Armut und Menschenwürde

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Christoph Butterwegge
Armut und Menschenwürde
Artikel 22 der Menschenrechtscharta, welche die UN-Vollversammlung am
10. Dezember 1948 beschlossen hat, billigt jedem das Recht auf soziale
Sicherheit zu, und Artikel 25 dieser Erklärung konkretisiert: „Jeder hat das
Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit
und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf
Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel
durch unverschuldete Umstände.“
Armut verletzt die Menschenwürde, vor allem in einem reichen Land, das
über genügend Ressourcen verfügt, um seinen Wohnbürger(inne)n gute
Arbeits- und Lebensbedingungen zu garantieren. Dort wird den Bedürftigen
„strukturelle Gewalt“ angetan. Johan Galtung führte diesen Terminus gegen
Ende der 1960er-Jahre als Synonym für „soziale Ungerechtigkeit“ ein, weil
der bedeutende Friedensforscher für eine Ausdifferenzierung und Erweiterung des Gewaltbegriffs plädierte. Er wählte zur Verdeutlichung folgendes
Beispiel für das Auseinanderfallen von potenziellen und aktuellen Lebenschancen: „Wenn Menschen in einer Zeit verhungern, in der dies objektiv
vermeidbar ist, dann wird Gewalt ausgeübt, gleichgültig ob eine klare Subjekt-Objekt-Beziehung vorliegt (wie z.B. früher bei einer Belagerung), oder
auch dann, wenn keine solche eindeutige Beziehung existiert (wie beispielsweise bei der Art der Organisation der Weltwirtschaftsbeziehungen
heute).“
Die soziale Ungleichheit wächst
In einem wohlhabenden, wenn nicht reichen Land wie der Bundesrepublik
müsste niemand darben. Vielmehr ließe sich bei einer halbwegs egalitären
Ressourcenverteilung sicherstellen, dass jeder seine Grundbedürfnisse
befriedigen, zwischenmenschliche Kontakte pflegen und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann. Der dafür nötige soziale Ausgleich unterbleibt jedoch, weshalb sich das private Vermögen bei den „Leistungseliten“
oder Gruppen, die sich dafür halten, privilegierten Schichten und wenigen
Finanzmagnaten konzentriert, während andere Bevölkerungsgruppen leer
ausgehen.
Besonders stark entwürdigt Armut junge und alte Menschen, die mittlerweile auch wieder zu den Hauptbetroffenengruppen gehören. Denn die Ersteren haben aufgrund ihres kurzen Lebens weder geeignete Bewältigungsstrategien noch effektive Verdrängungsmechanismen entwickelt und geraten leicht in einen Teufelskreis der sozialen Vererbung von Armut, während
die Letzteren kaum Chancen haben, der damit verbundenen Ausgrenzung
durch Aufnahme einer Beschäftigung oder Knüpfung neuer sozialer Netzwerke zu entkommen, vielmehr häufig in die Isolation geraten.
Arm zu sein bedeutet mehr, als wenig Geld zu haben. In einem Land wie
der Bundesrepublik ist Armut ein mehrdimensionales Problem, das ökonomische (monetäre), soziale und kulturelle Aspekte umfasst. Neben weitgehender Mittellosigkeit oder gravierenden monetären Defiziten (sprich: miserablen Einkommens- und Vermögensverhältnissen); einem länger dauernden Mangel an lebensnotwendigen bzw. allgemein für unverzichtbar gehaltenen Gütern und Dienstleistungen, welcher einen gravierenden Ansehensverlust bei anderen Gesellschaftsmitgliedern bedingt; der Notwendig-
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keit, staatliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen, auf vergleichbare
Formen der „Fremdalimentierung“ zurückzugreifen oder den eigenen Lebensunterhalt durch Bettelei, evtl. auch durch illegale Formen des Broterwerbs bestreiten zu müssen, also keinerlei längerfristige Lebensplanung
betreiben zu können; gravierenden Mängeln im Bereich der Wohnung, des
Wohnumfeldes, der Haushaltsführung, Ernährung, Gesundheit, Bildung,
Freizeit und Kultur, die fast zwangsläufig zum Ausschluss der betroffenen
Personen vom gesellschaftlichen Leben führen; einem hohen Maß an Immobilität sowie einer allgemeinen Missbilligung der Lebensweise davon
Betroffener, die marginalisiert, negativ etikettiert und stigmatisiert, d.h. ausgegrenzt und selbst für ihr Schicksal verantwortlich gemacht werden; ist die
Macht- bzw. Einflusslosigkeit der betroffenen Personen in allen gesellschaftlichen Schlüsselbereichen (Wirtschaft, Politik, staatlicher Verwaltung,
Wissenschaft und Massenmedien) für relative Armut kennzeichnend.
Ursachen der sozialen Polarisierung
Armut, Lebensqualität und Humanität schließen einander aus. Obwohl zumindest ein so reiches Land wie die Bundesrepublik ihre sozialökonomischen Entstehungsursachen beseitigen könnte, wenn der politische Wille
dazu vorhanden wäre bzw. entsprechende Anstrengungen unternommen
würden, dringt die Armut seit geraumer Zeit in die Mitte der Gesellschaft
vor und verfestigt sich dort. Wie ist das zu erklären? Armut entsteht nicht
trotz, sondern durch Reichtum. Bertolt Brecht hat es in einem Vierzeiler
folgendermaßen ausgedrückt: „Armer Mann und reicher Mann / standen da
und sah’n sich an. / Und der Arme sagte bleich: / Wär’ ich nicht arm, wärst
du nicht reich.“ Deshalb kann Armut im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung nicht durch zunehmenden Reichtum beseitigt werden. Beide sind vielmehr systembedingt und konstitutive Bestandteile des Kapitalismus. Schon Georg Friedrich Wilhelm Hegel hatte in seiner „Rechtsphilosophie“ festgestellt, „daß bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d.h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung
des Pöbels zu steuern.“
Manche neoliberale Ökonomen vertreten mehr oder weniger offen die Position, dass sich der Armut am effektivsten vorbeugen lässt, indem man den
Reichtum vergrößert, weil dieser auch denjenigen zugute komme, die weniger begütert sind (sog. Trickle-down-Effekt). Nach dieser „PferdeäpfelTheorie“ muss man, um den Spatzen etwas Gutes zu tun, die Vierbeiner
mit dem besten Hafer füttern, damit die Spatzen dessen Körner aus ihrem
Kot herauspicken können. Reichtumsmehrung statt Armutsverringerung –
so lautet bzw. lautete auch das heimliche Regierungsprogramm der vergangenen Jahrzehnte. Besser würden die Spatzen direkt und damit wirklich
unterstützt. Dasselbe gilt für die Armen, denen sehr viel eher geholfen wäre, wenn sie nicht als „Faulpelze“ und „Sozialschmarotzer“ diffamiert, sondern durch eine Politik der Umverteilung von oben nach unten bessergestellt würden.
Herrschaftssicherung als Hauptfunktion der Armut
Schon immer verkörperten die Armen ein „soziales Worst-case-Szenario“
für Gesellschaftsmitglieder, die sich nicht systemkonform verhielten; ihnen
blieb jedoch (fast) immer die Hoffnung, ihre Lage durch eigene Anstrengungen und/oder glückliche Fügungen des Schicksals zu verbessern. Auch
wenn diese Erwartungen fast nie erfüllt wurden, steckte darin ein wichtiger
Lebensimpuls, der sonst schwer vergleichbare Gruppen miteinander verband, weil soziale Grenzlinien zumindest prinzipiell – wiewohl real eben nur
im Ausnahmefall – überwunden werden konnten. Die (Angst vor der) Armut
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war ausgesprochen nützlich für den Fortbestand des politischen und Gesellschaftssystems.
Armut erscheint in einer Gesellschaft, die den Wettbewerb bzw. die Leistung geradezu glorifiziert und Letztere mit Prämien, Gehaltszulagen oder
Lohnsteigerungen prämiert, als funktional, weil sie nur das Pendant dessen
verkörpert, was die Tüchtigeren und daher Erfolgreichen in des Wortes
doppelter Bedeutung „verdient“ haben. Armut ist systembedingt, d.h. Strukturmerkmal und Funktionselement einer kapitalistischen Marktgesellschaft
im Zeichen der Restrukturierung fast aller Lebensbereiche nach dem Konkurrenzparadigma und neoliberalen Modellvorstellungen. Sieht man im
Neoliberalismus ein gesellschaftspolitisches Großprojekt, das mehr soziale
Ungleichheit schaffen will, ist die Armut weder ein unsozialer Kollateralschaden der Globalisierung noch ein wirtschafts- und sozialpolitischer Betriebsunfall.
Sozial ausgegrenzte Minderheiten nützen sowohl den Herrschenden als
auch dem bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, denn sie
führen den Nichtarmen plastisch vor Augen, was ihnen bei einer grundlegenden Veränderung ihrer Lebensweise oder bei einer Loyalitätsverweigerung droht. Ohne den im Verweigerungsfalle zu erwartenden sozialen Abstieg, dem die abhängig Beschäftigten entgehen möchten, weil sie in der
Nachbarschaft sehen, welche Entwürdigungen damit verbunden sind, entfiele für sie das zentrale Motiv, sich tagtäglich dem Lohnarbeitszwang und
dem Direktionsrecht der Unternehmer bzw. ihrer Manager zu unterwerfen.
Armut ist für die Aufrechterhaltung der bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse erforderlich, hält sie doch Betroffene, Erwerbslose und
Arbeitnehmer/innen gleichermaßen unter Kontrolle. Armut wirkt als politisch-ideologisches Druckmittel, materielles Disziplinierungsinstrument und
soziale Drohkulisse zugleich: Sie demonstriert jenen Menschen, die arm
sind, dass ihre Leistungsfähigkeit und/oder -bereitschaft nicht ausgereicht
hat, um sich fest zu etablieren, und sie demonstriert jenen Menschen, die
nicht arm sind, dass ihre Loyalität weiterhin nötig ist, um nicht abzustürzen.
Armut als Gefahr für die Demokratie
Dies bedeutet weder, dass Armut immer von jedem einzelnen politisch
Verantwortlichen gewollt, noch dass sie für das bestehende Wirtschaftsund Gesellschaftssystem völlig ungefährlich ist. Vielmehr bildet Armut sozialen Sprengstoff und eine Gefahr für die Demokratie, weil diese mehr beinhaltet, als dass Bürger/innen alle vier oder fünf Jahre zur Wahlurne gerufen
werden, nämlich auch einschließt, dass sie gleichberechtigt an den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen teilnehmen. Hierzu
müssen sie über die materiellen Mittel verfügen, um auch in ferner gelegenen Orten stattfindende politische und Bildungsveranstaltungen sowie Aktionen, Kundgebungen und Demonstrationen zu besuchen. Eine alleinerziehende Mutter, die nicht weiß, wie sie eine bevorstehende Klassenfahrt oder
teure Schulmaterialien für ihre Kinder bezahlen soll, wird sich aber kaum an
den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen beteiligen
können.
Sofern unsere Analyse richtig und Armut keineswegs bloß ein Problem von
Menschen ist, die „nicht mit Geld umgehen können“, kann man den Betroffenen schwerlich die Schuld daran zuschieben und dem Problem weder
mittels moralischer Appelle an Wohlhabende noch mittels karitativer Maßnahmen beikommen. Vielmehr muss der Reichtum angetastet werden und
eine Umverteilung von oben nach unten stattfinden, wenn die Armut wirksam bekämpft werden soll.
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Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zuletzt
sind seine Bücher „Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird“ (Campus), „Krise und Zukunft des Sozialstaates“ (Springer VS) sowie „Armut im
Alter. Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung“ (Campus) erschienen.
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