Genetik in der Orthopädie Dr. med. Katharina Rötzer Formale Genetik, Grundbegriffe Genotyp individuelle Genkombination eines Individuums Phänotyp Summe aller Merkmale eines Individuums Einzelmerkmal eines Individuums ? V M X Y X X Vererbung monogen bedingter Merkmale • • • • Autosomal rezessiv (AR) Autosomal dominant (AD) X-chromosomal rezessiv (XR) X-chromosomal dominant (XD) • Y-chromosomal Stammbaum - Symbole 1 weibliches Individuum - gesund weibliches Individuum - krank (Merkmalsträgerin) männliches Individuum - gesund männliches Individuum - krank (Merkmalsträger) Geschlecht unbek./Schwangerschaft EGT: verstorben Blutsverwandtschaft Stammbaum - Symbole 2 Konduktorin / gesund Zweieiige Zwillinge Eineiige Zwillinge Ratsuchender - erkrankt (Merkmalsträger) Fehlgeburt Charakteristik des autosomal-dominanten Erbgangs • Merkmalsfreie Überträger kommen nur in Ausnahmefällen vor • Es erfolgt eine Übertragung vom Vater auf den Sohn • Der Anteil der Neumutationen erhöht sich mit der Schwere der Erkrankung • Bei sporadischem Auftreten ist das Risiko für weitere Nachkommen nicht erhöht außer es handelt sich um ein Gonadenmosaik • Bei homozygoten Anlageträgern tritt meist eine schwerere Form der Erkrankung auf • Wegen variabler Expressivität ist es wichtig bei Gesunden auf Mikrosymptome zu achten Autosomal dominant Eltern Kinder 50 % 50 % (1/2) Beispiele für autosomal-dominant vererbte Erkrankungen Marfan-Syndrom http://www.childrenshospital.org/az/Site543/mainpageS543P0.html Marfan-Syndrom Revidierte Ghent-Nosologie zur klinischen Diagnose Patienten ohne pos. Familienanamnese für MFS Aorten-DM (Z≥2) UND Ectopia lentis Aorten-DM (Z≥2) UND FBN1-Mutation Aorten-DM (Z≥2) UND systemische Kriterien (≥ 7 Punkte) Ectopia lentis UND FBN1-Mutation mit bekannter Assoziation mit Aortendilatation/-aneurysma Systemische Kriterien umfassen u.a. pos. Daumen- und Hangelenkszeichen, Pes planus, Pectus carinatum/excavatum, erhöhte Armspanne/Körpergröße-Ratio, Mitralklappenprolaps… Marfan-Syndrom Revidierte Ghent-Nosologie zur klinischen Diagnose Patienten mit pos. Familienanamnese für MFS Ectopia lentis UND pos. Familienanamnese für MFS Systemische Kriterien (≥ 7 Punkte) UND pos. Familienanamnese f. MFS Aortendilatation (Z≥2 ab 20.Lj., davor Z≥3) UND pos. Familienanamnese f. MFS Marfan-Syndrom • Korrekte Diagnosestellung von größter Bedeutung! • Regelmäßige Ultraschallkontrollen und eventuelle Operation der Aortenwurzel/Aorta ascendens notwendig • Bei Spontanverlauf deutlich reduzierte mittlere Lebenserwartung (ca. 35 Jahre) Beispiele für autosomal-dominant vererbte Erkrankungen Achondroplasie Vajo, Z. et al. Endocr Rev 2000;21:23-39 Achondroplasie • Häufigste Form des dysproportionierten Minderwuchses (110-130 cm), Inzidenz 1:30.000 • Störung im Knochenwachstum – die Epiphysenfugen verknöchern frühzeitig • 80% Neumutationen im FGFR3-Gen, Mutationen entstehen fast immer am väterlichen Allel • hohes väterliches Alter führt zu mehrfach erhöhtem Risiko Beispiele für autosomal-dominant vererbte Erkrankungen Osteogenesis Imperfecta Osteogenesis Imperfecta • Derzeit 12 Typen beschrieben • Vererbung zum Teil autosomal-dominant, zum Teil autosomal-rezessiv • Die „klassischen“ Typen I-IV sind i.d.R. autosomaldominant vererbt und durch Mutationen im COL1A1 bzw. COL1A2-Gen verursacht • Zusätzliche Symptome können sein: blaue Skleren, Hämatomneigung, Dentinogenesis Imperfecta, Herzklappeninsuffizienzen, Schwerhörigkeit, hypermobile Gelenke Beispiele für autosomal-dominant vererbte Erkrankungen Ehlers-DanlosSyndrom www.medstudcase.blogspot.com Ehlers-Danlos-Syndrom Heterogene Gruppe genetisch bedingter Bindegewebserkrankungen Die häufigsten Formen sind: EDS Typ I und II – klassisches EDS EDS Typ III – hypermobiles EDS EDS Typ IV – vaskuläres EDS Zur Zeit 11 Typen beschrieben, alle Vererbungsmodi kommen vor; Typ I-IV autosomal-dominant EDS Typ I und II stark überdehnbare und leicht verletzbare Haut Hämatomneigung abnorme Wundheilung („Zigarettenpapierhaut“) Überbeweglichkeit der Gelenke innere Organe und Gefäße mit betroffen Symptome bei Typ II wie bei Typ I, nur geringer ausgeprägt • Mutationen im COL5A1 und COL5A2-Gen, selten auch im COL1A1-Gen • • • • • • EDS Typ III • Hypermobilität der Gelenke steht im Vordergrund • Mutationen z.T. im Tenascin X-Gen und einmalig im COL3A1-Gen, meist Ursache unbekannt EDS Typ IV • Fragilität der Blutgefäße steht im Vordergrund • Typische Fazies, sehr dünne durchscheinende Haut, Hämatome!!! • Deutlich reduzierte Lebenserwartung (Aortenruptur) • Mutationen im COL3A1-Gen Charakteristik des autosomal-rezessiven Erbgangs • Häufig Konsanguität der Eltern • Autosomal-rezessive Erkankungen treten häufig nur innerhalb einer Generation auf wobei das Verhältnis rein statistisch (1:2:1) beträgt, • Gesunde Kinder von Erkrankten sind nur dann gefährdet wenn der Partner auch Anlageträger ist • Aus Verbindungen zwischen zwei Homozygoten gehen 100%, zwischen einem Homozygoten und Heterozygoten statistisch 50% betroffene Kinder hervor • Stoffwechselerkrankungen folgen bis auf Ausnahmen einem aut-rez. oder X-chromosomalen Erbgang Autosomal rezessiv Eltern Kinder 25 % 50 % 25 % (1/4) Beispiele für autosomal-rezessiv vererbte Erkrankungen Laktoseintoleranz Laktoseintoleranz • Kongenitaler Laktasemangel (sehr selten) • Primärer Laktasemangel Die Mehrheit der Weltpopulation (6 Milliarden Menschen) haben “Laktasemangel” nach dem Abstillen Chinesen 90-100% Europäer 5-25% • Sekundärer Laktasemangel Infekt (Rotavirus, Gardia, etc.) Zoeliakie M. Crohn Anorexie Visceralchirurgie (z.B. Gastrektomie) Klinische Symptome Blähungen (bis zu 100%) Borborygmi / Flatus (80%) Diarrhö, Stuhldrang (50%) Abdominale Schmerzen (50%) Nausea, Erbrechen (30%) Systemische Symptome (80%), z.B. Hautprobleme, Kopfschmerzen, Schwindel, Konzentrationsstörung, Müdigkeit, Muskel- und Gelenkschmerzen Klinische Symptome II Weiters verminderte Körpergröße und Neigung zu Osteoporose (Kalziummangel!) Koek et al., ASBMR 2008 Primärer Laktasemangel Der Verlust der Laktaseaktivität ist genetisch determiniert. Er soll den Prozess des Abstillens unterstützen. Primärer Laktasemangel Verteilung der Laktoseintoleranz auf der Welt, Entstehung der Mutation für LaktoseTOLERANZ /LaktasePERSISTENZ vor etwa 10.000 Jahren; spiegelt Haltung von Kühen zu dieser Zeit wider “Gene-Culture co-evolution“ www.laktose-intoleranz.net Charakteristik des X-rezessiven Erbgangs • Frauen sind in der Regel gesunde Anlageträgerinnen (Konduktorinnen) • trotzdem sind je nach Erkrankung zu einem gewissen Prozentsatz auf Frauen klinisch betroffen (jedoch leichter als Männer – Stichwort Lyonisierung, ungleiche XInaktivierung) • 100% der Töchter betroffener Männer sind Konduktorinnen, die Söhne sind alle gesund • 50% der Söhne von Konduktorinnen sind erkrankt, 50% der Töchter sind Konduktorinnen X-chromosmal rezessiver Erbgang Beispiele für X-chromosomal-rezessiv vererbte Erkrankungen Hämophilie A/B http://www.haemarthro.de/Hintergrund.html Hämophilie A/B • Mangel an Gerinnungsfaktor VIII (A) bzw. IX (B) • Spontane Blutungen in innere Organe und Gelenke (Arthropathie) • Therapie mit rekombinantem Gerinnungsfaktor VIII bzw. IX ermöglicht gute Lebensqualität • Keine Kontaktsportarten, keine i.m. Injektionen (stattdessen s.c. oder i.v.), keine blutgerinnungshemmenden Medikamente (z.B. ASS) • Hämophilieausweis immer mitführen! Beispiele für X-chromosomal-rezessiv vererbte Erkrankungen Duchenne Muskeldystrophie Gowers Zeichen, Darstellung aus Originalpublikation von Gower 1879 Muskeldystrophie Duchenne • Häufigste Muskeldystrophie im Kindesalter, vorwiegend Knaben betroffen (1:3500) • Beginn mit etwa 2-3 Jahren • Gehfähigkeit geht etwa im 6.-11. Lebensjahr verloren • Deutlich eingeschränkte Lebenserwartung (Kardiomyopathie, pulmonale Infekte/Insuffizienz), Tod meist im jungen Erwachsenenalter • im Labor: CK ↑↑, Diagnose meist primär mit Muskelbiopsie, z.T. auch mit Genetik möglich Muskeldystrophie Duchenne • Therapie mit Cortison (ab etwa 4. -6. Lj.) kann Verlust der Gehfähigkeit etwas verzögern (z.B. Prednisolon 0,75 mg/kgKG/d) • Regelmäßige kardiologische Kontrollen, bei Bedarf Kardiomyopathie-Therapie mit ACE-Hemmern • Regelmäßige pulmonologische Kontorllen, ev. nächtliches BiPAP bei pulmonaler Insuffizienz • Operative Therapie von Kontrakturen der Gelenke kann Gehfähigkeit verlängern • Operative Therapie der Skoliose Charakteristik des X-dominanten Erbgangs • Hemizygote Männer und heterozygote Frauen sind betroffen • Z.T. auch letal für männliche Individuen • Selten Frauen stärker betroffen als Männer (Frontonasale Dyplasie) • 100% der Töchter betroffener Männer sind erkrankt, die Söhne alle gesund • 50% der Kinder betroffener Frauen sind erkrankt • Insgesamt sehr seltener Erbgang X-chromosmal dominanter Erbgang www.wikipedia.org Beispiele für X-chromosomal-dominant vererbte Erkrankungen X-linked hypophosphatämische Rachitis www.comprehensivephysiology.com XLHR • Renaler Phosphatverlust • Dysproportionierter Kleinwuchs • Verbiegung der langen Röhrenknochen, Kniedeformitäten • Zahnanomalien • Verursacht durch Mutationen im PHEX-Gen DD Kleinwuchs www.skeldys.de DD Kleinwuchs • Normvariante (familiärer KW? Konstitutionelle EWR?) • Pathologischer Kleinwuchs: Eumorph Malabsorption/Malassimilation endokrinologische Störung Herzfehler chron. Nierenerkrankungen onkologische Erkrankungen Plazentainsuffizienz Dysmorph/Disproportioniert Chromosomenaberration (z.B. Turner-Syndrom) Genet. Syndrome (z.B. NoonanSyndrom, SRS) Exogene Fetopathien Skelettdysplasien Knochenstoffwechselstörungen DD Kleinwuchs Untersuchungen: Ausführliche Eigenanamnese inkl. Schwangerschaftsanamnese und Geburtsmaßen Familienanamnese (inkl. Körpergrößen der Verwandten) Wachstumskurve, Knochenalterbestimmung Körperliche Untersuchung inkl. Erhebung der Körpermaße und Suche nach Dysmorphiezeichen Basislabor inkl. Hormonstatus, ev. Gliadin-AK Bildgebung (Skelettstatus) Herz-Echo Chromosomenanalyse, SHOX-MLPA, ev. weitere genet. Analysen SNP‘s • Single nucleotide polymorphisms: Variation einzelner Basenpaare in einem DNA-Strang ca. 90% der Varianz im menschlichen Genom durch SNP‘s bedingt (ca. alle 1000 bp 1 SNP) hohe Prävalenz in der Bevölkerung, Auswirkungen auf Phänotyp gering bis moderat SNP‘s im Knochenstoffwechsel • Bis zu 80% der Varianz in BMD ist genetisch determiniert • Einige wichtige Gene in diesem Zusammenhang sind: VDR (Vitamin D-Rezeptor) Kollagen Typ 1 (v.a. Sp1-Polymorphismus) LRP5 (LDL Rezeptor-related Protein) ESR1 (Östrogen-Rezeptor) IL6 (Interleukin-6) Sp1-Polymorphismus • SNP im Intron 1 des COL1A1-Gens, ist Bindungsstelle für Transkriptionsfaktoren • dadurch werden vermehrt Col1A1-Ketten gebildet und es formieren sich Triple-Helices aus drei Col1A1Ketten (statt 2 Col1A1 und 1 Col1A2) • Bei Patienten mit schwerer OP und WK-Frakturen deutlich häufiger (54% vs. 27%) • Bei Homozygotie für den Sp1-Polymorphismus beträgt das RR für Wirbelkörperfrakturen 2,97 Grant et al., Nature Genetis 1996 Exkurs - Epigenetik • Chemische Modifikationen an der DNA, die im Lauf des Lebens entstehen und auf Tochterzellen weitervererbt werden können • Veränderungen in der Genexpression (meistens Genabschaltung) www.mpg.de • Beispiele: Methylierung von Cytosinen, Modifikation von Histonen („Verpackung“ der DNA) Epigenetik in der Praxis • Differenzierung in unterschiedliche Zelltypen (die DNA ist in allen Zellen gleich, die Genexpression einer Leberzelle ist jedoch unterschiedlich zu jener einer Herzmuskelzelle) www.nature.com Epigenetik in der Praxis • X-Inaktivierung • Veranlagung zu bestimmten Erkrankungen durch Vererbung epigenetischer Veränderungen durch die Eltern/Großeltern (z.B. Diabetes Mellitus) • Wichtiger Mechanismus der Krebsentstehung, aber auch neuer Ansatz für Krebstherapie