den beiden Standorten. Mehrheit38
lich werden dabei saugende Falter auf Blüten durch neu ankommende Tiere gestört.
Hingegen mag auf den ersten Blick überraschen, dass in allen drei Gebieten die
Weibchen viel häufiger auf Männchen treffen als umgekehrt (Abb. 5a und 5b, Tab. 3).
In 12 Jucharten und auf der Latschgetweid werden Weibchen in zwei Drittel oder
mehr aller Fälle von Männchen angeflogen, d.h. sie machen die Mehrzahl
mit M.
mit W. mit anderen
aller Interaktionen aus. Umgekehrt trefWeibchen
fen Männchen auf ihrer Partnersuche
12 Jucharten
67
30
3
nur in weniger als zehn Prozent aller
Latschgetweid
73
6
21
Oltingue
54
1
45
Fälle auf Weibchen ihrer Art (Tab. 3).
Männchen
Komplexer präsentiert sich die Situa12 Jucharten
89
8
3
tion in Oltingue, wo die Interaktionen
Latschgetweid
64
8
28
zwischen den beiden Geschlechtern viel
Oltingue
16
42
42
niedriger sind als in den beiden anderen Biotopen (Abb. 5a und 5b) und wo Tab. 3: Die prozentuale Verteilung der Häufigkeiten von
gleichzeitig die Häufigkeit, dem jeweils
Interaktionen; mit M.: mit Männchen; mit W.: mit
entgegengesetzten Geschlechtspartner
Weibchen; mit anderen: mit Schmetterlingen,
Hummeln und Bienen
zu begegnen, sehr ähnlich ist (10 Prozent Unterschied).
Wie lässt sich verstehen, dass Tiere, welche Begegnungen mit dem anderen
Geschlechtspartner zu vermeiden versuchen, öfters mit ihm in Kontakt kommen
als jene, die solche Begegnungen geradezu suchen, und weshalb gibt es Areale wie
Oltingue, wo die Falter am häufigsten Tieren des anderen Geschlechtes begegnen?
Wir vermuten, dass die Unterschiede mit verschiedenen Paarungsstrategien in
Zusammenhang stehen. In 12 Jucharten und auf der Latschgetweid, wo ein und
derselbe Lebensraum alle Bedürfnisse der Schmetterlinge befriedigt, reagieren
Männchen auf die meisten vorbeifliegenden «Objekte», darunter auch alle umherfliegenden Geschlechtsgenossen. In Oltingue, wo Eiablage, Larvalhabitat und entsprechend auch der Lebensraum der frisch geschlüpften Weibchen sich vom Ort
der Nahrungsaufnahme unterscheiden, suchen die Männchen gezielter nach
Geschlechtspartnerinnen. Ebenso wie die hohe Gesamtflugdauer der Männchen in
Oltingue die räumliche Differenzierung der Lebensräume widerspiegelt (siehe Abb.
3b), kann dieselbe Differenzierung Anlass bieten, die Paarungsstrategien zu optimieren. Ein Vergleich der Verhaltensaktivitäten an anderen Standorten könnte den
Effekt solcher Biotop-Differenzierungen eventuell weiter erhärten.
Aus der Verteilung der Häufigkeiten der Interaktionen kann noch eine andere
«Anomalie» herausgelesen werden. In 12 Jucharten sind Begegnungen von Tieren
gleichen Geschlechts sowohl bei Männchen als auch bei Weibchen unvergleichlich
häufiger als auf den anderen beiden Standorten (Tab. 3). Ein Blick auf die Rohdaten
der ETB (nicht gezeigt) bringt Klärung. Die Quotienten der Anzahl der Interaktionen während des Fluges und jene, die auf Blüten stattfinden, ergeben in 12 Jucharten
den Wert 0.16, auf der Latschgetweid 1.85 und in Oltingue 1.84. Am Reliktstandort sind Begegnungen von Schmetterlingen auf der Blüte also ca. 11 Mal häufiger
als in den beiden anderen Arealen. Die Mehrheit der Interaktionen in 12 Jucharten
39
sind demnach nicht Folge einer Suche nach Geschlechtspartnern, sondern Ergebnis
einer Konkurrenz um knappe Nahrungsressourcen. Interaktionen auf Blüten dienen als Indikator für Qualität und Quantität des Nektarangebotes in einem Biotop.
Die Turns
An Biotopgrenzen zeigen die Schmetterlinge unterschiedliche Verhaltensweisen. An
harten Grenzen wie Waldrändern, aber auch breiten Straßen und je nach Kultur
z.T. Äckern kehren Schmetterlinge in weiteren oder engeren U-Bögen ins Habitat
zurück (Schtickzelle/Baguette 2003). Weiche Grenzen bestehen bei Übergängen im
Grünland, z.B. Fettwiesen, Brachen, aber auch schmalen Feldwegen. Die Ausdrücke hart und weich dürfen nicht als unveränderlich aufgefasst werden. Je nach Art
kann eine harte zu einer weichen Grenze werden oder umgekehrt (Ries/Debinski
2003). So kann es durchaus vorkommen, dass ein Schachbrettfalter den Waldrand
als Fortsetzung der Wiesenvegetation in vertikaler Richtung befliegt oder dass ein
Tier am Übergang zu einer Fettwiese so rasch ins Biotop zurückkehrt, als wäre es
an eine unsichtbare Mauer geprallt.
Die Qualität von Grenzen ist in zweierlei Hinsicht bedeutsam. Es sind die Linien, an denen Einwanderung oder Auswanderung stattfinden kann, d.h. entweder
die Erhöhung der genetischen Vielfalt einer Population befördert oder die Existenz
kleiner Populationen gefährdet wird.
In unseren Protokollen ist die Dauer der Turns in der Rubrik Flug aufgegangen.
Ihre Häufigkeiten haben wir jedoch separat festgehalten (Abb. 5a und 5b). In 12
Jucharten konnten wir mehrmals beobachten, dass Falter, die sich über den angrenzenden Acker bewegten, plötzlich mit raschem geradlinigem Flug den Beobachtungshorizont verließen. Meistens waren es Männchen, in seltenen Fällen auch Weibchen. Obwohl wir in Wiesen, Feldrainen, Säumen und Hecken der näheren und
weiteren Umgebung nach Faltern gesucht haben, konnten wir nie welche finden.
In den allermeisten Fällen kehrten die Falter nach einiger Zeit in das Biotop
zurück. Auf der Latschgetweid waren Turns eher selten. Da unser Beobachtungspunkt ziemlich im Zentrum der Weide lag, waren die Distanzen zum Wald offensichtlich zu weit. Oltingue zeigte eine ähnliche Häufigkeit von Turns wie 12
Jucharten. Anders als bei der Reliktpopulation, wo es nur Auswanderung gibt, weil
im Umfeld von mehreren 100 Metern keine Schachbrettfalter fliegen, gehören Einund Auswanderung eindeutig zur Qualität des kleinräumigen Landschaftsmosaiks
in Oltingue.
In 12 Jucharten und Oltingue war ein beträchtlicher Teil der Aktivitäten der
Männchen, nämlich 15 Prozent, mit Verhaltensweisen an Biotopgrenzen verbunden. Bei den Weibchen (Abb. 5a) waren es in allen drei Untersuchungsgebieten
weniger als 5 Prozent; kurze Flugstrecken und -zeiten garantieren den Verbleib der
Weibchen im Biotop.
In der Diskussion über Biotopgrenzen nimmt die Frage nach der Art des Fluges
eine große Bedeutung ein. Folgt er dem Modell einer Zufallsbewegung, so steigen
Ein- und Auswanderung mit zunehmender Länge der Arealgrenzen. Die Flächengröße des Areals beeinflusst die beiden Ereignisse umgekehrt proportional. Das Zu40
fallsmodell ist doppeldeutig. Es deckt sich zwar einerseits mit der Beobachtung und
dem Erlebnis des Flatterfluges, mit welchem Schmetterlinge über ihren Lebensräumen gaukeln und in dem wir meist keine eindeutige Richtung ausmachen können. Es
steht jedoch im Widerspruch zur Empfindung, dass die Aktivitäten der Schmetterlinge, wie die aller anderen Tiere übrigens auch, intentional, d.h. gerichtet sind und von
inneren Faktoren wie Triebstimmung u.ä. ebenso wie von äußeren Reizen abhängen.
Ermittelt man den Wert von Turns pro Zeiteinheit und «Geometriefaktor G des
Areals» (Länge der Grenzen/Fläche des Areals), so ergeben sich folgende Zahlen:
12 Jucharten 0.0043 turns/h/G; Latschgetweid 0.0042 turns/h/G und Oltingue
0.0065 turns/h/G. In den Gebieten, die den Ansprüchen aller Entwicklungsstadien
ebenso genügen wie allen Verhaltensweisen der ausgewachsenen Schachbrettfalter,
sind die ermittelten Werte trotz unterschiedlichster Größe und Ausstattung der
Areale praktisch identisch. Sie bestätigen das Modell der Zufallsbewegung. In
Oltingue, wo die Suche nach Weibchen und die Eiablage in anderen Arealen stattfinden als die Nahrungsaufnahme, ist der Wert um ca. 50 Prozent erhöht. Es finden
also mehr Bewegungen an und über Biotopgrenzen statt, als man bei Zufallsbewegung
erwarten würde! In Abhängigkeit der Biotopqualitäten zeigt eine Population sowohl zufällige als auch gerichtete Bewegungen. Wenn die Zahl der Interaktionen
auf Blüten prognostischen Wert hat für die Verfügbarkeit und Qualität von geeigneten Nektarquellen, so erlaubt der Wert von Turns/Zeit/Geometriefaktor Aussagen über die Qualität der Vernetzung oder des «patch context» eines Standortes.
Diskussion
Die vorliegenden Untersuchungen mit ETB am Schachbrettfalter zeigen, wie die
Biologie dieser Art, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern und die Nutzung
und Qualität der verschiedenen Lebensräume miteinander verknüpft sind.
Wie bei vielen anderen Insekten steht das Verhalten der Weibchen ganz im Dienste
der Fortpflanzung. Einer geringen Flugdauer stehen lange Blütenbesuche gegenüber. Bei den Männchen sind die Verhältnisse umgekehrt – lange Flüge und kurze
Blütenbesuche. Die Häufigkeiten der Flugbewegungen sind jedoch artspezifisch und
bei beiden Geschlechtern in den jeweiligen Habitaten annähernd gleich. Sowohl
Dauer als auch Häufigkeit der Flugbewegungen zeigen jedoch auch eine lebensraumabhängige Komponente. Sie sind im Reliktstandort am geringsten, in der reich strukturierten Mosaiklandschaft in Oltingue am höchsten. Die Latschgetweid nimmt
eine mittlere Stellung ein. Es macht den Anschein, als würde die geringe Größe
eines Habitats die Mobilität negativ beeinflussen – ähnlich wie die Käfighaltung
von Wildtieren im Zoo – , während gegliederte Lebensräume die Mobilität erhöhen.
Die Schmetterlingspopulationen zeigen in den drei Untersuchungsgebieten unterschiedliche Präferenzen für die Hauptnektarpflanze. In 12 Jucharten und auf der
Latschgetweid sind die bevorzugten Nahrungspflanzen auch die häufiger vorkommenden. In Oltingue trifft diese Übereinstimmung nicht zu. Obwohl hier die Feldwitwenblumen 4 Mal häufiger auftreten als Wiesenflockenblumen, werden Letztere
bevorzugt. In allen Fällen zeigen sich ausgeprägte geschlechtsspezifische Präferenzen.
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Das eine Mal sind es die Männchen, die eine eindeutigere Selektion treffen, ein
anderes Mal die Weibchen. Dauer und Häufigkeit des Blütenbesuchs können, müssen sich aber nicht entsprechen. Eine Diskrepanz zwischen visuellen und stofflichen
Reizen der Nektarpflanzen kann vermutet werden. Unsere Beobachtungen legen nahe,
bei Blütenpräferenzen auch nach intrinsischen Faktoren zu suchen, die vielleicht sogar erblich festgelegt sind. Es wäre reizvoll, die Blütenpräferenz der Tiere in den
verschiedenen Untersuchungsgebieten unter identischen Bedingungen zu vergleichen,
um eine mögliche Adaptation nachzuweisen. In Projekten zur Wiederansiedlung dieser Schmetterlingsart müsste dem Phänomen der unterschiedlichen Präferenz Beachtung geschenkt werden; eventuell könnten Populationen des Schachbrettfalters durch
gezielte Einsaaten oder Anpflanzungen aufgewertet werden.
Aus den Beobachtungen wird deutlich, dass zwischen dem Blütenreichtum der
Hauptnektarpflanzen und der Größe einer Schmetterlingspopulation kein direkter
Zusammenhang besteht. Bezogen auf eine mittlere Dichte fliegen in Oltingue weniger Schachbrettfalter als in 12 Jucharten, obwohl die Wiesenflockenblume dort 10
Mal häufiger, die Feldwitwenblume sogar 300 Mal häufiger vorkommt.
Die Häufigkeit der Interaktionen kann zwei verschiedene Gründe haben: Entweder sind sie Ausdruck einer vielfältigen Fluggemeinschaft an Schmetterlingen
und anderen Insekten eines Biotops oder sie sind (auch) Folge eines beschränkten
Angebotes an geeigneten Nektarpflanzen. Unsere Untersuchungen zeigen, dass Interaktionen im Flug für Vielfalt, Interaktion auf der Blüte für ein limitierendes
Angebot sprechen. Trotz der oben angeführten Bemerkung könnte in 12 Jucharten
aus unserer Sicht das Reliktbiotop mit der Ansiedlung weiterer Wiesenflockenblumen für den Schachbrettfalter aufgewertet werden.
Schließlich hat die Auswertung der Turns den Zusammenhang zwischen Größe
und Geometrie von Arealen eindrücklich bestätigt. Unsere Ergebnisse weisen darauf hin, dass eine Analyse der Häufigkeiten von Verhaltensweisen an Habitatgrenzen
die Qualität der Vernetzung von Lebensräumen oder zumindest von Arealen, die
Teilansprüche der Falter erfüllen, abschätzen hilft.
Aus der Sicht auf den Schachbrettfalter ergeben sich eine Reihe von Kriterien,
die zu seiner Pflege und seinem Schutz berücksichtigt werden sollten. Selbstredend
werden dadurch auch die Lebensbedingungen anderer Schmetterlingsarten und
Insekten aufgewertet. Zu ihnen gehören: Verhinderung von Düngereintrag, um die
Lückigkeit der Vegetationsstruktur zu gewährleisten, z.B. mit der Einrichtung von
Säumen entlang von Äckern als Pufferzone. Die Entwicklung ausreichender Bestände der wichtigsten Hauptnektarpflanzen Wiesenflockenblume und Knautie. Eine
späte Mahd ab Mitte Juli, im genutzten Grünland mindestens auf zehn Prozent der
Fläche (gestaffelte Mahd), um Eiablage und frühe larvale Entwicklung zu gewährleisten. Bei kleinen Biotopen drängen sich die Abklärung einer Vergrößerung der
Habitate sowie Vorkehrungen zur Vernetzung mit ergänzenden Arealen, Säume
und Brachen für Eiablage und die larvale Entwicklung und/oder blütenreiche Wiesenbestände für die Nektarversorgung in unmittelbarer Nachbarschaft auf.
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Fazit
Nach einem mühseligen Weg durch stundenlanges Verfolgen einzelner Schmetterlinge, akribischer Transkription von Tonaufnahmen und einer Analyse der verschiedenen Verhaltensaktivitäten stehen wir wieder im Feld. Was haben wir durch die
Reduktion auf Zahlenverhältnisse und Zeitbeziehungen gewonnen? Der Schachbrettfalter hat unsere Aufmerksamkeit in gedanklichen Zusammenhängen – man wäre
sogar geneigt von abstrakten Zusammenhängen zu sprechen – gefesselt. In ihnen
spricht die Schmetterlingsart nicht mehr durch seelische Erlebnisfülle, sondern durch
Gedanken-Licht. Nicht anders als in der direkten Beobachtung haben wir uns vom
Schmetterling zu seinen «Mitgenossen» und von dort wieder in den Standort hineinbewegt. Wie in der Beobachtung erfahren wir auch in den Zahlenbergen, dass
der Schmetterling von sich, von seinem Umfeld und von seinem Lebensraum spricht.
Wir bemerken, dass die eingehende Beschäftigung mit Dauer und Häufigkeiten von
Verhaltensweisen unsere Zuwendung zu den Faltern nicht geschwächt, sondern im
Gegenteil verstärkt hat. Wir erleben die Schmetterlinge nicht nur, wir beginnen sie
zu verstehen.
Wir danken Ruth Richter, Andreas Bosshard und Andreas Suchantke herzlich
für wertvolle Hinweise, Korrekturen und Verbesserungsvorschläge.
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Johannes Wirz
Forschungsinstitut am Goetheanum
Postfach
CH-4143 Dornach 1
[email protected]
Daniel Kuster
Gärtnerei am Goetheanum
Postfach
CH-4143 Dornach 1
[email protected]
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