Vorlesung „Grundlagen der Entwicklungspsychologie“ Exkurs: Allgemeines Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft Universität Graz HörerInnenzahlen im WS 2012/13: 1901 Studierende im Bachelorstudium Pädagogik 18 Studierende im Diplomstudium Pädagogik 591 Studierende in den Masterstudien 118 Studierende im Doktoratsstudium, Fach Pädagogik 2628 Studierende insgesamt (ohne Lehramtsstudierende) Betreuungsrelationen (bei derzeitigem Personalstand): 5 UniversitätsprofessorInnen (Egger, Gasteiger, Heimgartner, Hopfner, Wustmann,) 1: 526 3 ao. UniversitätsprofessorInnen (Mikula, Rossmann, Sprung) 2 Lecturer (Friehs, Sorgo) Zusammen 10 habilitierte UniversitätslehrerInnen 1 : 263 Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft: erziehungs-bildungswissenschaft.uni-graz.at/ Uni Graz: http://www.uni-graz.at UNIGRAZonline: https://online.uni-graz.at PRÜFUNGSSTOFF: Rossmann, P. (2012). Einführung in die Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters (2., überarb. Aufl.). Bern: Huber. freie uni für alle page 1 Kapitel 1: Zweck und Gegenstand der Entwicklungspsychologie Die wissenschaftliche Psychologie bezweckt die Beschreibung, Erklärung, Vorhersage und Beeinflussung menschlichen Verhaltens und Erlebens. Entwicklungspsychologie ist ein Teilgebiet dieser Wissenschaft und beschäftigt sich mit Verhalten und Erleben unter dem Aspekt ihrer Veränderung über die Zeit. Ziele entwicklungspsychologischer Forschung: • Orientierung über den menschlichen Lebenslauf • Beschreibung der typischen Entwicklung und der typischen Probleme in bestimmten Lebensabschnitten • Erstellung von Entwicklungsnormen • Kennenlernen der Auswirkungen verschiedener Entwicklungsbedingungen • Vorhersage ihrer Wirkungen • Erkennen atypischer Entwicklungsverläufe • Planung, Durchführung und Evaluation von Interventionen Die psychische Entwicklung ist eng verknüpft mit der körperlichen Reife und gesellschaftlichen Bedingungen. Entwicklungsprozesse Sämtliche ontogenetischen Veränderungen, die relativ langfristig sind, eine irgendwie geartete Ordnung und einen inneren Zusammenhang aufweisen und mit dem Lebensalter in einer mehr oder weniger engen Beziehung stehen. (Trautner, 1992) [Ontogenese: Entwicklung eines einzelnen Lebewesens Phylogenese: stammesgeschichtliche Entwicklung einer ganzen biologischen Art] Aspekte von Entwicklungsprozessen: • Wachstum: Quantitative Aspekte des Entwicklungsgeschehens (in der Biologie: Volumenszunahme), zB des Wortschatzes • Reifung: Entfaltung von genetisch festgelegten Strukturen und Funktionen, zB Geschlechtsreifung • Differenzierung: Prozesse der fortschreitenden Verfeinerung, Spezialisierung und Strukturierung von Funktionen und Verhaltensweisen, zB Differenzierung von Emotionen im Säuglingsalter • Lernen: Verhaltensänderungen oder Änderungen im Verhaltenspotenzial aufgrund von Erfahrung, Übung oder Beobachtung, aber nicht aufgrund von Ermüdung oder Verletzung • Prägung: Irreversible Spezialisierung eines Auslöseschemas für Instinkthandlungen innerhalb einer "kritischen Phase" (sensiblen Periode), besondere Bereitschaft für bestimmte Lernerfahrungen, die zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr nachgeholt werden können, zB Sprachentwicklung • Sozialisation: Einfluss soziokultureller Faktoren auf die Entwicklung im Sinne des Hineinwachsens in eine Gesellschaft. [Ethologie: vergleichende Verhaltensforschung Ethnologie: kulturvergleichende Völkerkunde] freie uni für alle page 2 Kapitel 2: Historische Anfänge der Entwicklungspsychologie Entwicklungspsychologie als empirische Wissenschaft Empirische Wissenschaft (Erfahrungswissenschaft): Erkenntnisgewinn orientiert sich an den folgenden Prinzipien: Wiederholbarkeit, Überprüfbarkeit, Intersubjektivität. Wissenschaftstheorie: Wissenschaft von der wissenschaftlichen Erkenntnis, (Metatheorie) untersucht Begriffe, Voraussetzungen und Methoden der Wissenschaft(en) [Formalwissenschaften: Aussagen sind logisch wahr oder falsch Empirische Wissenschaften: Aussagen sind faktisch wahr oder falsch] Rationalismus (17. Jh.): Verstand und Vernunft Erkenntnis beruht im Wesentlichen auf der Vernunft, nicht auf der Erfahrung. Es gibt ewige Grundwahrheiten, die allein mit Hilfe der Vernunft mit Gewissheit erkannt werden können. Von diesen Grundwahrheiten kann die gesetzmäßige Ordnung der Welt widerspruchsfrei abgeleitet und daher ebenfalls durch die Vernunft erkannt werden. Dies ist möglich, weil der menschlichen Vernunft bereits die obersten Wahrheiten, Ideen und Begriffe angeboren sind, zB die Vorstellung eines Gottes oder die Gesetze der Mathematik. Erkenntnis ist daher ein Wiedererkennen der in der Seele schlummernden Vorstellungen. (Vertreter: René Descartes, Benedikt Spinoza, Gottfried W. von Leibniz) bekannter Satz von Descartes: Cogito, ergo sum. Empirismus (17. Jh.): Erfahrung und die auf der Erfahrung beruhende Erkenntnis Erkenntnis kann nur aus der empirischen Erfahrung gewonnen werden. Eine absolute Gültigkeit von Gesetzen, Werten und Normen wird abgelehnt, ebenso alles An- und Eingeborensein bestimmter Ideen, Grundsätze usw. im Menschen. (Vertreter: John Locke, David Hume, John Stuart Mill, Francis Bacon) bekannte Sätze von John Locke: Nihil est in intellectu quid non prius fuerit in sensu. (Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war). Der menschliche Verstand ist bei der Geburt eine „tabula rasa“. Millieupessimistischer Ansatz nach Rousseau (18. Jh.): Die menschliche Entwicklung ist von der Natur weitgehend vorgegeben. Pädagogisches Handeln behindert die Entfaltung der guten Anlagen. Erziehung sollte sich daher darauf beschränken, dem jeweiligen Reifestand angemessene Lernangebote zu machen. Jeder Versuch der autoritären Durchsetzung von Erziehungszielen schadet der Entfaltung der guten Anlagen des Menschen. Darwin (19. Jh.): Anpassung an den Lebensraum durch Variation und natürliche Selektion. Die Entwicklung des Individuums (Ontogenese) wiederholt die Entwicklung der ganzen Art (Phylogenese). Darwins Erkenntnis führt zur Entstehung der erfahrungswissenschaftlich orientierten Entwicklungspsychologie, die sich nun kinderpsychologischen Fragestellungen, der Tierpsychologie und völkerpsychologischen Studien zuwendet, um Ablauf und Gesetzesmäßigkeiten der Phylogenese zu erforschen. weitere Einflüsse: Logischer Empirismus, Neopositivismus (20. Jh.): Es ist Aufgabe der Philosophie, eine "wissenschaftliche Weltanschauung" zu entwerfen. Gültig ist dabei nur das positiv Erfahrbare und logisch Überprüfbare ("Wiener Kreis": Rudolf Carnap, Moritz von Schlick, Otto Neurath u.a.). Empiristisches Sinnkriterium: Es wird nur solchen Aussagen ein legitimer Anspruch auf Erkenntnis zugestanden, die im Prinzip von jedermann überprüfbar sind, vorausgesetzt er/sie ist hinreichend intelligent und verfügt über die erforderliche Ausrüstung und Ausbildung. Alles andere ist metaphysisch und empirisch sinnlos. Kritischer Rationalismus (Popper): Eine Theorie kann aufgrund empirischer Überprüfungen niemals eindeutig und endgültig als wahr oder falsch bezeichnet werden. Die "Wahrheit" ist mittels empirischer Untersuchungen nur approximierbar (Bewährung einer Theorie). Babybiographien wurden verfasst von Dietrich Tiedemann (18. Jh.), Wilhelm Preyer, Millicent Shinn (19. Jh.) sowie Clara und William Stern (Anfang 20. Jh.). Die Etablierung als eigenständige Wissenschaft erfolgt zu Beginn des 20. Jh.. Heutzutage scheinen einheitliche Theorien nicht mehr haltbar, stattdessen geht es nun um Theorien mittlerer und kürzerer Reichweite. Stanley Hall als amerikanischer Begründer der Entwicklungspsychologie entwickelte Fragebogenverfahren zur Beurteilung von Kindern und schrieb ein monumentales Werk über das Jugendalter. freie uni für alle page 3 Kapitel 3: Methoden der Entwicklungspsychologie Theorien sind wissenschaftliche Aussagen und dienen zur ordnenden Beschreibung und Erklärung von Phänomenen. Hypothesen sind (theoretisch) begründete Annahmen über einen Sachverhalt in der Realität. Zur Hypothesenprüfung: Theorie Hypothesen Experiment (Erhebung): Operationalisierung Daten: Beobachtungen, Messwerte [deduktiver Schluss: vom Allgemeinen aufs Besondere induktiver Schluss: vom Besonderen aufs Allgemeine Perzentile: Prozentkurven] Social Learning Theory von Albert Bandura (1973): Aggressives Verhalten wird erlernt: “The specific forms that aggressive behaviour takes, the frequency with which it is displayed, and the specific targets selected for attack are largely determined by social learning factors.” “Bobo doll” experiment (kindliche Aggression durch Einschlagen auf Plastikstehaufmännchen) Unterscheidung der Methoden anhand von drei Aspekten: Art der Datengewinnung: Systematische Beobachtung: exakte Definition der Verhaltenskategorien dient der Vermeidung von Datenverzerrungen durch Beobachtungsfehler; Methoden: repräsentativer Ausschnitt, Zeitstichprobe, Ereignisstichprobe, Blindversuche, Doppelblindversuche Interviews: strukturierte/standardisierte Interviewleitfäden erfassen nicht die tatsächliche soziale Interaktion, sondern die Selbstbeurteilung, daher Problem der Selbstpräsentationstendenzen; empfohlen wird die Kombination mit Fremdbeurteilungen und/oder Beobachtungsdaten Fragebogen und Tests: maximale Standardisierung der Befragungssituation. Der Vergleich mit Normdaten ergibt die relative Position (ausgedrückt in Prozentrangwerten). Selbstpräsentationstendenzen kann begegnet werden durch Fremdbeurteilung: Peer-Nomination-Techniken („guess-who“-Technik) Physiologische Variablen: physikalisch-technische Daten, zB Körpergröße, Blutdruck, .. Kontrolle über Beobachtungssituation: Fallberichte: Die Beobachtung von Einzelfällen führt zur Erstellung von Hypothesen über mögliche Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten. Korrelative Studien, Erhebungen: Überprüfung von Hypothesen, repräsentative Stichproben von Personen, Zusammenhänge zwischen Variablen, Korrelationskoeffizient, keine Information über die Richtung von kausalen Beziehungen. Experimente: Gezielte Variation einer UV, Messung einer AV, Prüfung von Hypothesen über kausale Beziehungen zwischen diesen Variablen (Variation in der UV ist eine der Ursachen für die Variation in der AV), aber ethische Probleme beim Experimentieren. Vorgangsweise bei der Abbildung von Alterseffekten Querschnittstudien: Personen aus verschiedenen Altersstufen zum gleichen Zeitpunkt beobachtet. Ökonomisch, aber keine Information über intraindividuelle Veränderungen, Konfundierung von Alters- und Kohorteneffekten. Längsschnittstudien: Beobachten einer Kohorte über längere Zeit. Sehr zeitaufwendig, Ausfall von ProbandInnen, Probleme mit der Repräsentativität, Konfundierung von Alters- und Kohorteneffekten, prospektiv (UV einige Zeit vor AV erfasst) (retrospektiv: UV soll rückblickend erfasst werden, Gefahr von Datenverzerrungen) Sequenzielle Studien: Gleichzeitig mehrere zeitversetzt parallel laufende Längsschnittstudien, ermöglicht die getrennte Beurteilung von Alters- und Kohorteneffekten, zB Freizeitverhalten bestimmter Altersgruppen. Sehr aufwands- und zeitintensiv. freie uni für alle page 4 Kapitel 4: Der Einfluss von Anlage und Umwelt wurde lange Zeit diskutiert, heute ist davon auszugehen, dass die Wirkungsweisen miteinander verflochten sind. ZB die Sehfähigkeit muss in der kritischen Phase bis zum 7. Lebensjahr ausgebildet und kann später nicht mehr entwickelt werden (Versuche mit Katzen: 3 Monate / Affen: 1 Jahr). Anfänglich sind weit mehr Nervenzellen vorhanden als notwendig, jene, die nicht gebraucht werden, sterben ab. Die mendelschen Regeln beschreiben den Vererbungsvorgang bei Merkmalen, deren Ausprägung von nur einem Gen bestimmt wird. Es sind dies die Uniformitätsregel: Kreuzt man zwei reine Rassen einer Art miteinander, so zeigen die direkten Nachkommen das gleiche Aussehen. die Spaltungsregel: Kreuzt man die Tochtergeneration untereinander, so spaltet sich die Enkelgeneration in einem bestimmten Zahlenverhältnis auf. Dabei treten auch die Merkmale der Elterngeneration wieder auf. und die Unabhängigkeitsregel: Kreuzt man zwei Rassen, die sich in mehreren Merkmalen unterscheiden, so werden die einzelnen Erbanlagen unabhängig voneinander vererbt. Diese Erbanlagen können sich neu kombinieren. Im Kern jeder Körperzelle befinden sich 46 Chromosome in 23 Paaren (22 Autosomen, 1 Gonosom = Geschlechtschromosom). Bei jeder Zellteilung spalten sich zuerst die Chromosomen und erzeugen einen vollständig identischen Chromosomensatz. Nur Samen- und Eizellen enthalten nur einen einfachen Chromosomensatz und werden erst durch die Verschmelzung miteinander vollständig (diploid). Je zwei Chromosome enthalten in identischer Anordnung die gleichen Merkmale, die Gene, die Träger der Erbinformation (menschliche Chromosome enthalten insgesamt etwa 20 – 40.000 Gene). Die meisten Gene einer Spezies sind konstant, bei wenigen können an bestimmten Genorten auch verschiedene Mutanten vorliegen. Diese werden Allele genannt. Sind die Allele an ihrer jeweiligen Position gleich, so spricht man von einem homozygoten (reinerbigen) Merkmal. Sind sie unterschiedlich, so handelt es sich um ein heterozygotes (mischerbiges) Merkmal. Allele können sich dominant, kodominant oder rezessiv verhalten. [Monogenie: ein Gen ist zuständig für die Ausprägung eines Merkmals Polyphänie: ein Gen ist zuständig für die Ausbildung mehrerer Merkmale Polygenie: mehrere Gene sind zuständig für die Ausbildung eines Merkmals] Eine ungünstige Kombination bei der Weitergabe der elterlichen Gene kann zu Anomalien (Erbkrankheiten) führen, zB Lactoseintoleranz oder Bluterkrankheit, ebenso Zwischenfälle bei der Bildung von Ei- oder Samenzelle (Chromosomenaberrationen). Jede fünfte Zygote (befruchtete Eizelle) weist zu viele oder zu wenige Chromosomen auf. Häufige Trisomien: Down-Syndrom (Chromosom 21), Pätau-Syndrom (13), Edwards-Syndrom (18), KatzenschreiSyndrom (5), Wolf-Syndrom (4). Veitstanz (Chorea Huntington) ist eine autosomal-dominant vererbte Krankheit, die um das 40. Lebensjahr auftritt und innerhalb von 15 Jahren zum Tod führt. Polygen vererbte Merkmale (mehrere Gene beteiligt) weisen eine erhöhte Beeinflussbarkeit durch Umwelteinflüsse auf, zB Körpergröße. Zusammenhang zwischen einem bestimmten Genotyp und der Ausprägung psychologisch relevanter Merkmale eines Individuums (Phänotyp): Rattenexperimente bezüglich Intelligenz belegen, dass beide Faktoren Einfluss haben: Tryon zeigt, dass es möglich ist, kluge und dumme Ratten zu züchten; Cooper und Zubek weisen nach, dass die Umweltbedingungen (anregungsreich oder –arm) auch sehr wichtig sind. Studien mit Zwillings- und Adoptivkindern ergaben einen Erblichkeitsindex der Intelligenz von über .50. Erblichkeit von Persönlichkeitsmerkmalen konnte jedoch kaum nachgewiesen werden (erschwert durch die Kontrasteffekte in der Erziehung). Im Fall der Schizophrenie wird eine gewisse Vulnerabilität vererbt. [Konkordanzrate: Wahrscheinlichkeit, dass zwei Personen dieselbe Störung aufweisen] freie uni für alle page 5 Gliederung in Zeitabschnitte: Pränatalperiode (prenatal period) Säuglings- und Kleinkindalter (infancy and toddlerhood) Vorschulalter (preschool period) Schulkindalter (school age) Jugendalter (adolescence) Schwangerschaft 0 - 2½ Jahre 50 cm 2½ - 6 Jahre 90 cm 6 – 12 Jahre 13 – 18 Jahre 3 kg 14 kg Kapitel 5: Die pränatale Entwicklung [pränatal: vor der Geburt perinatal: während der Geburt postnatal: nach der Geburt] Ei- und Samenzelle bringen jeweils einen haploiden Chromosomensatz mit. Die Nidation (Einnistung der Blastozyste in die Gebärmutterschleimhaut) erfolgt ca. 1 Woche nach der Befruchtung und dauert bis zum Ende der zweiten Entwicklungswoche. Durch Furchung und Zellteilung entsteht eine Zellkugel, dann eine dreiblättrige Keimschale. Das Nervensystem entsteht aus dem Ektoderm, dem äußeren Keimblatt. Die Embryonalphase bezeichnet die Zeit von der 3. bis zur 8. Schwangerschaftswoche, in der alle Organanlagen gebildet werden. Nach 3 Monaten (1. Trimenon) sind alle Körperteile und Organe ausgebildet. Im 2. Trimenon kann man Herzschläge hören und Bewegungen (räkeln, strecken, gähnen) spüren. Nach 6 Monaten ist das Kind ca. 30 cm lang und 750 g schwer. Das Gehirn umfasst etwa 100 Milliarden Neuronen. Die Verschaltung entwickelt sich in einem rapiden Wachstumsund Eliminationsprozess, bei dem die nicht benötigten und nicht benutzten Neuronen wieder absterben. Wesentliche Funktionen sind bereits vor der Geburt ausgebildet, die Feinabstimmung erfolgt danach. [Neuronen: langgestreckte Nervenzellen, die elektrische Impulse übertragen Synapse: Kontaktstelle zur nächsten Nervenzelle] Bei der Erregungsübertragung werden Transmittersubstanzen freigesetzt. Afferente (sensorische) Bahnen verlaufen von der Peripherie zum Zentrum. Efferente (motorische) Bahnen verlaufen vom Zentrum zur Peripherie. 3% der Kinder kommen mit angeborenen Missbildungen zur Welt (Spontanrate). Exogene Faktoren • physikalisch: Strahlenbelastung führt zu anormal kleinem Kopf und Gehirn • chemisch: Antikörper (zB Rhesusfaktor: Frau RFnegativ + Mann RFpositiv falls Kind RFpositiv besteht die Gefahr, dass die Mutter Antikörper bildet, v.a. für das nächste Kind), Medikamente (zB Chemotherapie, Epilepsie, Blutverdünnung, Antibiotika, Contergan), Drogen, Gifte • Infektionskrankheiten (Röteln, Masern, Syphilis, Toxoplasmose, HIV). • Stress der Mutter während der Schwangerschaft: oft durch Zugehörigkeit zur Unterschicht und ledigen Familienstand; erhöht die Wahrscheinlichkeit für Früh- und Leichtgeburten. Vielschichtig verflochtene Problematik. mögliche Untersuchungen: Ultraschall, Blut, Fruchtwasser freie uni für alle page 6 Kapitel 6: Die Geburt termingerechte Geburt: 38 Wochen post conceptionem (p.c.) / 40 Wochen post menstruationem (p.m.) Frühgeburt: <37 Wochen p.m. Übertragung: >42 Wochen p.m. 3 Phasen der Geburt: • Eröffnungsperiode: Einsetzen der Wehen, Öffnung des Muttermunds, Aufspringen der Fruchtblase • Austreibungsperiode: Kopf und Körper passieren den Geburtskanal • Nachgeburtsperiode: Ausstoßen der Plazenta, Abnabelung Die Geburt ist die gefährlichste Phase im Leben. Die Verwicklung der Nabelschnur oder die verfrühte Ablösung der Plazenta können Sauerstoffmangel und Hirnblutungen auslösen und sind die häufigste Ursachen für perinatale Schädigungen. Mögliche Folgen: Hirnschäden, zerebrale Lähmungen, geistige Behinderung, Entwicklungsverzögerung. Mögliche postnatale Schädigung: Netzhautschädigung durch zu hohe Sauerstoffzufuhr bei künstlicher Beatmung Kindersterblichkeit: Säuglingssterblichkeit: Sterbefälle von Geburt bis zum Ende des 1. Lebensjahres pro 1000 Lebendgeborene Frühsterblichkeit / Spätsterblichkeit: erste 7 Tage / 8. Tag bis Ende 1. Lebensjahr Neonatalsterblichkeit / Postneonatalsterblichkeit: erste 4 Wochen / 5. Woche bis Ende 1. Lebensjahr Perinatalsterblichkeit: Totgeborene + bis zum 7.Tag Verstorbene pro 1000 Geburten Die Perinatalsterblichkeit beträgt in Ö ca. 6 Promille, dank gesundheitlichem Standard und der Qualität der medizinischen Versorgung. Frühgeborene und zu leichte Kinder, Buben, ältere Mütter und soziale Unterschichten sind stärker gefährdet. Die Müttersterblichkeit beträgt etwa 7 pro 100.000 Geburten. freie uni für alle page 7 Kapitel 7: Das Neugeborene Größe und Gewicht von Neugeborenen Körperlänge: im Schnitt ca. 50 cm, Gewicht: 3000 bis 3500 g niedriges Geburtsgewicht (low birthweight, LBW): <2500 g, ca.6% sehr niedriges Geburtsgewicht (very low birthweight, VLBW): <1500 g extrem niedriges Geburtsgewicht (extremely low birthweight, ELBW): <1000 g Mit intensivmedizinischer Betreuung ist das Überleben ab ca. 24 SSW und Gewicht unter 1000 g bereits möglich: 23. SSW: 10%, 24. SSW: 40%, 25. SSW: 60% Überlebenswahrscheinlichkeit, aber hohe Gefahr von Behinderung APGAR-Index (Virginia Apgar, 1909 - 1974): bewertet den Zustand des Neugeborenen bzw. seine Adaption an das extrauterine Leben 1, 5, und 10 Minuten nach Geburt, wobei für Aussehen, Puls, Gesamttonus, Atmung und Reflexe jeweils 0 bis 2 Punkte vergeben werden 10 Punkte: optimaler Zustand, 4 bis 7 Punkte: erhöhtes Risiko der Perinatalsterblichkeit, darunter: starke Gefährdung des Neugeborenen. Einige empirische Studien zur Frühgeburtlichkeit Breslau, Klein & Allen (1988): Längsschnittstudie über Kinder mit VLBW im Alter von 9 Jahren. Hauptergebnisse: 73% der Kinder noch am Leben, davon 8% bleibende Behinderungen (zerebrale Lähmungen, geistige Behinderung, Blindheit), in restlicher Gruppe im Schnitt niedrigerer IQ, mehr Probleme bezüglich Aufmerksamkeit, Aggressivität und sozialer Kompetenz, aber soziale Schicht und Alter der Kindsmutter könnten da ebenfalls eine Rolle spielen. Goldberg, Lojkasek, Gartner & Corter (1989): Effekte der „caregiver responsiveness“ Defizite gute Erziehung lindert Stern & Hildebrandt (1986): Experiment zum Spielverhalten Erwachsener mit Frühgeborenen der Erwachsenen um eine Frühgeburt beeinflusst ihr pädagogisches Verhalten negativ das Wissen Brooks-Gunn, Klebanov, Liaw & Spiker (1993) und Rauh, Achenbach, Nurcombe, Howell & Teti (1988): Studien zu den Effekten von Trainingsprogrammen für Eltern von Frühgeborenen Reflexe und motorisches Verhalten der Neugeborenen [Gehirn: cortex cerebri: Großhirnrinde kortikal: die Großhirnrinde betreffend subkortikal: phylogenetisch ältere Hirnteile betreffend] Das motorische Verhalten von Neugeborenen ist sehr stark von ihrem Konzeptionsalter (Alter seit der Zeugung) abhängig. Umgekehrt kann das Konzeptionsalter durch die Beobachtung der Reflexe auf 2 Wochen genau bestimmt werden. Die wichtigsten Reflexe: • Greifreflex (palmar / plantar: ab der 32. SSW p.c. bei allen Kinder feststellbar, verschwindet nach 9 Monaten / 1 Jahr wieder, sonst wären Greifen/ Stehen nicht möglich) • Rooting-Reflex (Brustsuchen, ab der 34. Woche) • Traktionsreflex (Hochziehen aus Rückenlage, ab der 37. Woche) • Asymmetrischer tonischer Nackenreflex (asymmetrische Muskelspannung bei Kopfdrehung) • Moro-Reflex (plötzlicher Gleichgewichtsverlust, ab der 32. / 40. Woche) • Schreitreflex (Gehbewegungen, wenn unter der Achsel hochgehalten) • Babinski-Reflex (Zehenspreizen bei Berührung der Fußsohle) • Magnetreflex, Glabellareflex, Pacing-Reaktion, Galant-Reaktion freie uni für alle page 8 Sinnesleistungen von Neugeborenen: Neugeborene können mit den Augen folgen, das Gesicht zu Grimassen verziehen und schreien. Sie reagieren auf Lichtreize, Geräusche, Hunger, Kälte und Schmerzen und können zwischen süß, sauer, salzig und bitter unterscheiden. Die akustische Reizschwelle liegt bei 40-55 Dezibel, vermutlich wegen Fruchtwasser im Mittelohr. Meltzoff & Moore (1983) / Field et al. (1983): „protosoziale“ Verhaltensweisen (Babies imitieren Gesichtsausdruck) Fantz, 1958: Beobachtungsschachtel als Apparat zur Messung der visuellen Präferenz interessanter als andere Babies können Unterschiede erkennen manche Bilder sind Maurer & Maurer (1988): Untersuchungen zur Sehschärfe Neugeborener mit der Methode der visuellen Präferenz schwarzweiße Streifen sind interessanter als grau (Grenze der Sehfähigkeit liegt bei 2,5 mm dicken Linien im Abstand von 30 cm) nach 8 Monaten ist die Sehfähigkeit komplett ausgebildet Habituationstests (Habituationsparadigma): Auf einen Umweltreiz folgen Orientierungsreaktionen (intensive Erhöhung der Aufmerksamkeit auf neuen Umweltreiz) wie die Hinwendung zum Stimulus (Blickdauer), die Erweiterung der Pupillen, Verlangsamung von Puls und Atmung, Erhöhung der Hautleitfähigkeit, Blockierung der Alpha-Wellen im EEG sowie eine Verringerung der peripheren und eine Erhöhung der zentralen Durchblutung. Solange eine Orientierungsreaktion auftritt, ist das Bild neu und interessant. Dann kommt es zu Habituation (langsames Abflauen der OR), bei erneuten Reizen zu Dishabituation (Wiederauftreten der OR). Habituationstests erlauben die Prüfung von Diskriminationsleistungen in allen Sinnesmodalitäten. Mit Habituationstests sind Diskriminationsleistungen, aber auch Lernfähigkeit und Gedächtnis prüfbar. Antell & Keating (1983): Wie weit können Babies „zählen“? Neugeborene verbringen je 33% ihrer Zeit mit ruhigem bzw. aktivem Schlaf, 8% mit Dösen, 10% mit ruhigem Wachsein, 11% mit unruhigem Wachsein und 5% mit Schreien und Weinen. Recht bald entwickelt das Kind vorhersehbare Verhaltenszyklen (entsprechende Umgebung ist hilfreich). Manche sind „difficult children“ (ca. 10%) ohne regelmäßige Schlaf- und Wachperioden und lassen nicht erkennen, ob sie wegen Nässe, Hunger, Trauer, Zorn oder Müdigkeit schreien. Später oft psychopathologisch auffällig. [Circulus vitiosus: Fehlschluss, bei dem die Voraussetzungen das zu Beweisende schon enthalten. Im Fall der difficult children schaukeln sich anstrengendes Verhalten und Unsicherheit / Gereiztheit der Pflegeperson gegenseitig auf.] protosoziale Verhaltensweisen: Babies sind vollständig auf ihre Pflegepersonen angewiesen und starten sofort die soziale Interaktion (Verfolgen von Gesichtern mit den Augen, Greifreflex, Weinen, Gesichtszüge nachahmen, …). Die Pflegeperson wird belohnt, die soziale Zuwendung gesichert. freie uni für alle page 9 Kapitel 8: Die ersten beiden Jahre Säuglings- und Kleinkindalter (infancy and toddlerhood) to toddle – watscheln, tapsen / toddler – “Tapsender” / toddlerhood – Kleinkindalter Die körperliche Entwicklung kann in Wachstumskurven, Normkurven, Perzentilen (Prozenträngen) und Relationsdiagrammen (Größe/Gewicht) angegeben werden. Kinder wiegen bei Geburt ca. 3 kg, nach einem Jahr ca. 10 kg und nach 2 Jahren ca. 12 kg. Sie sind zu dieser Zeit etwa 50 cm, 75 cm und 85 cm groß. Nach einem Jahr verschwinden die Reflexe des Neugeborenen und werden durch willkürlich kontrollierte Bewegungsmuster ersetzt. Die Entwicklung der Motorik erfolgt cephalo-caudal (vom Kopf zum Steiß) und proximodistal (vom Zentrum zur Peripherie), also zuerst der Kopf, dann Arme und Beine, dann Hände und Füße. säkulare Akzeleration: beschleunigte motorische Entwicklung gegenüber früheren Generationen Entwicklung der Fortbewegung Säugling: erste 5 Monate: Kopf heben und bewegen (Kopf, Nacken, Brust) ca 6. bis 8. Monat: sitzen, rollen, umdrehen (gesamter Rumpf) ca 8. bis 9. Monat: mit den Armen robben (Fortbewegung) ca 10. Monat: krabbeln Kleinkind: ca 12. bis 15. Monat: aufrecht gehen Dennis & Dennis (1940): Studie bei Hopi-Indianern: Entwicklung der Fortbewegung ist weitgehend reifungsabhängig, lässt sich kaum beschleunigen oder verhindern [phylogenetische skills: stammesgeschichtliche Entwicklung der Gesamtheit aller Lebewesen ontogenetische skills: Entwicklung der einzelnen Individuen einer Art] Zuerst entwickelt das Kind das palmare Greifen (alle Finger drücken gegen Handfläche), dann den Pinzettengriff (mit ausgestrecktem Zeigefinger und Daumen) und schließlich den Zangengriff (gebeugter Zeigefinger und Daumen). Sudden Infant Death Syndrome (SIDS) häufigste Todesursache für Kinder zwischen 1 Monat und 1 Jahr (ca. 2 Promille der Lebendgeborenen) aufgrund bis heute unerklärlichem Aussetzen der Atmung Risikofaktoren: Geschwister von SIDS-Opfern, Frühgeburt, niedriges Geburtsgewicht, neonatale Erkrankungen, Schlafen in Bauchlage (unbedingt vermeiden!), rauchende Mutter, verrauchte Luft und hohe Temperatur im Schlafraum, Hitzestau durch zu warme Decken Kognition: Sammelbezeichnung für alle Vorgänge und Strukturen, die mit dem Gewahrwerden und Erkennen zusammenhängen. (Wahrnehmung, Erinnerung, Vorstellung, Lernen, Denken, Problemlösen...) kognitive Entwicklung: Entwicklung von Wahrnehmungsleistungen Als Parallaxe bezeichnet man die scheinbare Änderung der Position eines Objektes, wenn der Beobachter seine eigene Position verschiebt. Tiefensehen (stereoskopisches Sehen) wird möglich durch die Ausnutzung der parallaktischen Verschiebung zwischen den beiden Augen. Granrud, Yonas & Pettersen (1984): ab dem 5. Monat können Kinder Entfernungen unterscheiden Gibson & Walk (1960): „visual cliff“ Ausnutzung der Bewegungsparallaxe; Tierversuche zeigen: Je wichtiger optische Eindrücke für das Überleben sind, desto früher werden Abgründe erkannt Fähigkeit ist angeboren und braucht nicht erlernt zu werden. Bower (1966) und Day & McKenzie (1981) untersuchen Konstanzphänomene (von Helligkeit, Farben, Formen und Größen): bereits frühzeitig können unterschiedliche Größen und Entfernungen erkannt werden freie uni für alle page 10 Jean Piaget (1896-1980): Stufen der kognitiven Entwicklung • Sensumotorische Periode (1. und 2. Lebensjahr): legt die Wurzeln des Denkens Repräsentation der Handlungen Objektpermanenz, innere • Stufe des voroperatorischen anschaulichen Denkens (2. bis 7. Lebensjahr) semiotische Funktion, Egozentrismus, mangelnde Reversibilität • Stufe der konkreten Operationen (7. bis 10. Lebensjahr) Reversibilität, induktive Schlussfolgerungen • Stufe der formalen Operationen (ab ca. 11. Lebensjahr) deduktive Schlussfolgerungen Fähigkeit zu abstraktem Denken, induktive und repräsentatives Denken, Sensumotorische Periode: • 1. Stadium (erster Monat): Übung angeborener Reflexe und erste Differenzierung von Handlungsschemata (Saugen an Brust, Flasche und Daumen): Personen und Dinge werden wahrgenommen, aber noch nicht als unabhängig begriffen • 2. Stadium (1 bis 4 Monate): Primäre Kreisreaktionen (Wiederholung von angenehmen Handlungen, zB Greifen): Erwartungshaltung, dass Dinge auch noch da sind, wenn man kurz wegschaut • 3. Stadium (4 bis 8 Monate): Sekundäre Kreisreaktionen (Verknüpfung von Aktionen wird erkannt, zB Strampeln und Glöckchen): herunterfallende Gegenstände werden mit den Augen verfolgt, solange sie sichtbar sind • 4. Stadium (8 bis 12 Monate): Anwendung bekannter Schemata in neuen Situationen (verschiedene Möglichkeiten zum Umgang mit einem Baustein): Kinder suchen versteckte Gegenstände, allerdings immer am üblichen Ort; Unterscheidung zwischen bekannten und fremden Personen • 5. Stadium (12 bis 18 Monate): Tertiäre Kreisreaktionen (aktives Experimentieren zur Entdeckung neuer Schemata, zB Tischdecke herziehen, um Spielzeug zu erreichen): versteckte Gegenstände werden dort gesucht, wo sie versteckt wurden • 6. Stadium (18 bis 24 Monate): Übergang zum Handeln in der Vorstellung (Antizipation der Folgen möglicher Handlungen): Objektpermanenz ist erreicht, über konkrete Ereignisse kann bereits in der Vorstellung nachgedacht werden; „Erwachen der Intelligenz beim Kinde“ Objektpermanenz: ein Gegenstand existiert, auch wenn ich ihn nicht sehe Stadium-4-Fehler: Gegenstand wird am üblichen Ort gesucht, auch wenn zugeschaut wurde, dass woanders versteckt „repräsentationales“ Denken als Voraussetzung für den Spracherwerb (Denken vor Sprache): Maße, Symbole und Zeichen werden in den Denkprozess einbezogen semiotische Funktion: Die Fähigkeit, ein Objekt oder Phänomen durch ein anderes mental zu repräsentieren. zB „Auto“: ein Objekt wird durch ein anderes, eine Vorstellung oder ein Symbol ersetzt Exkurs: Verwendung von Gesten (Zusammenhänge zwischen Verwendung von Gesten und Spracherwerb) vorsymbolische Gesten (z.B. etwas zeigen) referentielle Gesten (z.B. auf etwas deuten) konventionalisierte Gesten (z.B. winken, klatschen...) Baillargeon, R. (1987): Untersuchung zur Entwicklung der Objektpermanenz bei 3½- und 4½ -Monate alten Kindern: schon in Stufe 2 und 3 scheinen verschwundene Gegenstände zu irritieren Spracherwerb: Szagun, G. (1996): Sprachentwicklung beim Kind / (2007): Das Wunder des Spracherwerbs. Nußbeck, S. (2007): Sprache – Entwicklung, Störungen und Intervention. Lenneberg (1962): Bericht über Fall von Anarthrie bei 8-jährigem Buben (Unfähigkeit zur Artikulation): Spracherwerb ist durch operantes Konditionieren (Lernen am Erfolg) und Imitationslernen allein nicht erklärbar. Annahme: angeborenes genetisches Programm zur Ermöglichung des Spracherwerbs innerhalb eines bestimmten Zeitfensters (kritische Phase) Curtiss (1977): „Das Mädchen Genie“ (13jährige konnte Spracherwerb teilweise nachholen) Der Spracherwerb folgt anscheinend einem angeborenen genetischen Programm, findet in allen Kulturen ähnlich statt, benötigt weder besonderes Training noch Intelligenz noch Verständnis der sprachlichen Strukturen; ist also reifungsabhängig und kann durch Umwelteinflüsse nur wenig beschleunigt oder verzögert werden. freie uni für alle page 11 Zum Erwerb von Wortbedeutungen Wortschatz im Kleinkindalter (große interindividuelle Unterschiede im Entwicklungstempo): 1. Geburtstag: „Mama“, „Dada“ 16 Monate: ca 10 Worte 17 Monate: ca 20 Worte, ab 18 Monaten: Stadium 6: Konzept der Objektpermanenz wurde begriffen Beschleunigung des Erwerbs neuer Worte 24 Monate: ca 200 Worte; individuelle Zuwendung ist notwendig, sonst gewöhnt sich das Kind daran, in einer Welt von Dingen zu leben, deren Namen es nicht kennt 6 Jahre: ca 2.500 Worte aktiv, ca 13.000 Worte passiv sehr große individuelle Unterschiede, aber wenn erste Worte erst nach Vollendung des 2. Lebensjahres, handelt es sich um einen verzögerten Sprachbeginn (häufige Ursachen: Hörschäden, Hirnschäden, Vernachlässigung) [Intermittierende Verstärkung: Verstärkungslernen durch nicht regelmäßige Belohnung von erwünschtem Verhalten; zB manchmal Schokolade für Helfen im Haushalt erwünschtes Verhalten tritt häufiger auf] Lächeln – Fremdeln - Trennungsangst in den ersten Lebenswochen: bisweilen „endogenes“ Lächeln, wenn schläfrig oder schlafend etwa ab der sechsten Woche: Lächelreaktion, soziales Antwortlächeln: Spitz & Wolf, 1946: „smiling response“ Ahrens (1954): o 2. Monat: Zwei Punkte auf Pappattrappe reichen für smiling response o 5. Monat: Attrappe mit Augen und Mund reicht, danach wird der Unterschied zu echtem Gesicht erkannt o 8. Monat: nur bekannte Gesichter werden angelacht; „Fremdeln“, „Achtmonatsangst“, Trennungsangst Erwachende Objektpermanenz als Voraussetzung für die Unterscheidung zwischen „bekannt“ und „unbekannt“. Sowohl Lächelreaktion wie auch Fremdeln sind vermutlich phylogenetische Erbschaften, die evolutionsbiologische Selektionsvorteile brachten. Soziale Bindung, emotionale Bindung, attachment John Bowlby: Bindungsverhalten des Kindes und Pflegeverhalten der Mutter als biologische Prädisposition Entwicklung des Attachment nach Bowlby (1969): 1. Kind anfangs allgemein sozial ansprechbar 2. Einschränkung auf vertraute Personen 3. Kritische Phase zwischen 6. Mo. und 3. Lj.: Grundlagen für emotionale Bindungsfähigkeit werden gelegt 4. nach 3. Lj. wieder größere Unabhängigkeit anaklitische Depression durch längere Trennung (ab einer Woche) von Bezugsperson in der kritischen Phase inner working model durch grundsätzliches Vertrauen in Verfügbarkeit und Hilfsbereitschaft der Bezugspersonen Rutter, 1979: Studie zu „unattached children“: Ist überhaupt keine Bezugsperson verfügbar (Heime, Krankenhäuser) kann kein attachment ausgebildet werden und es kommt zu Störungen des Sozialverhaltens und Bindungsunfähigkeit: distanzloses Anhängen, Einfordern von Aufmerksamkeit, Rastlosigkeit Mary Ainsworth (1977) untersucht Bindungsverhalten versus Erkundungsverhalten: erst wenn das Sicherheitsbedürfnis des Kindes (secure base) erfüllt ist, zeigt es exploratives Verhalten schnellere Entwicklung der motorischen Fähigkeiten. „strange situation“ (fremde-Situations-Test): Mutter verlässt ihr Kind (12 Monate alt) für kurze Zeit; besonders interessant ist die Reaktion des Kindes auf die Rückkehr der Mutter. Drei Kategorien der Bindungsqualität werden unterschieden: „sicher“: Mutter wird freudig begrüßt „unsicher-vermeidend“: Mutter wird ignoriert „unsicher-ambivalent“: Wechsel zwischen Umklammern und Zurückstoßen später zusätzlich „unsicher-desorganisiert“: 10% der Kinder waren zunächst nicht einzuordnen; wirken verstört, widersprüchlich, verängstigt und desorganisiert Hinweis auf Misshandlung, Missbrauch, schwere Vernachlässigung oder psychische Störung der Bezugspersonen freie uni für alle page 12 Kulturabhängigkeit der Ergebnisse des Fremde-Situations-Tests: in den USA waren 70% sicher gebunden, 20% unsicher-vermeidend, 10% unsicher-ambivalent. In Japan werden Kinder praktisch nie allein gelassen, daher waren mehr unsicher-ambivalent und gar keine unsichervermeidend. In Deutschland waren (möglicherweise aufgrund des distanzierteren Umgangs mit Kindern mit weniger Körperkontakt) mehr unsicher-vermeidend. Clarke-Stewart (1989): Untersuchung zu mütterliche Berufstätigkeit ergibt, dass deren Kinder weniger Reaktion auf die Rückkehr der Mutter zeigten, was möglicherweise damit zusammenhängt, dass sie es gewohnt sind, kurz allein gelassen zu werden Wichtig für die soziale, emotionale und motorische Entwicklung ist eine verfügbare Bezugsperson, die prompt, angemessen und feinfühlig auf das Kind reagiert, sonst kommt es zu Aggressivität und Ängstlichkeit. Sauberkeitstraining erfolgt kulturell sehr unterschiedlich bis 1960 war es üblich, das Sauberkeitstraining mit 1 Jahr zu beginnen vermutlich optimaler Zeitpunkt für Beginn des Sauberkeitstrainings: ca. 15. Lebensmonat Freud: zu früher Zeitpunkt oder zu strenge Methode führen zu Fixierung auf der analen Stufe der psychosexuellen Entwicklung („analer Charakter“) mit zwanghafter Impulskontrolle, Sauberkeit oder dem Gegenteil. analog dazu gilt das auch fürs Abstillen (orale Fixierung), empirisch allerdings nicht bestätigt [Einnässen: Enuresis / Einkoten: Enkopresis (behandlungsbedürftig erst ab dem 4./5. Lj.)] Link 1 zum „windelfreien Baby“ Link 2 zum „windelfreien Baby“ freie uni für alle page 13 VO 9: Vorschulalter Mit 2½ Jahren ist bereits mehr als die halbe Körpergröße erreicht (Wert x 1,94). Der Rumpf streckt sich, der Bauch wird flacher, die Wachstumsgeschwindigkeit nimmt ab. Kinder erlernen durchschnittlich bis zu 2 Wörter pro Tag. Sie essen weniger, sind ständig in Bewegung, lernen auf Zehenspitzen zu gehen, Stiegen zu steigen, auf einem Bein zu springen, einen Ball zu fangen, sich selbst anzuziehen und Rad zu fahren. Reaktionszeit und Genauigkeit verbessern sich. Dies wird möglich durch die Kontrolle über die Körperteile, eine korrekte Vorstellung des eigenen Körpers und die bilaterale Kombination. Präoperationales anschauliches Denken ermöglicht den Gebrauch der Sprache, die wiederum die Entwicklung des kognitiven Systems unterstützt. Merkmale: • Egozentrismus (Wechsel der Perspektive fällt noch sehr schwer) • mangelnde Reversibilität (noch keine Vorstellung von der Umkehrbarkeit von Handlungen) Umschüttaufgabe demonstriert fehlenden Erhaltungsbegriff (der Zahl, der Länge, der Menge, des Gewichts, des Volumens): erst ab 8 Jahren erkennen Kinder, dass sich die Menge des Wassers durch Umschütten in ein größeres Gefäß nicht verändert Beim Studium der Sprachentwicklung: • semantischer Aspekt: Wortbedeutung • grammatischer (syntaktischer) Aspekt: Sprachregeln (verwandter Begriff Syntax: Regelsystem einer Sprache) • pragmatischer Aspekt: Beziehungen zwischen Sprachzeichen und SprachbenutzerInnen Wortschatz: 2 Jahre: Zweiwortsätze; 200 Wörter 2½ Jahre: Dreiwortsätze 5 Jahre: Wünsche, Vorschläge, Fragen, Begründungen; 2.500 Wörter aktiv, 13.000 Wörter passiv Das Lernen von Worten erfolgt möglicherweise über bestimmte Hypothesen die Bedeutung betreffend und vorläufige Benutzung des Wortes. Beispiele für Beschränkungen („constraints“): • entweder Objekt oder Handlung • eher Ganzheitsannahme als Bezug auf einzelne Teile • Prinzip des Kontrasts (nicht etwas bereits Bekanntes) Carey & Bartlett (1978): „Das verchromte Tablett“ verchromt = nicht rot Unterscheidung zwischen Ober- und Unterbegriffen wird erlernt. [Überextension: Bedeutungsüberdehnung, Übergeneralisierung jeder Mann heißt Papa Unterextension: Bedeutungseinengung, Überdiskriminierung Hund heißt nur der eigene Hund] Beginn der Grammatikentwicklung gegen Ende der sensumotorischen Periode Pivot-Strukturen: offenes Wort + „Pivot“, zB: Wauwau da, da Brille, weg Teddy, Auto weg, mehr Milch, mehr singen Häufige Bedeutung von Pivot-Strukturen: 1. Vorhandensein 2. Verschwinden 3. Wieder-Vorhandensein [Phoneme: Grundlaute einer Sprache Morpheme: kleinste bedeutungstragende Einheiten freie Morpheme: kurze Hauptwörter im 1. Fall; gebundene Morpheme (Anhängsel, Endung, …)] Brown (1973): “Mean Length of Utterance” MLU: durchschnittliche Anzahl von Morphemen pro Äußerung des Kindes als Indikator für die sprachliche Entwicklung cat 1 Morphem / a cat 2 Morpheme / two cats 3 Morpheme / two cats sitting 5 Morpheme Grammatikentwicklung im Vorschulalter verläuft bei allen Kindern sehr ähnlich „Grammatische“ Morpheme Im Englischen: Verlaufsform -ing, Präposition in, Präposition on, Plural –s. “Wug”-Test (Berko, 1958) zur Pluralbildung Psycholinguistischer Entwicklungstest (Angermeier, 1977) Heidelberger Sprachentwicklungstest (Grimm & Schöler, 1991) Entwicklungstests freie uni für alle page 14 Zur „Verortung“ von Sprache im Gehirn: Erforschung erfolgt nach "Ausschaltungsexperimenten" (Unfälle, Schlaganfälle), durch Reizexperimente (Stromstöße am freigelegten Hirn) und über die Ableitung der elektrischen Nerventätigkeit (EEG). sensorisches Sprachzentrum (Wernicke) im linken Temporallappen (Schläfenlappen): Sprachverständnis sensorische Aphasie: Ausfall des Sprachverständnisses motorisches Sprachzentrum (Broca) im linken Frontallappen (Stirnlappen): Sprachproduktion motorische Aphasie: Ausfall des Sprechvermögens Lesezentrum : Lesevermögen Alexie (Wortblindheit): Ausfall des Lesevermögens Lateralisierung: Bei den meisten Menschen (97%) steuert die linke Gehirnhälfte die Bewegungen der rechten Seite (Haupthand), das Sprachzentrum und die logische Analyse. Die rechte Hälfte ist für Raumvorstellung, Melodien, Emotionen und das ganzheitliche Denken sowie das Erkennen von Mustern zuständig. 10% der Menschen sind Linkshänder, überdurchschnittlich oft musisch oder mathematisch begabt (möglicherweise durch weniger starke Lateralisierung); 20% wenn ein Elternteil Linkshänder ist, 40% wenn beide Elternteile. Hunde sind zu 50% Linkshänder. Geistig Behinderte sind oft Linkshänder, wahrscheinlich weil Hirnschäden in der linken Hemisphäre auch die rechte Hand beeinträchtigen. Plastizität: Verletzungen bis Totalzerstörung einer Hemisphäre im Kindesalter können von der anderen Hemisphäre übernommen werden, teilweise ist das sogar bei Erwachsenen möglich. Areale der Großhirnrinde Lenneberg (1972) Hahn (1987): bereits Neugeborene weisen eine Tendenz zur Lateralisierung auf Literaturempfehlung zur Hemisphärenasymmetrie: Springer, S. P. & Deutsch, G. (1998). Linkes Gehirn, rechtes Gehirn (4. Aufl.). Heidelberg: Spektrum. Die Entdeckung der eigenen Person: Lewis & Brooks (1978): Reaktion auf Spiegelbild o 0 – 6 Monate: interessierte Beobachtung o 6 – 12 Monate: Experimente o 18 – 24 Monate: Selbsterkennen Gallup (1979): Vergleich mit Schimpansen Die Entdeckung des Geschlechts (Freud, 1905): orale Phase (1. Lj.) anale Phase (2.-3.Lj.) phallische Phase (3.-5. Lj.) Latenzzeit (6.-12. Lj.) genitale Phase (13.-18. Lj.) Geschlechtsidentität (ab ca. 2. Lj.): Wissen um eigenes Geschlecht Geschlechtsstabilität (ab ca. 4. Lj.): Geschlechter werden als relativ konstant angenommen Geschlechtskonstanz (ab ca. 6. Lj.): bis dahin glauben die meisten Kinder, dass das Geschlecht in erster Linie mit Mode und Haartracht zu tun hat und eventuell gewechselt werden kann Bem (1989): „Gaw“ & „Kwan“: Bilder von nackten und “falsch” bekleideten Kindern Boy-Girl-Identity-Task (Emmerich, Goldman, Kirsh & Sharabany, 1977) und Gender-Constancy-Interview (Slaby & Frey, 1975): standardisierte Fragen, was das Geschlecht ausmacht und woran es erkannt wird freie uni für alle page 15 Geschlechtsrollen & Geschlechtsrollenstereotypen Ge|schlechts|rol|le, Geschlechterrolle, die (Soziol.): Verhaltensweisen, Einstellungen und andere psychologische Charakteristika, die in einem bestimmten Kulturkreis für Personen des weiblichen bzw. männlichen Geschlechts gesellschaftlich als angemessen betrachtet, von ihnen erwartet oder ihnen vorgeschrieben werden; ste|re|o|typ <Adj.> [frz. stéréotype, eigtl. = mit gegossenen fest stehenden Typen gedruckt]: 1. (bildungssprachlich) (meist von menschlichen Aussage-, Verhaltensweisen o. Ä.) immer wieder in der gleichen Form auftretend, in derselben Weise ständig, formelhaft, klischeehaft wiederkehrend. Williams & Best (1990) Maccoby, E. E. (1998). The two sexes: Growing up apart, coming together. London: Harvard University Press. Vorschulkinder sind sehr bemüht, sich den Regeln entsprechend zu verhalten, auch im Bezug auf Geschlechtsrollen. Identifikation erfolgt über den entsprechenden Elternteil oder andere Bezugspersonen, wobei meist mehr Frauen als Männer vorhanden sind (in Familie, Kindergarten, Schule, Heim, …), was dazu führt, dass die Männerrolle von Kindern enger und stereotyper definiert wird. Gleichzeitig akzeptieren auch Erwachsene wilde Mädchen („tomboy“) eher als mädchenhafte Buben. Weiderer (1993), Scheutz (2002): Besonders stereotyp sind Geschlechterrollen im Fernsehen dargestellt. Perry, White & Perry (1984): Davon unabhängig scheinen schon 2jährige Buben Bubenspielzeug zu bevorzugen sowie körperlicher und aggressiver zu spielen. Ansätze zur Erklärung der Vorgänge bei der Geschlechtsrollenübernahme: • Theorie der psychosexuellen Identifikation (Freud) • Theorie des sozialen Lernens (Bandura) • Kognitive Theorien (Kohlberg) • Biologische Einflüsse (Money & Ehrhardt) Geschlechtsidentifikation, geschlechtstypisches Verhalten und sexuelle Orientierung hängen von mehreren miteinander in Beziehung stehenden Faktoren ab, die wichtigsten davon sind das chromosomale Geschlecht, das äußere Geschlechtsbild und das zugewiesene Geschlecht. Money & Ehrhardt (1975) untersuchen die Effekte pränataler hormoneller Einflüsse [gestageninduzierter Hermaphroditismus / adrenogenitales Syndrom (AGS)]: Mädchen mit pränatal zugeführten männlichen Hormonen entwickeln vermehrt knabenhaftes Spielverhalten (Spielzeugwahl und höhere körperliche Aktivität) Pomerantz, Roy & Goy (1988), Thompson (1992): analoge Beobachtungen bei Affen freie uni für alle page 16 10. Schulkindalter (school age) Das Schulalter bezeichnet die Zeit vom 6. bis zum 12. Lebensjahr, ein Alter, in dem die Kinder auch in früheren Zeiten und anderen Kulturen zum Arbeiten (Haushalt, Schafe hüten, …) herangezogen werden, und in dem heute die Schulzeit beginnt. 1774: Einführung der Schulpflicht 1884: Verbot von Kinderarbeit unter 12 Jahren körperliche Entwicklung: Gestaltwandel: Verlängerung der Gliedmaßen, mehr Taille, weniger Bauch; Zahnlücken; Wachstumsgeschwindigkeit nimmt weiter ab, motorische Leistung und Körperkraft steigen linear (Buben sind – teilweise sehr deutlich – athletischer, vor allem bei Schlagballwerfen, Mädchen nur bei visuomotorischer Koordination, Balancegefühl und Hüpfen, möglicherweise als Folge des unterschiedlichen Spielverhaltens und der körperlichen Unterschiede, und: Mädchen sind im Wettkampf gegen Buben gehemmt) Schulreife (körperlich) versus Schulbereitschaft (psychisch): schwer zu beantworten, heute wird empfohlen, körperlich unreife Kinder um ein Jahr zurückzustellen Historische Entwicklung des Umgangs mit Kindern mit Behinderungen im Schulwesen: Exklusion Segregation Soziale Integration Inklusion („inclusive education“ – „Inklusive Pädagogik“) Denken auf der Stufe der konkreten Operationen (Piaget) Kinder erkennen erstmals Reversibilität (Umschüttaufgabe) und Invarianz (Erhaltungsbegriff) der Zahl, der Länge, der Menge, des Gewichts, des Volumens Damit wird folgendes möglich: • Erlernen der Grundrechnungsarten • Inklusion / Exklusion von Klassen (Denken in Ober- und Unterbegriffen) • Hierarchische Klassifikation (Mosher & Hornsby, 1966: Übung durch Begriffsratespiele) • Induktives Schlussfolgern (Annahmen allgemeiner Gesetzmäßigkeiten anhand einzelner Beobachtungen); aber Probleme beim Verständnis von deduktiven Schlussfiguren (Wenn alle blauen Menschen in roten Häusern wohnen, sind dann alle Menschen in roten Häusern blau?) Das Denken ist geprägt von Animismus („der rollende Ball ist lebendig“) und Anthropomorphismus (Zuschreibung menschlicher Eigenschaften zu Dingen, Pflanzen und Tieren: „der Ball springt, weil er fröhlich ist“). Mit ca. 7 Jahren kann zwischen Lebendigem und Unbelebtem unterschieden werden, Verstehen des Todes als unumkehrbares Ereignis und Verstehen von Zeitdauer („welche Puppe hat länger geschlafen?“) Während Sprache eine universelle menschliche Fertigkeit ist, ist Lesen eine Kulturtechnik, die erworben werden kann. Etwa 5% der Kinder leiden an Leseschwäche (Buben häufiger), erkennbar an Schwierigkeiten bei der phonologischen Sprachverarbeitung und am besten zu behandeln mit intensivem Training. metakognitive Fähigkeiten (Wissen über das eigene Denken) verbale Mediation: geplante Tätigkeit in Worte fassen Einprägen durch Wiederholen Kategorisierung (König + Krone) und Elaboration (Tänzerin + Kamm): sinnvolle Einordnung erleichtert das Auswendiglernen (Test: verschiedene Figuren werden in verschieden markierten Häusern versteckt) soziale Kognition (Verständnis des menschlichen Denkens und Fühlens und sozialen Verhaltens) Schon Vorschulkinder imitieren im Rollenspiel verschiedene Gesichtsausdrücke, im Schulalter gelingt es schon gut, Gefühle vorzutäuschen, etwas später auch, vorhandene Gefühle zu verbergen (zB Enttäuschung über fades Geschenk). Zur Beschreibung von Personen werden auch persönliche Eigenschaften genannt (aber ein Arzt kann kein Dieb sein). Ab einem halben Jahr interessieren sich Babies für andere Kinder, ab drei Jahren spielen sie gerne miteinander, ab der Schulzeit am liebsten mit gleichgeschlechtlichen Gleichaltrigen. Kinder definieren sich über gemeinsame Aktivitäten, Jugendliche über Einstellungen und Werte. freie uni für alle page 17 Beliebtheit und Unbeliebtheit Soziometrische Methoden ermöglichen die Feststellung des sozialen Status einer Person unter dem Gesichtspunkt der Beliebtheit bzw. Unbeliebtheit. Zweidimensionale soziometrische Modelle (z.B. Coie, Dodge & Coppotelli, 1982) messen “social impact score“ - soziale Wirkung (positive plus negative Nennungen) “social preference score“ - soziale Präferenz (positive minus negative Nennungen) und unterscheiden folgende soziometrische Statusgruppen mit zugehörigen Charakteristika (nach Newcomb, Bukowski & Pattee, 1993), die recht genaue Prognosen bzgl. Risiko für Verhaltensprobleme und emotionale Störungen als Erwachsene erlauben (zB Kupersmidt & Coie, 1990): popular (beliebt): hohe Präferenzscores gute kognitive und soziale Fertigkeiten rejected (abgelehnt): niedrige Präferenzscores aggressives, verschlossenes Verhalten neglected (nichtbeachtet): niedrige soziale Wirkung Defizite im Hinblick auf die soziale Interaktion controversial (kontroversiell): hohe soziale Wirkung gute soziale Fertigkeiten, aber aggressives Verhalten average (durchschnittlich): mittlere Präferenzscores und durchschnittliche soziale Wirkung Vergleichsgruppe Studien zur weiteren Entwicklung aggressiver Kinder (z.B. Eron & Huesman, 1990) Ablehnung durch die Peers im Schulkindalter ist ein Prädiktor für atypische Entwicklungsverläufe, insbesondere für das spätere Auftreten externalisierender Verhaltensprobleme. Abgelehnte, aggressive Kinder mit 8 Jahren zeigen dieses Verhalten auch mit 30 Jahren (Kriminalstatistik, Verkehrsdelikte, Gewalt). mögliche Ursachen: suchen sich Gleichgesinnte, weil dort am ehesten akzeptiert kognitive Prozesse: Diese Kinder tendieren dazu, ihre Umgebung als feindselig wahrzunehmen, die sich tatsächlich auch immer öfter sozial abweisend verhält. Einflussfaktoren: o biologische: männliches Geschlecht / Testosteron o soziale: gesellschaftliche Stereotype erwarten männliche Gewaltbereitschaft o konstitutionelle: „Temperament“ eines Kindes (möglicherweise angeboren oder sozial erlernt): zeitlich stabile Neigung des Kindes zu ängstlichem, hyperaktivem, reizbarem Verhalten kindliche Aggression ist die direkte Reaktion auf die unmittelbare soziale Umwelt durch Lernen vom Rollenmodell (Vater / Mutter) gefördert durch irritierendes und problematisches Erziehungsverhalten (distanziert, unfreundlich, problemverleugnend, Zuwendung nur nach aggressivem Verhalten, Versagen beim Registrieren und angemessenen Bestrafen von Regelverletzungen) meist aufgrund chronischer Partnerkonflikte der Eltern Übernahme von Aggressionsmodellen aus peer group, Massenmedien, Gesellschaft und Schule Präventions- und Interventionsansätze: Markie-Dadds, Turner & Sanders (2009) Hilfreich ist kognitives Problemlösungstraining und familienorientierte Verhaltenstherapie mit Förderung der sozialen Kompetenz, konsequenter Belohnung und Bestrafung für erwünschtes / unerwünschtes Verhalten und Änderung des elterlichen Verhaltens. Positive Parenting Program “Triple P” zweiter Link Achenbach et al.: faktorenanalytische Studien zu Auffälligkeiten des Verhaltens und Erlebens im Kindesalter o „internalizing“ – „internalisierend“: Probleme im Zusammenhang mit starker Verhaltenshemmung, Überkontrolliertheit (Ängste, Zwänge, Depression...) o „externalizing“ – „externalisierend“: Probleme im Zusammenhang mit mangelnder Verhaltenshemmung, Unterkontrolliertheit (Hyperaktivität, Aggression, Delinquenz...) Einige Erklärungsansätze der Zusammenhänge zwischen Ablehnung und atypischer Entwicklung Ablehnung wirkt als Stressor per se. durch schlechte soziale Einbettung kann Stress aus anderen Quellen nicht „abgepuffert“ werden. psychologischer „Marker“ (Markierungsvariable). freie uni für alle page 18 Zur Entwicklung des moralischen Urteils Emile Durkheim (1925): Moral entsteht durch Anpassung an gesellschaftliche Normen Jean Piaget (1932): diese heteronome Zwangsmoral (Autoritäten entscheiden und sanktionieren) ist der Anfangspunkt der moralischen Entwicklung die etwa am Ende der Schulkindzeit von einer reiferen Form, der autonomen Moral (Kind entscheidet nach eigenen Maßstäben), abgelöst wird verfeinertes Stufenmodell der Moralentwicklung nach Lawrence Kohlberg (1980) Präkonventionelle Ebene Unterstufe 1: Gehorsam zur Vermeidung von Bestrafung (Einsicht in die überlegene Macht von Autoritäten) Unterstufe 2: Verfolgen eigener Interessen und Suche nach dem eigenen Vorteil Konventionelle Ebene Unterstufe 3: zwischenmenschliche Erwartungen: Kind möchte ein guter Mensch sein Unterstufe 4: soziales System und Gewissen: Gesetze sind einzuhalten, weil wichtig für die Gesellschaft Postkonventionelle Ebene Unterstufe 5: Gesellschaftsvertrag: Regeln sind relativ und kulturabhängig, aber trotzdem zu befolgen, solange in Einklang mit absoluten Werten Unterstufe 6: universelle ethische Prinzipien: direkte persönliche Verpflichtung gegenüber ethischen Grundwerten ist wichtiger als spezifische Gesetze Kritik an der Theorie von Kohlberg: „Ethnozentrismus“ (Verabsolutierung einer Sichtweise aus dem Blickwinkel einer bestimmten Gesellschaft) durch ungerechtfertigte Generalisierung des in westlichen Industriegesellschaften vorherrschenden Denkstils (bei Eskimos und unter der türkischen Landbevölkerung gibt es die postkonventionelle Ebene nicht) Vorwurf des Sexismus (Gilligan, 1984): weibliche Moralentwicklung wird nicht hinreichend berücksichtigt; die männliche Moral (Gerechtigkeit / „morality of justice”) wird der weiblichen Moral (Fürsorge / „morality of caring”) gegenüber bevorzugt; allerdings unterscheiden sich in diesen Untersuchungen zwar Stadt- und Landbevölkerung sowie soziale Schichten, aber nicht die Geschlechter Hartshorne & May (1928-1930): ehrliches Verhalten (zB Linienübertretung bei Korbballwerfen) hängt eher von der Situation (Leistungsdruck und Überwachung) als von der Person ab. freie uni für alle page 19 11. Jugendalter Das Jugendalter bezeichnet die Zeit vom 12. bis zum 20. Lebensjahr (juristisch meist 14. – 18. Lebensjahr), aus pädagogischer Sicht eher nach biologischen Kriterien (erste Monatsblutung / Samenerguss bis Berufstätigkeit). Dieser Abschnitt ist kulturabhängig, existiert bei Naturvölkern gar nicht, entstand bei uns durch die gesellschaftliche Notwendigkeit einer langen Ausbildung und die Möglichkeit der Finanzierung (bis vor kurzem noch männliches, adeliges Privileg). Derzeit steigen das Ausbildungsalter und die Dauer der finanziellen Abhängigkeit von den Eltern, der Wissensvorsprung der älteren Generation schrumpft, und Erwachsene wollen jugendlich sein. erste Phase: Pubertät mit verunsichernden Veränderungen im physischen und psychischen Bereich zweite Phase: Reorganisation: Identitätsfindung; Kontakt mit Gleichaltrigen schafft Orientierung; Auseinandersetzung mit den Strukturen der Gesellschaft körperliche Entwicklung: Wachstumsschub setzt bei Mädchen mit 12 Jahren ein, bei Buben erst mit 14 Jahren, aber stärker mit starken individuellen Unterschieden (plus / minus 1 Jahr); zuerst wachsen Hände und Füße, dann Arme und Beine, zuletzt der Rumpf; weibliche und männliche Sexualhormone nehmen geschlechtsspezifisch stark zu Frisch & Revelle (1970): Das Erreichen eines bestimmten Körpergewichts (47 kg) löst die Menarche aus. (verbesserte Ernährung frühere Menstruation) [Endokrine Drüsen geben ihr Sekret (Hormone) direkt in die Blutbahn ab. Exogene Drüsen geben ihr Sekret (Schweiß, Tränen, Verdauungssäfte) auf der Körperoberfläche oder in einer Körperhöhle ab. Östrogene sind weibliche Sexualhormone und werden v.a. in den Eierstöcken gebildet (von Männern in kleinen Mengen in den Hoden). Gestagene sind die zweitwichtigsten weiblichen Sexualhormone und werden in den Eierstöcken gebildet. Androgene (darunter Testosteron) sind männliche Sexualhormone und werden in den Hoden und in der Nebennierenrinde gebildet (bei Frauen in den Eierstöcken und in der Nebennierenrinde) Gonadotropine sind Sexualhormone, welche die Keimdrüsen stimulieren. Die Hypophyse (pituary gland) ist eine Hormondrüse, mit der das Gehirn das Hormonsystem im Körper und damit Vorgänge wie Wachstum, Fortpflanzung und Stoffwechsel regelt.] Bei Männern hat der Testosteronspiegel große Auswirkung auf ihr sexuelles Interesse, bei Frauen konnte dieser Zusammenhang nicht bestätigt werden, hier sind soziale Bedingungen wichtiger. Ein ungewohnt veränderter Hormonspiegel beeinflusst die Stimmung negativ. Psychologisch ist es für Jugendliche schwierig, wenn die sexuelle Reife zu früh (Mädchen) oder zu spät (Buben) einsetzt. Früh entwickelte Buben werden öfter für Führungsqualitäten ausgesucht, bekommen mehr Verantwortung und weniger Einschränkungen, sie sind athletischer, bringen bessere sportliche Leistungen, haben dadurch mehr Selbstwertgefühl und eine höhere soziometrische Position. Diese Vorteile halten sich lange, bergen aber die Gefahr, ein sehr rigides, stereotypes Rollenbild zu entwickeln, während Spätentwickler kompensatorisch andere Fähigkeiten wie Sensibilität oder Kommunikation ausbilden. Früh entwickelte Mädchen haben es eher schwer. kognitive Entwicklung: Stadium der formalen Operationen Die Fähigkeit zu abstraktem Denken (davor ist das Denken weitgehend auf unmittelbare Erfahrungen angewiesen) ermöglicht auch deduktive Schlussfolgerungen. Erkannt wird, dass das tatsächlich Vorhandene lediglich eine Teilmenge des Möglichen und Denkbaren ist. kombinatorische Operationen (mögliche Pärchen farbiger Jetons) Verständnis für Proportionen Koordination zweier Bezugssysteme mechanisches Gleichgewicht (Balkenwaage) Wahrscheinlichkeitsbegriff Korrelation multiplikative Kompensation (zB Erhaltung des Volumens bei gleichzeitiger Variation von Masse und Temperatur; Pendelaufgabe) freie uni für alle page 20 Etwas mehr als die Hälfte der Menschen in modernen Industrieländern erreicht dieses Stadium (vor allem jene in städtischer, technisierter Umgebung), anscheinend ist es nicht unbedingt notwendig. [Entwicklungsaufgabe: Aufgabe in einer bestimmten Lebensperiode des Individuums, deren Bewältigung glücklich bzw. unglücklich macht] Entwicklungsaufgaben im Jugendalter (Havighurst, 1972) Akzeptieren des eigenen Körpers Erwerb der Geschlechtsrolle soziale Beziehungen zu Altersgenossen beiderlei Geschlechts emotionale Unabhängigkeit zu den Eltern Vorbereitung auf Beruf Vorbereitung auf Familienleben Übernahme sozialer Verantwortung Aufbau eines Wertesystems zusätzliche Aufgaben (Dreher & Dreher, 1985): Identität: Entwicklung eines Selbstbilds, Übereinstimmung mit Wahrnehmung anderer, Auseinandersetzung mit Schwächen, Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe mit Werten und Idealen Sexualität: intime Beziehung zu Partner Lebensplan: Zukunftsperspektive [Identität: Definition einer Person als einmalig und unverwechselbar] Entwicklung der Identität (Erik Erikson, 1974) 1. Lebensjahr: erste Bezugsperson Urvertrauen / Misstrauen {Freud: orale Phase} 2. - 3. Lebensjahr: Sauberkeitstraining {Freud: anale Phase} Entwicklung persönlicher Autonomie / Scham und Zweifel 4. - 5. Lebensjahr: ödipale Auseinandersetzung phallische Phase} 6. – 12. Lebensjahr: Schule Gefühl erfolgreicher Initiative / Schuldgefühle {Freud: Erfahrung als kompetent / minderwertig {Freud: Latenzzeit} 13. – 18. Lebensjahr: Adoleszenz: Identitätsfindung Geschlechtsreife, Berufswahl (umso leichter, je erfolgreicher die vorangegangenen Abschnitte bewältigt wurden) {Freud: genitale Phase} 19. – 25. Lebensjahr: Erfahrung von Bindung und Intimität durch Partnerwahl / Isolation 26. – 40. Lebensjahr: Teilnahme an aktiver Entwicklung der Gesellschaft / Stagnation ab dem 40. Lebensjahr: zufriedener oder verzweifelter Lebensabschluss und Rückblick Gegen Ende der Adoleszenz (18. Lebensjahr) hatten 73% der Jugendlichen bereits Geschlechtsverkehr. 90% der Buben und 60% der Mädchen masturbieren. Peerkontake Subkultur mit ähnlichen Interessen und Werten konkrete Clique, der man angehört oder angehören möchte persönliche Freundschaften mit Bindungserfahrungen mit Oberflächenstruktur: Merkmale wie Kleidung, Haarstil, Umgangsformen zur demonstrativen Abgrenzung von der Erwachsenenwelt und Tiefenstruktur: symmetrische Beziehungsebene mit Gleichaltrigen schafft ein Experimentierfeld für Sozialverhalten: Ausbildung von Kontakt- und Kooperationsfähigkeit, Einübung von sozialen Regeln, Moralentwicklung, Aggressionskontrolle, sexuelles Wissen, Sprachentwicklung, Bindung und Unterstützung nicht zuletzt für die Loslösung von den Eltern Peer-nominations-Techniken werden eingesetzt zur Vermeidung von Einseitigkeit (Selbstbeschreibung) durch Beurteilung durch Mitschüler oder Lehrer (guess-who-Technik). freie uni für alle page 21 Sexualität Spannungsfeld von Selbstbild, (fantastisierten) gesellschaftlichen Erwartungen und realen Erfahrungen, die stärken, aber auch extrem verunsichern können biologisch: Reifung der Geschlechtsorgane; Zeugungsfähigkeit; Sexualtrieb psychologisch: Übernahme von Erwachsenenrolle; Lebensziele; Werte und Normen sozial: kulturell stark unterschiedliche Bedingungen (abhängig von Geschlecht, Religion, Bildung, …) Heute findet die Geschlechtsreife früher statt, die Heirat später, Empfängnisverhütung ist allgemein verbreitet, dadurch kommt es zu einer Entkopplung von Sexualität, Heirat und Schwangerschaft. Sexuelle Authentizität bedeutet das Aushandeln sexueller Wünsche und Grenzen. Etwa ¾ der Jugendlichen hatte mit 19 Jahren bereits Sex, Lehrlinge und Städter früher als Schüler und Landkinder. Masturbation wurde früher für schädlich gehalten, heute ist es das Verbot. Männer tun es weit häufiger als Frauen. Homosexuelle Erfahrungen sind recht häufig, etwa 20-30% der Jugendlichen denken daran, Buben tun es auch, Mädchen weit weniger. Für Mädchen stehen Liebe und Partnerschaft im Vordergrund, für Buben das unmittelbare Vergnügen. Feministische Positionen (von Sydow, 1993) erklären das mit dem Unterschied in der sexuellen Selbstkenntnis: Der Penis erigiert schon bei Kleinkindern und verleitet viel mehr als die Klitoris zur Entdeckung angenehmer Erfahrungen, daher Konzentration auf Penis bei Buben vs. unspezifische romantische Gefühle bei Mädchen. Selbst Sexualkunde ignoriert die Klitoris und konzentriert sich auf den Mann. Dazu kommt die männliche Definitionsgewalt (Männer sind früher und stärker sexuell interessiert) und das höhere Risiko für Frauen (bzgl. Schwangerschaft, Vergewaltigung, Krankheiten). Sexual Strategies Theory: Evolutionäre Selektionsprozesse belohnen erfolgreiche Fortpflanzungsstrategien. Für den Mann bedeutet das eine möglichst große Zahl an jungen, gesunden Partnerinnen und eventuell die Sorge um den eigenen Nachwuchs. Für die Frau bedeutet das die erfolgreiche Sorge um den Nachwuchs. Daraus erklärt sich, warum Männer mehr kurzfristige Kontakte suchen und Frauen andauernde Partnerschaften, warum Männer mehr Wert auf körperliche Attraktivität legen und Frauen auf den Sozialstatus des Mannes, warum Männer älter sind als ihre Partnerinnen und durch Nacktheit leichter erregbar. 12. „Emerging Adulthood“ In entwickelten Industrieländern heute deutlich abgrenzbarer Lebensabschnitt junger Menschen im dritten Lebensjahrzehnt (vgl. Arnett, 2000) • in demographischer Hinsicht, • in Bezug auf subjektives Erleben, • in Bezug auf die Identitätsbildung. zeichnet sich aus durch hohe Variabilität und Instabilität • der Wohnverhältnisse (Elternhaus, Heim, WG, Paar, allein) und Wohnorte (häufige Umzüge), • der Ausbildungs- und Beschäftigungsverhältnisse (div. Ausbildungen, Studium, Jobs, Berufseinstieg, „Generation Praktikum“, „Jugendarbeitslosigkeit“). freie uni für alle page 22