Auf dem Prüfstand der Genetiker

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Gentests werden bereits
breit angewendet.
Eine systematische
Nutzenanalyse erfolgt
jedoch erst seit Kurzem.
Die noch für diese
Legislaturperiode
geplante Erarbeitung
eines Gendiagnostikgesetzes sollte dazu
benutzt werden, um in
Deutschland auch
Indikationskriterien für
Gentests festzulegen.
GENTESTS
Auf dem Prüfstand der Genetiker
Jörg Schmidtke
E
twa alle drei Jahre verdoppelt
sich die Anzahl der Personen,
die sich einem Gentest unterziehen.
Diese Schätzung dürfte für Deutschland ebenso zutreffen wie für andere
OECD-Länder. Doch was bedeutet
diese Steigerung? Wird zu viel oder
zu wenig untersucht? Benötigen die
Menschen die genetischen Tests, denen sie sich unterziehen? Und erhalten sie die Tests, die sie tatsächlich benötigen? Wann sind Gentests
medizinisch indiziert? Dies sind
Grundfragen humangenetischer Versorgungsforschung, ein Fachgebiet,
welches – zu Recht von der Bundesärztekammer und der Deutschen
Forschungsgemeinschaft beklagt –
seiner sozialpolitischen Bedeutung
bei Weitem nicht nachkommt.
Wenn man bedenkt, dass Gentests ärztliche Leistungen sind, die
in Deutschland schon seit den
frühen 90er-Jahren von den Krankenkassen getragen werden, überrascht es sehr, dass erst seit wenigen
Jahren versucht wird, die Verordnung genetischer Testverfahren einer systematischen Nutzenanalyse
zu unterziehen. Grundlage einer solchen Analyse ist die Entwicklung
von Kriterien, nach denen die Qua-
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lität und der Nutzwert genetischer
Testverfahren zu bemessen sind.
Den Anfang machte hier zwar schon
1997 die Task Force of Genetic
Testing in den USA, aber erst 2005
legte das Modellprojekt ACCE
(Analytical Validity, Clinical Validity, Clinical Utility und ELSI) der
Centres of Disease Control, USA, einen strukturierten Zielkatalog vor
(Kasten). ACCE bildet die Grundlage
für alle späteren Initiativen, darunter
die Eckpunkte von Eurogentest und
die „Indikationskriterien“ der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik. Alle diese Initiativen lassen sich
als Versuche professioneller Selbstregulation angesichts einer enormen
Leistungssteigerung verstehen. In
Deutschland sollten Indikationskriterien für Gentests auch im Rahmen
eines Gendiagnostikgesetzes festgelegt werden.
Das europäische Netzwerk Eurogentest betrachtete die ACCE-Kriterien im Zusammenhang mit den
Ursachen und der Epidemiologie
derjenigen erblichen Erkrankungen,
für die derzeit Gentests zur Verfügung stehen. Dabei stellte es fest,
dass die ACCE-Kriterien derzeit nur
für eine relativ kleine Anzahl von
genetisch bedingten Krankheiten
mit hinreichender Sicherheit bestimmt werden können. Von den
derzeit rund 4 000 bekannten monogenen Krankheiten können schätzungsweise lediglich für 50 bis 100
Erkrankungen entsprechende Richtlinien verfasst werden. Da es sich
hierbei aber gerade um die häufigsten erblichen Krankheiten handelt,
dürften damit deutlich über 90 Prozent des aktuellen Gentestvolumens
abgedeckt werden. Für diese Erkrankungen können und sollen krankheitsspezifische Richtlinien erarbeitet werden, die dem Arzt, dem Patienten und den Kostenträgern bei der
Indikationsfindung helfen.
Mehr Transparenz nötig
Die Eurogentest-Eckpunkte führen
weiter aus, dass für alle übrigen erblichen Erkrankungen eine ausreichende Datenlage für Validierungen
nach dem ACCE-Schema nicht existiert und – insbesondere bei den sehr
seltenen Krankheiten – wohl niemals zur Verfügung stehen wird.
Um auch bei diesen Krankheiten
Handlungssicherheit hinsichtlich des
Für und Wider von Gentests zu haben, wird vorgeschlagen, den grund-
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sätzlichen Ansatz zwar beizubehalten, jedoch auf eine Quantifizierung
der Bewertungskriterien zu verzichten (Grafik).
Die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik (GfH) hat auf der Basis
der Eurogentest-Empfehlungen für
Deutschland als das erste europäische Land nach Großbritannien
krankheitsspezifische „Indikationskriterien“ für die Anwendung von
Gentests entwickelt. Anders als in
Großbritannien, wo die den Indikationskriterien entsprechenden „Gene
Dossiers“ (bislang) nicht publiziert
werden und nur der internen Absprache dienen, hat die GfH ihre Aktivitäten auf ihrer Webseite veröffentlicht. Hiermit soll auch gegenüber
den Kostenträgern Transparenz geschaffen werden.
Die Indikationskriterien der GfH
dienen nun als Vorbild für entsprechende Leitlinien, die einem europaweiten Expertenkonsensverfahren unterzogen werden. Das Verfahren wird voraussichtlich ab Ende
2008 von der European Society of
Human Genetics gefördert. Die
Leitlinien werden im European
Journal of Human Genetics fortlaufend veröffentlicht.
Ein erster Schritt:
die Indikationsrichtlinien
Aus den 21 bislang vorliegenden Indikationsrichtlinien lassen sich bereits
einige allgemeine Schlüsse ziehen:
> Die analytische Validität fast aller angebotenen Tests ist sehr hoch.
Wenn eine Genveränderung in den
untersuchten Genabschnitten vorliegt, dann wird sie mit den heute zur
Verfügung stehenden Verfahren in
der Regel auch tatsächlich gefunden.
Als Goldstandard für die Suche nach
Veränderungen einzelner DNA-Bausteine gilt die automatische Sequenzierung genomischer DNA. Wenn
bestimmte Mutationen unter Betroffenen gehäuft vorkommen, kann diesen gezielt nachgegangen werden,
zum Teil mit kommerziell vertriebenen Test-Kits. Für die Suche nach
Dosisveränderungen innerhalb von
Genen (zum Beispiel Gendeletionen)
wird heute allgemein die MLPATechnik verwendet.
> Die klinische Validität von Gentests ist hingegen sehr variabel.
Hauptgrund hierfür ist die „LocusHeterogenität“: Ein und dasselbe klinische Bild kann von Fall zu Fall
durch Mutationen in verschiedenen
Genen verursacht sein. Häufig sind
keineswegs schon alle Gene identifiziert, die mit einem derartig heterogen verursachten Krankheitsbild assoziiert sind. Dies schlägt sich in erster Linie in einer reduzierten klinischen Sensitivität nieder. Einschränkungen des „positiv prädiktiven
Werts“ haben eine andere Ursache.
Oftmals ist eine Person nicht erkrankt,
obwohl sie eine eindeutig krankheitsbedingende Genveränderung in sich
trägt (verminderte oder altersabhängige Penetranz einer Mutation).
> Das wichtigste Kriterium bei
der Prüfung der medizinischen Indi-
kation eines Gentests ist jedoch der
klinische Nutzwert. Dabei handelt
es sich um eine komplexe Fragestellung, die nur kontextbezogen beantwortet werden kann. In nahezu
sämtlichen Indikationskriterien ergeben sich aus dem Gentest unmittelbare Konsequenzen für Therapie,
Management und/oder Lebensgestaltung der untersuchten Person.
Hierfür seien drei Beispiele genannt: (1) Bei der familiären Hämochromatose setzt ein positiver
Gentest ein engmaschiges internistisches Follow-up in Gang und
eventuell eine präventive Aderlasstherapie, die nach heutigem Kenntnisstand geeignet ist, die Erkrankung völlig zu verhindern. (2) Bei
der kongenitalen bilateralen Aplasie
ACCE-KRITERIEN
Analytical Validity – die technische Qualität:
> Analytische Sensitivität: Wie oft findet der Test die gesuchte genetische Veränderung
(den krankheitsassoziierten Genotyp)?
> Analytische Spezifität: Wie oft wird korrekt ein Normalbefund erhoben?
> Werden ggf. vorgegebene Irrtumsraten eingehalten (z. B. innerhalb eines Ringversuchs)?
> Stimmen die Ergebnisse auch noch unter veränderten technischen Randbedingungen?
Clinical Validity – die klinische Aussagekraft:
> Klinische Sensitivität: Wie oft ist der Test positiv, wenn die Krankheit vorliegt?
> Klinische Spezifität: Wie oft ist der Test negativ, wenn die Krankheit nicht besteht?
> Positiv klinisch prädiktiver Wert: Lebenszeitrisiko für das Auftreten der Krankheit, wenn der Test positiv ist
> Negativ klinisch prädiktiver Wert: Wahrscheinlichkeit, die Krankheit nicht zu entwickeln, wenn der
Test negativ ist
Clinical Utility – der klinische Nutzwert, eine kontextabhängige Dimension:
A. (Differenzial)diagnose (die untersuchte Person ist selbst betroffen)
> Gibt es Alternativen zum Gentest?
> Wie sind die Belastungen von alternativen Verfahren zu bewerten?
> Wie ist die Wirtschaftlichkeit alternativer Verfahren zu bewerten?
> In welcher Weise werden Behandlung und Management durch das Ergebnis des Gentests beeinflusst?
B. Prädiktiver Gentest (die untersuchte Person ist aktuell frei von spezifischen Symptomen, trägt aber
ein – z. B. familiär bedingt – erhöhtes genetisches Risiko)
> In welcher Weise werden Lebensführung und Präventionsmöglichkeiten durch den Gentest beeinflusst?
> Welche Optionen hinsichtlich Lebensführung und Prävention stehen offen, wenn kein Gentest erfolgt?
C. Im Hinblick auf eine vorgeburtliche Diagnostik:
> Ermöglicht ein positives Testergebnis bei der Indexperson eine vorgeburtliche Diagnostik?
D. Ermittlung genetischer Risiken bei Angehörigen
> Klärt das Testergebnis beim Indexpatienten die genetische Situation in der Familie (Erbgang, Risiken)?
> Kann ein Gentest beim Indexfall sonst indizierte genetische oder andere Untersuchungen bei Familienangehörigen ersparen?
> Ermöglicht ein positives Testergebnis beim Indexfall eine prädiktive Diagnostik bei Angehörigen?
ELSI – ethische, rechtliche und soziale Gesichtspunkte
> Birgt der Test Potenzial für soziale Diskriminierung?
> Sind Rechtsfragen hinsichtlich Datenschutz, Probenaufbewahrung, Patenten und Lizenzen zu beachten?
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der Vas deferens (CBAVD), einer
häufigen Ursache männlicher Infertilität, ist die wesentliche Konsequenz
eines positiven Gentests (CFTR-Mutation) die genetische Untersuchung
der Partnerin, um das Risiko für die
Geburt eines Kindes mit Mukoviszidose nach assistierter Reproduktion
zu bestimmen. (3) Ein positiver Gentest bei familiär bedingtem Risiko auf
die Anlage für Huntington-Chorea
ändert (derzeit noch) nicht die Behandlung nach Krankheitsbeginn, hat
aber weitreichende Konsequenzen
für die Lebens- und Familienplanung
der betroffenen Person.
Häufig sind Untersuchungen einer
Person im Interesse von Dritten. Beispiele hierfür sind die familiären
Krebserkrankungen, wie familiärer
Brust- und Eierstockkrebs und der
hereditäre nicht polypöse Dickdarmkrebs. In 18 von 21 der Indikationsrichtlinien wird die Frage nach der
Ermöglichung einer vorgeburtlichen
Diagnostik positiv beantwortet. Während für den Humangenetiker der familienbezogene Aspekt genetischer
Untersuchungen eine Selbstverständlichkeit ist, bereitet er den Kostenträgern, insbesondere der privaten
Krankenversicherung, erfahrungsgemäß häufig Verständnisprobleme.
Hier herrscht Bedarf nach vertragsrechtlicher Klarstellung.
Nicht erwiesen: Nutzen von
Tests auf Volkskrankheiten
Die eingangs gestellten Grundfragen
(Benötigen die Menschen die genetischen Tests, denen sie sich unterziehen? Erhalten die Menschen die
Tests, die sie benötigen?) können
derzeit nicht sicher beantwortet werden. Dazu sollen ja erst die erforderlichen Kriterien entwickelt werden.
Es lassen sich jedoch jetzt schon gute
Gründe dafür finden, dass die aktuellen Zahlen zum jährlichen Gentestvolumen weit unterhalb des tatsächlichen Bedarfs liegen. Einer Schätzung
der Weltgesundheitsorganisation zufolge beträgt die kumulative Prävalenz seltener (weit überwiegend
durch die Wirkung einzelner Gene
verursachter) Krankheiten in europäischen Bevölkerungen zwischen
sechs und acht Prozent. Die kumulative Inzidenz dieser Erkrankungen
dürfte um ein Prozent pro Jahr liegen,
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GRAFIK
Algorithmus für die Entscheidungsfindung zur genetischen Diagnostik bei sehr seltenen
Krankheiten1
Differenzialdiagnostisches Setting:
Prädiktives Setting3:
Patient (Fetus) mit klinischer manifester Krankheit2
Gesunde Person oder Gesundheitsstatus unbekannt
Könnte des Untersuchungsergebnis das
Fallmanagement beeinflussen?
– andere diagnostische Verfahren
ersparen4
– Prognose präzisieren
– Behandlung/Therapie steuern
nein
– Präventionsmöglichkeiten?
– Lebensgewohnheiten?
GENETISCHE
UNTERSUCHUNG
ja
Beeinflusst das Ergebnis einer
genetischen Untersuchung
nein
ja
GENETISCHE
UNTERSUCHUNG
Wird von Familienmitgliedern die Präzisierung genetischer Risiken verlangt?
ja
nein
GENETISCHE
UNTERSUCHUNG
Stellt das Fehlen einer genetischen Diagnose eine Belastung in sich selbst dar?
nein
KEINE GENETISCHE
UNTERSUCHUNG
ja
GENETISCHE
UNTERSUCHUNG
1 Nachdruck aus: Medizinische Genetik 2/2007, S. 275 (mit freundlicher Genehmigung der Redaktion „Medizinische Genetik“;
copyright: Springer Medizin Verlag, Heidelberg)
2 Es wird davon ausgegangen, dass der Patient klinisch untersucht ist, ggf. einschließlich nicht invasiver Verfahren, wie z.
B. Bildge-
bung und Elektrophysiologie.
3 einschließlich prädiktiver Pränataldiagnostik
4 Hier ist in erster Linie an Verfahren zu denken, die belastend oder risikobehaftet für den Patienten sind. – An dieser Stelle sind aber
auch z. B. biochemische Testverfahren als Alternative zu genetischen Untersuchungen in Betracht zu ziehen.
und mit jedem entdeckten Patienten
sind meist zahlreiche Verwandte verbunden, die genetische Risiken in
einer testrelevanten Größenordnung
von fünf bis 50 Prozent tragen. Angesichts des allgemein hohen klinischen
Nutzens genetischer Tests könnte deren Bedarf durchaus um den Faktor
zehn über den aktuellen Zahlen liegen. Da genetische Tests künftig kostengünstiger werden, ist eine solche
Steigerung nicht unrealistisch. Noch
völlig unberücksichtigt sind jedoch
bei diesen Überlegungen genetische
Tests auf Suszeptibilitäten für Volkskrankheiten, wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Rheuma, Depressionen, Bluthochdruck und adverse Medikamentenreaktionen. Einer aktuellen Erhebung zufolge ist
jedoch für keinen einzigen dieser
denkbaren genetischen Tests ein hinreichender klinischer Nutzwert erwiesen. Die bislang identifizierten
genetischen Faktoren haben derzeit
ihren Wert vor allem in der pathophysiologischen Grundlagenforschung.
Die Situation könnte sich ändern,
wenn die genetischen Profile dieser
Erkrankungen umfassend erforscht
sind und eine Erhebung dieser Profile
bevölkerungs- und individualmedizinisch positiv evaluiert worden ist. Es
dürfte internationaler Konsens darüber bestehen, dass eine solche Beweisführung zwingende Voraussetzung für die Einführung entsprechender Gentests in solidarisch finanzierten Gesundheitssystemen ist.
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2008; 105(36): A 1830–4
Anschrift des Verfassers
Prof. Dr. med. Jörg Schmidtke
Direktor des Instituts für Humangenetik
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Straße 1
30625 Hannover
E-Mail: [email protected]
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