FOTO: PETER WANNER Kommt in einer Familie eine seltene Erbkrankheit vor, oder häufen sich Leiden wie Krebs oder Alzheimer, möchten Angehörige wissen, ob sie selbst oder ihre Nachkommen gefährdet sind. Doch ein Gentest allein macht noch niemanden gesund. von Ruth Jahn* Gene unter der D as Wissen über die Bedeutung unserer Erbanlagen, der Gene, hat sich in den letzten drei Jahrzehnten rasant entwickelt. Heute kennen WissenschaftlerInnen die Struktur von mehr als der Hälfte der etwa 25 000 menschlichen Gene. Diese Informationen gewinnen auch im medizinischen Alltag zunehmend an Bedeutung. ForscherInnen entdecken immer mehr Genveränderungen in unserem Erbgut (so genannte Mutationen), welche mit einem er- höhten Risiko für bestimmte Krankheiten verknüpft sind. Von fast 400 Genen kennt man die typischen Genmutationen und ihre gesundheitlichen Folgen. Und für etwa 200 Gene bieten Laboratorien in der Schweiz heute bereits Gentests an, um Mutationen sichtbar zu machen. Einige der Gentests betreffen Krebs und HerzKreislauf-Krankheiten, andere testen auf eine Veranlagung für seltene Erbkrankheiten wie zystische Fibrose, die Huntington-Krankheit oder neuro- SPRECHSTUNDE 22 der Mensch sein Schicksal kennen? «Der Arzt der Zukunft», so meinte ein Arzt unlängst an einer Tagung, habe der Patientin oder dem Patienten «immer mindestens eine gute und eine schlechte Nachricht zu überbringen». Die gute Nachricht wäre zum Beispiel ein geringes Risiko, im Laufe des Lebens an Parkinson zu erkranken, die schlechte dafür eine ererbte Neigung zu Diabetes. Gentest: Umwelt, Psyche und Lebensstil nicht eingerechnet «Die Vererbung spielt, wenn auch in wechselndem Ausmass, bei fast allen Fortsetzung auf Seite 25 Das neue Gendiagnostikgesetz Kernpunkte des «Bundesgesetzes über genetische Untersuchungen beim Menschen» (GUMG), welches das Parlament im Oktober 2004 verabschiedet hat: • Lupe muskuläre Leiden. Jährlich werden in der Schweiz schätzungsweise 900 Gentests durchgeführt, Tendenz steigend. Die Kosten für einen Test betragen bis zu 4000 Franken. In gewissen Fällen übernimmt sie die Krankenkasse. Zukunftsvisionen per Datenchip «Dank genetischer Untersuchungen hat die Medizin tief greifende Veränderungen erfahren, und diese Entwicklung wird sich in den nächsten Jahrzehnten noch fortsetzen», prophezeit 23 SPRECHSTUNDE • Niemand darf wegen seines Erbguts diskriminiert werden. Das Erbgut einer Person darf nur untersucht, registriert oder offenbart werden, wenn die betroffene Person zustimmt oder es das Gesetz vorschreibt. • Genetische Untersuchungen zu medizinischen Zwecken müssen einen vorbeugenden oder therapeutischen Zweck haben. Oder sie müssen Informationen liefern, die den Betroffenen bei der Lebensgestaltung helfen können. Zum Beispiel können sich Betroffene, denen eine relativ tiefe Lebenserwartung vorausgesagt wird, überlegen, ob sie Kinder haben wollen. • Genetische Untersuchungen müssen mit einer ärztlichen genetischen Beratung verbunden sein. • Das «Recht auf Nichtwissen»: Niemandem dürfen Informationen über sein/ihr Erbgut aufgezwungen werden. • Die Ärztin oder der Arzt darf das Untersuchungsergebnis nur mit ausdrücklicher Zustimmung der betroffenen Person den Angehörigen mitteilen. Aber: Verweigert diese die Zustimmung, kann sich der Arzt, die Ärztin in gewissen Fällen von der beruflichen Schweigepflicht entbinden lassen. So können ÄrztInnen Verwandte zum Beispiel • • • • über eine festgestellte Veranlagung der Person zu erblichem Dickdarmkrebs informieren, falls das für die Gesundheit der Verwandten relevant ist. Die Kantone müssen für die Beratung bei vorgeburtlichen Untersuchungen unabhängige Beratungsstellen schaffen. Laboratorien, die genetische Tests machen, brauchen eine Bewilligung. Arbeitgeber dürfen keine genetischen Untersuchungen oder die Offenlegung von Ergebnissen aus früheren Gentests verlangen, ausser wenn die Tätigkeit Dritte oder die Umwelt schwer schädigen könnte, oder wenn die Gefahr einer Berufskrankheit besteht und diese nicht mit Schutzmassnahmen ausgeschlossen werden kann (Beispiel: Chemiearbeiter, der aufgrund eines Enzymmangels besonders empfindlich auf gewisse Chemikalien reagiert). Versicherer können Einsicht in die Ergebnisse früherer genetischer Tests verlangen, wenn die Versicherungssumme bei Lebensversicherungen 400 000 Franken übersteigt, bei freiwilligen Invaliditätsversicherungen 40 000 Franken. Beim Erstellen von DNA-Profilen zur Klärung der Abstammung (z.B. Vaterschaftstest) oder zur Identifizierung darf nicht nach dem Gesundheitszustand oder nach persönlichen Eigenschaften mit Ausnahme des Geschlechts geforscht werden. GENTESTS Hansjakob Müller, Humangenetiker an der Universität Basel. Ärztinnen und Ärzte würden dereinst nicht mehr nur Krankheiten diagnostizieren, sondern auch unsere ererbten Veranlagungen dazu. Menschen, die aufgrund ihrer genetischen Disposition krankheitsanfällig sind – sei es für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, für Asthma, Rheuma oder Krebs –, könnten durch gezielte Prävention oder Früherkennung ihr Erkrankungsrisiko reduzieren, so die Hoffnung. Neue Analysetechniken, die per Chip verschiedenste Gene synchron nach auffälligen Veränderungen absuchen, sind bereits im Kommen. Wird bald je- Interview: Dr. med. Suzanne Braga ist medizinische Genetikerin und Familientherapeutin im Kontext von Erbkrankheiten, genetischer Beratung und vorgebur tlichen Untersuchungen. Sie ist zudem Co-Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaf t für medizinische Genetik (SGMG) und schult jüngere KollegInnen. Suzanne Braga lebt in Bern. Die Genetikerin Suzanne Braga betont, dass ein Gentest nur durchgeführ t werden soll, wenn ein allfälliges genetisches Risiko mit entsprechender Prävention und Behandlung gesenkt werden kann – und die betrof fene Person zudem umfassend beraten wird. «Sprechstunde»: Suzanne Braga, mit welchen konkreten Fragen zu medizinischer Genetik sind Patienten und Patientinnen heute konfrontiert? Suzanne Braga: Das Spektrum ist sehr breit und umfasst drei grosse Themenkreise: Ein erstes Thema sind seltene Erbkrankheiten, die in einer Familie gehäuft auftreten, wie zum Beispiel die Huntington-Krankheit, die Bluterkrankheit oder die zystische Fibrose. Weiter ist die Veranlagung für häufige Krankheiten wie Alzheimer, Krebs oder Herz-KreislaufErkrankungen ein Thema, das viele Menschen beschäftigt. Bei pränatalen Untersuchungen werden so genannte Chromosomenuntersuchungen durchgeführt, bei denen zum Beispiel die Trisomie 21 (Down-Syndrom) festgestellt werden kann. Vorgeburtliche Gentests machen ÄrztInnen nur, wenn in der Familie eine Erbkrankheit mit bekannter Genveränderung vorkommt. Welche Hilfestellungen können Hausärztinnen, Frauenärzte, Genetikerinnen den Betroffenen geben? Zunächst muss der Auftrag der Ratsuchenden geklärt werden: Was erwartet «Keine Gendiagnostik ohne Beratung» sie oder er von einem Gentest? Oft kann ein Gentest die Erwartungen gar nicht erfüllen. Eine Schwangere, die zum Arzt sagt: «Ich will alle Tests machen, weil ich ein gesundes Kind will!», muss der Arzt darüber aufklären, dass keine Technologie eine Garantie für ein gesundes Kind geben kann. Oft geht es im Gespräch auch darum, bei den Betroffenen Ängste abzubauen und Vertrauen aufzubauen in die eigene Person und in die eigenen Ressourcen bei der Bewältigung von Schicksal. MedizinerInnen sollten ihre Klienten und Klientinnen sorgfältig informieren und falls notwendig bei den weiteren Schritten begleiten. geben, die wir nicht gestellt haben. Darauf müssen wir die Betroffenen vorbereiten. Was für Bedingungen müssen denn erfüllt sein, damit eine genetische Untersuchung für die Betroffenen von Nutzen ist? Die KlientInnen haben das Recht auf eine umfassende genetische Beratung vor, während und nach einem Gentest. Gute Beratung beinhaltet ausser medizinischwissenschaftlicher Information auch psychosoziale, psychologische und gesellschaftliche Aspekte. Mein Ziel in der genetischen Beratung ist es, den Klienten mittels Informationen zu ermächtigen, autonome Entscheide zu fällen. Sie betonen die Wichtigkeit von sorgfältiger Information und guter Beratung. Nun gibt es aber einen akuten Mangel an genetischen Fachpersonen in der Schweiz. Das ist richtig, der Mangel sollte rasch behoben werden. HausärztInnen und GenetikspezialistInnen sollten von Anfang an interdisziplinär zusammenarbeiten. Die Beratung sollte dabei den FachärztInnen der medizinischen Genetik überlassen werden. Die allermeisten Ärztinnen und Ärzte haben nicht genügend Kenntnisse in diesem Spezialgebiet. Auch ist es wichtig, dass sich die GrundversorgerInnen fortbilden – nur schon, um in der Allgemeinpraxis eine gute Triage zu machen. Ich erlebe leider immer wieder, dass ÄrztInnen zum Beispiel einen Gentest auf mit Brustkrebs assoziierten Genen machen lassen, obwohl der Stammbaum und die Familiengeschichte der Frau keinerlei Hinweise auf eine Erbkrankheit ergeben. So werden unnütz teure Tests veranlasst. Und das kann auch bedeuten, dass man auf einen Gentest verzichtet? Genau. Idealerweise sollte eine genetische Untersuchung nur bei einer klaren Indikation erfolgen. Das heisst: Bei einem positiven Testresultat muss eine Präventionsoder Behandlungsmöglichkeit gegeben sein. Bei den allermeisten Krankheiten ist dies heute aber nicht der Fall. Zudem müssen wir uns bewusst sein, dass Gentests auch zunehmend Antworten auf Fragen Gibt es Fälle, in denen ein Gentest trotz fehlender Präventions- oder Therapiemöglichkeit für die individuellen Betroffenen Sinn macht? Durchaus, etwa bei schweren Erbkrankheiten in Bezug auf Fragen der Familien- oder Lebensplanung: Jemand, der in einer Familie lebt, in der Chorea Huntington vorkommt, eine tödliche Krankheit, die meist im Alter von etwa 40 Jahren ausbricht, möchte wissen, ob er selbst wahrscheinlich erkranken wird, um sein Leben dementsprechend zu gestalten. Interview: Ruth Jahn SPRECHSTUNDE 24 «Ein Gentest ohne adäquate Beratung kann die Betroffenen stark verunsichern und birgt die Gefahr, dass Ängste entstehen», warnt etwa die Berner Genetikerin Suzanne Braga. Was macht eine Patientin mit dem Wissen, dass sie eine Mutation auf dem Gen BRCA1 trägt und mit etwa 40-prozentiger Wahrscheinlichkeit irgendwann in ihrem Leben an Brustkrebs erkrankt? Und was bedeuten diese Resultate für die Kinder und andere Verwandte der Betroffenen? Wie viel sollten diese wissen, und werden dadurch auch sie verunsichert? «Auch vor einer vorgeburtlichen Dia- 25 SPRECHSTUNDE Nutzen eines Tests abwägen Dickdarmkrebs ist eines jener noch eher raren Beispiele, bei der eine genetische Untersuchung einen Nutzen für die Betroffenen bringt: Für TrägerInnen von Gendefekten auf bestimmten Dickdarmkrebs-Genen hat sich eine vorsorgliche Darmspiegelung bewährt, bei der alle sichtbaren Krebsvorstufen in der Darmwand operativ entfernt werden. Somit kann die Entstehung von Krebs wirksam verhindert werden. Und umgekehrt bleiben Mitgliedern aus Familien, in denen Dickdarmkrebs gehäuft auftritt, die jährlichen Darmspiegelungen erspart, wenn die Mutation mit einem Gentest sicher ausgeschlossen werden kann. Ein anderes Beispiel ist das so genannte androgenitale Syndrom, eine Mutation, die beim noch ungeborenen Mädchen zur Vermännlichung führt. Mit pränataler Diagnostik festgestellt, kann die Krankheit noch im Mutterleib mit einer hormonähnlichen Substanz zum Teil erfolgreich behandelt werden. Für Frauen dagegen, die Gene tragen, welche mit einem erhöhtem Eierstockund Brustkrebsrisiko einhergehen, ist der Nutzen des Gentests fraglich. Denn die Radikalprävention der vorsorglichen Brustamputation und der Eierstockentfernung ist kaum eine realistische Option. Fällt ein Gentest hingegen «negativ» aus, wird also eine gesuchte Mutation nicht gefunden, ist das zwar beruhigend, aber es könnte auch dazu verleiten, Früherkennungsuntersuchungen und eine gesunde Lebensweise – etwa mehr Bewegung, abwechslungsreiche Ernährung, weniger Zigaretten und Alkohol – zu vernachlässigen. Es fragt sich deshalb, ob Gentests, bei denen eine medizinische Gegenstrategie fehlt, in manchen Fällen nicht eher schaden als nutzen. *Ruth Jahn ist freie Wissenschaftsjournalistin und lebt in Zürich. PP Was ist besser, wissen oder nicht wissen? gnostik muss eine sorgfältige Beratung der zukünftigen Eltern stattfinden», betont Suzanne Braga. Denn Testresultate seien zum Teil schwer zu interpretieren: Zum Beispiel, wenn bei einem Mädchen in allen Zellen ein X-Chromosom zu viel festgestellt wird. «Bei diesem Chromosomenfehler wissen wir zwar: Eines von drei Mädchen ist später geistig behindert, die anderen beiden gesund. Aber wir können nicht herausfinden, welches.» Im neuen Gendiagnostikgesetz (siehe Kasten Seite 23) sind einige Leitplanken gesetzt, damit die Menschenwürde bei genetischen Untersuchungen geschützt und Missbräuche verhindert werden. Auch die Qualität der genetischen Untersuchungen will das Gesetz sichern. Und es legt grossen Wert auf die Beratung der Betroffenen. Bislang profitieren allerdings erst wenige Patientinnen und Patienten vom neuen Wissen über die mit bestimmten Krankheiten assoziierten Gene. Denn für die allermeisten diagnostizierbaren Krankheitsveranlagungen gibt es weder eine griffige Prävention noch die Aussicht auf Heilung. Die Betroffenen wissen nicht, was sie vorkehren können, damit die Krankheit frühzeitig erkannt und erfolgreich behandelt werden kann. Bei vorgeburtlichen Untersuchungen (Chromosomenuntersuchungen, aber auch Ultraschall- und anderen Tests) zeigt sich dieses Dilemma besonders krass: Werdenden Müttern und Vätern, denen das Vorliegen einer Anomalie beim werdenden Kind mitgeteilt wird, bleibt nur, sich auf die mögliche Behinderung des Kindes vorzubereiten. Oder die Schwangerschaft abzubrechen. Bei der Schweizerischen Gesellschaft für MediziniI N F O sche Genetik ist eine Adressliste der universitären Zentren für medizinische Genetik und der FMHGenetikerinnen und -Genetiker der Schweiz erhältlich. Tel. 061-421 33 71 Internet: www.sgmg.ch TI Krankheiten eine Rolle», sagt Hansjakob Müller. «Aber gleichzeitig gibt es nur sehr wenige Krankheiten, die allein durch mutierte Erbanlagen verursacht werden», so der Genetik-Professor. Das heisst: Umwelt, Lebensstil und Psyche spielen bei fast jeder Krankheitsgeschichte mit. Zum Beispiel Brustkrebs: Die Mehrzahl der Tumore entsteht spontan und wird auch nicht weitervererbt. Nur bei 5 bis 10 Prozent der betroffenen Frauen ist der Krebs auf einen vererbten Genschaden zurückzuführen. Genetische Untersuchungen können die ererbte Veranlagung für eine Krankheit ans Licht bringen. Ein Tropfen Blut genügt. Aber die Sache hat einen Haken: Das Testresultat drückt meist nur eine Wahrscheinlichkeit aus. Denn es erkrankt nicht jede Trägerin, jeder Träger eines speziellen Gendefektes an der Krankheit. GenetikerInnen errechnen Erkrankungswahrscheinlichkeiten aufgrund von Erfahrungswerten: Neben Ort und Art der gefundenen Mutation fliessen immer auch das Ergebnis der klinischen Untersuchung, die Bevölkerungsgruppe, die Anzahl Erkrankter im Stammbaum und verschiedene andere Informationen mit ein in die Risikoschätzung. Genetische Daten bedürfen also einer umfassenden Interpretation durch SpezialistInnen, und das Resultat eines Gentests ist mit Vorsicht zu geniessen. Krebstelefon der Krebsliga Schweiz deutsch: 0800-55 88 38 französisch: 0800-55 42 48 italienisch: 0800-55 62 68 Internet: www.swisscancer.ch GENTESTS Fortsetzung von Seite 23