SALZBURGER FESTSPIELE 2011 Roland Schimmelpfennig Die vier Himmelsrichtungen Die Festspielsaison im Landestheater beginnt mit einer Uraufführung des neuen Stückes von Roland Schimmelpfennig in seiner eigenen Regie. Die vier Himmelsrichtungen erzählt die Geschichte von vier Menschen, die in einer Großstadt aus allen Himmelsrichtungen aufeinandertreffen, wobei sich die schicksalhaften Verbindungen ihrer Lebensläufe und ihrer tödlichen Verwicklungen durch raffinierte Perspektivwechsel und Rückblenden erst ganz zum Schluss offenbaren. Die Aufführung bringt nicht nur das Festspieldebüt des zur Zeit meistgespielten deutschen Gegenwartsdramatikers, Roland Schimmelpfennig, als Bühnenautor und Regisseur – erstmals ist auch der gefeierte Schauspieler Ulrich Matthes in Salzburg zu erleben; an seiner Seite Kathleen Morgeneyer, Almut Zilcher und Sven Lehmann. Ulrich Matthes ist ein durch und durch bezwingender Schauspieler – „einer unserer Besten“, wie die FAZ konstatierte. Seit 2004 festes Ensemblemitglied am Deutschen Theater in Berlin, reüssierte er dort etwa unter Jürgen Gosch in Wer hat Angst vor Virginia Woolf? oder als Onkel Wanja. Zuletzt war er 2010 in Schimmelpfennigs Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes in der Regie von Martin Kusˇej zu sehen. Bekannt ist Matthes aber auch aus Film und Fernsehen: Er spielte beispielsweise in Christian Schwochows Novemberkind, in Volker Schlöndorffs Der neunte Tag oder Oliver Hirschbiegels Der Untergang. Und er wurde mit zahlreichen Preisen bedacht: „Schauspieler des Jahres“ wurde er gleich mehrfach. Man achtet (fast) immer auf ihn. Es können die schönsten Frauen, die wildesten Jungs auf der Bühne stehen. Kaum hat man sie wahrgenommen, schaut man wieder, was Matthes macht. Der Schauspieler Ulrich Matthes hat dieses Unbeschreibliche, das auch Männer, die mit den Blicken bevorzugt den Frauen nachjagen, dazu bewegt, die Augen auf ihn zu richten, sobald er die Bühne betritt. Dieses Verdichtete, Konzentrierte, im Ausschreiten Kluge, Beherrschte, vielleicht auch Berechnete, das nie bloß Manier, nie bloß ein leeres Versprechen, sondern immer auch ein Lauern auf den Moment ist, in dem er Verborgenes loslassen kann: die Lust an der Auflösung. Hingabe. Die Lust, sich in Zustände fallen zu lassen, die jenseits des Spektrums gewohnter Gemütslagen warten. Wenn man in einer Aufführung einen seiner Partner bewundert, der es weit treibt beim Spielen, wird man am Ende der Szene einen Matthes erlebt haben, der noch weiter ging beim Eintauchen in menschliche Schwächen und Abgründe und dabei immer wieder den Schauspieler vorkehrt, der uns alles, was er spielt, nur vormacht, um uns ein Abbild vom Wesen des Menschen zu zeigen. Er hat die inneren Welten des Menschlichen so weit ausgeschritten, dass er sich beim Spielen nicht ins blinde Umhertasten stürzen muss, um die Leute zu bannen, sondern zurückkehren kann ins Vertraute, wie es dem zum Wiederholen verdammten Schauspieler auferlegt ist. Dieses Vertraute lässt er beim Spiel mit den Partnern wie nie geschaut aufleuchten, indem er ihnen in jeder Szene den Kampf anträgt, der nur einen Sieger kennt. Es ist selten ein andrer als er. Wie macht er das? Was ist sein Geheimnis? Man ahnt es, wenn man sich anhört, wie er über Theater redet. Wenn man erlebt, wie er sich von keiner der Verirrungen des Metiers, an denen andre verzweifeln, davon abbringen lässt, den Glauben an die Botschaft des spielenden Menschen wie eine Religion hochzuhalten. Selbst in den Manifestationen des Schwachsinns, die wir oft auf der Bühne verkörpert sehen, kann er den glitzernden Funken des Andren erkennen, der uns daran erinnert, dass ein Schauspieler mehr zu erzählen hat als das, was die Regie ihm an Maske, Verstellung und Handicap aufzwingt. Den offenen, neugierigen, alles Verzerrte durchdringenden Blick, den er dem Theater als Zuschauer entgegenbringt, wendet der Kluge und Listige auch beim Spielen an. Man kann diesen Schauspieler nicht dazu verführen, den Glauben an das zu verraten, was für ihn das Unverzichtbare ist: die Würde, die Schönheit, die Klugheit, die zu hoher Form veredelte Handwerkskunst, die zur gemeinsten Entblößung bereite Wahrheitsliebe des Menschen. Da sich der Sinn des Festspiels darin erfüllt, das Besondere zu zeigen, war es nur eine Frage der Zeit, wann Ulrich Matthes auf einer Salzburger Bühne erscheint. Michael Eberth