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Kinderarmut und Lernbeeinträchtigung Zur Ungleichheit sozialer Beteiligungschancen
in der Kinderwelt
Prof. Dr. Rainer Benkmann
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Gliederung
1. Kinderarmut als mehrdimensionales Armutssyndrom
2. Lernbeeinträchtigung als interaktive Inkompetenz
3. Lernbeeinträchtigung als Folge ungleicher
Beteiligungschancen
4. Anbahnung von Kinderfreundschaften als Ziel (sonder-)
pädagogischen Handelns
angelehnt an: Benkmann, R. (2007): Kinderarmut und Lernbeeinträchtigung. In: Salzberg-Ludwig, K. &
Grüning, E. (Hrsg.): Pädagogik für Kinder und Jugendliche in schwierigen Lern- und Lebenssituationen (79-92).
Stuttgart: Kohlhammer
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„Materielle Not und Armut sind vielleicht die wichtigsten
Faktoren, die Familien zu Risikofamilien werden lassen“
(Perres 2005).
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1. Generell wird zwischen absoluter Armut und relativer Armut
unterschieden.
2. Für Länder wie Deutschland haben wir nicht die absolute
Armut im Blick, die das physische Überleben der Menschen
bedroht, sondern die relative Armut im Sinne von
Einkommensarmut.
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1. Relative Armut bzw. Einkommensarmut wird unterschiedlich
definiert. Die Armutsschwelle kann bei 50%, nach der neuen
EU- bzw. OECD-Definition wird sie bei 60% des Medians des
durchschnittlichen Äquivalenzeinkommens aller Haushalte
angesetzt.
2. 2007 bedeutet 60% bei Einrechnung der Verbraucherpreise
für
Person allein:
736€ Paar ohne Kind:
1.324€
Paar/ 1 Kind: 1.545€ Alleinerziehende/ 1 Kind:
956€
Paar/ 2 Kinder: 1.766€ Alleinerziehende/ 2 Kinder: 1.177€
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1. Ca. 17% der 15 Millionen Heranwachsenden, das sind mehr
als 2,5 Millionen, galten 2006 in Deutschland als arm. Der
Anstieg ist aktuell dramatisch.
2. Der deutsche Kinderschutzbund geht inzwischen von ca. 20%
armen Kindern unter 15-Jährigen aus. Dabei ist
Ostdeutschland weit mehr betroffen als Westdeutschland.
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1. In deutschen Großstädten (< 400 000) ist der Anteil
besonders hoch: Berlin 37,1%, Leipzig 36,6%, Essen 30,1%,
Dresden 25,1%.
2. In Erfurt liegt der Anteil armer Kinder über 30%.
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Mehr als 70 % der Kinder mit Lernbeeinträchtigungen (LB)
kommen aus Familien, die nach der alten EU- bzw. OECDDefinition unterhalb der Armutsschwelle von 50% oder der
strengen Armutsschwelle von 40% leben.
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1. Materielle Unterversorgung ist eine Seite der Armut, die
andere ist soziale Armut. Wer arm ist, ist oft im
Selbstwertgefühl beschädigt, wenig motiviert, neigt
gelegentlich zu Drogenkonsum, isoliert sich und entwickelt
dysfunktionale Bewältigungsstrategien.
2. Innerfamiliäre Interaktionsprozesse können durch massive
Probleme gekennzeichnet sein.
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Das mehrdimensionale Armutssyndrom weist vier Dimensionen
auf und verbindet materielle und soziale Aspekte:
• Gesundheitsbelastungen
• Unzureichende Anregung
• Geringe Interaktions- und Beziehungsdichte
• Mangelhafte Ausstattung mit materiellen Gütern
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1. Die Situation geringer Interaktions- und Beziehungsdichte
kann das Ausmaß der Risiken in den drei anderen
Dimensionen beeinflussen.
2. Bei sozialer Integration lassen sich die Folgen der Risiken in
den drei anderen Dimensionen besser ertragen und
bewältigen.
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1. Viele Kinder mit LB sind nicht gut sozial integriert. Sie haben
nur wenige Freunde und sind einsam. Ihre Interaktionen und
Beziehungen sind daher nicht resilienzerzeugend.
2. Zur sozialen Exklusion Heranwachsender tragen folgende
Risikofaktoren für und in Familien bei (Perres 2005):
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1. Bei Lernbeeinträchtigungen schaffen bestimmte
Kombinationen von Risikofaktoren familiäre Verhältnisse, in
denen die Kinder von Geburt an kaum von Interaktion und
Beziehung profitieren.
2. Die soziale Teilnahme wird folglich behindert und die
Lernentwicklung kaum stimuliert. Das markiert den Beginn
von Lernbeeinträchtigungen.
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Lernbeeinträchtigung ist eine „langfristig angebahnte Störung
der gesamten Lebenslage des Kindes“ (Kautter 1984). In der
sozial-konstruktivistischen Perspektive hat sie ihren Ursprung
in der Unverträglichkeit der Handlungsmuster und -strategien
aller Beteiligten des familiären Systems.
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Interaktive Inkompetenz ist Kern der Lernbeeinträchtigung, der
in der mangelnden Kompetenz zum Perspektivenwechsel, zur
sach- und sozial angemessenen Aufarbeitung komplexer
Probleme und in einer unangemessenen
Handlungsumsetzung deutlich wird.
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In der Kinderwelt lassen sich beim sozialen Handeln drei Muster
identifizieren:
1. Zwang, Missachtung und Unterwerfung
2. Anfrage, Antwort
3. Argumentative Vermittlung
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1. Im Unterschied zu Kindern ohne LB sind Kinder mit LB
weniger gut in der Lage, Strategien auf den unterschiedlichen
Qualitätsstufen der Muster situativ angepasst einzusetzen.
2. Wir nehmen an, dass ihr Verhalten auf den beiden
niedrigeren Stufen (Muster 1/2) verharrt. Das bedeutet aber
nicht, dass Kinder ohne LB diese Muster nicht einsetzen.
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1. Meta-Analysen zeigen, dass bis zu drei Viertel der LB-Schüler
Defizite in ihren sozialen Fertigkeiten hatten, was zu
massiven Problemen bei der Integration in die
Gleichaltrigengruppe führte.
2. Sie hatten weniger Freunde, gaben an, mehr Feinde als
Freunde zu haben und neigten zu Fehlinterpretationen von
Verhaltensweisen.
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1. Auch Erwachsene berichten von mehr Problemen mit LBKindern als mit anderen Kindern.
2.Gestörte soziale Beziehungen unter Gleichaltrigen in der
mittleren Kindheit haben ein hohes Sozialisationsrisiko und
dramatische Folgen für den weiteren Lebensverlauf
(Schulabbruch, Delinquenz, psychische Krankheit).
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1. Eine Pädagogik der Kindheit muss viele Gelegenheiten für
soziale Interaktion und Beziehung zwischen Kindern mit und
ohne LB schaffen.
2. Lehrkräfte müssen Kooperationsprozesse so unterstützen,
dass Kinder ihre Handlungen und Perspektiven kokonstruieren und produktive Interaktionen entstehen.
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1. Kooperatives Lernen sollte die Chance erhöhen, dass sich
Freundschaften zwischen Kindern mit LB und ohne LB
entwickeln. Von den Erfahrungen in Freundschaften gehen
Entwicklungsimpulse aus, die Erwachsene nicht stimulieren
können.
2. Freunde sind für Kinder bedeutsame Andere.
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1. Freundschaften enthalten geteilte Erfahrungen und lassen
eine gemeinsame Bedeutungsgeschichte entstehen. Sie
schaffen einen bleibenden Rahmen für erleichterte Interaktion
und Kommunikation.
2. In Freundschaften ist es besonders für lernbeeinträchtigte
Kinder wichtig, Achtung zu erfahren, die ihnen meist nicht
entgegen gebracht wird.
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1. Achtung ist nach Piaget grundlegend für die
Moralentwicklung.
2. Heteronome Moral lernen die Kinder in der asymmetrischen
Erwachsenen-Kind-Beziehung, indem sie soziomoralische
Werte und Regeln übernehmen. Autonome Moral wird in der
symmetrischen Kind-Kind-Interaktion gelernt, indem Werte
und Regeln wechselseitig anerkannt werden.
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1. In Familien von Kindern mit LB trägt grobes, rücksichtsloses
und unüberlegtes Verhalten der Erwachsenen dazu bei, dass
die Kinder kaum Respekt entwickeln. Wer selbst keine
Achtung erfährt, entwickelt auch keine gegenüber anderen.
2. Diese Aufgabe müssen sich verstärkt integrative
Bildungsinstitutionen stellen.
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Literatur
Benkmann, R. (2007): Kinderarmut und Lernbeeinträchtigung. In: Salzberg-Ludwig, K. & Grüning, E. (Hrsg.):
Pädagogik für Kinder und Jugendliche in schwierigen Lern- und Lebenssituationen (79-92). Stuttgart: Kohlhammer
Chassé, K. A., Zander, M. & Rasch, K. (2003): Meine Familie ist arm. Wie Kinder im grundshculalter Armut erleben und
bewältigen. Opladen: Leske + Budrich
Studie zur Armut von Kindern und Jugendlichen als pdf-Datei unter Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und
Gesundheit (Zugriff 05.06.2009)
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