1 Michael Schröter BBE-Newsletter 4/2010 Armut ist nicht gleich

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Michael Schröter
BBE-Newsletter 4/2010
Armut ist nicht gleich Erwerbslosigkeit:
Einkommensarmut in Deutschland
Zwar hat das Bundesverfassungsgericht gerade unmissverständlich festgestellt, dass
soziale Hilfen keine Gnade sind, sondern Ausdruck des Grundrechtes auf die Sicherung des sozialen und kulturellen Existenzminimums. Dennoch wird von bestimmten
Akteuren immer wieder behauptet, es ginge bei Sozialpolitik nur um eine scheinbar
notwendige Aktivierung von Erwerbslosen.
Die Zahlen, die uns zur Einkommensarmut in Deutschland vorliegen, zeichnen ein
deutlich anderes Bild. Überproportional von dieser bedroht sind ebenso Kinder, Jugendliche, Alleinerziehende und Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen. Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II („Hartz IV“) bekommen dementsprechend immer mehr den Charakter einer allgemeinen Grundsicherungsleistung statt einer Hilfe
für Erwerbslose. Zudem leben weitaus mehr Menschen unter der Armutsgrenze, als
diese Leistung erhalten.
Was bedeutet „Armut“?
Wer über Sozialpolitik spricht, sollte zunächst einmal wissen, was der Begriff Armut
meint.
Absolute Armut bedeutet, dass Grundbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung, Wohnen
nicht befriedigt werden können und dadurch Mangelerscheinungen eintreten, die bis
zum Tode führen können.
Der Begriff „Relative Armut“ beschreibt Armut im Vergleich zum jeweiligen sozialen
Umfeld, zum sozialen und kulturellen Standard einer Gesellschaft. So wird unter anderem der Mangel an Mitteln zur Sicherung des Lebensstandards und zur gesellschaftlichen Teilhabe im gesellschaftlichen Vergleich erfasst. Hinzu kommen Mangelerfahrungen in Lebensbereichen wie Bildungschancen, soziale Kontakte, Anerkennung oder Aufstiegschancen.
In der Statistik wird meist die relative Einkommensarmut dargestellt, die vergleichsweise leicht erhoben werden kann. So nutzt die Armutsgefährdungsquote
nach EU-Definition (Laeken-Indikatoren) als stärksten Indikator für die Feststellung
der Armutsrisikoquote den Anteil der Bevölkerung, der mit weniger als 60% des mittleren Einkommens eines Landes auskommen muss. Die in der EU vereinbarte Be1
rechnungsmethode erfolgt auf der Basis von EU-SILC (EU-„Community Statistcs on
Income and Living Conditions“), um eine EU-weite Vergleichbarkeit herzustellen.
Die relative Einkommensarmut ist ein wichtiger Indikator für die gesellschaftliche
Verteilung von Einkommen. Sie bildet soziale Ungleichheit in ihrer Relation ab.
So ist in Deutschland seit Jahren eine gleichzeitige Zunahme von EinkommensReichtum wie Einkommens-Armut zu beobachten. Die soziale Ungleichheit nimmt
zu.
Zahlen zur relativen Einkommensarmut und zur Armutsschwelle
Die Erhebungen zur Einkommensarmut folgen unterschiedlichen Berechnungsmethoden und Datenerhebungen, so dass es eine gewisse Spannbreite von Befunden
gibt, die sich zudem im Zeitverlauf verändern.
Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung von 2008 wendet die genannten Laeken-Indikatoren auf der Basis von EU-SILC an. Nach diesen lag die
Armutsrisikoschwelle in Deutschland 2006 bei 781 € monatlich. Das ergibt eine Armutsrisikoquote von 13% der Bevölkerung. Der Mikrozensus 2008 ermittelte eine
Armutsrisikogrenze von 787 € für Alleinstehende und 1653 € für einen Vierpersonenhaushalt aus zwei Eltern und zwei Kindern sowie eine Armutsrisikoquote von 14,4%.
Im Dezember 2008 veröffentlichten die Institute DIW und ZEW sowie Prof. Richard
Hauser und Dr. Irene Becker eine eigene Studie zur Analyse der Einkommensund Vermögensverteilung in Deutschland. Hierbei werteten sie die Daten des sozioökonomischen Panels aus. Nach diesen Berechnungen stieg von 2000 bis 2006
die Armutspopulation in Deutschland von 10 auf 14 Millionen. Die Armutsrisikoquote nahm von 11,8 % in 2000 auf 18,3% in 2006 zu. Gleichzeitig mit der Zahl der
Armen stieg die Zahl der Einkommensstarken. Der Anteil der Bevölkerung mit
mehr als 200% des nach Haushaltsgröße gewichteten Durchschnittseinkommens
nahm von 2000 bis 2005 von 1% bis 9 % zu, oberhalb einer 300-%-Grenze verdreifachte sich der Anteil von 0,8 % auf 2,4%. Die Mittelschicht bröckelte nach beiden
Seiten, Armut wie Reichtum nahmen gleichermaßen zu.
In Februar 2010 legte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) neue
Auswertungen des sozioökonomischen Panel vor, nach denen im Jahr 2008 14% der
Bevölkerung, das sind 11,5 Millionen Menschen in Deutschland, unter der Armutsschwelle von 60 % des mittleren Einkommens der Bevölkerung in Deutschland lagen.
Das DIW ermittelte eine aktuelle Armutsschwelle von 925 € für Alleinstehende.
Einen wichtigen Anhaltspunkt für die Verbreitung von Armut liefern neben diesen Berechnungen die Zahlen über den Bezug von Grundsicherungsleistungen. Im Mai
2009 wurden diese von 6,5 Millionen Menschen in Deutschland bezogen.
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Die Mindestsicherungsquote fasst insgesamt die Grundsicherungsleistungen nach
dem SGB II (Grundsicherung für Arbeitssuchende /“Hartz IV“) und dem SGB XII (Sozialhilfe bei Erwerbsminderung und Grundsicherung im Alter) sowie Regelleistungen
nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und die laufenden Leistungen der Kriegsopferfürsorge zusammen. Im Dezember 2008 bezogen insgesamt 9,3% der Bevölkerung diese Leistungen. Am Jahresende 2007 erhielten so in Deutschland rund 8,1
Millionen Menschen Transferleistungen der sozialen Mindestsicherungssysteme, um
ihren grundlegenden Lebensunterhalt zu bestreiten.
Nach den genannten Befunden lebt ein spürbarer Teil der Bevölkerung – in etwa 4
bis 5% - unterhalb der Armutsschwelle, ohne Leistungen entsprechend der Mindestsicherungsquote zu erhalten
Besondere Armutsgefahren
Die verschiedenen Erhebungen zur Einkommensarmut machen deutlich, dass sowohl Kinder und Jugendliche, als auch Familien überproportional von Armut bedroht
sind und auch Erwerbsarbeit immer weniger vor Armut schützt.
Besonders gefährdet sind laut der aktuellen DIW-Studie 19 bis 25jährige. Hier lebt
knapp ein Viertel unterhalb der Armutsschwelle. Sehr stark betroffen sind ebenfalls
kinderreiche Familien mit einem Anteil von 22 % unterhalb der Armutsschwelle bei
mindestens 3 und 36 % bei vier und mehr Kindern. Das Armutsrisiko von Alleinerziehenden liegt laut DIW bei 40%.
Auch der Dritte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung von 2008
lieferte trotz seiner von vielen Expertinnen und Experten kritisierten Berechnungsmethoden ebenfalls bedrückende Ergebnisse. Demnach haben rund 8 Millionen Menschen in Deutschland ein Einkommen auf dem Niveau der Grundsicherungsleistungen. Über 2,2 Mio. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren Leben leben auf HartzIV-Niveau – im Vergleich zu 1,1 Millionen Kinder auf Sozialhilfeniveau im Jahr 2004.
Nach dem Bericht sind insgesamt 3 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland
von Armut betroffen. Der Anteil der von Altersarmut Betroffenen über 65-jährigen ist
demgegenüber mit 2,3% deutlich niedriger als in anderen Altersgruppen.
Auch nach der Untersuchung von DIW, ZEW, Hauser und Becker sind Kinder und
junge Erwachsene in besonderem Maße von Armut bedroht. Während Kinder bis
16 eine Armutsrisikoquote von 26% haben, liegt diese bei den 16 – 24jährigen bei
28%.
Auch die Zahl einkommensarmer Erwerbstätiger nimmt deutlich zu. Die Armutsquote von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern stieg entsprechend dieser Untersuchung von 2000 bis 2006 von 5,5 % auf 12%. Demnach gibt es über 4 Millionen
arbeitende Arme in Deutschland, d.h. mehr erwerbstätige als erwerbslos gemeldete
Einkommensarme im Erwerbsalter. Die Zahl der Beschäftigten im Niedriglohnbereich
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hat sich von 1998 bis 2006 aufgrund der Zunahme von Teilzeit- und geringfügiger
Beschäftigung verdoppelt.
LeistungsbezieherInnen nach SGB II in Millionen
Die Statistiken zum Bezug von Leistungen nach dem SGB II („Hartz IV“) zeichnen ein
differenziertes Bild über den größten Teil derjenigen, der so stark von Einkommensarmut betroffen ist, dass er ein Anrecht auf staatliche Hilfen geltend machen kann.
Das Sozialgesetzbuch II trat am 1. Januar 2005 in Kraft. Vor Einführung des SGB
II zum Jahreswechsel 2004 / 2005 gingen Berechnungen der Grundsicherungsträger von 3,26 Millionen Bedarfsgemeinschaften in der neuen Leistung aus. Als
Bedarfsgemeinschaften gelten die SGB-II-Anspruchsberechtigten Erwerbslosen mit
den mit ihnen zusammenlebenden Angehörigen. Tatsächlich war aber das Ausmaß
an Armut in Deutschland unterschätzt worden. Allein 600.000 Angehörige und
PartnerInnen von vorherigen ArbeitslosenhilfeempfängerInnen wurden als erwerbsfähige Hilfebedürftige neu registriert. Es gab bei Einführung des SGB II offenbar
ein hohes Maß verdeckter Armut in Deutschland. Mehr als ein Drittel aller Leistungsberechtigten hatte zuvor keinen Anspruch auf Sozialhilfe geltend gemacht.
Insgesamt stieg die Zahl der ALG-II-BezieherInnen von 4,98 Millionen im Jahresdurchschnitt 2005 bis 5,39 Millionen in 2006 und begann danach langsam zu sinken.
Im Dezember 2009 lag sie bei 5,01 Millionen. Die Zahl der Bedarfsgemeinschaften
stieg von 3,87 Millionen in 9/05 bis 3,89 Millionen in 09/06 und sank dann auf 3,52
Millionen in 09/08. Im April 2009 lag die Zahl der Bedarfsgemeinschaften wieder bei
3,57 Millionen.
Das hohe Armutsrisiko von Kinder und insbesondere Alleinerziehenden spiegelt die Tatsache wieder, dass im April 2009 640.000 Alleinerziehende und 1,74 Millionen Kinder Leistungen nach dem SGB II bezogen. Im Juni 2008 befanden sich 42
Prozent der vom Statistischen Bundesamt für 2007 ermittelten 1,56 Millionen Alleinerziehenden im SGB II-Bezug. Dies betraf 72 Prozent aller Alleinerziehenden mit
mehr als drei minderjährigen und 38 Prozent aller Alleinerziehenden mit nur einem
minderjährigen Kind.
Dass Leistungsbezug und Erwerbstätigkeit sich in keiner Weise ausschließen,
zeigt die Zahl von 1,31 Millionen ALG-II-BezieherInnen im April 2009, die zugleich
erwerbstätig waren.
Während die allgemeine Arbeitslosenquote im Dezember 2009 bundesweit bei 7,8
Prozent lag, betrug die anteilige SGB-II-Arbeitslosenquote 5,1 Prozent. Das heißt:
der Großteil aller Erwerbslosen bezieht zwar einerseits Leistungen nach dem
SGB II. Andererseits bedeutet „Hartz IV“ nicht nur eine Leistung für Erwerbslose,
sondern umfasst zu einem großen Teil eine allgemeine Grundsicherungsleistung
auch für Kinder, Jugendliche, Erziehende und Erwerbstätige.
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Fazit: eine verlässliche soziale Grundsicherung ist nötig
Vor dem Hintergrund diese Überblicksdarstellung lässt sich feststellen, dass Armut
nicht allein ein Problem von Erwerbslosigkeit darstellt und durch ein stärkeres
persönliches Engagement der Betroffenen oder eine bessere Arbeitsvermittlung gelöst werden könnte. Sozial ist nicht einfach, was Arbeit schafft.
Kinder und Jugendliche, viele Familien und auch immer mehr Erwerbstätige leben
unterhalb der Armutsschwelle und sind auf Hilfen zur Sicherung des Existenzminimums angewiesen. Darum ist in Deutschland eine umfassende soziale Grundsicherungsleistung nötig, die weitere Armutsrisiken z.B. für Familien verlässlich
absichert und umfassende begleitende Hilfen zur Überwindung der Armutslage
gibt. Ebenfalls müssen Mindestlöhne eingeführt und die Belastung durch Steuern
und Lohnnebenkosten im unteren Einkommensbereich gesenkt werden, um sicherzustellen, dass Erwerbseinkommen zum Leben reicht.
Das Ausmaß der Absurdität mancher aktuellen Debatten wird vor dem Hintergrund dieser bestürzenden Befunde mehr als deutlich. Menschen geraten nicht in
Armutslagen, weil sie sich nicht engagieren, sondern weil die Einkommensungleichheit und damit Armut wie Reichtum in Deutschland gleichermaßen zunehmen.
Michael Schröter ist seit Januar 2010 Referent für Sozialpolitik beim Diakonischen
Werk der EKD und Geschäftsführer der Nationalen Armutskonferenz.
Kontakt: [email protected]
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